15

Als Jaclyn im Stimmengewirr von Peach und Diedra, die Madelyn mit Fragen bestürmten, Madelyns Stimme erkannte, hielt sie einen Moment inne, um genauer hinzuhören. Da sie Erics erheblich tieferen Tonfall nicht vernahm, atmete sie erleichtert aus und riss ihre Tür auf, wobei sie allerdings noch einen schnellen Blick in die Runde warf, um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich weg war, bevor sie fragte: »Was ist passiert?«

»Er hat mir Fragen gestellt, was ich gestern Nachmittag getan habe, und sich jede Menge Notizen gemacht«, erwiderte Madelyn. »Ich glaube, er wollte sicherstellen, dass ich Carrie nicht umgebracht habe, aber das war ja nicht möglich. Nachdem wir im Claire Muffins gegessen hatten, hatte ich keine Zeit zurückzufahren, um die Tat zu begehen, und dann rechtzeitig zur Hochzeit einzutreffen.«

»Du hast im Claire Muffins gegessen?«, fragte Peach.

»Nachdem Carrie uns gefeuert hatte«, sagte Jaclyn.

»Ach«, schmollte Diedra. »Erstens: Du hättest genügend Muffins für uns alle kaufen können; wir hätten sie heute essen können. Ich meine ja nur. Zweitens: Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er überprüft, ob du auch wirklich warst, wo du gesagt hattest. Madelyn ist dein Alibi.«

»Vielleicht«, sagte Jaclyn unglücklich. Sie hätte wissen müssen, dass er Madelyn verhören würde. Hätte sie früher daran gedacht, wäre sie auf den Schock besser vorbereitet gewesen. Stattdessen hatte sie plötzlich die Wut gepackt wie ein Wildfeuer, und nun fühlte sie sich irgendwie wackelig auf den Beinen.

»Ich weiß nicht«, fügte Madelyn hinzu. »Er wollte wissen, was ich von drei Uhr am gestrigen Nachmittag an getan habe, bis ich bei der Hochzeit ankam, also …« Sie zuckte mit der Schulter, eine Geste, die besagte: Was weiß ich. »Hat heute Früh jemand eine Zeitung in die Finger gekriegt? In den Fernsehnachrichten haben sie nicht viele Einzelheiten gebracht. Vielleicht steht ja in der Zeitung, um welche Uhrzeit sie meinen, dass der Mord passiert ist.«

Niemand. »Ich hole eine«, bot Diedra an. Sie packte ihre Tasche und die Autoschlüssel und hastete zur Tür.

»Ich brauche noch einen Kaffee«, erklärte Peach. »Und noch ein Schokokeks.« Sie drehte sich um und ging in Richtung Küche davon.

»Warum denn das?«, fragte Madelyn. »Dich hat doch keiner verhört!«

Da sie lieber ihr angeschlagenes Nervenkostüm mit Schokolade beruhigen wollte, als sich über die sinnlosen Kalorien Gedanken zu machen, beschloss Jaclyn, sich zu ihnen zu gesellen. Sie hörte Peach gerade noch sagen: »Ich tröste mich, weil ich eben nicht verhört wurde.«

»Was?«

»Heiliger Himmel, Madelyn, bist du von der Taille an tot?« Als Jaclyn durch die Tür kam, warf Peach ihr einen schuldbewussten Blick zu. »Tut mir leid, meine Liebe, aber du weißt ja, dass deine Mutter ein Liebesleben hat, das …«

»Peach!«, zischte Madelyn drohend.

»Klar weiß ich das.« Jaclyn goss sich Kaffee ein und nahm sich noch ein Schokokeks vom Tablett.

»Schau, du musst dich hier nicht benehmen, als wärst du die Äbtissin von einem Nonnenkloster.« Peach bedachte Madelyn mit einem Hab-ich-dir-doch-gesagt-Blick und biss ein Stück von ihrem Schokokeks ab. »Wie bereits erwähnt: Dieser Mann sondert nur so Testosteron aus. Die chemische Reaktion hat mich ziemlich in Wallung gebracht – und dabei war ich stinksauer auf ihn. Also stellt euch mal vor, was passiert wäre, wenn ich nicht sauer auf ihn gewesen wäre!«

Jaclyn erstickte fast an ihrem Schluck Kaffee.

