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Bei einigen Hochzeiten wusste man schon im Voraus, dass die Ehe nicht von Dauer sein würde.

Jaclyn atmete tief ein, langsam aus und versuchte, eine möglichst neutrale Miene aufzusetzen. Die Fotos von diesem Event würden es nie in die Broschüren schaffen, mit denen Premier potentiellen Kunden seine Dienste anbot. Nie und nimmer. Sie hoffte sogar inständig, niemand würde je erfahren, dass sie überhaupt involviert gewesen waren.

Das war nicht die Art Hochzeit, der einen Eventdesigner erforderlich gemacht hätte, doch die Mutter des Bräutigams, die über die Pläne der Braut entsetzt gewesen war, hatte Premier auf den letzten Drücker engagiert, um der Festivität wenigstens einen Hauch Würde zu verleihen. Jaclyn war jetzt klar, dass sie den Auftrag nicht hätte übernehmen sollen – nicht, wenn sie eh schon so wahnsinnig viel zu tun hatten –, aber die arme Frau war so verzweifelt gewesen, und das aus gutem Grund. Die schreckliche Wahrheit war, dass Jaclyn fürchtete, gar nicht groß etwas tun zu können, um Abhilfe zu schaffen; die Frau wäre also ihr Geld los, und die Hochzeit wäre dennoch eine Katastrophe, was wiederum nur mit schlechtem Karma zu tun haben konnte, denn sie würde ihr letztes Hemd verwetten, dass die Ehe genauso schlimm würde.

An diesem Abend fanden zwei Hochzeiten und eine Hochzeitsprobe statt – das Crescendo ihres Wahnsinnstempos; und wenn sie diese beiden Events hinter sich hatten, würde es morgen mit zwei Hochzeiten und nur einer Probe etwas leichter werden. Am Sonntag würde zum Glück die letzte der sechs Hochzeiten stattfinden, und anschließend ginge es dann mit einem normaleren Terminplan weiter – oder zumindest war er weniger wahnsinnig. Wenn Madelyn je wieder so viele Hochzeiten so kurz aufeinander buchte, dann würde Jaclyn, das schwor sie sich, in Urlaub gehen und erst zurückkommen, wenn alles gelaufen war.

Normalerweise betreute Jaclyn immer eine der Hochzeiten, während Peach und Diedra die Proben beaufsichtigten. Doch nun war sie hier, weil sie nämlich die Einzige von Premier war, die der Familie der Braut gegenübertreten konnte, ohne die Geduld zu verlieren oder laut herauszulachen. Diese Hochzeitsprobe und die morgige Hochzeit waren allein ihre Sache, ob es ihr passte oder nicht. Zum Glück hatte die Familie eingewilligt, die Hochzeitsprobe unwesentlich früher abzuhalten als allgemein üblich, sodass Jaclyn direkt von hier zur Bulldog-Hochzeit weiterziehen konnte, wo Diedra bereits hart an der Arbeit war. Dazwischen betreuten Madelyn und Peach die andere Hochzeitsprobe – sie nannten sie mittlerweile »das Familiendrama« – und die Hochzeit in Pink ebenfalls.

Diese Hochzeit war so ziemlich verlorene Liebesmüh, doch Jaclyn hatte es zumindest geschafft, der Braut eine Hochzeitstorte mit dem Motto NASCAR-Autorennen auszureden. Dieser eine Punkt ging zu ihren Gunsten, aber selbst jetzt behauptete die Braut noch, wie süß es gewesen wäre, wenn kleine Figuren von Braut und Bräutigam aus einem mit einem Abziehbild versehenen Modellauto gestiegen wären, das exakt wie der Schlitten von Dale Junior hätte aussehen müssen. Jaclyn war kein Fan von Autorennen, aber zumindest wusste sie, wer Dale Junior war, und sie war sich relativ sicher, dass er kein knallblaues Auto fuhr. Aber offensichtlich waren ja diese Aufkleber wichtig.

