17
»Bereit zum nächsten Verhör?«, fragte Garvey, als sie im Auto saßen. Er war schon dabei, Taite Boynes Nummer zu wählen.
»Klar.« Es war kurz nach fünf, die heiße Nachmittagssonne brannte herab, aber Polizeidienst war nun mal kein Job, der um neun begann und um fünf beendet war. Mist, die Arbeitszeit war nicht mal von acht bis fünf. Er konnte von Glück sagen, wenn er von sieben bis sechs über die Runden kam. Er drehte die Klimaanlage auf.
Nach einer Minute legte Garvey auf und verkündete unnötigerweise: »Keiner da.« Dann wählte er die andere Nummer, die Senator Dennison ihnen gegeben hatte. Nach einer weiteren Minute sagte er: »Ms. Boyne, hier ist Detective Wilder vom Polizeipräsidium Hopewell.«
»Na, schönen Dank«, murmelte Eric, aber okay: Das war sein Fall, und der Sergeant wollte ihn die Sache abwickeln lassen.
»Ich hätte gern einige Informationen in Sachen Carrie Edwards von Ihnen«, fuhr Garvey in aller Ruhe fort. »Bitte rufen Sie mich an unter …« Er machte eine kurze Pause, dachte nach und ratterte dann Erics Telefonnummer herunter.
Die Nobelboutique, für die Taite Boyne als Einkäuferin tätig war, hatte vermutlich bereits zu, aber er wusste nicht recht, wie viel Zeit eine Einkäuferin in einem Geschäft verbrachte, für das sie die Waren kaufte. Sie ging nicht an ihr Handy, und wenn sie zu Hause war, dann ging sie dort auch nicht ans Telefon, es hatte also den Anschein, als wäre ihr Tag für heute gelaufen, außer Ms. Boyne rief doch noch in absehbarer Zeit zurück. Aber damit rechnete er eigentlich nicht.
Und Garvey auch nicht, denn er sagte gähnend: »Meine liebreizende Braut wird sich freuen, wenn ich heute mal zu einer christlichen Uhrzeit nach Hause komme.«
»Sie meinen wohl, Sie sind froh, zu einer christlichen Uhrzeit nach Hause zu kommen, damit Ihnen Ihre liebreizende Braut nicht die Eier absäbelt und sie Ihnen dann gebraten vorsetzt.«
»Sie haben’s erfasst«, stimmte Garvey zu und ließ ein kleines Lächeln sehen wie immer, wenn er seine Frau erwähnte. »Rühreier sind eine schmierige Angelegenheit.« Eric beneidete den Sergeant nicht um die Frau – wahrlich nicht! –, aber er beneidete ihn um diese Beziehung. Er hoffte, eines Tages selbst eine Frau zu finden, die ihm nach jahrelanger Ehe noch ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Und da fiel ihm plötzlich Jaclyn ein, denn diese Beziehung war ein Treffer mitten ins Herz, bevor sie überhaupt noch richtig angefangen hatte – nicht dass er an Ehe oder dergleichen gedacht hätte, Gott behüte. Er fand nur, dass die Chemie total stimmte.
»Ich kann solche Spinner wie den Senator nicht verstehen«, sagte er, denn der Gedankengang führte ihn automatisch zu dem Paar, das sie gerade verlassen hatten. »Wie kann ein Mann so blöd sein, eine solche Frau zu betrügen?«
»Dasselbe habe ich mir auch gedacht. Klug, gutaussehend, nett, reich – was kann sich ein Mann mehr wünschen?«
Natürlich hatten sie nicht die geringste Ahnung, was sich privat zwischen den beiden abspielte; sie kannten ja nur die Oberfläche. Jedenfalls fand Eric, dass der Senator ein Mistkerl war. Vielleicht hatte es ja damit zu tun, dass er in der Politik war – viele Politiker betrogen offensichtlich ihre Frauen. Aber er hatte Mrs. Dennison spontan so sehr gemocht, dass die Tatsache, dass der Senator sie betrog, ihn auf der Stelle ins Reich der größten Idioten auf Erden katapultiert hatte.
Nach ihrer Rückkehr ins Polizeipräsidium Hopewell machten sie sich daran, ihre Nachrichten auf Band abzuhören und zu schauen, welche Berichte inzwischen eingetroffen waren. Das Präsidium brummte nicht gerade wie ein Bienenstock, aber es war noch immer viel los, und mindestens die Hälfte der Leute hatte noch einen Kommentar in Sachen morgendlicher Kaffeezwischenfall anzubringen. Ha-ha-ha. Als er an den Kaffee dachte, fiel ihm Jaclyn wieder ein. Eric erinnerte sich, dass er ihr versprochen hatte, den gesamten Inhalt ihres Aktenkoffers für sie kopieren zu lassen, und schlug sich geistig an die Stirn.
Während Garvey an seinen Schreibtisch ging, rief Eric einen Angestellten in der Beweisaufnahme an, der ihm noch einen Gefallen schuldete. Eric ging gerade seine Nachrichten durch, als Garvey ihn zu sich beorderte.
»Ich habe da was Interessantes von der Zulassungsstelle«, verkündete er. »Raten Sie mal, wer einen silbernen Mercedes besitzt.«
Der Mercedes war ein wichtiger Hinweis. »Der Senator«, sagte Eric. »Kein Scheiß?«
»Kein Scheiß. Der Fall ist somit noch heißer.« Ein reicher Politiker war schon heiß genug, das wussten sie beide.
