33

Sarah saß auf dem Boden. Sie trug nur Oberteil und Unterhose, als hätte sie gerade ins Bett gehen wollen, aber nicht weit weg von ihr lag eine zerrissene Leggings. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, stand sie unter Schock. Und sie hatte guten Grund dazu, wenn man bedenkt, was da vor ihr auf dem Boden lag: ein großes, kahlrasiertes, vermutlich russisches Arschloch, bewegungslos und mit dem Gesicht nach unten. Die Hose hing ihm um die Knöchel, und ein altes Taschenmesser ragte aus seinem Hals. Auf dem Boden hatte sich Blut ausgebreitet, und auf den Spiegel war in hohem Bogen ebenfalls welches gespritzt. Einiges davon sogar bis an die Decke. Als ich mich näherte, sah ich, dass auch Sarahs Gesicht etwas abbekommen hatte.

Braves Mädchen, dachte ich, und Erleichterung durchströmte mich. Sarah hatte mit der Welt ihres alten Herrn nie viel zu tun gehabt, und doch sprangen ihre Instinkte an, sobald sie in die Enge getrieben wurde, dann tötete sie, bevor sie selbst getötet wurde. Der Apfel fällt nun mal nicht weit vom Stamm.

Sah aus, als wäre der Russe schon eine ganze Weile tot. Sie musste stundenlang dort allein gesessen und die Leiche angestarrt haben. Zu schockiert, um sich zu bewegen, hatte sie einfach gewartet, dass jemand aus Bobbys Crew auftauchte und ihr half, aber natürlich war niemand gekommen. Ich war ja der Einzige, der noch übrig war.

Als sie endlich kapierte, dass ich es war, sprang Sarah auf die Beine und rannte auf mich zu. Ich hatte gerade noch genug Zeit, die Pistole sinken zu lassen, bevor sie mir die Arme um den Hals warf. Ich kann nicht sagen, wie erleichtert ich war, dass sie lebte.

»Alles in Ordnung?«

»Ja.«

»Hat er dir was getan?«, fragte ich.

»Er hat’s versucht«, sagte sie.

Wir ließen den toten Russen liegen, und ich schob sie aus dem Schlafzimmer. Ich zog einen alten Koffer vom Schrank herunter und sagte: »Pack was zum Anziehen ein, genug für ein paar Tage«, und fügte hinzu: »Du hast zwei Minuten Zeit.« Ich wollte vermeiden, dass die anderen Russen auftauchten und ihren Freund suchten. Sarah zog ihre Jeans hoch, stopfte ein paar Klamotten und Toilettenartikel in ihre Tasche, und wir verschwanden.


»Das ist mein Bruder Danny«, sagte ich, als wir am Fuß der Treppe ankamen.

»Schön, dich kennenzulernen«, sagte er.

Die Schlüssel von Bobbys Jaguar lagen auf dem Boden neben dem Telefon. Ich hob sie auf und sagte: »Danny, nimm den BMW und fahr mir hinterher.« Ich wollte nicht, dass Bobbys Wagen am nächsten Morgen noch dort stand. Das gehörte nicht zu meinem Plan.

»Was ist passiert?«, fragte ich, als wir die Auffahrt entlangrasten.

»Sie haben Dad und Finney mitgenommen«, sagte sie. »Ich war in meinem Zimmer und hab einen lauten Knall gehört, und als ich oben an die Treppe ging, um nachzusehen, was los war, hing die Tür aus den Angeln, und da standen diese Riesenkerle mit Gewehren – Russen oder Polen.«

»Russen«, sagte ich. »War noch jemand bei ihnen?«

»Ja«, sagte sie mit wütender Stimme, »ein Schotte und seine verfluchte Schlampe.«

»Eine Frau?« Sie nickte. Lady Macbeth war also mit von der Partie. Wenn es nach mir ging, würde sie das noch bereuen. »Hat sie etwas zu dir gesagt?«