Jaclyn überzeugte die Brautmutter auch, dass es nicht sonderlich passend war, den Schuppen, in dem die Hochzeit morgen stattfinden sollte, mit einer mehrfarbigen Weihnachtslichterkette zu schmücken (»Aber die blinken doch so nett!«). Sie arrangierte die Musik zum Teil um, sodass die Braut nun zumindest zu den Klängen des Hochzeitsmarsches zum Altar schreiten würde anstatt zu Willie Nelson oder Brad Paisley. Willie und Brad könnten noch ihre Aufwartung machen, bloß nicht wenn die Braut gerade zu ihrem größten Glück unterwegs war. Morgen würden auch echte Blumen verwendet, nicht die Plastikblumen, die die Braut ursprünglich hatte benutzen wollen, weil sie – wie sie gesagt hatte – nie verwelkten und sich in ihrem neuen Heim wiederverwenden ließen. Entweder dort oder bei den Blumenarrangements am Gedenktag Ende Mai auf dem Friedhof, wo ihr Vater begraben lag. Die Blumen waren nicht einmal aus schöner Seide gewesen, sondern wirklich aus Plastik, und wiesen noch dazu alle Regenbogenfarben auf – kaum eine hätte sich als Zierde des Wohnzimmers geeignet.

Wenn sie nicht so schockiert gewesen wäre, dachte Jaclyn mit einem Anflug von Hysterie, dann wäre ihr sicherlich aufgefallen, wie hervorragend die Plastikblumen zu den blinkenden Weihnachtslichtern gepasst hätten. Ihr gefielen sie sogar sehr … aber an Weihnachten eben. Und Plastikblumen konnte sie grundsätzlich nicht leiden.

Zum Glück gab es für die Hochzeitsprobe im Schuppen zu so später Stunde am Nachmittag keine spezielle Beleuchtung; die Probe und der Empfang wurden in einem Restaurant mit Bar abgehalten, das dem »Geistlichen« gehörte. Leider handelte es sich bei dem Lokal um Porky’s BBQ, überall waren Schilder angebracht, die das Essen anpriesen. Am auffälligsten war die stolze Behauptung: DAS FEINSTE FLEISCH DER GANZEN STADT. An zweiter Stelle kam: HIER DER FLEISCHESLUST FRÖNEN.

Sie wusste nicht recht, ob der Geistliche auch wirklich einer war, doch das war zu diesem Zeitpunkt jetzt ihre geringste Sorge. Für den Bräutigam wäre es sogar ein Segen, wenn die Ehe nicht gültig wäre, und so hielt sie den Mund, was den Geistlichen anging.

Ein Altar war unter der Neonreklame für Budweiser zusammengeschustert worden; sie leuchtete grell, bis Jaclyn darauf bestand, dass sie abgeschaltet wurde. Wenn ihr eine Möglichkeit eingefallen wäre, sie entfernen zu lassen, hätte sie das getan, aber wie die Schilder mit der Werbung fürs Fleisch war auch dieses Schild an der rustikalen Holzvertäfelung befestigt. Bunte Plastikblumen – mit ziemlicher Sicherheit die Exemplare, die Jaclyn von der Hochzeit verbannt hatte – schmückten nun die Tische unter dem mittlerweile erloschenen Neonschild. Die Blumen harmonierten farblich nicht mit den rot-weißen Karotischdecken. Einige der Tische waren rund, einige viereckig, die Tischdecken jedoch waren allesamt viereckig.

Die Tischdecken, Plastik hin oder her, waren gar nicht so schlimm. Es lag an dem Motto, an dem sie hätte arbeiten können – mit entsprechend Zeit, Geld und vor allem der Erlaubnis. Weiße Gänseblümchen, rot-weiße Teller und Gläser, und das elegante Picknick-Motiv wären perfekt gewesen. Stattdessen konnte sie jetzt bestenfalls noch eine Katastrophe abwenden.

Doch leider hielt sie dies für fast unmöglich.