»Und somit wurde aus unserem ersten potentiellen Verdächtigen der potentielle erste Zeuge.« Was auch nicht unproblematisch war. Nun, da sie eine Spur hatten, konnten sie Jaclyn Fotos von diversen grauhaarigen Männern vorlegen, einschließlich vom Senator, um zu sehen, ob sie ihn identifizieren konnte, doch genau das war ja eines der bereits erwähnten Probleme. Er war Senator und wollte in den Kongress gewählt werden; seine Wahlkampagne lief auf allen Fernsehsendern. Jaclyn könnte ihn also aufgrund dieser Wahlwerbung »erkennen«. Eric wollte jemanden festnehmen – aber natürlich nicht den Falschen.
Momentan lag ihnen nicht ausreichend Beweismaterial vor, um einen Durchsuchungsbefehl für das Auto zu erwirken, aber er hätte wahrhaftig gern einen gehabt. Doch im Augenblick reichten die Beweise nicht einmal aus, dass ein Richter ihnen überhaupt nur zuhören würde – zudem hatte der Senator seine Freundin als Alibi. Sie besaßen eine Spur, und sie würden sich ranhalten. Alibis konnten erschüttert werden. Und wenn der Senator eine Freundin hatte, dann könnte Fayre Dennison höchstpersönlich dieses Alibi erschüttern.
»Ich glaube, Sie müssen noch einmal mit Jaclyn Wilde sprechen«, sagte Garvey. »Schauen Sie, ob Sie eine detailliertere Beschreibung des Mannes bekommen können, den sie gesehen hat.«
Eric fiel der detaillierte Terminplan in ihrem Aktenkoffer ein. Die restliche Woche wusste er zumindest genau, wo sie hinging und wann sie jeweils dort eintreffen würde. Wie wunderbar, wenn jemand so gut organisiert war.
»Schon unterwegs«, erwiderte er.
Als er bereits davongehen wollte, sagte Garvey noch: »Wilder.«
Eric blieb stehen und schaute sich um, die Augenbrauen fragend in die Höhe gezogen.
»Morgen Früh, wenn Sie sich vielleicht wieder mit dem Gedanken tragen, wegen einer Tasse Kaffee anzuhalten … Tun Sie’s nicht!«
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte Madelyn noch Events beaufsichtigt, wenn sie so krank war, dass sie kaum noch geradeaus schauen konnte; aber wenn ihre Anwesenheit gewünscht wurde, bemühte sie sich eben. Sie war mit Kopfweh, Menstruationsbeschwerden (die mittlerweile zum Glück endlich der Vergangenheit angehörten) und einem Magenvirus präsent gewesen, wobei sie sich bei Letzterem immer gefragt hatte, ob die Braut ihr wirklich so dankbar wäre, wenn sie in den Flitterwochen den Virus dann selbst bekäme. Sie hatte immer darauf geachtet, im Fall einer Krankheit den direkten Kontakt einzuschränken, aber wenn niemand da war, der ihre Arbeit hätte übernehmen können, dann machte sie eben den Job. So in etwa fühlte sie sich auch an diesem Abend, als sie zu der Hochzeitsprobe mit der Einstellung ging: »Scheiß auf die Torpedos, Volldampf voraus.« Welche Wahl hatte sie auch? Bloß weil sich Carrie Edwards hatte ermorden lassen, blieb die Zeit für die anderen Bräute nicht stehen. Das Leben ging weiter. Premier ging weiter.
Sie musste sich moralisch aufrüsten, um die Hochzeitsprobe am heutigen Abend und dann die Hochzeit morgen mit einem Lächeln durchzustehen. Kein Mensch konnte eine Eventdesignerin mit unheilvoller Miene gebrauchen, und bei der Stimmung, in der sie gerade war, würde sich das schwierig gestalten.
Die Braut, eine wirklich reizende junge Frau, hatte ein fast pathologisches Faible für Pink, was die Hochzeit in eine Art Explosion in dieser Bonbonfarbe verwandelte. Pinkfarbene Blumen, pinkfarbene Einladungen und kilometerlange pinkfarbene Schleifen. Die Kleider der Brautjungfern waren pink, die Kerzen waren pink, und sogar der Kummerbund der Fräcke der Trauzeugen aufseiten des Bräutigams war pink. Als Hochzeitstorte gab es Erdbeertorte mit pinkfarbener Glasur. Aber wenigstens war die Torte mit weißen Rosen verziert und nicht mit pinkfarbenen – jemand hatte angemerkt, dass pinkfarbene Rosen auf der pinkfarbenen Glasur kaum zu sehen wären, deshalb hatte die Braut in diesem Punkt schließlich eingelenkt.
Sogar die Hochzeitsprobe war vor der Farbe nicht sicher. Die Braut trug ein pinkfarbenes Kleid, und der Bräutigam ließ die passende Krawatte sehen. Ausnahmslos jede Brautjungfer trug diese Farbe, doch heute Abend passten die Töne irgendwie nicht recht zueinander. Ihre hübschen – und farbenfrohen – Gewänder ließen das gesamte Spektrum von Rosa über Knallpink bis hin zu Himbeere sehen. Die Brautmutter hatte ein hübsches champagnerfarbenes Kostüm an, dazu trug sie eine überdimensionale, leuchtend pinkfarbene Tasche. Auf dem langen Blumenrock der Mutter des Bräutigams erstrahlten die Blüten in Pink.
Sogar auf Peaches Bluse mit Millefleurdesign fanden sich ein paar blasspinkfarbene Blümchen.
Mit ihrem engen blaugrünen Kostüm fühlte sich Madelyn wie ein Fisch in einem Meer aus Pink. Es war nicht nur die Farbe ihrer Kleidung, die sie von allen anderen unterschied, sondern auch der zunehmende Ärger und Frust, die sie nicht herauszulassen wagte. Sie wollte niemandem diesen besonderen Tag verderben, um nichts in der Welt.
