Kapitel achtzehn

PRINCE GEORGE’S COUNTY, MARYLAND, USA

16. November, 15:51 Uhr GMT-5

 

 

»Du kannst also nicht mehr sagen, Barry?«

Jon Smith klemmte sich den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter und sah sich in dem Büro um, das ihm Klein zugewiesen hatte. Außer einem Stuhl, einem Schreibtisch und einem Block war der Raum vollkommen leer, was genau der praktischen Wesensart des Leiters von Covert One entsprach.

»Ich weiß nicht, Jon. Es ist ziemlich ungewöhnlich, aus der Kopfhaut zu bluten. Skorbut ist das Einzige, was mir dazu einfällt, aber das würde auch nicht eine solche Blutung hervorrufen, wie du sie beschreibst. Gibt es noch andere Symptome?«

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Smith, frustriert darüber, dass er lügen musste. Die Wissenschaft lebte von einem freien Austausch der Ideen, und man konnte kaum damit rechnen, Antworten auf seine Fragen zu bekommen, wenn man sich an einen der Topleute der Harvard Medical School wandte, ihm aber wichtige Fakten vorenthielt.

»Dann weiß ich auch nicht, was ich dir sagen soll.«

»Trotzdem danke. Wenn dir noch etwas einfällt – meine Nummer hast du ja.«

Er legte auf und machte wieder ein Häkchen auf seiner langen Liste von Koryphäen auf allen möglichen Gebieten, von Toxikologie bis zu Infektionskrankheiten. Und was hatte er von ihnen bekommen? Nichts als Vermutungen. Zwar auf extrem hohem Niveau, aber trotzdem nur Vermutungen.

Jemand klopfte leise an den Türpfosten, und er blickte von seinem Block auf. »Sagen Sie mir, dass Sie gute Neuigkeiten mitbringen, Star.«

Sie war ausgebildete Bibliothekarin, doch ihr Aussehen war mehr das einer wilden Motorrad-Rockerin. Sie machte Klein damit verrückt, doch er musste es akzeptieren; sie hatte in ihrer Domäne, dem bedruckten Papier, die gleichen Qualitäten wie Marty Zellerbach auf dem Gebiet des Computers.

»Ich glaube, ich habe alles gefunden.« Dennoch klang sie seltsam mutlos.

»Gott sei Dank. Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann.«

»Ja … das Problem ist nur – wenn ich sage ›alles‹, dann meine ich das hier.« Was sie in der Hand hielt, war enttäuschend wenig – nur zwei Blatt Papier.

»Das ist alles?«

»Sorry, Jon.« Sie legte ihm die Seiten auf den Schreibtisch. »Hat Ihnen Mr. Klein von dem deutschen Arzt erzählt, der vor ungefähr sechzig Jahren von solchen Angriffen berichtet hat?«

»Ja, aber er hat mir nichts Genaueres sagen können.«

Sie tippte auf das Dokument vor ihm. »Das ist ein kurzer Bericht von einem Professor in Stanford, der einige Monate mit dem verstorbenen Dr. Dürnberg an einem Projekt in Uganda gearbeitet hat. Sehen Sie sich am besten nur den hervorgehobenen Abschnitt an – der Rest ist nur Blabla.«

Die Passage war nur ein paar Zeilen lang und sprach von einer mutmaßlichen parasitären Infektion, die beim Menschen Wahnzustände und Tobsucht auslösen würde. Dann stand da noch, dass der jüdische Arzt sich näher mit dem Phänomen beschäftigt habe. Und das war alles.

»Dr. Dürnberg lebt also nicht mehr – aber was ist mit dem guten Professor?«

»Leider nein. Von einem Hai angegriffen.«

»Im Ernst?«

»Ich schwör’s.«

Smith lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Ein Parasit. Interessant, aber ein wenig unwahrscheinlich. Er zeigte auf das Blatt, das sie noch in der Hand hielt. »Was ist das?«

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Die Krönung. Sind Sie bereit, sich beeindrucken zu lassen?«

»Jederzeit.«

Sie legte ihm die Schwarz-Weiß-Kopie mit einer schwungvollen Bewegung auf den Schreibtisch, und Smith beugte sich vor und las eine in einer eleganten Handschrift verfasste Beschreibung eines Stammes von wilden Kriegern, die mit Blut beschmiert und ohne Waffen in den Kampf zogen. Die Bewohner der umliegenden Dörfer glaubten, dass sie von Dämonen besessen wären.