»Sie hat einem der Typen befohlen, zu bleiben und mich zu bewachen, dann hat sie die Treppe hochgebrüllt und wollte, dass ich herunterkomme. Ich hab gesehen, wie sie Dad und Finney weggeschleift haben, also bin ich so schnell wie möglich in Dads Büro verschwunden. Er hat ein Messer in der Schreibtischschublade, das hab ich geholt und mir in die Tasche von meinem Pulli gesteckt. Als ich wieder oben an der Treppe stand, hat sie mich blöd von unten angegrinst, das dämliche Muskelpaket stand neben ihr. Sie meinte: ›Kleine Mädchen müssen lernen, Älteren zu gehorchen‹, dann hat sie sich zu dem Arschloch umgedreht und gesagt: ›Pass auf, dass sie Ruhe gibt. Kannst mit ihr machen, was du willst.‹« Sarah legte sich die Hand auf die Stirn, als wäre sie kurz davor, in Ohnmacht zu fallen, aber es gelang ihr, weiterzuerzählen. »Ich fing an zu schreien: ›Lass mich in Ruhe, mein Vater wird dich, verdammt noch mal, umbringen‹, und die Schlampe hat gelacht.« Sarah schüttelte den Kopf. »Sie hat gelacht, dann hat sie gesagt: ›Krieg dich wieder ein, Kleine.‹« Sarah machte Lady Macbeths breiten Glasgower Akzent ziemlich gut nach.

»Sie ist mit den anderen weg, und der Kerl, den du gesehen hast, kam die Treppe herauf. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass er’s tun wollte, aber erst hat er mich geschlagen und mir dann die Leggings runtergerissen. Als er sich die Hose aufgemacht hat, hab ich das Messer genommen und ihn erstochen.«

Sarah war unglaublich tapfer gewesen und hatte großes Glück gehabt. Wahrscheinlich hatte sie nur eine einzige echte Chance gehabt, den Kerl zu erstechen, bevor er ihr das Messer abgenommen, sie vergewaltigt und höchstwahrscheinlich umgebracht hätte. Aber sie musste teuer dafür bezahlen.

»Ich wollte ihn nicht töten«, sagte sie leise. »Ich wollte nur, dass er aufhört.«

»Ich weiß«, sagte ich, »das hast du gut gemacht, du hast das Richtige getan. Entweder er oder du.« Ich sagte es und klang dabei wie der Killer, der ich gerade erst geworden war.

Wir fuhren eine Minute lang schweigend weiter, während sie ihren Mut zusammennahm, um mir eine Frage zu stellen. Ich wusste, was jetzt kam, aber ich fürchtete mich davor.

»Was ist mit Dad?«, fragte sie leise.

Sie hatte das Recht, zu erfahren, was mit ihrem alten Herrn passiert war. Ich konnte sie nicht belügen und ihr sagen, dass alles wieder gut werden würde, weil es nicht so war. Aber was sollte ich machen? Ihr sagen, dass ihr Vater wegen mir tot war, ihr sagen, dass ich ihn getötet hatte, weil mich ein Gangster aus Glasgow dazu gezwungen hatte, und dass ich jetzt auch tot wäre, wenn ich es nicht getan hätte. Dass ich ebenso wenig eine andere Wahl gehabt hatte wie sie, als sie den großen Russen ins Jenseits beförderte? Entweder er oder ich. Sollte ich ihr das sagen? Wohl kaum.

»Er ist tot, Sarah«, sagte ich leise, »Finney auch.«

Sie lässt sich nicht unterkriegen, und ich glaube, sie hatte fast damit gerechnet, dass ihr Dad eines Tages so enden würde. Vielleicht hatte sie sich ihr Leben lang auf diesen Augenblick vorbereitet, denn sie nickte nur und sagte: »Danke, dass du’s mir gesagt hast«, als wäre sie erleichtert darüber, dass ich nicht versucht hatte, sie anzulügen. Leise fing sie an zu weinen, während ich weiterfuhr. Eigentlich machte sie gar kein Geräusch, aber ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie ab und zu den Arm hob und sich mit dem Handrücken über die Augen wischte. Als wir bei Palmer ankamen, hatte sie ihre Tränen bereits getrocknet. Ich parkte, und sie folgte mir stumm nach drinnen, die Augen gerötet und verquollen.

Mir wurde klar, dass Sarah eine Nacht hinter sich hatte, die meiner in nichts nachstand. Beide wären wir fast gestorben, und beide hatten wir zum ersten Mal im Leben einen Menschen getötet. Sie war noch schlimmer dran als ich, denn sie hatte zu allem Überfluss auch noch ihren geliebten Dad verloren.

