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Carrie stierte mit versteinerter Miene auf den Tisch vor sich, auf dem allerlei Proben verstreut lagen: die Reste vom Kuchen, den sie hatte kosten sollen, vom Kebab mit Krabben und Muscheln, vom Rindfleischkebab, Lammkebab und Fleischklößchenkebab. Fleischklößchen! Als würde sie auf ihrer Hochzeit etwas derart Profanes offerieren. Sie waren zwar lecker gewesen, aber ein Fleischklops war eben ein Fleischklops, ganz egal wie raffiniert er gewürzt war und welche Art Fleisch dazu verwendet wurde. Es hätte eine exotische Mischung aus Aal und Emu sein können, egal. Fleischklops blieb Fleischklops.
»Die Fleischklopse können Sie vergessen«, verkündete sie barsch. »Ich weiß nicht, was Sie sich dabei gedacht haben. Das ist keine schäbige Mittelschichthochzeit, auf der die Hälfte der Frauen schwarze Seidenstrümpfe zu weißen Schuhen trägt.«
»Die Fleischklopse werden am liebsten bestellt«, erwiderte die Dame vom Catering, eine dünne, fast maskulin anmutende Frau mit kurzem stahlgrauem Haar und strenger Miene. »Außerdem sind sie am teuersten, denn die Herstellung ist ein Riesenaufwand; die meisten entscheiden sich für preiswertere Lösungen.«
Carrie hätte dem Luder am liebsten eine reingehauen. Sie warf einen späten Blick auf die Preisliste, um sich zu vergewissern, dass die Frau sie nicht anlog. Ja, da stand es in schwarzen Lettern auf schwerem cremefarbenem Papier: Die Fleischklopse waren um ein Drittel teurer als selbst die Kebabs mit Krabben und Muscheln. Und jetzt hing sie an den billigen Alternativen fest, weil ein Meinungsumschwung schlichtweg unmöglich war. Sie konnte nur noch etwas aussuchen, das noch mehr kostete als die Fleischklößchen.
»Ich möchte drei Varianten: mit Muscheln, mit Lamm und mit Rindfleisch. Auf diese Weise haben meine Gäste wirklich die Wahl.«
Was das Geld anging, machte sie sich jedenfalls keine Sorgen. Seans Familie kam für den Großteil der Kosten auf, ihre Eltern konnten sich eine derartige Extravaganz nämlich absolut nicht leisten. Sie steuerten etwas bei, klar; schließlich wollten sie nicht, dass ihre Schwiegermutter in spe dachte, sie sei eine Schnorrerin. Momentan kamen sie gut miteinander klar, und so sollte es erst auch einmal bleiben, zumindest wenn es nach Carrie ging. Später dann … Wer vermochte das schon zu sagen?
Die Dame vom Catering-Service ließ keine Bemerkung über Carries Auswahl fallen; sie machte sich bloß Notizen, was Carrie umso mehr irritierte, denn das Mindeste, was die Frau hätte tun können, war, einen Kommentar wie hervorragend gewählt abzugeben. Vielleicht sollte sie der Hochzeitsdesignerin ja sagen, dass sie einen anderen Catering-Service auftreiben solle, aber Jaclyn war zickig, wenn sie tun sollte, worum man sie bat, und würde vielleicht bloß verkünden, dass alle guten Caterer Monate im Voraus ausgebucht seien.
Sie wollte die Hochzeit des Jahres feiern. Sie wollte eine Hochzeit, von der alle künftigen Bräute voller Neid sprechen sollten, wenn sie ihre eigene Feier planten. Es war frustrierend, dass niemand ihre Vorstellung von einer ebenso stilvollen wie auch exotischen Hochzeit teilte, die enorm teuer, dabei aber doch so geschmackvoll war, dass niemand ihre Entscheidungen belächelte. Und es war auch verdammt frustrierend, dass viele Leute wild entschlossen schienen, andere an einem Tag brillieren zu lassen, an dem eigentlich nur sie im Rampenlicht stehen sollte.