»Ich bin gut zwanzig Jahre älter als der Detective, und du auch, Peach Reynolds. Mir ist sein Testosteron nicht aufgefallen, und bei dir hätte das auch so sein sollen«, erklärte Madelyn.

»Heute können sich ältere Frauen an jüngere Männer heranmachen. Ich persönlich fand eigentlich noch nie etwas Negatives daran. Alte Knacker angeln sich doch ständig junge Mädchen, weshalb sollten also Frauen unseres Alters nicht auch hin und wieder ihren Spaß haben? Das ist doch vernünftig, schließlich müssen wir uns keine Gedanken mehr um eine Schwangerschaft machen. Enthaltsamkeit ist etwas für die Jungen und Dummen, nicht für die Altersweisen und Reifen.«

Sollte sie klein beigeben oder die Stellung behaupten? Sollte sie ausplaudern, dass sie Eric kannte – allerdings sicher nicht, dass sie mit ihm geschlafen hatte. Oder sollte sie lieber den Mund halten? Jaclyn hatte keine Ahnung, was sinnvoller war, aber eines war klar: Sie wollte ihrer Mutter und einer Frau, die wie eine Tante für sie war, nicht zuhören, wie sie Erics Testosteronspiegel diskutierten. »Ehm …« setzte sie also an, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich sagen wollte, aber das war ja auch egal; sie hätte genauso gut keinen Mucks machen können, denn die allgemeine Aufmerksamkeit galt ja eh ihr.

Madelyn stemmte die Hände in die Hüften. »Ich will dir mal was sagen: Wenn du irgendwann alt und weise bist, ist es zu spät für Enthaltsamkeit. Was soll man noch groß die Stalltür schließen, wenn das Pferd bereits draußen ist.«

»Das ist ja gerade der Punkt! Weise, reife Frauen sollten nicht enthaltsam sein; wir sollten unserer Lust frönen, und das heißt: jüngeren Männern!«

»Dieser Mann ermittelt gegen meine Tochter wegen Mordes! Bist du denn völlig verrückt? Mir ist es total egal, was wir deiner Meinung nach frönen sollten – ich mochte ihn nicht!«

»Ja, okay«, stimmte Peach einen Moment später zu. »Ich mochte ihn auch nicht, persönlich gesehen. Aber unpersönlich gesehen, tut es groß, dunkel und markant immer für mich.«

Jaclyn legte ihr Schokokeks auf eine Papierserviette; sie würde ersticken, wenn sie dieses Ding jetzt essen würde. Sie wusste nicht, wer peinlicher berührt wäre, sie oder Madelyn oder Peach, wenn sie ihnen sagte, dass sie … mit Eric eine Affäre gehabt hatte. Mehr war es ja auch nicht, eine Affäre, schließlich machte eine gemeinsame Nacht keine Beziehung. Aber in Anbetracht dessen, was sie gerade gesagt hatten, war selbst davon zu sprechen zu viel des Guten. Eigentlich war es ja egal, denn die »Affäre« war vorbei, zwischen ihnen würde nichts mehr passieren; sie ging davon aus, dass er sie nicht allein aufgrund von Indizienbeweisen wegen Mordes an Carrie festnehmen würde.

Sie konnte jetzt nichts verlauten lassen, denn das würde der Sache viel zu große Bedeutung beimessen. Ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes hatte hingegen mit Sicherheit große Bedeutung. Sie sollte die Sache mit Eric vergessen und sich der wichtigsten Frage widmen, wobei sie allerdings keine Ahnung hatte, wie sie in dieser Situation die Initiative ergreifen sollte.

»Ich kann nichts anderes tun als arbeiten«, sagte sie laut, um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter und Peaches von ihrer Auseinandersetzung abzulenken.

Beide sahen sie an. »Was?«

»Diese ganze Situation. Sie hat sich meiner Kontrolle entzogen. Mir passt das nicht, aber ich muss einen Schritt Abstand nehmen und mich auf das konzentrieren, was noch meiner Kontrolle unterliegt, und das ist die Arbeit. Aber … ach, verdammt, als er hier war, da hätte ich ihn fragen können, wie ich an meinen Aktenkoffer komme; stattdessen bin ich an die Decke gegangen und habe mich dann in mein Büro verkrochen wie ein verängstigtes Kind!« Sie schlug sich an die Stirn.