Die Mutter des Bräutigams, eine Witwe mittleren Alters, war sehr blass, jedoch redlich um ein Lächeln bemüht. Es war ein unentschlossenes, unsicheres Lächeln, und Jaclyn war sich relativ sicher, dass die arme Frau die Zähne zusammenbiss. Ihr Mitgefühl hatte sie jedenfalls. Selten hatte sie in einem Raum so viele Typen mit Vokuhila-Frisur – vorne kurz und hinten lang – auf einmal gesehen. Der Dresscode bei diesem Event war superleger. Nur Jaclyn, die Mutter des Bräutigams und seine Schwestern waren angemessen gekleidet, und das hieß im Grunde, dass sie keine Jeans und T-Shirts mit aufgedrucktem Spruch trugen. Und der Geistliche – sie war sich ziemlich sicher, dass er sich den Titel im Internet organisiert hatte –, nun, da konnte sie nur hoffen, dass er sich morgen ein bisschen aufmöbeln und vielleicht wenigstens eine Krawatte umbinden würde. Der große Mann mit mächtigem Schnauzbart hatte sich ein rotes Tuch um den wohl kahlen Kopf geschlungen. Heute Abend trug er verwaschene Jeans und ein Harley-Shirt mit ausgerissenen Ärmeln, sodass auf beiden Armen seine farbenfrohen Tattoos von der Schulter bis zum Handgelenk sichtbar waren.

Andererseits, wenn sie je behaupten konnte, dass ihre Dienste erforderlich waren, dann sicher hier und jetzt. Keiner hatte die geringste Ahnung, wo er sich hinstellen sollte und wie der Event überhaupt ablaufen sollte. Vielleicht würde die Brautmutter ja zu einem Brad Paisley-Song mit dem Thema Check me for Ticks Platz nehmen, aber sie sollte sich, Donnerwetter noch mal, wenigstens im richtigen Moment auf den richten Platz setzen.

Wenn morgen alles klappte, wie geplant, natürlich. Wenn weder die Braut noch ihre Mutter heute Abend festgenommen wurden. Wenn der Geistliche nicht von einer rivalisierenden Motorradbande gemeuchelt wurde.

Es gab viele Wenns, und Jaclyn fürchtete, dass die Chancen, dass alles glattgehen würde, relativ schlecht standen.

Zuerst einmal musste sie jedoch den heutigen Abend durchstehen.

Die Weihnachtsbeleuchtung, die Jaclyn mit sanfter Gewalt von der Hochzeitsfeier verbannt hatte, blinkte bereits. Überall hingen die Lämpchen in fröhlicher Zufälligkeit total daneben herum. Aber zumindest war sie in der Lage gewesen, den Freunden der Braut auszureden, alles in Reichweite mit diesen blinkenden, bunten Lichtern zu bestücken – vom Bierzapfhahn hinter der Bar bis zum Brotlaib auf dem langen Tresen.

Jedenfalls war diese katastrophale Hochzeitsprobe bizarr genug, um ihre Gedanken eine Weile von Carrie Edwards und Eric Wilder abzulenken. Nun, ehrlich gesagt, sie dachte längst nicht so viel an Carrie wie an Eric, und das war irgendwie traurig. Aber nun auch wieder nicht so traurig, um sich länger mit dieser Frau zu beschäftigen.

Aber Eric … Er war der wahnsinnigste Typ, den sie je kennengelernt hatte. Je mehr sie sich bemühte, nicht an ihn zu denken, desto hartnäckiger setzte er sich in ihrem Groß- und Kleinhirn fest. Seinetwegen hatte sie sich zum Idioten gemacht, und wie sie heute Abend dem Geistlichen bei der Bulldog-Hochzeit gegenübertreten sollte, wusste sie absolut nicht. Vielleicht sollte sie ja einfach so tun, als hätte sie sich in einem Dämmerzustand befunden und könnte sich an nichts mehr erinnern.