Zum Beispiel die Kleider der Brautjungfern. Ja, sie hatte absichtlich einen Schnitt gewählt, der irgendwie doch so unvorteilhaft war, dass keines der Mädchen ihr den Rang ablaufen würde; aber auch wieder nicht so unvorteilhaft, dass eine aufbegehren würde – nun, von Taite, diesem blöden Luder, mal abgesehen; aber sie hatte ja eigentlich wegen einer anderen Sache diesen Riesenzirkus veranstaltet, die absolut nichts mit der Hochzeit zu tun hatte. Carrie wollte sich darum kümmern, sobald die Hochzeit über die Bühne war und sie mehr Zeit hatte. Die ersten Schritte, damit Taite ihr Fett abkriegte, waren eigentlich schon eingeleitet, und Carrie hätte sich über das Ergebnis mehr gar nicht freuen können.
Sie genoss die unterschiedlichen Reaktionen ihrer Freunde, wenn sie herausfanden, mit wem sie es in Form ihrer Person zu tun hatten. Die meisten waren einfach Waschlappen ohne Rückgrat. Sie gaben einfach klein bei, wenn sie sich mit ihrem stärkeren Willen konfrontiert sahen – was für sie in Ordnung war. Sie bereiteten nicht so viel Ärger. Und sie amüsierte sich über sie, wenn sie beobachtete, wie sie sich aufregten, wenn ihre Gefühle verletzt wurden, wie sie sich verbogen, um weitere Aufregungen zu vermeiden.
Carrie hingegen regte sich über rein gar nichts auf. Dies hätte nämlich bedeutet, dass ihr etwas wichtig war. War es aber nicht, jedenfalls nicht emotional. Es war ihr wichtig, welches Bild sie vermittelte, es war ihr wichtig, dass alles so passierte, wie sie es wollte und wann sie es wollte. Aber trotz ihres exaltierten Verhaltens blieb sie innerlich cool und berechnend; sie beobachtete jede Reaktion, damit sie ihren Willen dann am besten durchsetzen konnte.
Wenn Seans Vater die Wahl in den US-Senat gewann, hatte sie jedenfalls ausgesorgt. Die Geldfrage war bereits geregelt, aber zum Gesellschaftsleben der Elite Zugang zu bekommen war mehr, als sie sich erhofft hatte. Sobald sie es geschafft hatte und dazugehörte, konnte sie Sean den Laufpass geben oder auch nicht – den Umständen entsprechend eben. Momentan war er jedenfalls genau, was sie brauchte. Und umgänglich war er auch, und das bedeutete, dass er sich leicht von ihr manipulieren ließ.
Seans Mutter Fayre – gesprochen »Fär«, na, wenn das nicht hochgestochen war? – Maywell Johnston Dennison benutzte ihre vier Namen, um ihre Mitmenschen auch stets daran zu erinnern, dass sie von den Familien Johnston und Maywell abstammte, bevor sie Douglas Dennison geheiratet und an seinem kometenhaften politischen Aufstieg vom Lokalpolitiker zum Staatssenator und nun womöglich zum US-Politiker mitgewirkt hatte. Mrs. Dennison war eine ruhige Frau, doch Carrie unterschätzte sie nicht. Die Macht hinter dem Thron besaß sie – und das Geld auch. Carrie musste eine Möglichkeit finden, diese Frau irgendwie zu neutralisieren, doch im Augenblick war sie ihr in vielerlei Hinsicht nützlich.
Zuerst einmal musste sie die ganzen Ärgernisse hinter sich bringen, die diese Hochzeit ihr aufbürdeten. Der Tisch war zu klein für die vielen Arbeitsproben. Sie hatte gedacht, der Raum wäre besser darauf eingerichtet. Auf dem Tischchen türmten sich die Sachen in solchem Ausmaß, dass sie den Aktenkoffer der Hochzeitsdesignerin einfach unter dem Tisch hatte verschwinden lassen. Der Aktenkoffer war allerdings nicht das Einzige auf dem Boden. Stoffmuster und Schleifen lagen dort unten herum, abgelehnt und unwichtig. Nun, sie musste das Chaos ja nicht aufräumen.