»Drehen Sie’s um«, forderte Star ihn auf.

Er tat es und sah ein unscharfes Foto eines toten Afrikaners. Sein Haar war von Blut verklebt und sein Oberkörper mit schwarzen Streifen bedeckt.

»Wo haben Sie das her?«, fragte Smith aufgeregt.

»Aus dem Archiv des National Geographic.«

»Können wir mit dem Mann sprechen, der es geschrieben hat?«

Sie verzog bedauernd das Gesicht. »Sie haben das Datum noch nicht gelesen?«

Er fuhr mit dem Finger bis hinunter ans Ende des Textes. 3. Oktober 1899. Wirklich toll. Die Spur der toten Forscher und Entdecker wurde immer länger.

»Gibt’s schon Fortschritte?«

Fred Klein erschien in der Tür, die Arme vor einer Krawatte verschränkt, die schon bessere Tage gesehen hatte.

Star wurde sofort ein wenig nervös. »Ich geh dann mal.«

Sie trat zur Tür, doch Klein rückte nicht zur Seite, sondern zeigte auf den Goldring in ihrer Nase. »Neu?«

»Nein, Sir. Aber ich trag ihn nur freitags.«

Es sprach für Klein, dass er ihre Antwort hinnahm, ohne mit der Wimper zu zucken. »Sieht schick aus«, sagte er sogar.

Sie sah ihn mit einem breiten Lächeln an und huschte an ihm vorbei, auf den sicheren Flur hinaus.

Er sah ihr stirnrunzelnd nach, ehe er die Tür hinter sich schloss. »Was denken Sie darüber?«

»Nichts, was uns weiterbringt«, antwortete Smith. »Star hat eine kurze Erwähnung eines eventuellen Parasiten gefunden, der Wahnzustände hervorruft und die Leute zur Raserei bringt, aber keine Details. Und dann haben wir da dieses hundert Jahre alte Bild von einem Krieger, der in einem ähnlichen Zustand gewesen sein könnte wie die Leute, die unser Einsatzkommando angegriffen haben. Aber das beweist noch gar nichts. Es könnte einfach nur irgendein vergessenes Ritual sein, das Bahame wieder zum Leben erweckt hat.«

»Und was ist damit, dass Leute einfach so ohne Grund tot umfallen? Und dass Frauen Sprintrekorde aufstellen? Das sieht mir langsam nach mehr als nur einem Ritual aus.«

Smith nickte. »Wirklich sehr seltsam, finde ich auch. Aber auch nichts völlig Neues. Denken Sie zum Beispiel an die Berserker.«

»An wen?«

»Das waren die gefürchtetsten Wikinger. Es gibt viele Theorien darüber, woher sie kamen, aber es spricht einiges dafür, dass sie sorgfältig ausgewählt wurden, und zwar nach bestimmten Eigenschaften – vielleicht auch Geisteskrankheit  –, und das wurde mit komplexen Ritualen und Alkohol oder Drogen kombiniert. Was ich damit sagen will – sie zeigten im Kampf ähnliche Merkmale wie diese Leute in Uganda: übermenschliche Kräfte, enormes Laufvermögen, Schmerzunempfindlichkeit, Furchtlosigkeit und so weiter.«

»Sie wollen also damit sagen, Bahame stopft die Leute mit Kokain voll, verpasst ihnen eine Gehirnwäsche mit irgendwelchen abstrusen religiösen Inhalten und lässt sie dann auf seine Feinde los?«

»Es ist nicht die einzige mögliche Erklärung, aber im Moment sicher die plausibelste.«