Nicht wie Carrie Edwards, ging es ihr verbittert durch den Kopf. Warum hatte sich diese Frau nicht an einem Wochentag ermorden lassen können, wenn nicht gerade so viele Hochzeiten abzuwickeln waren? Sie würde dieses Kreuz nun bis zum bitteren Ende tragen müssen.
Peach beugte sich zu ihr hinüber und wisperte Madelyn zu: »Ich glaube, ich muss gleich kotzen.«
Madelyn schaute bedeutungsschwanger auf das Pink von Peaches Bluse und warf ihrer Freundin einen warnenden Blick zu, der allerdings nicht von Dauer war. Sie fand halbwegs ihren Humor wieder, als sie Peaches unbezahlbare Miene sah, während sie versuchte, ihren Horror vor der Hochzeitsgesellschaft zu verbergen, die allerdings – um ehrlich zu sein – keiner der beiden Frauen auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Da standen sie also nebeneinander und beobachteten die Proben – kein Mensch hatte den geflüsterten Kommentar gehört.
»Es war Zufall«, flüsterte Peach, wobei sie verstohlen auf eine pinkfarbene Blume auf ihrem Ärmel deutete. »Außer ich hatte eine Eingebung oder so. Ich meine, ich wusste, dass bei der Hochzeit alles pink sein würde, aber bei der Probe auch?«
Es entstand Verwirrung, wann genau der Ringträger im zarten Alter von fünf den Gang hinuntergehen sollte. Das Blumenmädchen, eine Dreijährige, bestand darauf, als Erste zu gehen, weil sie ein »Mädl« sei, und »Mädls kämen immer z’erst dran.« Madelyn schritt ein und erklärte dem kleinen Teufel mit seidenen Haaren, dass die wirklich wichtigen Leute immer zuletzt gingen, deshalb sei die Braut auch die Letzte, die beim Einzug in die Kirche den Gang hinunterschritt. Das kleine Mädchen blickte nachdenklich drein und kam dann zu dem Schluss, am Einzug überhaupt nicht teilnehmen zu wollen.
Nun denn, das würde lustig werden.
Die Bonbonhochzeit war bei Weitem nicht der schrecklichste Event, den Premier je übernommen hatte; er zählte eigentlich nicht einmal zu den Top Ten. Wenn sie bessere Laune hätte, würde Madelyn diese Orgie in Pink vielleicht sogar amüsant finden, denn schließlich war es ihr Job, der Braut zu geben, was sie haben wollte, damit an ihrem besonderen Tag auch alles – mit Daumenhalten – problemlos klappte. Und diese Braut hatte Pink gewollt, und zwar jede Menge, und so hatte sie eben Pink bekommen. Von den Stoffen über die Kuchen und Servietten bis hin zu den Geschenken der Brautjungfern hatte Premier alles geliefert. Es gab so viele unterschiedliche Pinktöne, dass die Abstimmung, damit auch wirklich alles gut zusammenpasste, einiger Zeit und Überlegungen bedurft hatte. So ziemlich alles, was es morgen zu sehen gab, würde pink sein, doch es war jedes einzelne Detail perfekt koordiniert. Farben, die sich bissen, waren nicht gestattet. Der Effekt machte sich nicht übel – wirklich hübsch sogar, insofern sie in Stimmung für Pink gewesen wäre.
Von der überschwänglichen Verwendung dieser einen Farbe einmal abgesehen, war diese Hochzeit ein Kinderspiel gewesen. Beide Familien waren nett, jeder war freundlich, und eine theatralische Zicke gab es auch nicht, bis auf das Blumenmädchen vielleicht. Die Braut und der Bräutigam liebten sich offensichtlich sehr. Die beiden waren nette, angenehme junge Leute, die einander nur so vergötterten. Wenn es der Durchführung problemloser Hochzeiten dienlich wäre, würde Madelyn mit Freuden in eine pinkfarbene Garderobe investieren. Vielleicht sogar in passende pinkfarbene Kostüme für das Personal von Premier. Plus pinkfarbene Visitenkarten. Knallpinkfarbene Jaguare. Jaclyn würde diese Idee grauenhaft finden.
Zum ersten Mal an diesem langen Tag bemerkte Madelyn den Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen.
Nachdem die Hochzeitsprobe erfolgreich abgehakt war und das Blumenmädchen zu der Überzeugung gelangt war, dass es der Star der Show wäre, wenn es einwilligte, vor der Braut zum Altar zu schreiten, lud die dankbare Brautmutter Peach und Madelyn zum Dinner ein, das in einem der nobelsten Fischrestaurants auf dieser Seite der Stadt stattfinden sollte. An einem anderen Abend hätte Madelyn sich vielleicht überreden lassen, doch der Tag war lang gewesen. Und ehrlich gesagt, war sie es leid, »im Dienst« zu sein, sie war es leid, so zu tun, als wäre alles wunderbar, während in Wirklichkeit alles total daneben war. Madelyn lehnte die Einladung mit einem Lächeln ab und bestätigte noch einmal den Zeitpunkt für das Treffen vor der Kirche am morgigen Abend.
Auf dem Parkplatz ging Peach hinter Madelyn her zu deren Auto anstatt zu ihrem eigenen. »Was macht Jaclyn? Ich will jetzt kein allgemeines, halbherziges ›alles prima‹ zur Antwort. Sie scheint sich ja gut zu halten, aber da du nun mal ihre Mutter bist, nehme ich an, du weißt, ob das bloß Show ist oder ob sie wirklich so gefasst ist, wie sie tut.«
»Sie kommt mit der Situation besser zurecht, als ich das an ihrer Stelle könnte.« Madelyn bemühte sich sehr, Geschäft und die Sorge um ihre Tochter zu trennen, doch die Sorge war immer irgendwie da. Tagsüber hatte ihr zunehmender Ärger diese Sorge überdeckt. Ärger war einfacher als Sorge; mit Ärger konnte sie umgehen. Wenn sie sich jetzt nur auf eine Person festlegen könnte, auf die sie sauer war, doch der Zielscheiben gab es so viele, dass sie sich nicht auf eine zu beschränken vermochte.