Insgesamt war sie mit allem unzufrieden, doch die Kleiderfrage nagte schier an ihr. Als sie sich die Farben zum ersten Mal vorgestellt hatte, da hatten pinkfarbene Schärpen zu grauen Kleidern echt cool und edel gewirkt, aber jetzt fand sie Pink eher schrill als schick, und die grauen Gewänder waren irgendwie langweilig. Bishop Delaney, der Blumendesigner, hatte sich nicht als hilfreich erwiesen. Er hatte bloß mit den Schultern gezuckt und gesagt, er persönlich hätte dunkelgraue Kleider und blutrote Blumen genommen, aber die pinkfarbenen Schärpen machten diese Kombination unmöglich. Und jetzt hatte diese verdammte Schneiderin einfach alles hingeschmissen und war gegangen. Es war unmöglich, jemanden aufzutreiben, der noch Schärpen in Aquamarin nähen konnte oder auch in Grau, passend zu den Kleidern. Warum hatte dieser Bursche anfangs bloß nichts von der Grau-Rot-Kombination verlauten lassen? Jetzt musste sie bei Pink bleiben, und das brachte sie so in Rage, dass sie am liebsten die Schere genommen und etwas zersäbelt hätte – am besten Gretchen, die verdammte Schneiderin. Und wenn sich Jaclyn nicht bald kooperativ zeigte, dann musste sie sich einen akzeptablen Ersatz suchen.
Wäre sie in besserer Stimmung gewesen, hätte ihr dieses Spektakel vielleicht Spaß gemacht – die vielen Leute, die sich alle bemühten, sie zufriedenzustellen. Aber die Kleiderfrage hatte ihr den Tag verdorben. Sie musste sich noch mit dem Schleier und der Torte beschäftigen, die Musik aussuchen, die die Band spielen sollte; und alle sagten, sie müsse sich jetzt entscheiden, weil die Zeit knapp würde und sie noch andere Verpflichtungen hätten, die sie hinderten, dieses und jenes zu tun und bla-bla-bla, weiß der Geier – endlose Ausreden eben, weil sie nichts in ihrem Sinn auf die Reihe kriegten.
Nach der Hochzeit würde sie schon die entsprechenden Bemerkungen über die Inkompetenz von allen fallen lassen. Dann würden sie sehen, wie es war, wenn das Geschäft den Bach runterging. Und am übelsten würde sie sich über Premier auslassen. Alle hatten ihr gesagt, dass Premier von sämtlichen Eventdesigern das beste Renommee habe, und natürlich hatte der Firmensitz in Buckhead das Unternehmen noch attraktiver gemacht. Aber Jaclyn Wilde hatte sich als echte Nervensäge entpuppt, weil sie sich nämlich auf die Seite dieser Blödmänner geschlagen hatte, die behaupteten, sie könnten nicht machen, was sie angeordnet hatte. Jaclyn sollte alles arrangieren und sich nicht irgendwelche Ausreden einfallen lassen. Stattdessen hatte sie total versagt, ihre Hochzeit spektakulär zu gestalten.
Die dickliche Latina namens Estefani, die den Schleier anfertigen sollte, breitete ihr Buch mit Fotos vom Kopfschmuck für Bräute aus, der von einfachen Stirnbändern bis hin zu prächtigen Tiaren reichte, dazu Stoffmuster. Wer hätte ahnen können, dass es so viele Möglichkeiten für einen Schleier gab, von Tüll bis zu hauchzartem Voile, der so duftig war, dass er schier zu schweben schien? »Die sind alle langweilig«, erklärte Carrie kurz und schob das Buch weg. »Haben Sie nichts mit Pfiff? Schwarz vielleicht?« Ihr Hochzeitskleid wies eine schmale schwarze Borte unter der Büste auf, und somit stand Schwarz nicht völlig außer Frage, aber natürlich würde sie nie mit einem schwarzen Schleier gehen. Aber zu sehen, wie die Frau entsetzt mit den Augen rollte, wie sie versuchte, sich in den Griff zu kriegen, war recht amüsant, sie könnte also eine Weile mit dieser Idee spielen – einfach um ein bisschen Stunk zu machen, bevor sie sich für eine klassischere Lösung entschied. Hinsichtlich der Tiaren machte sie hingegen keine Scherze. Sie sahen alle wie für Schönheiten vom Lande aus, sie hatte jedoch eher europäischen Adel im Sinn.