»Ich dachte, du hättest mit Diedra den Auftrag bereits rekonstruiert«, warf Peach ein.

»Für die Bulldog-Hochzeitsprobe und die eigentliche Hochzeit ja, denn die stehen ja unmittelbar bevor, aber jetzt müssen wir das auch mit den anderen machen.«

Madelyn brach an ihrem Keks eine Ecke ab und kaute darauf herum. »Das ist ein Ärgernis, aber wir kriegen es schon in den Griff. Wir verfügen über sämtliche Informationen; wir müssen sie bloß wieder in einer ordentlichen Liste zusammenstellen.«

»Ich weiß, aber diese Zeit könnten wir anderweitig verwenden.«

»Wie Schokokekse essen«, sagte Peach und lächelte ihr zu. »Meine Liebe, ich weiß, das alles ist stressig, aber es ist ja bald vorbei. Alles wird gut. Du hast sie nicht umgebracht, und somit können sie dir die Tat auch nicht nachweisen.«

»Indizienbeweise …«

»… treffen auf viele Leute zu, denn alle waren wütend auf Carrie. Vermutlich haben sie deine Klamotten mitgenommen, weil sie nach Blutspuren suchen. Du hast sie nicht umgebracht, und somit können sie auch kein Blut finden. Sobald alle Tests erledigt sind und die Berichte vorliegen, wirst du von jeglichem Verdacht frei sein.«

»Läuft das so bei Den Tätern auf der Spur

»Ach, alle Typen, mit denen ich mich verabrede, sind Fans von Den Tätern auf der Spur, deshalb schaue ich mir diese Serie ja so oft an. Bei dem Fernsehkrimi ist der offensichtlichste Verdächtige später nie der Täter, das ist doch ein Trost. Aber von dem Fernsehkrimi mal abgesehen – schon der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass sie nach Blutspuren suchen. Das ist der einzige Grund, weshalb sie deine Klamotten mitgenommen haben. He, Süße, oder haben sie gestern Abend etwa deine Hände auf Rückstände von einem Revolverschuss untersucht?«

»Nein, warum?«

»Das bedeutet, dass sie nicht erschossen wurde. Wenn doch, hätten sie das nämlich getan.«

Offensichtlich war ihre Annahme, dass Carrie erschossen worden war, ja falsch, dachte Jaclyn. In Anbetracht der vielen Nachrichten ging sie davon aus, dass jeder Mord mit einer Waffe begangen wurde. Und wenn Banden mit im Spiel waren, mochte das ja auch stimmen, doch was war mit den anderen Morden?

»Es gibt zig andere Möglichkeiten, jemanden umzubringen«, erklärte Madelyn, nachdem sie sich diverse fiese Überlegungen hatte durch den Kopf gehen lassen. »Erdrosseln, den Schädel einschlagen, erstechen, jemanden schubsen, sodass er stürzt und sich irgendwo den Kopf anhaut – na, ich denke, Letzteres wäre wohl eher ein Unfall. Hm, dann wäre da noch Gift, doch dann würden sie wohl eher Irena oder Audrey unter die Lupe nehmen, weil sie die Auswahlessen gebracht hatten, nicht wahr? Gift kann man also vergessen.«

Sie konnten noch ewig so weitermachen und die zig Möglichkeiten auflisten, wie Carrie abgemurkst worden sein könnte; Jaclyn dachte, sie könnte selbst durchaus auch ein paar unterhaltsame Alternativen beisteuern, aber sie hatte einiges zu erledigen. Sie warf einen Blick auf die Uhr und überlegte, wie lange Diedra wohl noch brauchen würde. »Ich muss vor meinem Termin in Dunwoody noch ein paar Sachen von der chemischen Reinigung abholen. Falls etwas Interessantes in der Zeitung steht, ruft mich an.«

Sie holte ihre Tasche und ihren Terminkalender aus dem Büro, außerdem die Mappe mit der neuen Liste, die sie und Diedra erstellt hatten – verflixt, sie brauchte ihren Aktenkoffer wirklich! Dann verließ sie Premier durch den Hintereingang.

Eric lehnte, die Arme und Beine verschränkt, an ihrem Auto – er wartete.

