13

Jaclyn quälte sich am nächsten Morgen früh aus dem Bett und schaute ein paar Minuten die Lokalnachrichten an – keine neuen Entwicklungen im Mordfall Carrie Edwards; das bedeutete, dass niemand festgenommen worden war und sich dieser ganze Albtraum nicht wie eine Seifenblase auflösen würde. Madelyn war bis nach Mitternacht geblieben, hatte gleichzeitig versucht, sie zu trösten und alles noch einmal zu verhackstücken, was am Nachmittag im Empfangssaal gesagt und getan worden war – wodurch sich allerdings der Trost schmälerte. Aber egal was die beiden Frauen auch dachten oder wie aufgeregt sie waren, die Show – in diesem Fall die beiden Hochzeitsproben am heutigen Abend plus das Detailmanagement der fünf bevorstehenden Hochzeiten in den nächsten drei Tagen – musste weitergehen, und das bedeutete, dass sie ihren Hintern aus dem Bett hieven musste.

Es beunruhigte sie noch immer, dass sie beim Mord an Carrie als Verdächtige verhört wurde. Wem mit Sinn und Verstand würde es anders gehen? Sie konnte nicht losziehen und versuchen, den wirklichen Mörder selbst zu finden, weil sie keine Ahnung hatte, wie Ermittlungen bei einem Mordfall abliefen; das war Erics Job. Sie konnte also bestenfalls beten, dass er sein Handwerk wirklich ausnehmend gut beherrschte.

Bis sie mit der Tatsache klarkam, dass er seine Arbeit tat, wenn er sie verhörte, würde es allerdings noch eine gute Weile dauern.

Eigentlich sollte sie ihre verletzten Gefühle einfach überwinden, über ihn hinwegkommen und ihn abschreiben. Sie hatten eine Nacht miteinander verbracht, aber für Männer war das ja nichts Besonderes; und allen Motivationsgesprächen zum Trotz, die sie wegen ihrer Vorsicht und abweisenden Haltung Männern gegenüber mit sich selbst geführt hatte, ließ sich die Tatsache nicht wegdiskutieren, dass sie zu viel erwartet hatte. Und jetzt – obwohl sie sich hinsichtlich ihrer Kränkung zur Vernunft rief – wusste sie nicht, ob sie beide in der Lage wären, noch einmal von vorn zu beginnen. Außerdem hatte er ja vielleicht gar kein Interesse daran, noch einmal von vorn zu beginnen. Vielleicht fand er ja, dass sie nicht die Art Frau sei, mit der er überhaupt gern etwas anfangen würde, wenn er sie auch nur kurzfristig eines Mordes für fähig hielt. Wenn dem so war, konnte sie ihm diese Gefühle nicht verübeln, denn ihr selbst ginge es auch nicht anders.

Sie schob sich ein paar Bissen Cornflakes direkt aus der Schachtel in den Mund, aber sie schmeckten wie Sägespäne, und sie verzog das Gesicht, während sie die Schachtel wieder in den Küchenschrank stellte. Vielleicht würde sie sich heute Morgen ja mit Kaffee begnügen. Ihr Magen war zu nervös, um etwas zu essen – ihr gesamtes Nervenkostüm vibrierte.

Das Telefon läutete, als sie gerade dabei war, sich anzuziehen, und sie machte einen Satz, um abzunehmen, ohne zuvor die Identität des Anrufers zu prüfen.

»Morgen, mein Liebes«, tönte Jackys fröhliche Stimme.

Zwei Anrufe in nicht einmal zwölf Stunden? Er musste seine neue Flamme wahrhaftig beeindrucken wollen, wenn er sich so dringend ihren Jaguar ausborgen wollte. Manchmal verstrichen Monate, ohne dass sie etwas von ihm hörte. Sie versuchte dann, ihn anzurufen, aber sämtliche Anrufe landeten in der Voicemail, die ihr mitteilte, dass die Mailbox voll sei und sie nicht einmal eine Nachricht hinterlassen könne. Das war sein bevorzugter Trick, Anrufe abzuwimmeln, die er nicht annehmen
wollte.