Aber wir hatten jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Wir befanden uns im Krieg.


Ich schickte Sarah ins Gästezimmer und bat sie, dort zu warten. Ich wollte nicht, dass sie etwas mitbekam. Ich folgte ihr, und sie setzte sich auf die Bettkante, dann sah sie mich flehend an.

»Ich möchte etwas tun«, sagte sie. »Ich will dir helfen, für Dad.«

»Glaub mir, wenn ich dir sage, dass ich deinen Dad sehr lange gekannt habe und weiß, dass er ganz bestimmt nicht gewollt hätte, dass ich dich in die Sache hier reinziehe«, sagte ich. »Ich werde das regeln, versprochen.«

»Gehst du heute Abend noch mal weg?«, fragte sie und wirkte verängstigt.

Ich nickte. »Ich lass jemanden hier. Er wird die ganze Nacht und morgen auch unten bleiben. Du bist absolut sicher. Niemand weiß, dass du hier bist. Du kannst im Zimmer bleiben, wenn du willst.«

»Ich will nicht, dass du mich allein lässt.« Sie sah aus, als hätte sie entsetzliche Angst.

»Hör mir zu«, sagte ich und unterband ihren Protest, indem ich meine Hände hob und ihr Gesicht sanft dazwischen festhielt. »Ich muss los und was erledigen. Ich muss es zu Ende bringen, danach komme ich wieder, das verspreche ich dir.«

Sie machte den Mund auf und wollte etwas sagen, aber ich unterbrach sie. »Du musst etwas für mich tun. Du musst tapfer sein, bis der Schlamassel aus der Welt geschafft ist. Danach komme ich zurück und lasse dich nie wieder allein, das schwöre ich.« Sie sah aus, als wollte sie gleich wieder weinen, aber auf eine andere Art. Das Gefühl war ein anderes. Vielleicht war es Erleichterung.

Ich küsste sie, dort in dem kargen Gästezimmer des von Palmer gemieteten Hauses. Es war ein seltsamer Ort für unseren ersten echten Kuss, aber wir hatten ja auch eine seltsame Nacht hinter uns. Der Kuss war ein Versprechen, das wir uns beide gaben.


Palmers Haus hätte man als minimalistisch bezeichnen können, wenn nackte Wände, karge Möblierung und das Fehlen von Familienfotos bei ihm eine bewusste gestalterische Entscheidung gewesen wären. Ich wusste, dass sie das nicht waren. Er war ein Typ, der auf so was einfach keinen Wert legte. Er hatte einen 42-Zoll-Plasmafernseher an der Wand, mit dem er am Sonntagnachmittag Fußball guckte, einen Kühlschrank voller Bier und zwei kleine Sofas zum Sitzen, aber ansonsten herzlich wenig, und deshalb standen wir einfach so in der Küche herum.

Palmer hatte alle antreten lassen, und sie waren alle gekommen, wie ich gebeten hatte: Palmer, Toddy, Mickey Hunter, Danny sowie Kinane mitsamt seinen drei Söhnen.

Ich wandte mich an Hunter und nickte. Er stellte zwei große schwarze Reisetaschen auf den Küchentisch und öffnete beide.

Dann nahm er die Waffen eine nach der anderen heraus und legte sie vorsichtig auf den Tisch. Er hatte alles dabei, worum ich ihn gebeten hatte. Er war erstaunt, Kinane und seine Söhne zu sehen, machte aber keine große Sache daraus, sondern nickte dem älteren Mann lediglich zu und ging dann mit uns die mitgebrachten Waffen durch.

»Vier halbautomatische Beretta-Gewehre. Aus dem, was du erzählt hast, schließe ich, dass es nicht nötig sein wird, die Läufe abzusägen?« Offenbar wollte er mehr herauskriegen, aber ich wollte Mickey Hunter nicht verraten, was ich vorhatte.

»Nicht nötig«, bestätigte ich.