Jaclyn kam schlitternd zum Stehen, ihre Pfennigabsätze rutschten ein bisschen auf dem Betonboden. Eine fast unkontrollierbare Panikattacke kombiniert mit Ärger ließ ihren Magen revoltieren, und ihre Haare fühlten sich an, als würden sie sich von der Kopfhaut abheben. Sie wäre am liebsten wieder zurück ins Haus geflitzt – ihre Hand lag schon auf dem Türknauf –, doch das wäre feige, außerdem war sie noch über sich verärgert, weil sie Carrie keins auf die Nase gegeben hatte, als sich die Gelegenheit geboten hatte; sie zwang sich also, ihre Stellung zu behaupten.

Er machte einen Schritt vom Jaguar weg, sodass sich die kurze Entfernung zu ihr noch verringerte.

Gegen Feigheit war doch eigentlich nichts einzuwenden, ging es ihr durch den Kopf, als sie die Tür aufschob. Wenn er ihr etwas zu sagen hatte, dann wollte sie Zeugen haben.

»Ich dachte, ich sollte Ihnen vielleicht mitteilen, dass Sie die Stadt nicht verlassen dürfen«, erklärte er mit kühler Polizistenstimme, seine braunen Augen zu Schlitzen verengt.

Nicht die Stadt verlassen? Sie befand sich bereits außerhalb, denn sie war schließlich in Atlanta und nicht in Hopewell. »Wie definiert sich ›Stadt‹? Hopewell oder Atlanta plus Einzugsgebiet? Ich bin gerade unterwegs nach Dunwoody. Liegt das bereits außerhalb der Stadt?«

Auf seinem Gesicht blitzte ein leicht ungeduldiger Ausdruck auf. »Dunwoody geht in Ordnung. Verlassen Sie aber das Einzugsgebiet nicht. Fliegen Sie nicht in Urlaub auf die Bahamas.«

Jetzt, wenn sie genauer nachdachte, fragte sie sich, was zum Teufel er hier überhaupt wollte. Sie warf einen Blick auf sein Auto, das neben ihrem geparkt stand. Wenn er ihr etwas zu sagen hatte, warum war er dann nicht noch einmal hereingekommen? Und: Weshalb hatte er sie nicht angerufen? Er hatte die Nummer von Premier, und er wusste, dass sie da war. Außerdem hatte er ihre Handynummer. Er hatte an ihr Auto gelehnt dagestanden, als sei er bereit, ewig zu warten, bis sie herauskäme; aber eigentlich hatte er davon ausgehen müssen, dass sie den ganzen Tag im Büro verbringen würde.

Eines stand jedenfalls fest: Er war nicht da gewesen, als Diedra weggefahren war, denn dann hätte sie in heller Aufregung angerufen. Er war also weggefahren und noch einmal zurückgekehrt.

»Was machen Sie hier draußen?«, fragte sie argwöhnisch, wollte jedoch nicht mehr mit ihm reden als unbedingt nötig. Was hier lief, war irgendwie seltsam, und sie wollte wissen, was los war. »Wollten Sie gerade mein Auto durchsuchen?«

»Das darf ich ohne Durchsuchungsbefehl nicht«, erwiderte er ruhig.

»Vielleicht wollten Sie es ja ohne Durchsuchungsbefehl tun.« Sie spürte, dass sie sich auf eine Konfrontation einstellte, als sie ihn anfunkelte.

»Nein, Madam. Ich halte mich bei diesem Fall strikt an die Vorschriften.«

»Sie hatten sich an mein Auto gelehnt, wenn Sie also keine illegale Durchsuchung vornehmen wollten, was zum Teufel hatten Sie dort vor?«, fragte sie barsch. Sie konnte die Feindseligkeit in ihrer Stimme hören – sie, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, stets ruhig und besonnen zu bleiben, doch das war ihr jetzt egal.