Aber sie war dann doch in der Lage, Eric aus ihrem Denken zu verbannen, während sie die Hochzeitsprobe beaufsichtigte – was dem Einfangen von Wildschweinen gleichkam, um ihnen dann eine Schleife an den Kringelschwanz zu binden. Die Schleifen halfen auch nicht viel, und die Wildschweine waren grimmig. Die Probe verlief dann relativ gut; auf dem Gesicht der Mutter des Bräutigams machte sich langsam wieder ein Hauch Farbe breit – bis der Geistliche auf den Putz haute und alle zur Bar dirigierte, wo heiße Chickenwings und Bier warteten, gefolgt von einem Bananendessert und Schokokeksen.

Sofort wich wieder jegliche Farbe aus dem Gesicht der Frau. Jaclyn hatte die Bescherung schon vorher bemerkt und mit Entsetzen die Tonnen von Zuckerguss auf den Schokokeksen und die bunten Zuckerstreusel auf dem Dessert registriert. Ihre Klientin hatte – mit aller Anstrengung – versucht, ein anständiges Probedinner zusammenzustellen. Zumindest bei diesem Punkt der Hochzeit hätte sie selbst die Fäden in der Hand halten sollen. Doch das glückliche Paar hatte darauf bestanden, dass es keinen Sinn machte, groß irgendwo hinzufahren, da das Essen hier doch prima sei und sie das Lokal am heutigen Abend für sich hätten. Im Grunde hatten sie die Mutter des Bräutigams überrumpelt.

Jaclyn hörte sogar eine der Töchter flüstern, dass ihr Sohn womöglich mit einem anderen Baby im Krankenhaus vertauscht worden sein könnte, weil diese Frau doch keinen Jungen auf die Welt gebracht haben konnte, der ihr so etwas antat.

Der Bruder der Braut mit Vokuhila-Frisur machte sich an Jaclyn heran, bedachte sie mit einem aufmunternden Lächeln und nickte. Mit wissendem Blick sagte er: »Kaum zu glauben, dass ein hübsches Ding wie du allein hier ist. Eine Frau wie du sollte nie unbemannt sein.«

»Ich bin bei der Arbeit«, erwiderte Jaclyn frostig.

Der Knabe – über einundzwanzig oder zweiundzwanzig war er bestimmt nicht – kapierte den Wink nicht. Er ging näher an sie heran, drang in ihre Privatsphäre ein mit seinem Geruch nach frischem Bier und abgestandenem Atem. Ach du heiliger Himmel, da blitzten seine kaputten Zähne auf. Er sollte lieber nicht lächeln. Nein, wahrhaftig nicht. Jaclyn trat einen Schritt beiseite. Wenn er sie anrührte, würde sie ihn plattmachen, aber ja doch. Sie hatte in den letzten zwei Tagen schon mehr ertragen, als ihr eigentlich möglich war, und wenn er ihr jetzt den Rest gab, dann würde sie nicht lange fackeln und sich revanchieren – diesmal mit Sicherheit.

Na, das würde sich gut machen, solange sie des Mordes an Carrie Edwards verdächtigt wurde. Doch manches war den Preis wert, den es zu bezahlen galt.

»Ich würde dich gern nach Hause fahren, Süße.«

Sie bedachte den Typen mit der Vokuhila-Frisur mit einem raschen, entschiedenen »kein Interesse« und wandte sich ab.

Ihre Arbeit war getan, Gott sei Dank. Wenn sie es, ohne belästigt zu werden, bis zu ihrem Auto schaffte, musste sie noch die Bulldog-Hochzeit über die Bühne bringen – mit dem Ringträger, der dank Erics Intervention nun einen Football-Helm tragen würde; aber Diedra würde ihr ja helfen. Der morgige Tag würde sehr lang werden, und deshalb sollte sie jetzt nach Hause fahren, sich ins Bett legen und sich die Decke über den Kopf ziehen. Gerade als sie sich von der Frau, die sie engagiert hatte, verabschieden wollte, ging die Tür des Restaurants auf. Die Brautmutter fauchte mit ihrer kratzigen Raucherstimme: »Das ist eine Privatparty. Kannst du nicht lesen, da steht ›geschlossen‹ auf dem Schild, Schwachkopf.«