»Nein, du kannst mein Auto nicht benutzen«, sagte sie. »Und geh mich deswegen jetzt nicht weiter an, weil ich heute damit nämlich nicht zurechtkomme.«

»Aber es ist nur ein kleiner Gefallen«, fing er an, sie zu beschwatzen, doch dann musste etwas in ihrer Stimme sein einziges, seit langem schlummerndes Vatergen geweckt haben, denn er hielt inne und fragte: »Stimmt was nicht?«

Jaclyn atmete tief ein. Es machte keinen Sinn, ihm nichts davon zu sagen, außerdem wollte sie sich wirklich fertig anziehen und ins Büro gehen. »Die Polizei hat mich gestern Abend verhört, nachdem ich mit dir telefoniert hatte«, platzte sie heraus, offensichtlich doch so verzweifelt um Unterstützung bemüht, dass sie sich sogar an Jacky wandte. »Sie verdächtigen mich, eine meiner Kundinnen umgebracht zu haben.«

»Wie blöd sind die eigentlich?«, kam es sofort. »Natürlich warst du es nicht!«

Dieser prompte, bedingungslose Glaube an sie ließ ihr die Tränen in die Augen steigen. »Sie sind sich da nicht so sicher. Danke, dass du nicht an mir zweifelst.«

»Nicht eine Sekunde! Nun, wenn sie mich verdächtigen würden …« Er hielt inne, als würde ihm klar, dass er dabei war, etwas auszuplaudern, das besser ungesagt bliebe. Dann nahm er das Gespräch nahtlos wieder auf. »Also, wer ist über den Jordan? Jemand, den ich kenne?«

»Sie heißt – hieß – Carrie Edwards.«

»So heißt sie ja wohl noch immer, tot hin oder her, nicht wahr?«

»Wohl schon … Ich meine, sicher heißt sie noch so, aber sie war einmal und ist nicht mehr.« Welch ein seltsames Gespräch am frühen Morgen.

»Carrie Edwards, Carrie Edwards«, sinnierte Jacky. »Ich weiß nicht … Moment mal. Der Senator, der jetzt für den Kongress kandidiert, Dennison … Die Verlobte seines Sohnes wurde getötet. War sie deine Klientin?«

»Ja. Bis gestern Nachmittag jedenfalls. Sie hat mich gefeuert, bevor sie ermordet wurde.«

Jacky war einen Moment still, dann sagte er: »Ach je.«

»Es war ein blöder Zufall.«

»Mach dir deswegen mal keine Sorgen«, meinte er unbekümmert. »Die Bullen kriegen das schon geregelt.«

Mach dir deswegen mal keine Sorgen. Da war sie wieder, die Lebensphilosophie von Jacky Wilde, die er auf jede Situation anwandte, egal wie übel sie auch sein mochte. »Na hoffentlich. Unterdessen mache ich mir allerdings schon Sorgen.« Sie warf einen Blick auf die Uhr; sie konnte nicht länger telefonieren, sonst würde sie zu spät kommen – oder zumindest später eintreffen als geplant. Die eigene Chefin zu sein war toll, aber in einer kleinen Firma wie Premier bedeutete das auch, dass sie und Madelyn viele Überstunden machen mussten, damit das Geschäft florierte. »Tut mir leid, ich muss los. Wir haben diese Woche einen engen Terminplan und …«

»Moment! Moment! Bevor du auflegst: Hast du dir das mit dem Jaguar noch einmal durch den Kopf gehen lassen?«

Jaclyn hielt den Hörer vom Ohr weg und starrte ihn ein paar Sekunden lang ungläubig an. Erst als sie hörte, wie er »Hallo? Hallo?« sagte, presste sie ihn sich wieder ans Ohr.

»Nein«, erwiderte sie bestimmt. »Ich habe es mir absolut nicht durch den Kopf gehen lassen. Ich war eher auf die Tatsache konzentriert, dass man mich wegen Mordes verhaften könnte, als darauf, dass du einen imposanten fahrbaren Untersatz brauchst, um dein neuestes Flittchen zu beeindrucken.«

»He, kein Grund, so respektlos daherzureden, junge Dame! Lola ist kein Flittchen!«

»Wie alt ist sie?«

»Was tut das zur Sache?«, fragte er ausweichend.

»Jünger als ich?«

»Ich habe sie nicht gefragt.«

»Das heißt dann also ja. Ist aber auch egal. Selbst wenn sie ein für dich passendes Alter hätte, würde ich Nein sagen. Du bringst Autos ebenso durch wie Geld. Ich besitze nur einen einzigen Wagen. Und ich brauche ihn.«

»Doch nicht am Abend!«

»Jacky! Die Hälfte meiner Arbeit spielt sich bekanntlich abends ab! Zu dem Zeitpunkt heiraten viele oder feiern ihre Feste, weißt du. Ich arbeite die ganze restliche Woche jeden Abend, und ohne mein Auto klappt das nicht. Aber selbst wenn ich nicht arbeiten würde, dann würde meine Antwort Nein lauten!«

»Nun gut, wenn du das so handhaben willst«, erwiderte er schmollend.

