Kapitel sechsundvierzig

NORDUGANDA

25. November, 20:18 Uhr GMT+3

 

 

Mehrak Omidi wachte vom lauten Jubel auf und trat aus Bahames Kommandozelt, in das er sich zurückgezogen hatte, um den heimtückischen Insekten des Dschungels zu entgehen. Die jungen Soldaten hatten sich um einen alten Pick-up versammelt, und er musste auf Bahames Podium klettern, um die beiden bewusstlosen Weißen auf der Ladefläche zu entdecken.

Der Mob trat nach den Männern und spuckte auf sie, während sie in die Gefangenschaft geschleppt wurden, dem sicheren Tod entgegen. Charles Sembutu war zwar im ganzen Land gefürchtet, aber wenn es um die Amerikaner ging, verhielt er sich seltsam zögerlich. Er hatte alle Möglichkeiten ignoriert, Smith und sein Team zu eliminieren. Auch als sie schon viel zu nahe herangekommen waren, wollte er immer noch nicht handeln, sondern begnügte sich damit, Omidi ihre Position mitzuteilen, damit er sich selbst die Hände nicht schmutzig zu machen brauchte.

Die Lichter des Pick-ups gingen aus, sodass ein schwaches Leuchten sichtbar wurde, das sich zwischen den Bäumen näherte. Im nächsten Augenblick fuhr ein extravaganter Wagen mit Allradantrieb ins Lager ein. Caleb Bahame sprang heraus und ignorierte die Hochrufe seiner Soldaten, während er eine Frau über die Vordersitze und durch die Fahrertür schleifte.

Omidi trat vor. Sein Blick wanderte von dem wirren blonden Haar zu ihrem Gesicht, das verzweifelt versuchte, Mut auszudrücken. Der Plan des Ayatollahs, den Parasiten am Jahrestag des Sieges der Revolution einzusetzen, war ihm undurchführbar erschienen – selbst wenn ihre besten Biologen rund um die Uhr gearbeitet hätten. Den unerschütterlichen Glauben des alten Mannes, dass Gott ihnen die Lösung des Problems schenken würde, war Omidi gefährlich naiv erschienen. Doch er musste sich wieder einmal vor der Weisheit und dem Glauben des großen Geistlichen verbeugen.

Er sprang vom Podium und zog sich in die Dunkelheit am Waldrand zurück, unfähig, seinen Blick von der Frau zu wenden. Seine Zweifel an ihren Plänen und seine Angst vor der Arbeit der amerikanischen Geheimdienste waren mit einem Schlag dahin. Gott hatte eingegriffen und hatte ihm den Glauben an den Erfolg ihrer Mission zurückgegeben. Er hatte ihm Sarie van Keuren in die Hand gegeben, die einzige Person, der es zuzutrauen war, den Parasiten zu stabilisieren und zu einer gezielten Waffe zu machen.

 

Jon Smith öffnete die Augen und wartete, bis die verschwommenen Schatten um ihn herum allmählich Gestalt annahmen und zu einer Felsdecke, rostigen Gitterstäben und einem primitiven Labor wurden. Er hatte noch immer nicht die Kraft, um aufzustehen, und drehte den Kopf zu Peter Howell hinüber, der reglos neben ihm lag.

»Peter. Bist du okay?«

Der Schlag gegen den Hinterkopf, den der alte Soldat hatte einstecken müssen, war so wuchtig gewesen, dass Smith befürchtete, er würde vielleicht nie wieder aufwachen.

»Peter. Kannst du …«

Ein leises Stöhnen kam von dem Mann, und dann etwas, das vielleicht Worte waren.

»Was? Hast du etwas gesagt?«

Er hob erneut an, diesmal kräftig genug. »Die leichtesten fünfzig Riesen, die du dir je verdient hast …«

Smith hatte es noch nicht ganz geschafft, sich aufzusetzen, als er einen durchdringenden Schrei hörte. Der Adrenalinstoß verstärkte nur das Hämmern in seinem Kopf, und er wich instinktiv von den Gitterstäben zurück und suchte nach dem Ursprung des schrecklichen Geräusches.

Etwa drei Meter entfernt war eine Frau in einer ähnlichen Zelle gefangen, die in die Felswand eingebaut war. Smith sah durch einen blutverschmierten Kunststoffvorhang, wie sie den Arm durch das Gitter steckte in dem verzweifelten Versuch, zu ihnen zu gelangen.

»Sie sind wach.«

Smith wandte sich träge der Stimme zu und sah einen alten Mann mit einer Schürze, die aussah, als hätte er die letzten fünfzig Jahre in einem Schlachthaus verbracht.