Sollte sie über Carrie Edwards verärgert sein, weil sie so ein elendiges Luder war und ihnen allen das angetan hatte? Oder sollte sie Eric Wilder als Zielscheibe für ihren Ärger wählen, weil er die Stirn hatte, Jaclyn wie eine Verbrecherin zu behandeln? Momentan war es einfacher, auf alle und jeden sauer zu sein.
»Der Mord als solcher ist schon schlimm genug«, fauchte sie, »aber ich kriege so einen Hals, dass jemand glauben könnte – selbst nur eine Minute lang –, dass sie so etwas getan haben könnte. Ich schwöre dir, wenn ich diesen Eric Wilder allein in einem Zimmer zu fassen kriegte, dann …«
»Ich weiß, was ich mit ihm anstellen würde, wenn ich ihn in einem Zimmer allein für mich hätte«, murmelte Peach, leckte sich die Lippen und fügte, als sie sich dabei ertappte, noch schnell hinzu: »Er hat eine anständige Tracht Prügel verdient.« Sie hielt inne, schürzte die Lippen. »Nun, das ist wohl nicht so herausgekommen, wie ich es beabsichtigt hatte.«
Madelyn seufzte. »Wohl schon. Wie kann ein gut ausgebildeter Detective bloß so blind sein? Jaclyn ist nicht fähig, auch nur …«
Peaches Stimme klang ungewohnt ernst, als sie sagte: »Ich weiß nicht recht. Sind wir nicht alle zu so etwas fähig, in unserem tiefsten Inneren? Wenn die Gelegenheit günstig ist und die Motivation stimmt? Nicht, dass ich glauben würde, dass Jaclyn Carrie Edwards umgebracht hat«, fügte sie schnell hinzu. »Nicht eine Sekunde lang. Aber meinst du nicht, dass du unter bestimmten Umständen einen Mord begehen könntest, um jemanden zu schützen, den du liebst? Ich könnte das bestimmt. Vielleicht ist der Täter ja jemand, den man zu solcher Gewalt gar nicht für fähig hält?«
»Das nehme ich an«, sagte Madelyn sanft. Peach versuchte, vernünftig zu sein, doch Madelyn wollte das nicht. Sie war Mutter, und ihr Kind wurde bedroht. Ihr Ärger flammte wieder auf. »Eines kann ich dir jedenfalls sagen: Wenn Jaclyn Carrie Edwards hätte umbringen wollen, dann hätte sie das auf eine Art und Weise getan, die keine Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hätte. Sie wäre zu klug, eine Frau zu töten, die sie kurz vorher vor einer Handvoll zuverlässiger Zeugen geschlagen und gefeuert hatte.« Wenn Jaclyn Carrie Edwards hätte töten wollen – nicht, dass sie es getan hat, natürlich nicht –, dann wäre die Leiche nie entdeckt worden. Daran hatte Madelyn keinen Zweifel, weil sie und ihre Tochter sich nämlich sehr ähnlich waren, und auf diese Weise hätte sie den Mord angepackt.
Autos verließen den Parkplatz, denn die Hochzeitsgesellschaft machte sich von der Kirche auf den Weg zum Probedinner. Sie und Peach winkten allen zu, sie lächelten und riefen ihnen ein herzliches »Bye-Bye« hinterher.
Madelyn wollte unbedingt mit Jaclyn reden; sie
wollte ihrer Tochter zumindest noch sagen, dass sie stets für sie
da sei, und sie noch einmal fragen, ob sie etwas brauche. Doch die
Hochzeitsprobe, die Jaclyn abwickelte, hatte eine Stunde später
begonnen als die Bonbonhochzeit in Pink, und somit war jetzt nicht
der richtige Zeitpunkt für ein Telefonat. Sie musste abwarten, bis
Jaclyn sie
anrief.
In Anbetracht des Mordes und des Argwohns, der in der Luft lag, sowie ihres allgemeinen Ärgers, der ständig noch zunahm, war Madelyn nicht gerade erpicht darauf, allein zu sein. Sie wandte den Kopf ihrer Freundin zu. »Hast du was vor zum Abendessen?«
»Gilt ein Fertiggericht?«, fragte Peach trocken.
»Nein, eher nicht. Ich habe Lasagne in der Tiefkühltruhe. Fahr mit mir nach Hause, dann schmeiß ich die Mikrowelle an und mache eine Flasche Rotwein auf. Wir können alle viere von uns strecken und einfach eine Weile ausspannen. Du hast mir noch gar nicht alle Einzelheiten von deinem Date am letzten Wochenende erzählt, und, ehrlich gesagt, käme mir ein bisschen Ablenkung schon sehr gelegen.«
Peach seufzte. »Du mit deiner teuflischen Silberzunge, mit der Lasagne hast du mich am Wickel.«
Madelyn hegte die Hoffnung, dass Peaches Gesellschaft und ein paar Gläser Wein ihr helfen würden, nachts anständig schlafen zu können, aber vielleicht war das ja auch ein hoffnungsloses Unterfangen. Solange ihre Kleine nicht völlig außer Verdacht war, würde sie nicht ruhen.