»Schwarz?«, sagte Estefani zögerlich. »Zu einem weißen Kleid?«
»Ja, zum weißen Kleid«, fauchte Carrie innerlich frohlockend, weil Estefani ihr auf den Leim gegangen war. Nun hatte sie ein Ziel für ihren Spott. »Sind Sie hier alle so einfältig, dass Sie nicht über Altbekanntes, das Sie bereits einmal gemacht haben, hinausblicken können?«
Zu ihrer Überraschung straffte Estefani die Schultern, ihre braunen Augen funkelten. »Ich bin nicht einfältig. Ich habe Geschmack.«
»Soll das etwa heißen, dass ich keinen habe?« Carries Tonfall wurde unfreundlicher, ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Bevor sie noch einen schärferen Angriff starten konnte, läutete jedoch ihr Handy. Sie warf einen Blick auf das Display mit der Nummer, denn sie wollte einfach nicht drangehen, doch dann sah sie, dass es Sean war, und so hob sie einen Finger, um Estefani zu bedeuten, dass sie warten solle. Sie atmete tief durch, ließ ein Lächeln auf ihrem Gesicht erstehen und antwortete mit süßlicher Stimme: »Hallo, mein Schatz!«
Sean war nett, reich und leichtgläubig. Was könnte sich eine Frau mehr von ihrem künftigen Mann wünschen? Momentan ließ sie ihm in fast jeder Hinsicht seinen Willen, doch das würde sich nach der Hochzeit schon ändern. Sobald sie in der Kirche den Gang zum Altar hinuntergeschritten war, würde sie das Zepter übernehmen. Eigentlich war sie ja schon dabei. Sean dazu zu bringen, ihr einen Heiratsantrag zu machen, war der erste große Schritt gewesen. Und gestern hatte sie den zweiten getan – den Geldschritt. Alles entwickelte sich, wie von ihr eingefädelt.
Sean plante gerade die Flitterwochen. Damit war er beschäftigt und ihr aus dem Weg; außerdem fand er es aufregend, für sie die perfekten Flitterwochen zu arrangieren. Zum Glück nahm er sich ihre Hinweise zu Herzen. Er kümmerte sich momentan um die letzten Einzelheiten und wollte ihre Meinung wissen. Sie stimmte einfach allem zu, was er sagte, und lächelte nonstop, denn das Lächeln gehörte mit zu der Person, die sie geschaffen hatte, um Sean aufzureißen und an sich zu binden. Ihr Lächeln veränderte den Ton ihrer Stimme, machte sie locker und lieb.
Als sie aufschaute, stellte sie fest, dass die Schleier-Tussi und die Hochzeitsdesignerin sie anstarrten, als hätte sie eine plötzliche Verwandlung vollzogen. Scheiß drauf. Sie würde bald keine von beiden mehr brauchen. Sie hörte sich also Seans Pläne an, lachte, als würde er etwas Lustiges oder auch Amüsantes von sich geben, und sagte zu ihm, er sei wunderbar und dass sie ihn sehr liebe – den üblichen Blödsinn eben.
Während sie sich mit Sean unterhielt, beobachtete sie, wie Jaclyn und Estefani ans andere Ende des Zimmers gingen, um sich mit Bishop Delaney und Audrey Whisenant zusammenzutun, der Konditorin. Irena, die Frau vom Catering-Service, stand abseits, machte sich Notizen und gesellte sich nicht zu ihnen, doch die Managerin des Empfangssaals – Melissa irgendwer – ging zu ihnen hinüber, um ihren Schwachsinn beizusteuern. Carrie konnte nicht hören, was sie sagten, sie musste sich auf Sean konzentrieren, der weiter daherplapperte, obwohl der Grund seines Anrufs sich ja bereits erledigt hatte. Doch dem Blick, mit dem Estefani sie bedachte, entnahm Carrie, dass über sie geredet wurde. Jaclyns Stimme klang beschwichtigend; vielleicht versuchte sie ja, Carries Beschwerden zu entkräften.
Kalte Wut kochte in ihren Adern hoch bei der Vorstellung, dass jemand meinen könnte, sie ließe so mit sich umspringen – als wäre sie ein schwieriges Kind. Und Jaclyn mit ihrem weichen Teint und dem seidigen Haar und der Art, sich zu kleiden, als käme sie wirklich aus einer alteingesessenen, reichen Familie und wäre in die Strukturen von Buckhead eingebunden und nicht bloß Hochzeitsdesignerin, verärgerte sie gleich noch mehr. Wenn Jaclyn nicht wäre, würde vielleicht alles anders laufen; sie war von Anfang an eher ein Hindernis als eine Hilfe gewesen … Und jetzt redete sie über Carrie und unterminierte sie noch mehr. Das durfte nicht geschehen!