»Bin für jede Erleichterung dankbar.« Er hielt die Munition hoch, um sie uns zu zeigen. »Baut keinen Scheiß damit, das sind schwere Magnum-Patronen. Damit kannst du einen tobsüchtigen Elefanten unschädlich machen.« Wir nickten allesamt ehrfürchtig. Kinane und seine Söhne nahmen die Gewehre und luden sie, als wüssten sie genau, wie man damit umgeht, woran ich keinen Zweifel hatte.

»Danny«, sagte Hunter. Mein Bruder blickte gespannt auf und lächelte sogar, als er sah, was Hunter für ihn aus der Tasche zog. »Die SLR; Standardgewehr der britischen Armee, halbautomatisch, aus deiner Zeit und darüber hinaus. Dazu muss ich dir nichts erklären, oder?«

»Nein, mein Freund«, sagte Danny, als er sie nahm, kritisch beäugte, in den Lauf guckte und sie dann ehrerbietig in Händen hielt. »Darüber musst du mir nichts erklären.«

»Auf jeden Fall besser als die SA 80«, sagte Palmer, der sich neben ihn stellte, »die blockiert nicht in jeder verfluchten Sanddüne.« Die beiden betrachteten das Gewehr wie das Bild einer ehemals heißgeliebten Freundin.

»Ich dachte mir schon, dass du das so siehst«, sagte Hunter zu Palmer, »deshalb hab ich dir auch eine mitgebracht.«

»Sehr schön.«

»Sicher, dass du nichts brauchst?«, fragte Hunter mich. »Ich hab noch ein Gewehr im Wagen, nur für alle Fälle.«

Ich schüttelte den Kopf. Mit der Glock war ich glücklicher, und die Wahrscheinlichkeit war geringer, dass ich mir damit in den eigenen Fuß schoss.

Hunter reichte mir eine lange schmale Tasche: »Und das ist für dich.«

»Danke«, sagte ich und nahm sie ihm ohne ein weiteres Wort ab.

»Führst du Krieg?«, fragte Hunter leicht nervös.

»Möglich.« Er bohrte immer noch nach Informationen. Ich machte eine Kopfbewegung, damit er mir aus der Küche nach draußen folgte, wo man uns nicht hören konnte. Aber noch wichtiger war, dass er dadurch von den anderen getrennt war und nicht hören konnte, was ich ihnen später sagen wollte. »Du musst mit Toddy hierbleiben. Geh nicht weg. Halt dein Handy griffbereit.«

»Kein Problem«, sagte er, obwohl er ein bisschen beunruhigt wirkte. »Ich hatte nicht vor, das Land zu verlassen.«

»Auf keinen Fall«, sagte ich. Dann lächelte ich ihn an, als wäre er mein bester Freund.


Ich ging zurück ins Wohnzimmer und verlor keine Zeit. Ich ließ nichts aus; was mit Bobby, Finney und Northam passiert war und wer dahintersteckte – nur dass ich Bobby erschossen hatte, ließ ich weg, aber das kann man mir kaum vorwerfen. Dann erklärte ich, was wir dagegen tun würden. Es gab nicht viele Fragen. Sie wussten alle, dass wir in der Scheiße steckten, und wenn wir jetzt nichts unternahmen, würden wir die Stadt für immer verlieren.

Wir ließen Hunter und Toddy bei Sarah. Danny und Palmer fuhren mit zwei von Kinanes Söhnen im Wagen. Kinane und sein Ältester kamen mit mir. Kinane saß vorn, und ich fuhr.

»Ich hab immer gedacht, ich würde noch mal die Gelegenheit bekommen, das geradezurücken«, sagte Kinane. »Du weißt schon, das mit Bobby und mir, nach all den Jahren. Wir haben uns eigentlich wegen nichts und wieder nichts zerstritten, Stolz war dabei wohl das größte Problem. Wir waren beide sture Hunde, immer gewesen.« Es klang fast liebevoll. »Das haben mir diese russischen Schweine jetzt genommen, und dafür werden sie bezahlen.« Ich war froh, dass er wütend und so zuversichtlich war. Ich war es nicht. »Sogar Finney«, fuhr er fort, »ich meine, er war ein Arschloch, keine Frage, aber das hat er nicht verdient. Das ist doch kein Abgang, oder?«

»Nein«, sagte ich. »Das ist kein Abgang.«

Ich wollte nicht darüber reden. Ich wollte überhaupt nicht reden. Nicht mehr lange, und wir würden das Farmhaus erreichen.