Es war nicht die erste Bulldog-Hochzeit unter der Regie von Premier, doch Jaclyn musste feststellen, dass an dieser mehr fanatische Fans teilnahmen als sonst, und das sollte etwas heißen. Mitten im Sommer trugen der Bräutigam und seine Trauzeugen zur Hochzeitsprobe das Trikot ihres favorisierten Footballclubs. Sie war etwas überrascht, dass – zum Glück! – niemand auf die glorreiche Idee gekommen war, die Ringe mithilfe eines Fußballs, der mit roten und schwarzen Bändern festlich geschmückt war, durch den Kirchgang zum Altar zu kicken. Da hätte sie wohl einschreiten müssen. Ihrer Erfahrung nach war es generell keine gute Idee, bei einer Hochzeit mit etwas zu werfen.
Im Süden der USA kam dem College-Football der Stellenwert einer Religion zu, dennoch überraschte es sie, als die Braut sie bat, den Event thematisch so zu gestalten. Natürlich war es die Aufgabe von Premier, der Braut ihren Wunsch zu erfüllen, doch der Aufwand, den exakten Rotton der Bulldogs für Stoffe, Schleifen und Blumen zu finden, war einfach unglaublich gewesen.
Und Diedra hatten sie während der gesamten Hochzeitsplanung verboten, auch nur mit einem Wort zu erwähnen, dass sie Georgia Tech-Fan war. Hochzeitsdesigner waren schon aus weniger gewichtigen Gründen gefeuert worden. Jaclyn war bei mehr als nur einer Konferenz von Eventplanern gewesen, bei dem sich die Diskussion um das brenzlige Thema College-Football gedreht hatte – und wie sich die enorme Rivalität beziehungsweise Loyalität in den Griff kriegen ließen. In Alabama, zum Beispiel, ließ sich niemand an einem Tag trauen, wenn Auburn und Alabama spielten – dann hätte nur die Familie an der Hochzeit teilgenommen. Außerdem wären die meisten stocksauer, weil sie das Spiel verpassten, was einem fröhlichen Beisammensein sicher nicht zuträglich war.
Diedra würde sie morgen Abend zur eigentlichen Hochzeit begleiten, für die Hochzeitsprobe jetzt reichte eine Vertreterin von Premier aus – außer Diedra hätte gern teilnehmen wollen, doch diesen Wunsch hatte sie nicht geäußert. Jaclyn hätte sich locker entschuldigen können – sie war schließlich die Chefin – und Diedra die Sache über die Bühne bringen lassen können, aber sie wollte lieber auf Trab bleiben. Nein, sie musste auf Trab bleiben, damit sich keine Gedanken an tote Bräute und ärgerliche Bullen einstellten.
Nein, über den ärgerlichen Bullen wollte sie
wirklich nicht nachdenken. Der Fall war eigentlich erledigt, das
Pferd tot – aber sie konnte irgendwie nicht aufhören, ihm die
Sporen zu geben, was sie frustrierte. Ihr Ärger war okay.
Vermutlich war er sogar gesund. Dass sie so gekränkt war, erschien
ihr hingegen dumm und unvernünftig, zwei Worte, die sie im
Zusammenhang mit ihrer Person nicht leiden mochte. Den ganzen Tag
über hatte sie sich eingeimpft, die Sache einfach abzuhaken – mit
mäßigem Erfolg. Heiliger Himmel, wohl eher ohne
Erfolg.
Ihre Aufmerksamkeit wurde wieder auf die Hochzeitsprobe gelenkt, als der Bräutigam bellte, das typische Bulldog-Wuff-Wuff der Freude, Aufregung und Zufriedenheit. Jaclyn bemühte sich sehr, sich nichts anmerken zu lassen und neutral dreinzublicken. Ob der Bräutigam seine Freude normalerweise immer so zum Ausdruck brachte? Ob er beim Sex auch bellte? Sie fasste sich an den Kopf. Jedenfalls war es gut, dass die Braut lachte; schlecht war, dass mehrere andere Männer als Antwort zurückbellten.
Die Nacht würde lang werden. Und Jaclyn war schlichtweg nicht in Stimmung zu bellen.
Zwei kleinere Kinder, die Nichten und Neffen der Braut, amüsierten sich, indem sie den Gang hinauf und hinunter tobten – ein Spiel, das wohl nur sie verstanden. Aber es ging viel Gekicher und Gequietsche damit einher, was wiederum gut zum Gebelle passte. Da sie auf diese Weise beschäftigt und auch nicht zu laut waren – was relativ war, klar –, ließen alle sie ihren Spaß haben. Die Familie war dieses Chaos gewohnt. Sogar Jaclyn hatte die kleinen Teufel ausgeblendet, als sie der Hochzeitsgesellschaft Instruktionen erteilte und dann in den Hintergrund trat, um die Hochzeitsprobe zu beobachten. Dass sich die einziehenden Hochzeitsgäste um die Kids herumlavieren mussten, schien keinen zu stören. Es herrschte an dem Abend eine ausgelassene, fröhliche Stimmung.
Vermutlich war es ja zu viel des Guten zu hoffen, dass der Abend auch ohne Katastrophen ablaufen würde. Der kleine Junge – er war vielleicht an die vier – umrundete die hinteren Kirchenbänke mit Höchstgeschwindigkeit, stolperte und stürzte kopfüber. Er landete bäuchlings mitten im Seitengang vor ihr. Einen schrecklichen Augenblick gab er keinen Laut von sich.