»Wenn die Gestecke für die Kristallschalen noch nicht bestellt wären, würde ich hinwerfen«, verkündete Bishop Delaney Jaclyn. »Aber ich will auf der Ausgabe nicht sitzen bleiben, und deshalb ziehe ich die Sache durch. Aber ich werde nie mehr für die Dennisons arbeiten.«
»Danke für die klare Aussage. Es tut mir leid, dass sich dieser Auftrag für uns alle zu so einer Katastrophe ausgewachsen hat.« Jaclyn hatte das Gefühl, nichts anderes mehr zu tun, als sich zu entschuldigen, seit sie hier durch die Tür gekommen war. Und wenn sie es sich recht überlegte, stimmte das ja auch. Bislang hatte Gretchen als Einzige hingeschmissen – doch da die Kleider für die Brautjungfern bereits fertig waren, hatte sie ihren Job ja nicht wirklich sausen lassen. Estefani könnte allerdings jeden Moment aussteigen. Ihr Kopfschmuck und ihre Schleier waren Kunstwerke, auf die sie mit Recht stolz sein konnte. Sie hatte einen knallvollen Terminkalender; ihr würden die Einnahmen dieses Auftrags also bestimmt nicht abgehen. Es würde sie wahrscheinlich bestenfalls zwei Telefonate kosten, und schon wäre die Lücke gefüllt. Carrie schien das nicht zu begreifen: dass sie es mit Selbstständigen erster Sahne zu tun hatte, die bereits ein hervorragendes Renommee hatten und ihre Forderungen und Beleidigungen nicht hinnehmen mussten.
»Noch nie habe ich mich mit jemandem herumschlagen müssen, der derart schwierig war«, flüsterte Melissa. Sie war seit neun oder zehn Jahren Managerin des Empfangssaals und kannte somit ihre Pappenheimer. Wenn Carrie ihren Maßstäben nach schwierig war, dann hatte das etwas zu sagen. Sie bedachte Jaclyn mit einem mitleidigen Blick.
»Ich lasse nicht zu, dass sie mich einfältig nennt«, erklärte Estefani wütend. »Wenn hier jemand einfältig ist, dann ja wohl sie! Ein schwarzer Schleier zu einem weißen Kleid! Und meine Arbeit ist auch nicht langweilig.«
»Lassen Sie sich nicht von ihr aus der Fassung bringen«, meinte Bishop gedehnt, wobei er sich bemühte, leise zu sprechen. »Sie kann klassisch-guten Geschmack nicht erkennen, selbst wenn er sie in den Hintern bisse.« Er tätschelte ihr den Arm. Er war groß und muskulös, mit gebleichtem blondem Haar und einem exotischen schwarzen Ziegenbart – physisch also so ziemlich das krasse Gegenteil von der kleinen, biederen Estefani. Da sie oft zusammenarbeiteten, kannten sie sich schon seit Jahren; zwischen den beiden schien echte Zuneigung zu bestehen; jedenfalls hörte sie viel eher auf ihn als auf das, was Jaclyn von sich gab, um sie zu beruhigen.
Audrey Whisenant, die Chefkonditorin, zuckte mit ihren muskulösen Schultern. Sie war früher einmal Schwimmerin bei der Olympiade gewesen und verbrachte noch immer viel Zeit im Wasser; nachdem sie eine Bronzemedaille gewonnen hatte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass Wettkämpfe ihr Ding nicht waren. Stattdessen widmete sie sich nun ihrer zweiten Leidenschaft: dem Backen. Ihre Torten waren Kunstwerke, irgendwie leichter und samtener in der Textur als die üblichen Hochzeitstorten. Im Gegensatz zu vielen anderen Konditoren verzierte sie ihre Meisterwerke sogar höchstpersönlich. »Ach, wenn ich sie bloß dazu kriegen könnte, ihre Torten auszuwählen – die Geschmacksrichtungen und Füllungen. Mir bleiben zwar ein paar Wochen Spielraum, aber ich möchte die Einzelheiten jetzt festlegen, weil ich nächste Woche in Urlaub gehe.«
»Dann wollen wir mal sehen, ob wir mit Ihnen weiterkommen; vielleicht beruhigen sich dann ja auch die Wogen zwischen …«
Hinter ihnen zwitscherte Carrie ihrem armen arglosen Bräutigam ein fröhliches »Also dann tschüss, ich liebe dich!« zu, gefolgt von einem fürchterlichen Getöse, als sie mit dem Arm über den Tisch fegte und Estefanis Buch, Kebabspieße, Tortenproben, Bänder, Broschüren, diverse Kulis und Jaclyns Terminkalender quer über den Boden segeln ließ.
»Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid?« Carries Stimme war nicht laut, jedoch voller Bosheit, als sie auf die anderen zuging. Melissa, Bishop und Audrey wichen etwas zurück, doch Jaclyn hielt die Stellung; sie meinte wohl, es gehöre zu ihrem Job, sich zwischen die anderen und die nahende Teufelsbraut zu stellen. Estefanis Augen verengten sich zu Schlitzen, ihr kleiner klopsartiger Körper spannte sich an, als machte sie sich bereit, mit harten Bandagen zu kämpfen. Bei der Vorstellung verzog sich Jaclyns Mund, und sie unterdrückte ein Grinsen.
»Audrey ist nächste Woche in Urlaub«, sagte Jaclyn in der Hoffnung, Carries Aufmerksamkeit abzulenken. »Die Torten hätten eigentlich noch Zeit, aber wenn es Ihnen möglich wäre …«
Der Schlag kam aus dem Nichts. Carries Handfläche knallte an ihre linke Wange, dass sie zurücktaumelte. Einen Augenblick waren Schock und Überraschung so groß, dass Jaclyn den Bezug zur Realität verlor. Doch da bemerkte sie auch schon, wie sie, die Hand an die brennende Wange gepresst, dastand und Bishops muskulöse Arme sie umfassten, bis sie wieder ihr Gleichgewicht fand.
»Sie sind gefeuert!«, schleuderte Carrie ihr entgegen. Ihr
hübsches Gesicht war vor Wut verzerrt, ihr Blick jedoch
beunruhigend kühl und ruhig, als würden zwei Persönlichkeiten
denselben Körper bewohnen. »Wie können Sie es wagen, hinter meinem
Rücken über mich zu reden, mir den Leuten gegenüber in den Rücken
zu fallen, die ich für den jeweiligen
Auftrag engagiert habe? Vom ersten Tag an haben Sie alles getan,
was in Ihrer Macht stand, um mir meine Hochzeit zu versauen! Aber
das war jetzt der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht
hat! Sie können froh sein, wenn Sie später noch für einen Klempner
die Hochzeit planen können. Niemand in
Buckhead wird Sie je wieder engagieren, und Sie wissen, was das
bedeutet! Außerdem will ich mein Geld zurück, weil Sie es nämlich
wahrhaftig nicht verdient
haben!«
Jaclyn schwirrte der Kopf, aber sie richtete sich voll auf und drückte ihre weichen Knie durch. Der Stolz ließ sie die Hand von ihrem Gesicht nehmen, als hätte der brennende Schmerz nachgelassen. Ihr Herz raste so schnell, dass sie kaum atmen konnte. Ihre rechte Hand formte eine Faust. Sie konnte spüren, dass sich ihre Armmuskulatur wie von selbst anspannte, als führte sie ein Eigenleben. Doch Bishop erkannte, was passieren würde, und legte ihr warnend eine Hand aufs Handgelenk – und die andere auf die Schulter von Estefani. »Nicht«, murmelte er so leise, dass Carrie ihn nicht hören konnte. »Das Luder würde Sie wegen Körperverletzung festnehmen lassen.« Hinter Carrie hatte Irina ihre Position verändert und stand nun direkt hinter ihr; sie erweckte den Eindruck, als wollte sie sie niederstrecken.
Er hatte recht. Jaclyn atmete tief durch. So, wie die Sache stand, konnte Carrie mit Fug und Recht Klage einreichen, insofern sie diesen Weg einschlagen wollte. Sie selbst hatte diese Absicht nicht, solange Carrie nicht durchdrehte und auch noch jemand anderen schlug; sie jedenfalls sollte so klug sein und ihren Rechtsvorteil wahren. Auch um der Firma willen wollte sie diese Zusammenkunft so professionell wie nur möglich beenden.
»Ich denke, wir sollten sämtliche Termine vertagen«, erklärte sie ruhig, wobei sie Bishop und Irena einen Blick zuwarf, der gleichzeitig besagte: Schafft Estefani raus und: Alles okay mit mir.