»Ja, genau.«

Sein »Auf Wiedersehen« klang schroff. Jaclyn legte auf. Vermutlich würde sie in den nächsten paar Monaten nichts von ihm hören. Sie war teils erleichtert, teils traurig, aber wirklich aufgebracht. Letzteres war ihre Standardeinstellung ihrem Vater gegenüber: Sie liebte ihn, verließ sich jedoch nie auf ihn. Ihre rosarote Brille war bereits vor langer Zeit kaputtgegangen, und sie sah ihn, wie er war – mit all seinen Vor- und Nachteilen.

Komisch, wie ihre plötzliche Wut bewirkte, dass sie sich wegen ihrer prekären Rechtslage weniger Sorgen machte. Nein, sie war nicht weniger besorgt, sondern konzentrierte sich nur nicht so auf ihre Sorgen. Zumindest dazu taugte Jacky also bestens.

Sie zog sich eilig fertig an, schnappte sich ihren Terminkalender, hielt dann den Bruchteil einer Sekunde nach ihrem Aktenkoffer Ausschau, bis die Erinnerung sie wie ein Schlag traf: Die Bullen hatten ihren Aktenkoffer. »Ach je«, stöhnte sie kläglich und schloss einen Moment entsetzt die Augen. Sie brauchte ihren Aktenkoffer. Da waren alle Einzelheiten in Sachen Hochzeitsproben und Hochzeitsfeiern drin, die nun wie eine Flut über sie hereinbrechen würden. Sie würde ihn doch sicherlich heute zurückbekommen – oder nicht? Ihr fiel kein Grund ein, weshalb sie ihn nicht wiederkriegen sollte, schließlich hatte ihr Aktenkoffer nichts mit dem Mord an Carrie zu tun – er hatte nur am Tatort herumgestanden. Oder würden sie ihn als Beweismittel betrachten? Vielleicht war er ja mit Carries Blut besudelt.

Mist. Mist, Mist – Mist!

Die Erkenntnis, dass es ihre eigene Schuld war – dass sie den Aktenkoffer dort vergessen hatte –, half ihr auch nicht weiter. Sie hatte Erics Karte in der Handtasche mit seiner privaten Handynummer hinten drauf. Es war ihr ein Gräuel, ihn überhaupt anzurufen, aber vielleicht würde er ja sagen: Kein Problem, der Aktenkoffer war nicht die Mordwaffe, Sie können ihn im Präsidium abholen. Sie hegte zwar ihre Zweifel, aber vielleicht … Da sie zu den Verdächtigen zählte, würden sie womöglich den Aktenkoffer als Beweis für ihre Anwesenheit behalten – als ob sie dafür weitere Beweise bräuchten! Vielleicht war der Aktenkoffer ein Indizienbeweis, ein Grund, weshalb sie nach dem Treffen mit Madelyn in den Empfangssaal zurückgekehrt war.

Sie würde es nie erfahren, wenn sie es nicht zumindest versuchte. Ein kurzer Blick auf die Uhr besagte jedoch, dass es für einen Anruf noch zu früh war. Die Tatsache, dass sie nicht einmal wusste, um welche Uhrzeit er arbeitete, verdeutlichte ihr wieder einmal, wie unglaublich leichtsinnig es von ihr gewesen war, nach so kurzer Bekanntschaft mit ihm ins Bett zu steigen.

Für den Fall, dass sie ihren Aktenkoffer nicht zurückerhielt, standen noch alle Informationen in den Dateien ihres Bürocomputers; es wäre zwar zeitaufwändig, aus allen Dateien die entsprechenden Informationen herauszufiltern, aber machen ließ es sich durchaus.

Frustriert fuhr sie zu Premier. Der Parkplatz war leer, das Gebäude dunkel. Sie holte ihre kleine Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Damit bewaffnet – und mit einem Pfefferspray –, sperrte sie die Hintertür auf und betrat das Gebäude. Nachdem sie das Licht eingeschaltet und die Tür wieder abgesperrt hatte, setzte sie eine Kanne Kaffee auf und begann mit ihrer Alltagsroutine: Sie erstellte eine Liste der Dinge, die es an diesem Tag zu erledigen galt. Sie hatten an dem Abend zwei Hochzeitsproben; Madelyn zog die pinkfarbene durch, sie den Bulldog-Probelauf.