»Und die Sache mit dem Parasiten?«

Smith zuckte die Achseln. »Das kann man auch noch nicht ausschließen. Es ist durchaus möglich, dass es einen Überträger gibt, der keine Symptome zeigt und irgendwo lebt, wo nicht oft Menschen hinkommen. Aber alle hundert Jahre oder so kann es vorkommen, dass jemand gebissen wird oder halb rohes Fleisch isst und sich dadurch infiziert.«

»Dann ist der Erreger vielleicht erst vor Kurzem wieder aufgetaucht – Bahames Leute halten sich ja meistens in entlegenen unbesiedelten Gebieten verborgen. Und jetzt ist er draufgekommen, wie er die Krankheit als Waffe einsetzen kann.«

Smith öffnete eine Schublade und zog eine Akte heraus, die alles über Caleb Bahame enthielt. Er war außergewöhnlich intelligent, und obwohl er in einem abgelegenen kleinen Dorf zur Welt gekommen war, hatte er zwei Jahre an der Makerere-Universität in Kampala studiert. Er hätte sogar ein Stipendium für eine Londoner Universität bekommen, neigte aber zunehmend zu ekstatischen Visionen und zur Gewalt. Schließlich wurde er der Universität verwiesen.

Danach hatte er sich eine Zeit lang als Drogendealer durchgeschlagen und immer wieder einmal die Seite gewechselt. Nach zwei Jahren verschwand er plötzlich spurlos und tauchte erst fünf Jahre später als der brutale Terrorist und Guerillaführer wieder auf, der er heute war.

Smith blätterte weiter und kam zu Bahames Studienunterlagen. »Er hat zuerst Biologie als Hauptfach studiert, hat dann aber abgebrochen und sich mehr auf Religion konzentriert. Er hatte aber immer die besten Noten …«

»Würde das reichen?«

»Bahame ist ein Psychopath, aber er ist nicht dumm. Wenn irgendein Krankheitserreger in seinem Umfeld auftaucht, dann würde er ihn wahrscheinlich erkennen. Aber es wäre genauso wahrscheinlich, dass er irgendeine halluzinogene Droge im Dschungel gefunden hat – vor allem, wenn man bedenkt, dass er früher im Drogengeschäft war. Das sind natürlich alles nur Spekulationen. Das Verhalten dieser Leute ist ziemlich komplex.«

»Komplex?«, fragte Klein ungläubig. »Sie führen sich auf wie wilde Tiere, das ist alles.«

»Mag sein, aber wie wilde Tiere, die ihre Wut alle in die gleiche Richtung lenken und sich nicht gegenseitig angreifen. Denken Sie an das chaotische Verhalten, das zum Beispiel eine Gruppe von Tollwütigen an den Tag legen würde, oder Leute, die mit LSD zugedröhnt sind. Aber diese Leute waren überhaupt nicht chaotisch, sondern sehr zielgerichtet. Mein Tipp wäre religiöse Massenhysterie, verstärkt mit irgendwelchen Drogen aus der Gegend.«

Klein warf ihm die Akte, die er mitgebracht hatte, auf den Schreibtisch. »Dann wird es Sie freuen, dass die Analytiker der Agency zum selben Ergebnis kommen. Das ist die Analyse, die Larry Drake im Weißen Haus abgeliefert hat.«

Smith legte die Unterlagen über Bahame beiseite und schlug den CIA-Bericht auf. Er blätterte die detaillierte Analyse durch, die von afrikanischen Ritualen über Pol Pot bis zu Nazideutschland reichte.

»Ich würde dem meisten, was hier steht, sofort zustimmen, Fred. Hat der Präsident nach der möglichen Verbindung zum Iran gefragt?«

»Ja.«

»Und?«

»Larry hat davon gewusst und ihm eine einleuchtende Erklärung für die Dinge geliefert, die wir aufgeschnappt haben. Castilla ist damit zufrieden und hat mir mitgeteilt, dass wir in der Sache nichts zu unternehmen brauchen.«

»Das ist doch gut, oder? Genau das wollten Sie ja.«

»Ja – bevor ich gehört habe, was uns Ihr Freund über die Aufnahmen erzählt hat. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass wir’s da mit etwas zu tun haben, das der Iran in die Hände bekommen und auch einsetzen könnte, dann fühle ich mich fast verpflichtet, der Sache nachzugehen.«