Was hat es auf sich mit den Nationalitäten und der Sauferei? Ich meine, Geordies trinken gerne mal was, aber sie betreiben es nicht mit derselben Inbrunst wie andere Leute aus anderen Ländern. Saufen ist für sie keine Religion. Wenn sie an etwas glauben, dann an Fußball, nicht an Alkohol. Die Iren sind da anders. Die kippen sich Alk hinter die Binde, als wollten sie eine tiefe Lücke der Verzweiflung in ihrem Leben schließen.

Ich hatte immer angenommen, die Russen würden trinken, weil sie unter den Kommunisten nichts Besseres zu tun hatten, aber jetzt sind sie diese schon seit Jahren los. Es muss also etwas Tiefersitzendes sein, sonst hätten sie aufgehört, als die Mauer fiel und alle Kabelfernsehen bekamen. Für sie ist es mehr als ein Nationalsport. Ich war mal mit einer Russin zusammen. Sie hat mir einen Satz beigebracht: »Do dna.« Das sagen die Russen zueinander, wenn sie das Glas erheben. Es bedeutet »bis auf den Grund«. Die machen keine halben Sachen.

Deshalb war es auch keine große Überraschung für mich, als Palmer mit nachgeahmtem, russischem Akzent berichtete: »Macken Party, kippen Wodka hinter Binde. Ich schätze, die denken, jetzt, wo sie Bobby und Finney aus dem Weg geräumt haben, ist die Sache gelaufen.«

»Dann lassen wir sie in dem Glauben«, sagte ich, »bis zum Morgen, ganz früh.«

Ich wusste immer schon, dass es praktisch war, einen ehemaligen Special-Forces-Mann im Team zu haben. Ich kenne niemanden sonst, der seelenruhig aus dem Auto gestiegen und sich im Stockdunkeln über die Felder an das Farmhaus herangepirscht, die kranken Wichser aus nächster Nähe beim Wodkasaufen beobachtet und mir anschließend bei bester Laune Bericht erstattet hätte.

Es war noch dunkel, als wir loszogen, Palmer vornweg. Mit eingezogenen Köpfen bewegten wir uns schweigend über die Felder zum Farmhaus. Die anderen folgten uns, ich zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Inzwischen hätte ich schwören können, dass Vitali und seine Freunde hörten, wenn wir Grashalme niedertrampelten.

Mondlicht gab es kaum, aber hätten sie sich die Mühe gemacht, Wachen aufzustellen, hätten sie die dunklen Gestalten am Horizont entdeckt, und wir wären nie nah genug an sie herangekommen. Zum Glück für uns mussten sie ihren Job bereits für erledigt gehalten haben. Ich ließ das Farmhaus nicht mehr aus den Augen, als wir uns langsam näherten und seine schiefergrauen Wände mit jedem Schritt größer wurden.

Wir mussten der Versuchung widerstehen, loszurennen, da wir wussten, dass wir leise sein mussten. Stattdessen folgten wir Palmer, der sich langsam vorwärtsbewegte, und verteilten uns, damit wir nicht eine einzige große und damit leicht zu treffende Zielscheibe abgaben.

Die letzten zirka dreißig Meter waren die schlimmsten, völlig ungeschützt, ohne jede Deckung, hinter der man hätte verschwinden können. Wir wussten, dass nur irgendein besoffener Iwan zum Pissen oder Rauchen aus dem Haus kommen musste, und alles wäre vorbei gewesen. Hätten ihn seine Kumpels losbrüllen hören, hätten wir auf dem freien Feld keine Chance mehr gehabt.

Ich lauschte meinem eigenen Atem, der mir in meinem überdrehten Zustand unglaublich laut vorkam und in weißen Schwaden vor mir in der kalten Luft sichtbar wurde. Was, wenn ich die Sache in den Sand setzte? Was, wenn Palmer nur halb so gut war, wie wir dachten, und die Russen besser waren? Wir wären tot, das wäre dann – und wenn wir richtig Glück hatten, würde es schnell gehen. Aber wenn nicht … Scheiße, hatte ich eine Angst.