Besagte »Bulldogge« war natürlich das Maskottchen Uga der George-Universität. Es war nicht die erste Hochzeit mit einem Football-Thema, die sie organisierte, und sicher auch nicht die letzte. Schließlich befanden sie sich hier im Süden der USA.

Als Nächste kam Diedra. Jaclyn war überrascht, denn ihre Assistentin war erst vierundzwanzig und viel auf Achse, und das bedeutete, dass sie eigentlich keine Frühaufsteherin war. Sie war pünktlich, kam im Allgemeinen Schlag acht ins Büro, aber zu früher Stunde passierte in Diedras Welt selten mal etwas.

Sie kämpfte sich herein, ihre Tasche, ihren Aktenkoffer, einen Starbucks-Becher und einen riesigen zugedeckten Teller in der Hand. Als Jaclyn sie sah, sprang sie auf, um ihr den Teller abzunehmen, bevor Diedra ihn womöglich fallen ließ. Er war erstaunlich schwer für seine Größe. »Was ist das?«

»Was zu essen. Doppel-Deluxe-Schokokekse, genau gesagt, mit Karamellglasur. Von mir eigenhändig gebacken. Ich dachte mir, wenn eine Mordverdächtige etwas braucht, dann ist es sicherlich Schokolade.« Diedra stellte ihren Kaffee ab und entledigte sich ihrer anderen Sachen.

Jaclyn lief schon das Wasser im Mund zusammen, als sie den Teller auf den Tisch stellte. »Doppel-Deluxe?« Sie wusste nicht, was das heißen sollte, aber wenn es mit Schokolade zu tun hatte, war es sicher lecker. Dann sagte sie: »Wie hast du davon erfahren?«

»Deine Mutter hat Peach angerufen, und Peach hat dann mich angerufen. Welch ein Blödsinn zu glauben, dass du dieses Luder umgebracht hast! Aber wenn doch, dann würde ich dir ein bombensicheres Alibi verschaffen, und du müsstest mir nicht mal was dafür bezahlen.« Diedras dunkle Augen funkelten nur so. »Man soll Toten ja nichts Schlechtes nachsagen, aber, verdammt noch mal, das ist ganz schön schwierig, wenn einem nichts Positives einfällt, das man sagen könnte.«

»Sie kann nicht nur schlecht gewesen sein. Sie hatte Familie und Freunde, die sie geliebt haben. Wir haben nur die schikanöse Seite von ihr kennengelernt, und, also wirklich, niemand hat es verdient, sterben zu müssen, bloß weil er andere schikaniert.«

»Und hübsch und gehässig«, meinte Diedra trocken. »Vergiss diese Aspekte nicht.«

»Na gut, dann war sie also schikanös, hübsch und gehässig. Aber den Tod hat sie dennoch nicht verdient.« Jaclyn wusste nicht, warum sie Carrie verteidigte. Sie hatte sie nicht gemocht, sie war froh gewesen, als Carrie sie gefeuert hatte, und die einzigen beiden Gründe, weshalb der Mord ihr Sorgen bereitete, waren der Tatort und dass sie selbst zu den Verdächtigen zählte. Carries Verlobter tat ihr leid, aber er hätte ihr noch viel mehr leidgetan, wenn nichts passiert wäre und er diese Frau wirklich geheiratet hätte.

»Also, wie ist es passiert? Wurde sie erschossen? Oder hat man ihr den Schädel eingeschlagen?«

Jaclyn hielt inne. Ihr ging auf, dass gestern Abend weder Eric noch Sergeant Garvey exakt gewusst hatten, wie Carrie getötet worden war, und sie war zu sehr durch den Wind gewesen, um nachzufragen. »Ich weiß es eigentlich nicht. Ich denke, sie wird erschossen worden sein.«

»Soll das etwa heißen, dass du nicht nachgefragt hast?« Diedra wirkte verblüfft, als könnte sie Jaclyn diesen Lapsus nicht abnehmen.