Alle drehten sich um, und Jaclyn riss entsetzt die Augen auf, als sie den groß gewachsenen, muskulösen Mann erkannte, der seinen durchdringenden Blick durch die Kneipe schweifen ließ. Eric bedachte die Brautmutter mit einem eisigen Blick und zückte seinen Dienstausweis: »Detective Schwachkopf, wenn’s recht ist.«

Plötzlich wurde es ganz still. Zum ersten Mal an diesem Abend hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Dann sagte die Brautmutter resigniert: »Das mit dem Schwachkopf tut mir leid. Kommen Sie doch herein.« »Wenn es sein muss« blieb unausgesprochen.

Einige der Gäste wirkten wirklich alarmiert, und Jaclyn fragte sich, wie viele wohl meinten, der Bulle sei ihretwegen da. An so ziemlich jedem anderen Abend hätten sich ihre Befürchtungen ja bestätigt, doch heute waren sie sicher. Detective Wilder war wegen Jaclyn gekommen.

Sie stolzierte auf ihn zu, erhobenen Hauptes und mit blitzenden Augen. Es war das zweite Mal, dass er sie bei der Arbeit störte. Einmal war schon zu viel gewesen, zweimal absolut ärgerlich.

»Ich habe noch einige weitere Fragen«, sagte er, als sie auf ihn zukam. Hinter ihr wurde die Feier wieder aufgenommen, wobei die Gäste allerdings etwas gedämpfter waren als zuvor und sich zig Augenpaare auf den Neuankömmling richteten. Was auf Gegenseitigkeit beruhte. Eric schaute nämlich nicht sie an, sondern hatte seinen Blick auf den Saal hinter ihr gerichtet.

»Kann das nicht warten?«, fragte sie leise mit angespannter Stimme, sodass nur er es hören konnte.

»Nein, ich muss heute Abend mit Ihnen reden.« Er ließ seinen Blick durch den Saal schweifen, lächelte süffisant und meinte: »Hübsche Arbeit übrigens. Die Weihnachtsbeleuchtung gefällt mir besonders gut – peppt alles so richtig auf.«

»Leck mich.«

Sein Blick richtete sich auf ihr Gesicht, nahm sie ins Visier. »Immer gern, meine Süße«, erwiderte er. »Über-
all.«

Sie wurde aschfahl und wich einen Schritt zurück. Nein. Nachdem er sich ihr komplett entzogen hatte, als sie seiner Versicherung bedurft hätte, dass er sie für unschuldig hielt, würde er sich nicht einfach so wieder ins Spiel bringen und von ihr erwarten, dass sie darauf auch noch einging. »So reden Sie nicht mit mir, damit das klar ist«, erwiderte sie frostig. »Jetzt nicht. Nie mehr.« Obwohl sie die Sache natürlich ins Rollen gebracht hatte mit ihrem »Leck mich« – und somit musste sie sich wieder einmal bei ihm entschuldigen. Es schien sich zu einer Gewohnheit auszuwachsen, dass sie verbal auf ihn losging, sobald sie ihn sah; jedenfalls musste sie sich entschuldigen – oder besser gleich eine Blanko-Entschuldigung schreiben und sie mehrfach ausdrucken, um ihm jedes Mal, wenn ihr das Mundwerk durchging, eine davon zu geben.

Bevor ihr die Worte noch über die Lippen kamen, wanderte sein Blick zu ihrem Mund. »Ja«, sagte er, »wirklich.«

Ihr fiel darauf keine Antwort ein, und so öffneten sich ihre Lippen, doch es kam kein Ton heraus. Bevor sie sich fassen konnte, ließ er erneut ein süffisantes Grinsen sehen und nickte in Richtung Geistlichem. »Wieso tragen Sie heute nicht Ihr spezielles Hochzeitsdesignergewand?«