»Ich habe auf Sie gewartet.«

»Aus welchem Grund? Warum sind Sie nicht hereingekommen und haben gesagt, was Sie zu sagen hatten? Und wieso sind Sie überhaupt zurückgekommen? Sie hätten anrufen können.«

»Ich dachte, Sie würden sich vermutlich verleugnen lassen, wenn ich anrufe.«

Sie richtete den Kopf hoch auf, Ärger blitzte in ihren Augen. »Ich habe bislang mit Ihnen zusammengearbeitet. Und meine Mutter auch. Ich habe Ihnen keinen Anlass zu der Annahme gegeben, ich würde mich verleugnen lassen!«

»Ja, Madam«, sagte er lakonisch, »ich weiß Ihre Kooperationsbereitschaft zu schätzen.«

Die Art, wie er sie mit »Madam« ansprach, brachte sie zur Weißglut, und das wusste er auch. »Dann ist Ihre Ausrede nicht stichhaltig, Detective.«

»Ich wollte sichergehen, dass Sie meine Botschaft auch bekommen.«

»Ich habe sie bekommen, und zwar laut und deutlich«, erwiderte sie kurz angebunden. Sie warf einen Blick auf sein Auto, das neben dem ihren stand, und es drängten sich ihr ein paar Fragen auf. »Woher wussten Sie eigentlich, welches Auto mir gehört?« Schließlich fuhren Madelyn und sie dasselbe Modell.

»Ich habe das Nummernschild überprüfen lassen.«

Super. Ihr gefiel die Vorstellung nicht, dass ihr Name quer durch sämtliche Polizeibehörden geschickt wurde, aber ändern konnte sie daran auch nichts. Die Tatsache, dass sie bei einem Mordfall zu den Verdächtigen zählte, war wohl auch kein Staatsgeheimnis. Ohne Kommentar ging sie zur zweiten Frage über: »Woher wussten Sie, dass ich herauskommen würde?« Er hatte ja wohl kaum an ihr Auto gelehnt abwarten wollen, bis sie zum Mittagessen ging. Sie glaubte, die Antwort zu kennen, wollte sich jedoch vergewissern.

»Ich habe Ihren Aktenkoffer, erinnern Sie sich? Ich habe den gesamten Inhalt gelesen. Ich kenne Ihren Terminplan, und deshalb dachte ich mir, dass Sie recht bald zu Ihrer Verabredung in Dunwoody aufbrechen müssten.«

Genau, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie biss die Zähne zusammen. Es war ihr ein Gräuel, ihn um etwas zu bitten, egal worum, doch diese Gelegenheit war nun perfekt. »Könnte ich meinen Aktenkoffer wiederhaben?« Bevor er noch ablehnen konnte, fügte sie hinzu: »Oder behalten Sie den Aktenkoffer, und überlassen Sie mir den Inhalt. Ich brauche meine Unterlagen. Und falls das nicht möglich ist, könnte dann vielleicht jemand die Unterlagen für mich kopieren?«

»Der Aktenkoffer ist Beweismaterial vom Tatort«, erwiderte er, was sie als ein dickes, fettes Nein wertete. Dann fuhr er fort: »Ich sehe aber keinen Grund, weshalb die Unterlagen für Sie nicht kopiert werden könnten. Ich frage beim Lieutenant nach. Wenn er sein Okay gibt, lasse ich sie Ihnen bestimmt zukommen.«

Mist, jetzt musste sie sich bei ihm bedanken. Die Worte waren wie Sägespäne in ihrem Mund, aber sie kriegte sie dann doch über die Lippen: »Danke schön.«

»Keine Ursache.«

Heiliger Himmel, das Gespräch mit ihm war, wie wenn man den Verband von einer Wunde riss, die gerade eben erst aufgehört hatte zu bluten. Sie wollte ihn nicht so mit sich umspringen lassen. Dass sie ärgerlich wurde, nun gut – aber kränken würde sie sich von ihm nicht lassen; sie wollte ihm diesen Stellenwert nicht reinräumen.

Zu spät, flüsterte ein Stimmchen in ihrem Hinterkopf. Sie hätte auf diese Stimme gestern Nacht hören sollen, als sie Eric eingeladen hatte vorbeizukommen; aber sie hatte sie abgetan. Damals hätte sie darauf hören sollen, doch selbst jetzt widerstrebte es ihr. Sie wollte einfach, dass die Stimme und Eric weggingen. Sie würde schon klarkommen. Gewiss. Es würde vielleicht nur eine Weile dauern.

»Gibt es sonst noch was?«, fragte sie steif.