»Wer interessiert sich hier einen Scheißdreck für das, was Sie denken?«, fragte Carrie gehässig. »Diese Leute arbeiten für mich, nicht für Sie!«
Das mochte wohl sein, doch »diese Leute« taten nun genau, was Jaclyn vorgeschlagen hatte; sie sammelten ihre Sachen ein, die über den Boden verstreut lagen, und legten sie wieder auf den Tisch. Melissa hob Jaclyns Terminkalender auf und war so mutig, ihn ihr auch zu reichen. »Danke«, sagte Jaclyn, als sie ihn entgegennahm. Melissa ging allerdings sofort wieder auf Sicherheitsabstand. Als Carries Hand eine Bewegung vollführte, als wollte sie Jaclyn den Kalender aus der Hand schlagen, sagte sie scharf: »Wenn Sie mich noch einmal schlagen, lasse ich Sie festnehmen. Ist das klar? Das gibt eine tolle Schlagzeile in der Zeitung!«
»Ich habe noch Aktenkram zu erledigen«, verkündete Melissa, und Jaclyn nickte ihr kurz zu, um ihr zu bedeuten, dass sie wirklich am besten Leine zog. Melissa wirbelte herum und war im nächsten Moment auch schon verschwunden. Die angespannten, aber gedämpften Stimmen der Selbstständigen wurden leiser, als sie über den Gang davongingen.
Die beiden Frauen standen einander gegenüber, beide in der Offensive, bereit zum Kampf.
Vermutlich war es der Hinweis auf die Zeitung und nicht die Angst vor einer Festnahme, dass Carrie die Zähne zusammenbiss und ihre Hände im Zaum hielt. »Meinen Sie, irgendein Bulle aus Atlanta würde sich je mit mir anlegen in Anbetracht des Mannes, den ich bald heiraten werde?«
»Vielleicht nicht, aber Sie sind nicht in Atlanta. Sie sind in Hopewell, und ich bin mit einem der Detectives liiert, da könnten Sie vielleicht Pech haben«, erwiderte Jaclyn und benutzte Eric wie eine Waffe, wobei er die Sache mit dem »liiert sein« womöglich bestreiten würde. »Aber davon abgesehen: Wenn Sie mich noch einmal schlagen, könnte ich sehr wohl zurückschlagen, und jeder hier würde bezeugen, dass ich mich nur verteidigt habe. Bevor Sie diesen Weg einschlagen, sollten Sie wissen, dass ich zum Kickboxen gehe und Ihnen sämtliche Knochen brechen kann.«
Nun gut, so viel zum Thema professionelles Vorgehen. Das mit dem Kickboxen war auch gelogen, aber die Knochen hätte sie ihr wirklich gern gebrochen. Sie war so geladen, dass sie es sich zutraute. Ob es nun an ihrem Gesichtsausdruck lag oder an der Drohung, jedenfalls überdachte Carrie ihr Handeln.
»Als würde ich mich mit Ihnen raufen wie zwei Barnutten«, höhnte sie. »Sie können gehen. Ich erwarte den Scheck mit der Rückerstattung meiner Ausgaben innerhalb einer Woche per Post.«
»Ich werde mich auf der Stelle darum kümmern«, antwortete Jaclyn. »Der Betrag verringert sich allerdings um die Arbeitszeit, die ich bereits aufgewendet habe – das meiste war ja bereits erledigt.«
Carries Gesicht lief rot an. »Ich will den Gesamtbetrag rückerstattet haben! Hätten Sie Ihre Arbeit anständig gemacht, hätte ich Sie schließlich nicht feuern müssen!«
»Lesen Sie den Vertrag, den Sie unterzeichnet haben. Ich denke, Sie werden aber so etwa einen Tausender zurückbekommen.« In Anbetracht der heftigen Preise von Premier störte es sie absolut nicht, Carrie einen Scheck über tausend Dollar zu schicken. Es würde ihr sogar Spaß machen.
»Wir werden sehen«, fauchte Carrie. »Mein Anwalt wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.«
»Möglichst bald, bitte. Und sagen Sie ihm unbedingt auch, dass fünf Zeugen gesehen haben, wie Sie mich geschlagen haben. Davon wird er gewiss begeistert sein.« Das Adrenalin, das sie durchpulste, ließ ihr Lächeln wie ein Zähnefletschen ausfallen. Jaclyn hatte sich noch nie im Leben mit jemandem gerauft, zumindest nicht physisch, aber jetzt hoffte sie fast, dass Carrie noch einmal ausholte, weil sie sich nichts mehr wünschte, als diesem Luder eins auf die Nase zu geben.