Ihr Bedürfnis, sich bei ihm zu entschuldigen, wurde von dem Bedürfnis überschwemmt, ihm die Reste des Bananendesserts auf dem großen Tablett über den Kopf zu kippen. Nachdem sie sich gestern Abend durch ihren Kontrollverlust selbst gedemütigt hatte, bekämpfte sie diesen Impuls jedoch mit all ihrer Willenskraft, die ihr zur Verfügung stand. Sie weigerte sich, ja sie weigerte sich absolut, sich von ihm in den Wahnsinn treiben zu lassen. Sie würde sich besonnen verhalten, und wenn es sie umbrachte. »Das hebe ich mir für morgen auf«, presste Jaclyn schließlich heraus. Ausflüchte und Erklärungen steckten ihr gleichsam real in der Kehle. Sie wollte ihm erklären, wie viel schlimmer diese Hochzeit ohne ihre Dienste gewesen wäre; sie wollte ihm diese ganze fürchterliche Litanei erzählen – von dem Schuppen und den Plastikblumen und dem Song von Brad Paisley, doch nie und nimmer würde sie diesem Eric Wilder auch nur die geringste Erklärung geben.

Sie straffte die Schultern und bedachte ihn mit einem entschiedenen, standhaften Blick. »Stellen Sie Ihre Fragen, aber machen Sie voran. Ich habe noch einen Termin, und ich muss in einer Stunde dort sein. Was möchten Sie wissen?«

»Ich dachte, wir könnten den Mittwochnachmittag noch einmal durchgehen – schauen, ob Sie sich hinsichtlich des Mannes, den Sie gesehen hatten, doch noch an etwas erinnern können; oder ob Ihnen vielleicht noch etwas eingefallen ist, das Carrie gesagt hatte und das …«

»Geben Sie’s auf, Detective«, erwiderte sie barsch. »Ich habe Ihnen bereits alles erzählt, woran ich mich erinnere. Wie oft sollen wir das denn noch durchkauen?«

»So oft wie nötig.« Er schaute sie prüfend an, ohne jeglichen Humor, den er einen Augenblick zuvor noch zur Schau gestellt hatte.

»Kann das nicht warten, bis …«

»Herr Wachtmeister«, rief der Geistliche, und beide drehten sich zu dem massigen Mann mit Schurbart um, der jetzt hinter der Bar stand. »Wie wäre es mit einem Bierchen und ein paar Chickenwings?«

Eric korrigierte den Geistlichen nicht; er sagte ihm nicht, dass er Detective war und kein Wachtmeister, denn für diese Leute hier machte das keinen Unterschied: Bulle blieb Bulle. »Nein danke, kein Bier, aber die Chickenwings würde ich gern probieren und dazu vielleicht ein großes Glas Tee mit Zucker trinken.« Er ging an Jaclyn vorbei in Richtung Bar.

»Alles klar«, erwiderte der massige Mann. »Wir haben auch Schokokekse. Wenn Sie ein bisschen eher gekommen wären, hätten Sie auch noch was von dem Bananendessert kriegen können, aber das ist inzwischen alle.«

Und somit war ihr Plan dahin, ihm das Bananendessert über den Kopf zu kippen. Jaclyn drehte sich um und folgte Eric zur Bar. Sie war so aufgebracht, dass sie sich wie in einem viktorianischen Melodrama vorkam. Sie hätte am liebsten mit dem Finger auf ihn gezeigt und absolut entrüstet gesagt: Wie können Sie es wagen! Was zum Teufel hatte er hier zu suchen? Das war ihre Welt, ihr Job, ihr Leben – und er war hinter ihr her, als würde er damit rechnen, sie mitten bei einem Terroranschlag zu schnappen. Das war nicht gut fürs Geschäft. Einmal ließ sich ja noch als Ausrutscher erklären, aber zweimal? Und was, wenn er morgen wieder aufkreuzte? Dann würde das Gerücht die Runde machen, dass bei Premier etwas nicht stimmte, und Leute, denen das nicht passte, würden sich nach einem anderen Eventdesigner umsehen.