»Nein, das ist momentan alles.«

Um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht, schlüpfte sie an ihm vorbei, stieg in ihr Auto und fuhr davon, ohne sich umzuschauen.

Na, das ist ja gut gelaufen, dachte Eric sauer, als er in seinen Wagen stieg. Er hatte gewusst, dass es ihr nicht gefallen würde, wenn jemand ihr sagte, sie dürfe die Gegend nicht verlassen. Er hatte es getan, weil Jaclyn für die Ermittlungen von Relevanz und es zudem seine Pflicht war. Er hatte sich an die Vorschriften gehalten, an die Spielregeln. Er hatte ihr keinen Anhaltspunkt für eine Sonderbehandlung gegeben, hatte ihr keinerlei Gefallen angeboten, nicht einmal den winzigsten. Zur Belohnung hatte sie ihn mit einem Blick bedacht, als wäre sie gerade auf eine Nacktschnecke getreten und müsse sich nun den Schleim von ihrem schicken Schühchen wischen.

Er war stinksauer, weil er ja eigentlich alles Menschenmögliche tat, um sie von der Liste der Verdächtigen zu streichen – und wenn er sich dabei nicht an die Vorschriften hielt, dann würde man ihm den Fall entziehen. Sämtliche Detectives würden sich total hineinhängen, um den Mordfall zu lösen, und die Burschen waren gut – aber seine besondere Motivation hatten sie nicht.

Er war letzte Nacht lange aufgeblieben und hatte heute in aller Frühe angefangen. Er war nicht einmal ins Polizeipräsidium gefahren, weil er Madelyn Wilde verhören wollte – um es hinter sich zu bringen. Die Tatsache, dass sie so gut durchorganisiert war, schien ihm hilfreich zu sein. Er bezweifelte, dass sie auch nur eine Pinkelpause einlegte, ohne dies mit einer kleinen Notiz in ihrem Terminkalender zu vermerken – verschlüsselt natürlich, damit auch keiner, der ihre Unterlagen einsah, mitbekam, dass sie unterbrechen und aufs Klo hatte gehen müssen. Sie bürgte für ein anständiges Alibi. Wenn nicht ein Laborbericht käme, in dem stand, dass sich an Jaclyns schwarzer Kleidung Blut von Carrie Edwards gefunden hatte – und das glaubte er absolut nicht –, dann war Jaclyn auf dem besten Weg, frei von jeglichem Verdacht zu sein.

Das schien sie allerdings einen Dreck zu kümmern. Sie war so stocksauer auf ihn, dass sie nicht einmal im Zweifelsfall zu seinen Gunsten entscheiden würde.

Aber verdammt noch mal, ihm gefiel es, wie sie ihn mit feurigen Augen anfunkelte. Die coole Dame ließ sich außer Kontrolle bringen – was ihm mit Sicherheit riesigen Spaß machte. Er hatte diese Kontrolle bereits im Bett durchbrochen, er hatte sie dazu gebracht, ihm ihre Fingernägel in den Rücken zu bohren und ins Kopfkissen zu beißen, um ihre Lustschreie zu unterdrücken. Aber es gefiel ihm zu wissen, dass er sie auch außerhalb vom Bett kriegen konnte. Es war so etwa das Gleiche wie die Tatsache, dass sie einen miserablen Kaffee kochte. Er kam sich bei ihr ein bisschen vor wie die Prinzessin und der Bettelknabe, obwohl sie mit nichts angedeutet hatte, dass sie genauso empfand. Vielleicht war er ja nur ein bisschen unsicher.

Er dachte den Bruchteil einer Sekunde darüber nach, schüttelte dann den Kopf. Nein. Er wollte einfach nur wissen, ob er bei ihr auf den Putz hauen konnte, ohne dass sie gleich ausflippte, weil ihr Haar in Unordnung geriet, und ohne dass sie in Tränen ausbrach, weil er seine Stimme erhoben hatte. Soweit er heute Vormittag gesehen hatte, musste er sich in dieser Hinsicht keine Gedanken machen – vorausgesetzt, sie gab ihm die Chance, überhaupt auf den Putz zu hauen.

Doch das Wichtigste zuerst: Er musste sie von dem Mordverdacht befreien; anschließend würde er daran arbeiten, wieder ihre Gunst zu erlangen.