Beherzt eilte Jaclyn zu dem Jungen, um zu sehen, was passiert war. Heiliger Himmel, war er bewusstlos? Diese Angst war gebannt, als er plötzlich zu heulen anfing – ein Geplärre, das immer lauter und schriller wurde, bis es etwas von der Pfeife an einem Dampfkessel hatte. Sie kniete neben ihm nieder, berührte ihn am Rücken, was sein Geplärre ins Unermessliche steigerte. Alle rannten auf sie zu, während die Musik vom Band weiterdudelte.
»Na komm, mein Schatz, jetzt setzen wir uns mal auf und schauen, wo du dir den Kopf angestoßen hast«, sagte sie in der Hoffnung, dass er nicht blutete. Sie war nicht übermäßig zimperlich, aber … Auf alles gefasst, half sie ihm, sich auf die andere Seite zu rollen und sich aufzusetzen, dann stieß sie einen riesigen Seufzer der Erleichterung aus, nachdem sie sein Gesicht gesehen hatte: viele Tränen und Rotz, doch kein Blut.
»Ist alles nicht so schlimm«, sagte Jaclyn sanft und strich ihm das Haar zurück, um zu schauen, ob er eine Beule an der Stirn hatte.
Als er ihre Stimme hörte und ihm bewusst wurde, dass nicht seine Mutter oder Großmutter ihm zu Hilfe geeilt war, sondern eine Fremde, brüllte er noch lauter.
Wollte sie wirklich ein oder zwei solche Bälger?, schoss es Jaclyn durch den Kopf, als sie aufstand und beiseitetrat, damit die Mutter, die in Anbetracht des lautstarken Gebrülls sehr gefasst wirkte, ihren Platz einnehmen konnte. Jaclyn kannte keine Kleinkinder. Sie hatte keine Geschwister und somit keine Nichten und Neffen. Wenn so etwas auf sie zukam, wäre es vielleicht günstiger, sich eine Wüstenspringmaus anzuschaffen. Oder einen Fisch.
Was ein sehr trauriger Gedanke war. Geschrei hin oder her, ihr restliches Leben wollte sie nicht so allein verbringen.
Die Mutter untersuchte Mund, Nase und Kopf ihres Sprösslings, als hätte sie dies schon tausend Mal getan, und vielleicht traf dies ja zu. Sie zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und wischte den Rotz ab. Der Junge plärrte weiter, worauf die Mutter mit einem beruhigenden sch-sch reagierte. Sie wirkte nicht besorgt, und so kam Jaclyn zu der Erkenntnis, sich auch keine Sorgen mehr machen zu müssen.
Und dann sagte eine vertraute Stimme hinter Jaclyn: »Was machen Sie denn alle hier – einem Kind bei lebendigem Leib die Haut abziehen?«
Sie erstarrte, und ihre Nackenhaare richteten sich vor Entsetzen auf. Ach du liebe Güte, was hatte er denn hier verloren? Wenn er sie vor ihren Klienten verhörte, wenn er gekommen war, um sie festzunehmen, dann … dann würde sie ihn umbringen! Dann hätte er endlich einen guten Grund, ihr Handschellen anzulegen.
Doch anstatt ihre Hände zu nehmen und ihr Handschellen anzulegen, eilte er an ihr vorbei und drängte sich so sehr in den Gang, dass sie beiseitetreten musste – doch selbst da konnte sie ihn riechen und einen Augenblick lang seine Wärme spüren. Er kauerte neben dem kreischenden Knaben nieder, schob sein Sakko nach hinten, sodass die große schwarze Pistole neben der Dienstmarke an seinem Gürtel sichtbar wurde, und zerzauste dem Jungen mit seiner großen Hand das Haar. »Schaut aus, als hätte es dich übel hingehauen.«
Der Junge hörte einen Moment auf zu brüllen, abgelenkt von dem großen Mann, den er nicht kannte. Als er die Pistole und die Dienstmarke entdeckte, bekam er große Augen. Er schniefte stark und nickte dann mit dem Kopf. Seine Mutter warf Eric einen abschätzenden Blick zu, traf dann wohl eine Blitzentscheidung und ging aus dem Weg. Sie war schließlich nur die Mutter, wie konnte sie erwarten, mit den Verlockungen einer echten Pistole und einer glänzenden Dienstmarke konkurrieren zu können?
»Ist die echt?«, fragte der Junge und deutete auf die Pistole.
»Klar. Die Dienstmarke ist auch echt.«
»Böse Buben, böse Buben«, trällerte der Junge. Nicht übel. Er konnte im zarten Alter von vier schon den Ton halten. Dann begannen seine Lippen zu zittern, und in seinen Augen stiegen wieder Tränen auf.
»Sind Sie meinetwegen gekommen?«, fragte er mit gequälter Stimme. Seine Mutter hielt sich den Mund zu, damit sie nicht laut loslachte.
»Nein, ich komme bloß zu bösen Buben, und soweit ich sehe, bist du ein braver.« Eric zerzauste ihm noch einmal den Haarschopf. »Und auch mutig. Mir scheint, du hast eine Beule an der Birne. Wenn du so hart rangehst, musst du lernen, dich zu schützen.«
»Aber wie?«
Eric stand auf, legte dem Jungen aber eine Hand auf die kleine Schulter. »Da muss ich noch drüber nachdenken.« Dann sagte er mit lauter Stimme, sodass alle es hören konnten: »Wie ich sehe, gibt es in deiner Familie Footballfans.«
Einige der Männer bellten bei dem Stichwort los. Das Kind nickte, und er und Eric schauten dann zum Altar, wo ein halbes Dutzend Männer standen, die nur darauf warteten, dass die Proben endlich weitergingen. »Ich möchte wetten, dass einer von denen dir gern einen Helm in deiner Größe kaufen würde, damit du geschützt bist, wenn du wieder kopfüber hinfällst. Willst du Football-Spieler werden, wenn du mal groß bist?«
Der Junge nickte begeistert.