Sobald Eric sich von der Tür entfernt hatte, flüsterte ein Paar, das seine Riesenteller mit Essen noch längst nicht leergefuttert hatte, den Tischgenossen ein schnelles Tschüss zu, um dann möglichst unauffällig durch die Tür zu verschwinden, denn schließlich waren sie die ersten Gäste, die gingen. Ein weiterer Mann stand in aller Ruhe auf und verschwand. Der Bursche mit der Vokuhila-Frisur heftete sich an seine Fersen; er konnte gar nicht schnell genug aus dem Porky’s herauskommen. Ihr war schon klar gewesen, dass diese Leute anders als ihre üblichen Kunden waren, aber wo war sie hier bloß hineingeraten?

»Wie viele sind gegangen?«, fragte Eric, als sie neben ihm auftauchte.

»Vier.«

Er ließ einen Grunzlaut hören. »Ich hatte mit fünf gerechnet.«

Sie wusste, sie sollte sich nicht in ein Gespräch verwickeln lassen. Sie wusste, sie sollte seine Fragen beantworten und dann möglichst schnell einen Abgang machen. Doch ihre Neugier war stärker. »Wer ist der fünfte?«

Er warf einen zufälligen Blick über die Schulter, sondierte die Person, über die er gerade sprach. »Die Frau, der die Titten aus dem roten, rückenfreien Oberteil heraushängen.«

Ach du liebe Güte, das war ja die Braut!

Sie hatte sich noch nicht von dem Schock erholt, da klopfte er auf den Stuhl neben sich und sagte: »Na los, setzen Sie sich zu mir, dann können wir uns unterhalten.«

Plötzlich hatte sie die Nase voll. Sie musste hier raus, und wenn es ihm nicht passte, auch gut. Sie deutete auf ein Schild hinter der Bar, auf dem stolz geschrieben stand: FRISS ODER FICK DICH. Letzteres wohl.

Jaclyn machte kehrt und ging zu einem Tisch, wo die einzigen drei Frauen, die in diesem Raum nicht ihre Brüste zur Schau stellten, beieinandersaßen, als wären sie von Außerirdischen umgeben, die jeden Moment angreifen könnten. Die ältere Frau machte einen elenden Eindruck; Eric zog daraus den scharfen Schluss, dass der Bräutigam ihr Sohn sein musste. Als er sich umschaute, konnte er den Burschen sogar ausmachen; er war ziemlich fertig, aber es fehlte ihm noch dieses komplett abgestürzte Aussehen, das er im Schlaf wiedererkennen würde.

Sie hatten Glück, dass er nicht im Sittendezernat arbeitete. Ihm war es egal, ob einer Koks dabeihatte oder ein Haftbefehl ausstand. Er musste reagieren, wenn einer ein Drogenlabor auf vier Rädern auf dem Parkplatz stehen hatte, und beim Hereinkommen hatte er in der Tat prüfend geschnüffelt – aber ansonsten hatten sie nichts zu befürchten. Auf sie hatte er es heute Abend nicht abgesehen.

Nein, sein Ziel ragte heraus wie ein Diamant in einer Schale mit Steinen. Jaclyn hatte Klasse, sie war schön und couragiert. Andere Frauen wären in Tränen ausgebrochen oder hätten einen Nervenzusammenbruch erlitten, sie aber blieb cool. Relativ cool zumindest. Ihr Gang brachte ihn schier um: sexy, langsam und aufreizend. Das enge blaue Business-Kostüm lag an den richtigen Stellen an. Es war in der Taille schmal geschnitten, sodass ihre durchtrainierte Figur erkennbar war; der Rock hörte kurz über den Knien auf, was ihm einen Blick auf ihre Beine erlaubte. Der funkelnde Blick, mit dem sie ihn bedacht hatte, ging ihm durch und durch – allerdings nicht, wie sie ihn gemeint hatte.

Nachdem sie mit den entsetzten Damen ein paar Worte gewechselt hatte, schenkte sie ihnen noch ein Lächeln und verließ dann das Restaurant, ohne sich umzudrehen. Eric ließ sich von seinem Barhocker gleiten und folgte ihr. Keiner bedauerte, dass er ging, und niemand ließ eine Bemerkung fallen, dass er nur zwei Bissen von den Chickenwings gegessen und bloß einen Schluck Tee getrunken hatte. Er war fast schon beleidigt, weil niemand Tschüss zu ihm sagte.