Auf das wirklich Wichtige konzentriert, war sein nächster Punkt auf der Liste Gretchen Gibsons Schneiderei Elegant Stitches; sie lag in einem kleinen, aber exklusiven Einkaufsviertel, das in U-Form um einen zentralen Brunnen erbaut war; Parkplätze gab es an allen drei Seiten. Das Geschäft befand sich an der linken Seite des Us. Da es noch recht früh war – vor neun Uhr –, standen noch keine Autos auf dem Parkplatz; er überprüfte das Areal hinter dem Gebäude, ein Honda Civic parkte direkt am Hintereingang des Geschäfts.

Er ging zum Vordereingang und klopfte fest an die Scheibe. Nach etwa zehn Sekunden tauchte eine kleine, pummelige Blondine mittleren Alters auf und deutete auf das Schild: GESCHLOSSEN. Eric zog seine Brieftasche heraus, die er aufklappte, um seinen Dienstausweis zu zücken. Der Mund der Frau formte überrascht ein O, dann hob sie einen Finger hoch und verschwand hinten im Laden. Kurz darauf war sie zurück, einen Schlüsselbund in der Hand. Er wartete, während sie das Schloss entriegelte und die Kette löste, um die Tür zu öffnen.

»Gretchen Gibson?«

»Ja«, sagte sie misstrauisch. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich bin Detective Eric Wilder. Darf ich hereinkommen?«

»Ja. Ja, selbstverständlich.« Sie trat beiseite, machte die Tür weiter auf. Er trat ein, und sie schloss hinter ihm resolut die Tür wieder ab. »Es geht um Carrie Edwards, oder?«

»Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen, Ms. Gibson, wenn Sie nichts dagegen haben«, erwiderte er, um einen lockeren, zurückhaltenden Ton bemüht. Ein Großteil der Aufgabe eines Detectives bestand darin, Leute zum Reden zu bringen, und die Erfolgsaussichten standen besser, wenn sie sich in seiner Gesellschaft wohlfühlten. Er war rund dreißig Zentimeter größer als Gretchen Gibson, sie könnte sich also eingeschüchtert fühlen. An seiner Körpergröße vermochte er nichts zu ändern, aber er konnte sich sehr wohl bewusst darum bemühen, dass sie ihn sympathisch fand.

»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass sie gestern Nachmittag ermordet wurde«, sagte sie. »Nun, außerdem haben mich gestern Abend noch ein paar Freunde angerufen, um es mir mitzuteilen.« Sie seufzte, straffte dann die Schultern. »Vermutlich wissen Sie ja von dem Streit, den wir hatten.«

»Sie war wohl eine schwierige Kundin.«

Ihr Gesicht lief rot an. »Schwierig? Dann könnte man auch sagen, dass Charles Manson ein bisschen neben sich steht. Sie war ein gemeines, hinterhältiges Luder – genau das!«

»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, forderte Eric sie auf.

Gretchen Gibson kniff die Lippen zusammen. »Ich habe hinten eine Kanne frischen Kaffee. Möchten Sie welchen? Gehen wir in mein Büro und setzen wir uns, dann erzähle ich Ihnen, wie sich der Umgang mit Carrie Edwards gestaltet hat.«

Eric verließ eine halbe Stunde später das Geschäft mit ein paar Seiten Notizen. Eine weitere potentielle Verdächtige wurde von der Liste gestrichen. Carrie Edwards war noch am Leben gewesen, als die Schneiderin den Empfangssaal verlassen hatte; sie hatte bereits bei einer neuen Kundin Maß genommen und hatte das Hochzeitskleid besprochen, als Carrie getötet worden war.

Gretchen Gibson hatte ihm die Ohren vollgequatscht. Nach dem, was sie gesagt hatte, war die Liste von Leuten, die Carrie Edwards gern umgebracht hätten, offensichtlich erheblich länger als die der Leute, die es nicht hätten tun wollen. Die erste Brautjungfer hatte sich sogar nach einer lautstarken Auseinandersetzung mit Carrie von der Hochzeitsgesellschaft verabschiedet.

Bei den meisten Opfern gab es ein oder zwei Menschen, die dieser Person Schaden zufügen wollten. Bei Carrie Edwards ließ sich ein ganzes Fußballstadion mit solchen Leuten füllen.