»Und der Präsident?«

»Ich treffe mich heute Nachmittag noch mit ihm, um Zellerbachs Schlussfolgerungen durchzugehen, da werde ich ihn bitten, uns ein bisschen herumschnüffeln zu lassen.«

Smith klappte den Bericht zu und blickte zu seinem Chef auf. »Dann werde ich wohl eine Gratisreise nach Afrika machen. Aber ich warne Sie, Fred – ich werde jemanden mitnehmen müssen, der mehr von Parasiten versteht als ich.«

»Wenn Sie einen Namen haben, geben Sie ihn Maggie, damit sie sich um alles kümmert.«

»Und ich will auch Peter mitnehmen.«

Klein verzog das Gesicht. »Wir haben Leute in Afrika, die Ihnen helfen können.«

»Ich weiß, und ich bin überzeugt, dass sie ihr Handwerk verstehen. Aber Peter hat etwas, was sie nicht haben.«

»Was?«

»Er hat eine Menge Erfahrung darin, mich am Leben zu erhalten.«

Die Ares Entscheidung
cover.html
e9783641091972_cov01.html
e9783641091972_fm01.html
e9783641091972_ata01.html
e9783641091972_toc01.html
e9783641091972_c01.html
e9783641091972_c02.html
e9783641091972_c03.html
e9783641091972_c04.html
e9783641091972_c05.html
e9783641091972_c06.html
e9783641091972_c07.html
e9783641091972_c08.html
e9783641091972_c09.html
e9783641091972_c10.html
e9783641091972_c11.html
e9783641091972_c12.html
e9783641091972_c13.html
e9783641091972_c14.html
e9783641091972_c15.html
e9783641091972_c16.html
e9783641091972_c17.html
e9783641091972_c18.html
e9783641091972_c19.html
e9783641091972_c20.html
e9783641091972_c21.html
e9783641091972_c22.html
e9783641091972_c23.html
e9783641091972_c24.html
e9783641091972_c25.html
e9783641091972_c26.html
e9783641091972_c27.html
e9783641091972_c28.html
e9783641091972_c29.html
e9783641091972_c30.html
e9783641091972_c31.html
e9783641091972_c32.html
e9783641091972_c33.html
e9783641091972_c34.html
e9783641091972_c35.html
e9783641091972_c36.html
e9783641091972_c37.html
e9783641091972_c38.html
e9783641091972_c39.html
e9783641091972_c40.html
e9783641091972_c41.html
e9783641091972_c42.html
e9783641091972_c43.html
e9783641091972_c44.html
e9783641091972_c45.html
e9783641091972_c46.html
e9783641091972_c47.html
e9783641091972_c48.html
e9783641091972_c49.html
e9783641091972_c50.html
e9783641091972_c51.html
e9783641091972_c52.html
e9783641091972_c53.html
e9783641091972_c54.html
e9783641091972_c55.html
e9783641091972_c56.html
e9783641091972_c57.html
e9783641091972_c58.html
e9783641091972_c59.html
e9783641091972_c60.html
e9783641091972_c61.html
e9783641091972_c62.html
e9783641091972_c63.html
e9783641091972_c64.html
e9783641091972_c65.html
e9783641091972_c66.html
e9783641091972_c67.html
e9783641091972_c68.html
e9783641091972_c69.html
e9783641091972_c70.html
e9783641091972_c71.html
e9783641091972_c72.html
e9783641091972_c73.html
e9783641091972_c74.html
e9783641091972_c75.html
e9783641091972_c76.html
e9783641091972_c77.html
e9783641091972_c78.html
e9783641091972_c79.html
e9783641091972_c80.html
e9783641091972_c81.html
e9783641091972_c82.html
e9783641091972_c83.html
e9783641091972_c84.html
e9783641091972_c85.html
e9783641091972_c86.html
e9783641091972_c87.html
e9783641091972_c88.html
e9783641091972_c89.html
e9783641091972_c90.html
e9783641091972_c91.html
e9783641091972_c92.html
e9783641091972_bm01.html
e9783641091972_bm02.html
e9783641091972_cop01.html