»Ja, kann ich mir vorstellen«, sagte Eric. »Du bist hart im Nehmen. Ich schätze, du wirst mal ein guter Runningback – die Position ist was für Typen, die hart im Nehmen sind.«
»Quarterback!«, sagte der Junge indigniert.
»Das soll wohl ein Witz sein? Du willst den Quarterback machen? Mann, das ist echt hart! Dafür brauchst du ganz klar einen Helm.«
Die kleine Brust war vor Stolz wie aufgeplustert, die Tränen waren versiegt, die Unterlippe zitterte nicht mehr. Den einen Moment hatte er noch gebrüllt, als hätte man ihn verbrüht, und im nächsten war auch schon alles prima.
Sie würde sich nicht bei ihm bedanken. Ja, Eric hatte für Ablenkung gesorgt, als sie gebraucht wurde, aber eigentlich war ja nichts Fürchterliches passiert.
Der Bräutigam versprach, dem Kind einen Footballhelm zu kaufen, und sagte, er könne ihn dann morgen Abend bei der Hochzeit gleich aufsetzen. Das war nicht gerade das Bild, das Jaclyn sich von einer eleganten Hochzeit machte, aber ihre Hochzeit war es ja nicht. Nur eines zählte: dass ihre Klienten glücklich waren. Sie würde auf Wunsch auch allen Kindern einen Helm besorgen.
»Stimmt was nicht?«, fragte die Mutter der Braut Eric.
»Nein, alles bestens. Ich bin ein Bekannter von Jaclyn.«
Ach, ja? Jaclyn biss die Zähne zusammen, damit ihr die scharfe Antwort nicht herausrutschte, die ihr auf der Zunge lag. Die Brautmutter schaute von Jaclyn zu Eric, lächelte leicht und ließ die beiden allein.
Die Hochzeitsgesellschaft wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Proben zu – deswegen waren ja schließlich alle gekommen. Es wurde langsam spät, weil sie sich zu sehr amüsiert hatten, und sie würden nicht rechtzeitig ins Restaurant kommen, wenn sie nicht einen Zahn zulegten.
Jaclyn ging ein Stück nach vorn, ließ alle in der richtigen Reihenfolge aufstellen und machte an der Stelle weiter, wo sie unterbrochen worden waren. Sie spürte, wie Eric näher herankam und nun direkt hinter ihr stand wie ein Felsblock. Sie verspürte einen Juckreiz zwischen den Schulterblättern, als hätte er seine Pistole gezogen und sie auf sie gerichtet. Eine albtraumhafte Vision erstand vor ihren Augen: Wollte er sie hier verhören? Oder noch schlimmer: Wollte er sie vor sämtlichen Klienten festnehmen?
Aber er stand nur einfach so da, cool und ruhig, und beobachtete die Proben. Der Geistliche hatte alles gut im Griff momentan, Jaclyn blieb also nicht mehr zu tun, als sich für den Fall bereitzuhalten, dass sie doch gebraucht wurde. Die eben noch lärmenden Kinder hatten auf Anweisung ihrer Mutter in der zweiten Reihe der Kirchenbänke Platz genommen; dort saßen sie nun tuschelnd und ließen die Beine baumeln.
Schließlich hielt sie es nicht länger aus. »Was machen Sie denn hier?«, flüsterte sie grollend.
»Ich hatte einen Hilferuf gehört und habe pflichtgemäß nach dem Rechten gesehen. Dienen und beschützen, so lautet mein Auftrag.«
Das hatte sie nicht gemeint, und das wusste er auch.
Da er weder die Handschellen noch sein kleines Notizbuch zückte, entspannte sie sich ein wenig. Wenn er ihr mehr Fragen stellen wollte, würde er sicher das Ende der Hochzeitsprobe abwarten, um sie nicht vor den anderen bloßzustellen. Wenn er allerdings gekommen war, um sie festzunehmen, würde er nicht abwarten. Vermutlich.
Verdammt, sie hatte nichts Unrechtes getan, dachte sie bitter, aber sie würde den Preis in jedem Fall bezahlen. Ja, wenn jemand sie fragen würde, müsste sie zugeben, dass die Welt ohne Carrie Edwards besser war, aber das bedeutete nicht, dass sie eine Mörderin war. Und momentan hätte sie Carrie gern ein paar Minuten zurück, um ihr so richtig die Meinung zu verklickern und ihr all das zu sagen, was sie in den langen Monaten, die sie mit ihr zu tun gehabt hatte, gedacht, jedoch nicht geäußert hatte.
Als die Hochzeitsprobe vorbei war, ließ sie Eric einfach ohne ein Wort stehen. Sie verabschiedete sich von der Braut und der Brautmutter und erinnerte alle an die Uhrzeit, zu der sie sich am nächsten Abend treffen wollten. Sie hatte sich schon eine Ausrede zurechtgelegt, um nicht am Probedinner teilnehmen zu müssen; und so wie die Braut und der Bräutigam Eric anstarrten, dachten sie wohl, dass er der wahre Grund für ihre Absage sei.
Als ob.
Während die Teilnehmer der Hochzeitsgesellschaft langsam davongingen, drehte Jaclyn sich um; sie wollte schauen, ob Eric dastand und wie ein Schurke im Sonntagmorgen-Cartoon an seinen Handschellen herumfingerte. Er war nicht da. Schockiert sah sie sich um, konnte ihn jedoch nirgendwo entdecken. Einen dummen, schwindelerregenden Augenblick durchzuckte sie eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. Sie schob die Enttäuschung beiseite und konzentrierte sich auf die Erleichterung; offen blieb die Frage, weshalb er überhaupt gekommen war.