»Wenn die Selbstständigen ihre Jobs behalten wollen, werden sie klug genug sein, den Mund zu halten«, meinte Carrie, aber ihren kalten, wachsamen Augen war zu entnehmen, dass sie sich nicht ganz sicher war.
Jaclyn schaubte. »Wenn sie gehen, haben sie alle innerhalb von einer Stunde einen neuen Auftrag. Und genau das gilt für mich auch«, fügte sie hinzu. »Und zwar von jemandem, der mir sympathischer ist. Schöne Hochzeit! Vielleicht kommt ja sonst noch jemand – außer dem armen Opfer, ich meine: Ihrem Bräutigam.«
Der kindliche Seitenhieb vermochte ihren Ärger auch nicht zu mindern, aber zumindest fühlte sie sich anschließend besser. Sie machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon. Aus irgendeinem Grund rief ihr Carrie nichts hinterher, sodass sie sogar die Befriedigung hatte, das letzte Wort gehabt zu haben.
Mit jedem Schritt wurde das Gewicht auf ihren Schultern leichter. Frei! Die Art und Weise war scheußlich, aber sie war befreit von der Last, sich je wieder mit Carrie Edwards auseinandersetzen zu müssen. Was nun passierte, war ihr Problem nicht. Als sie ihr Auto erreichte, machte sich langsam die Erkenntnis breit, dass die brennende Backe das Endresultat wert war.
Sie schloss den Wagen auf und öffnete die Tür. Dann wartete sie einen Augenblick ab, damit die nachmittägliche Gluthitze drinnen sich langsam verzog. Sie holte ihr Handy heraus und rief ihre Mutter an. Madelyn ging gleich gutgelaunt dran, offensichtlich neugierig, wie der Nachmittag gelaufen war – aber auch wieder nicht so neugierig, um den Nachmittag im Empfangssaal zu verbringen, mitten im Schlachtgetümmel.
»Alles erledigt?«, fragte sie.
»Ja – in mehr als einer Hinsicht.«
Madelyns Stimme veränderte sich sofort, wurde argwöhnisch. »Was ist passiert?«
»Viel. Wir werden den Selbstständigen jede Menge Jobs zuschanzen müssen, damit sie uns Carrie Edwards verzeihen. Gretchen hat hingeschmissen. Die anderen tun das vielleicht auch noch. Und, das Beste überhaupt: Carrie hat mich gefeuert.« Sie wollte momentan nicht in die Details gehen, weil sie emotional noch zu sehr unter Strom stand; sie hatte sich halbwegs im Griff, allerdings mit Mühe, aber sie brauchte Zeit, um sich zu beruhigen, bevor sie Madelyn genau mitteilte, wie alles den Bach hinuntergegangen war.
»Hallelujah«, seufzte Madelyn. »Erzähl mir alles. Können wir uns im Claire auf einen Kaffee treffen? Ich muss fast noch eine Stunde rumkriegen bis zum Termin mit der Hochzeitsgesellschaft heute Abend.«
Eine Tasse Kaffee und vielleicht noch so ein sagenhafter Blaubeer-Muffin – eine gute Gelegenheit, um nach dem hitzigen Nachmittag zu entspannen. »Ich bin in nicht mal zehn Minuten da.«
»Ich in fünf. Sag mir, was du willst, dann bestell ich schon für dich.«
Jaclyn tat, wie geheißen, beendete das Telefonat und sprang ins Auto. Als sie den Motor anließ, fuhr ein silberner Sedan auf den Parkplatz rechts von ihr. Ein Mann stieg aus dem Auto, und sie hielt eine Sekunde inne, weil sie sich fragte, ob Carrie noch andere Termine vereinbart hatte, von denen sie nichts wusste. Es war schließlich alles möglich. Doch sie kannte den grauhaarigen Mann nicht; er trug einen gut geschnittenen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Vermutlich wollte er zu Melissa, um den Saal zu buchen. Er warf einen Blick in ihre Richtung, als er auf die Seitentür zuschritt, doch mit seinen Gedanken war er eindeutig woanders.
Hoffentlich hatte er das Glück, Carrie nicht anzutreffen. Ansonsten: Pech für ihn!
Aber ihr Problem war dies jedenfalls nicht.