»Ich hatte nicht darüber nachgedacht. Ich war ziemlich aufgeregt, als die Detectives mich verhört haben.« Der Duft der noch warmen Schokokekse stieg ihr in die Nase und brachte ihren Appetit mit aller Macht zurück. Sie hob die Alufolie an und atmete tief ein. »Wie früh am Morgen hast du die denn gebacken?«

»Verdammt früh. Das hätte ich für niemanden sonst getan.«

»Nun, zum Glück bist du gerade heute so früh ins Büro gekommen. Einer der Gründe, weshalb die Detectives mich verhört haben, war, dass ich meinen Aktenkoffer im Empfangssaal habe stehen lassen. Und das bedeutet, dass sie ihn jetzt haben und nicht ich.«

Diedra wirkte erstaunt. »Du vergisst deinen Aktenkoffer doch sonst nie.«

»Gestern schon. Ich habe es sogar erst bemerkt, nachdem der Detective es erwähnt hatte. Der Termin mit Carrie hat mich so aufgeregt.«

Die Frage, die in Diedras Augen zu lesen stand, ließ Jaclyn tief einatmen. Sie hasste es, all die peinlichen Einzelheiten zu erzählen, aber Carrie hatte sie vor so vielen Zeugen geschlagen, dass es keinen Sinn machte, es zu verschweigen. »Alles war von Anfang bis Ende eine einzige Katastrophe«, erklärte sie. »Gretchen hat hingeschmissen, Estefani war nah dran, und dann hat Carrie mich auch noch ins Gesicht geschlagen und gefeuert.«

»Ach du liebe Güte!« Diedra stand sprachlos da. Entsetzt starrte sie Jaclyn an.

»Es ist mir peinlich, dass ich mich habe schlagen lassen, ohne zurückzuhauen«, gestand Jaclyn. »Andererseits war ich nie in eine Rauferei verwickelt. Sie hätte mich voll aufmischen können. Und Bishop meinte, sie würde mich verklagen, wenn ich sie schlüge, und deshalb habe ich es dann unterlassen. Ich war juristisch und moralisch im Recht, aber, verdammter Mist, wohl war mir nicht dabei.«

»Du warst klug. Vermutlich hat sie dich in der Hoffnung geschlagen, dass du dich zu etwas hinreißen lässt, wofür sie Premier später verklagen kann. Ich habe schon ein paar Leute ihres Schlags kennengelernt. Sie stellen immer Forderungen, machen ständig Ärger und testen aus, wie weit sie gehen können. Das gibt ihnen vermutlich einen Kick.«

Diese Beschreibung fasste Carries Persönlichkeit recht gut zusammen, dachte Jaclyn. »Jedenfalls konnte ich nur an eines denken: die Selbstständigen da wegzukriegen, bevor sie jemandem von denen auch noch eine knallte. Estefani war wie ein kleiner Vulkan, kurz vor dem Explodieren. Ich sah schon kommen, dass eine Rauferei losbräche, die dann Schlagzeilen machte. Carrie wollte ihr Geld zurück, und ich erinnerte sie daran, dass in ihrem Vertrag stehe, dass Rückerstattungen auf der Basis der geleisteten Arbeit erfolgten. Das passte ihr nicht, aber machen konnte sie nichts. Dann bin ich gegangen. Melissa war in ihrem Büro, sie hat mich also nicht wegfahren sehen. Ein Mann kam angefahren, als ich gerade in mein Auto einstieg, und er hat mich gesehen. Aber ich weiß nicht, wer er war, und deshalb weiß ich auch nicht, wie ich ihn finden soll. Außerdem war er womöglich eh der Mörder.«

Diedra blieb schier die Luft weg. »Du hast den Mörder gesehen?«

»Ich habe einen Mann gesehen. Er könnte sie umgebracht haben.« Weder Eric noch Sergeant Garvey hatten sich sehr beeindruckt von ihrer Geschichte von dem grauhaarigen Mann gezeigt, und wenn Melissa ihn nicht gesehen hatte, bestand keine Möglichkeit zu beweisen, dass er überhaupt da gewesen war. Und schließlich hatte sie ihn auch nicht ins Gebäude hineingehen sehen. Melissa hatte die Vordertür vielleicht schon abgeschlossen, wenn sie an dem Tag keine weiteren Termine mehr hatte. Der Mann könnte zum Vordereingang gegangen sein, die Tür probiert haben und dann wieder abgefahren sein.

»Hat er dich gesehen?«

»Er hatte direkt neben mir geparkt. Ich wüsste nicht, wie er mich übersehen haben sollte.«

Vielleicht schaute sich Diedra ja zu viele Fernsehkrimis an, aber sie riss wieder ihre dunklen Augen auf. »Wenn er der Mörder von Carrie ist«, sagte sie scharf, »dann bist du die Einzige, die ihn identifizieren kann. Er weiß, dass du ihn gesehen hast. Du musst untertauchen!«