Sie war die Letzte, die ging, abgesehen von dem Geistlichen, der noch die Türen des großen Gotteshauses verschloss. Er wollte das Gebäude durch die Hintertür verlassen, wo sein Wagen geparkt stand, nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass für die Nacht alles unter Dach und Fach war. Sie hielt oben an der Treppe inne und sah sich kurz um.
Es standen noch ein paar Autos auf dem Parkplatz, andere fuhren gerade auf die Straße hinaus. Das glückliche Paar stieg in seinen roten Pick-up mit Bulldog-Stickern und Fähnchen. Wundert mich nicht, dachte sie. Ein paar Parklücken entfernt stand der Toyota von einer der Brautjungfern; das Mädchen nahm sich einen Moment Zeit, um ihren Lippenstift nachzuziehen, während eine andere Brautjungfer, die auf dem Beifahrersitz saß, munter daherplapperte. Alles glückliche Menschen, dachte Jaclyn – und Menschen, die Glück hatten. Was machte es, wenn sie ihren Football-Wahn ein bisschen zu weit trieben? Insgesamt war das nicht der Rede wert. Wichtig war, dass sie ihr Leben genossen, dass sie niemandem etwas zuleide taten – und morgen würden sie ihre Riesenparty steigen lassen.
Das Auto des Geistlichen stand noch da, natürlich, und ihr Jaguar auch – und Erics Wagen parkte direkt neben ihrem, aber er saß nicht drin. Nein, er lehnte an ihrem Jaguar, locker und lässig wie auch am Morgen, ein Bündel Papiere in der Hand zusammengerollt.
Jaclyn atmete tief durch und ging zu ihrem Auto: aufrecht, doch mit klopfendem Herzen. Sie hätte ihn so gern gescholten, wäre so gern auf ihn losgegangen, um ihrer Frustration und ihrem Ärger Luft zu machen, die den ganzen Tag an ihr genagt hatten. Doch das konnte sie nicht. Er war nicht einfach nur Eric Wilder, ein One-Night-Stand, der schiefgangen war. Er war Detective Eric Wilder, und wenn sie auf ihn losginge, würde sie im Gefängnis landen.
Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre die Befriedigung das Unterfangen vielleicht wert gewesen, diese Woche jedoch nicht. Ihr Terminplan war zu hektisch.
Sie blieb vor ihm stehen, den Autoschlüssel in der Hand. »Haben Sie weitere Fragen an mich, Detective?«
Er seufzte, vielleicht, weil sie ihn mit »Detective« angesprochen hatte, vielleicht auch, weil er ebenso müde war wie sie. »Ja. Der grauhaarige Mann, den Sie gestern Nachmittag beim Empfangssaal gesehen haben: Könnten Sie mir weitere Details zu seiner Person mitteilen? Oder die Automarke? Sonst etwas?«
»Nein«, erwiderte sie knapp. »Grauhaariger Mann, silbernes Auto. Das war’s auch schon. Ich hatte gestern einen schlechten Tag und war nicht auf die Leute auf dem Parkplatz konzentriert. Es gibt wirklich keinen Grund, mich während der Arbeit zu bedrängen, Detective. Ich habe Ihre Telefonnummer, und wenn mir etwas Neues einfällt, dann rufe ich Sie an und teile es Ihnen mit.«
»Ich bedränge Sie nicht.«
»Das ist Auffassungssache.« Sie klimperte als Hinweis mit den Autoschlüsseln, doch er blieb einfach stehen und hinderte sie daran, in ihren Wagen einzusteigen. Vermutlich hatte er diese Position ja mit Absicht gewählt. Anstatt zu versuchen, ihn aus dem Weg zu schaffen – als ob ihr das je glücken könnte – oder entnervt die Beifahrertür zu öffnen und dann wenig elegant über die Konsole zu klettern, verteidigte sie ihre Position.
Verdammter Typ. Wenn sie ihn ansah, fiel ihr unwillkürlich ihre gemeinsame Nacht ein: Seit Jahren hatte sie sich nicht so gut gefühlt wie mit ihm; er hatte sie zum Lachen gebracht, sie einen Lustschrei ausstoßen lassen und sie alles vergessen lassen – nur nicht, dass sie eine Frau war. Er war für sie eine Eskapade, ein momentaner Ausrutscher: Doch was würde sie jetzt dafür geben, dass er ihr sagte, er wisse, sie könne Carrie nicht getötet haben, dass er an sie glaube und dass er für sie kämpfen würde; etwas in der Art eben.
Ach ja, richtig. Sie verschwendete ihre Zeit.
Nach einer kurzen Schweigepause sagte er: »Ich habe die Kopien, um die Sie mich gebeten hatten, dabei.«
»So.«
Nun, verdammter Typ, wie konnte er es wagen, etwas so Nettes für sie zu tun, nachdem sie jetzt endlich einen richtigen Hass auf ihn hatte? »So« war nicht genug; sie musste sich bei ihm bedanken. Wieder einmal.
»Danke schön«, sagte sie steif und nahm die Rolle mit den Papieren entgegen, die er ihr hinhielt.
»Ich möchte, dass Sie morgen vorbeikommen und sich einige Fotos ansehen …«
Morgen? Sie war so entsetzt, wenn sie daran dachte, was sie morgen alles zu tun hatte – dem hektischsten und wahnwitzigsten Tag überhaupt –, dass es ihr einen Moment schier die Sprache verschlug und sie nur ein weißes Rauschen vernahm. Dann spürte sie, wie ihr Mund sich bewegte, und heraus kam: »Also, du Zuchtbulle von Polypenarsch, sperr mich ein oder lass mich in Ruhe.«