»Wo ist Sarie?«

»Wer?«, fragte der Mann.

Smith hielt sich an den bedrückend massiven Gitterstäben fest, um sich hochzuziehen, während Howell die Verletzung untersuchte, die er am Hinterkopf davongetragen hatte.

»Sarie van Keuren. Sie war mit uns zusammen.«

»Ich weiß es nicht.«

Der Mann gehörte offensichtlich nicht zu Bahames Anhängern  – dafür war er zu weiß, zu alt und – nach der Art, wie er sprach – zu gebildet.

»Wer sind Sie?«

»Ich?«, erwiderte er fast ein wenig erschrocken. »Thomas De Vries. Ich bin Arzt im Ruhestand und wurde entführt, um einen Mann am Leben zu erhalten, damit Bahame ihn nachher umbringen konnte. Und jetzt wollen sie, dass ich einen Gehirnparasiten außerhalb des Körpers konserviere, damit sie ihn transportieren können.«

»Ist es Ihnen gelungen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Wissenschaftler. Und selbst wenn ich einer wäre, würde ich es nicht tun.« Er zeigte auf die inzwischen leicht ermüdete infizierte Frau, die trotzdem immer noch versuchte, durch das Gitter zu kommen. »Bahame hält den Erreger am Leben, indem er von einem Opfer an das nächste weitergegeben wird. Sie stehen auch auf der Warteliste. Sobald klar wird, dass sie nicht mehr lang durchhält, stecken sie Sie zu ihr in die Zelle. Und wenn Sie sterben, ist Ihr Freund dran. Es tut mir leid.«

»Na großartig«, seufzte Howell, während Smith ihn unter dem Arm fasste und ihm auf die Beine half. »Sagen Sie, gibt es irgendeinen Weg …«

Er verstummte, als er Schritte kommen hörte. De Vries lief zu einem Sperrholztisch und tat so, als würde er arbeiten.

Der Mann, der wenige Augenblicke später eintrat, war nicht der, den Smith erwartet hatte. Er stammte offensichtlich aus dem Nahen oder Mittleren Osten, hatte Schweißflecken an den Kleidern und strahlte etwas seltsam Pedantisches aus. Als Smith sich ihn mit sauberen Kleidern vorstellte, kam er ihm irgendwie bekannt vor. Er hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen.

»Colonel Smith, Mr. Howell. Ich muss sagen, es überrascht mich, dass es so einfach war, Sie zu fangen.«

Der persische Akzent war das letzte Puzzlestück, das er gebraucht hatte. »Sie sehen ein bisschen heruntergekommen aus, Omidi.«

Der Mann lächelte. »Sehr gut, Colonel. Natürlich, es war wohl nicht schwer zu erraten, dass ich hier bin. Irgendjemand muss ja verhindern, dass Amerika diesen Parasiten in die Hände bekommt und gegen die islamische Welt einsetzt.«

»Sie und Bahame sind ein ausgezeichnetes Team«, warf Howell ein. »Wie heißt es so schön? Gleich und Gleich gesellt sich gern.«

Omidi ignorierte die Beleidigung im sicheren Gefühl des Sieges. »Was weiß die amerikanische Regierung von dem, was hier passiert?«

»Einiges, aber das werden Sie schon noch merken«, erwiderte Smith.

»Das wird euch nichts nützen. Euch läuft die Zeit davon.«

Wieder hallten Schritte durch die Felsenkammer, und Smith zählte sie, um einschätzen zu können, wie weit sie vom Höhleneingang entfernt waren. Er hatte schon einige Informationen über seine Umgebung gesammelt; die Gitterstäbe waren trotz der Rostflecken solide und das Schloss war modern. Einiges von der Ausrüstung im Labor konnte als Waffe eingesetzt werden, doch es war nichts dabei, mit dem sich Eisen bearbeiten ließ. Der alte Arzt war gewiss auf ihrer Seite, aber er hatte weder das Temperament noch die körperlichen Fähigkeiten, um irgendetwas Heroisches zu wagen. Omidi hatte wahrscheinlich doch recht. Sie hatten nicht mehr genug Zeit, um etwas zu unternehmen.

Sarie erschien als Erste, sie stolperte in die Kammer, wahrscheinlich von jemandem gestoßen. Einer ihrer Ärmel war blutdurchtränkt, und ihre Augen waren rot und verschwollen, doch ansonsten schien sie unverletzt zu sein.