Auf dem Parkplatz holte er Jaclyn mühelos ein; sie hatte zwar lange Beine, doch der enge Rock und die hohen Absätze hinderten sie, schnell auszuschreiten.

»Ich muss wirklich mit Ihnen reden«, sagte er, als sie gerade ihrem bei Jaguar ankam.

»Wenn Sie mich noch einmal verhören wollen, rufen Sie meinen Anwalt an.«

»Verdammt, Jaclyn, hören Sie mir doch zu!«, erwiderte er scharf, wobei seine Verstimmung aufflammte.

»Für Sie bin ich immer noch Ms. Wilde«, fauchte sie, als sie ihre Autotür öffnete und ihre Handtasche auf den Beifahrersitz warf. Sie stieg ein, doch bevor sie die Tür schließen konnte, hielt er sie oben an der Kante fest.

»Der Mann, den Sie gesehen haben, der grauhaarige«, setzte er an. »Können Sie …«

Sie bedachte ihn mit einem ungläubigen Blick, den er sogar auf dem nicht sonderlich gut beleuchteten Parkplatz noch deuten konnte. »Was soll ich sagen, damit Sie es in Ihren Kopf reinkriegen?«, fragte sie ungläubig. »Ich habe nicht auf sein Gesicht geachtet, und ich kann sein Auto nicht identifizieren; das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass es eine silberfarbene Limousine war. Ich bin keine Frau, die sich mit Autos auskennt. Ich kann nur mit Sicherheit sagen, dass es kein Laster oder Geländewagen war, aber das war’s auch schon. Die Farbe könnte vielleicht in Richtung Champagner gegangen sein, aber ich bin mir relativ sicher, dass sie Silber war. Alles Weitere weiß ich nicht. Nachdem ich Carrie – lebendig – zurückgelassen hatte, war ich total aufgeregt; ich war wütend. Und ich habe nicht versucht, mir ein fremdes Gesicht auf dem Parkplatz zu merken. Sind wir damit jetzt fertig? Ich habe einen Job, den ich irgendwie machen will, insofern Sie mir jetzt den Weg freigeben!« Sie riss die Autotür zu, und er musste seine Hand wegziehen, damit sie nicht zerquetscht wurde.

Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, ließ sie den Motor an und schoss von dem Parkplatz, dass die Räder fast auf den Kieselsteinen durchdrehten. Vermutlich war das ja Absicht gewesen.

Nun, dieses Gespräch war im Großen und Ganzen verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Und wenn er auch nichts Nützliches gefunden hatte, so hatte er doch einen ersten Schritt zu einem persönlicheren Umgang mit ihr getan. Und sie allerdings auch verärgert. Die Verbindung bestand noch. Selbst wenn sie total wütend war, selbst wenn sie darum kämpfte, es nicht zu zeigen: Die Verbindung war vorhanden.

Er schaute ihren Rücklichtern nach, bis sie außer Sichtweite waren, und fragte sich, ob er ihr zu der Hochzeit hinterherfahren sollte; doch welchen Sinn hätte das? Eine Hochzeit war nicht wie dieser Zirkus beim Probedinner. Sie wäre beschäftigt und absolut nicht glücklich, ihn zu sehen. Somit war es klüger, ihr heute Abend etwas Spielraum zu geben, damit sie sich beruhigen und ein wenig nachdenken konnte. Er benutzte den Mann, den sie gesehen hatte, nicht nur als Mittel zum Zweck; manchmal erinnerten sich Zeugen wirklich an mehr, als sie meinten, sie mussten nur darüber nachdenken, die Einzelheiten zutage treten lassen. Sie musste einfach mehr gesehen haben, als sie soeben gesagt hatte.

Morgen hatte er mehr als genug Zeit, wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen. Vielleicht würde sie dann nicht aussehen, als würde sie am liebsten ausholen und auf ihn losgehen.