Caleb Bahame kam nach ihr herein. Abgesehen von den grauen Schläfen sah er genauso aus wie auf den fünfundzwanzig Jahre alten Fotos, die Star ihrem Dossier beigefügt hatte.

Howell trat plötzlich ans Gitter, umfasste die Stäbe mit beiden Händen und starrte den Afrikaner wütend an, der in die Mitte der Kammer schlenderte.

»Peter Howell«, sagte er. »Es ist viele Jahre her. Du siehst krank und schwach aus.«

Bahame sah den überraschten Ausdruck in Smiths Gesicht und lächelte. »Hat Peter es Ihnen nicht gesagt? Wir sind alte Bekannte. Er hat viele meiner Männer getötet. Viele von meiner Herde.«

»Du hattest viele, hinter denen du dich verstecken konntest«, erwiderte der Brite.

»Sie lieben mich. Sie verstehen, wer ich bin. Was ich bin.«

»Und was genau ist das?«, warf Smith ein, doch Bahame beachtete ihn nicht.

»Weißt du, ich habe sogar jemanden in Amerika angeheuert, damit er dir einen kleinen Besuch abstattet, Peter. So etwas habe ich noch nie getan. Du kannst dich geschmeichelt fühlen, dass dir ein Mann wie ich so viel Aufmerksamkeit schenkt.«

»Ich erinnere mich«, sagte Howell. »Falls du ihn mal besuchen möchtest – er liegt neben meinem Schuppen begraben.«

Bahames Lächeln wurde noch breiter. »Es interessiert dich bestimmt sehr, was aus Yakobo wurde. Er war ein feiner Junge und wurde ein guter Soldat. Es wird dich sicher freuen, dass ich endlich jemanden von seiner Familie gefunden habe. Eine Tante, glaube ich. Ich habe ihm gesagt, er soll sie vergewaltigen und dann lebendig verbrennen, aber ich hätte ihn gar nicht auffordern müssen. Es hat ihm großen Spaß gemacht.«

Howell riss so heftig an den Gitterstäben, dass Staub und Erde auf sie herabregneten.

Bahame lachte. »Jetzt hat Gott dich zu mir geschickt. Genau wie er es versprochen hat. Es wird mir große Freude bereiten, mich dir zu widmen.«

»Tu es jetzt gleich«, warf Omidi ein, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, seit der Afrikaner hereingekommen war.

»Alles zu seiner Zeit.«

»Besser jetzt als irgendwann. Wir brauchen sie nicht. Sie am Leben zu lassen, ist ein unnötiges Risiko.«

Der Afrikaner machte eine wegwerfende Geste; offenbar wollte er das Gefühl auskosten, Howell in seiner Gewalt zu haben. »Ich habe gesagt, alles zu seiner Zeit. Ich benutze die Weißen, um die Geister am Leben zu halten. Um meinen Leuten zu zeigen, dass niemand gegen meine Magie ankommt.«

»Wir haben eine Vereinbarung. Wir …«

»Eine Vereinbarung? Was haben meine Gefangenen mit unserer Vereinbarung zu tun?«

»Ich habe dir gesagt, wo sie sich aufhalten. Es war meine Quelle im amerikanischen …«

»Gott hat mir gesagt, wo sie sich aufhalten. Du warst nur ein Bote, den er benutzt hat.«

Er packte Sarie an den Haaren und zog sie zu sich. Sie war klug genug, sich nicht zu wehren, doch sie gab sich keine Mühe, ihren Hass zu verbergen.

»Und jetzt habe ich die Frau. Vielleicht brauche ich dich gar nicht mehr, was, Mehrak?«

Es war offensichtlich, dass Omidi verstand, wie unsicher seine Position war. Bahame war ein religiöser Psychopath, doch er verstand genug von Biologie, um zu wissen, wie nützlich ihm Sarie dabei sein konnte, den Parasiten zu einer Waffe zu formen, die sich noch viel gezielter einsetzen ließ.

»Vielleicht können wir uns über sie einigen«, schlug Omidi vor.

Bahame machte ein leicht beleidigtes Gesicht. »Sie gehört nicht zu unserer Vereinbarung, und ich kann sie benutzen, wie ich es will.«

»Du hast natürlich recht«, räumte Omidi respektvoll ein. »Aber wir haben die nötigen Einrichtungen, um ihre Fähigkeiten bestmöglich zu nutzen. Darüber können wir doch in Ruhe verhandeln.«

Der Afrikaner nickte. »Verhandeln kann man immer unter Freunden. Komm, wir trinken zusammen und reden darüber.«

Die Ares Entscheidung
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