Wir schafften es bis in den relativen Schutz der Hecke und blieben tief gebückt stehen. Palmer hob eine Hand, und wir erstarrten, waren so leise, wie wir konnten, während er lauschte. Im Farmhaus war es mucksmäuschenstill. Vielleicht schliefen sie schon. War es übertrieben, zu hoffen, dass sie alle bis zur Besinnungslosigkeit blau waren? Wahrscheinlich.

Palmer klopfte Danny kurz auf die Schulter und deutete auf eine Lücke im Gebüsch ein paar Meter von uns entfernt. Danny nickte und bewegte sich leise auf seine Geschützstellung zu. Ich hatte ihn noch nie so konzentriert erlebt.

Kinane und seine Jungs wussten, was sie zu tun hatten. Palmer hatte ihnen ihre Anweisungen bereits gegeben, und Gott sei Dank hatte sich der große Mann dem erfahrenen ehemaligen Soldaten gefügt. Kinane und seine Söhne standen auf und gingen um die Hecke herum auf den Hof der Farm. Ich sah zu, wie sie sich mit außerordentlicher Vorsicht über das weite offene Gelände bewegten. O Gott, das ist schlimmer als übers offene Feld. Ein schmaler Lichtstrahl drang aus dem Haus und beleuchtete die Fläche, die sie überqueren mussten. Sie bewegten sich wie Kinder, die Simon Says spielen, die Füße höher anhoben als normalerweise und die Stiefel anschließend mit einer Vorsicht aufsetzten, die ich solch großen Männern nicht zugetraut hätte. Trotzdem waren ihre Schritte in der Stille der Nacht deutlich zu vernehmen. Bestimmt würden sie entdeckt werden, bevor sie auf der anderen Seite ankamen.

Dann hörte ich ein Geräusch, ein lautes Knirschen, das aus dem Haus kam und mich zusammenzucken ließ. Jemand schrie. Sie waren aufgeflogen.

Ich warf einen Blick aufs Haus, erwartete jeden Moment, dass die Tür aufging und bewaffnete Männer herausrannten. Ich griff nach meinem Gewehr, und Palmer legte seine Hand fest auf meine, um zu verhindern, dass ich etwas Dummes tat. Ich sah zurück zur Farm und entdeckte Kinane, wie er einerseits die Stellung hielt, bereit, zu schießen, und andererseits sich darauf vorbereitete, das Weite zu suchen. Seine Hand ragte warnend in die Höhe, um zu verhindern, dass seine Söhne auf Schatten schossen oder in Panik losrannten.

Ich konnte das Geräusch nicht einordnen. Es war ein Schrei, aber tatsächlich einer des Schreckens. Ich spürte, wie mir der Schweiß kalt über den Oberkörper rann. Ich wagte nicht einmal zu blinzeln, aus Angst, dabei etwas zu verpassen, was mich mein Leben kosten würde.

Dann hörte ich einen weiteren Schrei und noch einen. Es klang nach Streit. Es entstand eine kurze Pause, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, dann ein letzter Schrei, eine Mischung aus Spott und Provokation. Eine Sekunde später wurden erneut Stimmen laut, aber dieses Mal handelte es sich um heiseres, fröhliches Gelächter. Die Russen hatten Spaß, alberten herum, dann riss einer einen Witz, und jetzt grölten sie los. Sie nahmen sich gegenseitig auf die Schippe. Ich konnte es, verdammt noch mal, nicht fassen. Ich dachte, ich würde tot umfallen allein wegen der Anspannung. Sogar Palmer hob eine Augenbraue und atmete erleichtert aus.

Ich blickte zurück zu Kinane. Er stand immer noch wie angewurzelt da. Dann drehte er sich zu seinen Söhnen um, nickte langsam und ließ die Hand sinken. Anschließend ging er das restliche Stück über den Hof, und seine Jungs folgten ihm pflichtschuldig, die Gewehre nach wie vor fest in Händen. Eines musste man ihnen lassen, sie waren diszipliniert; nicht schlechter als ausgebildete Soldaten. Endlich, und keine Sekunde zu früh, erreichten sie ihre Position und verschwanden aus dem Blickfeld.

Palmer nickte mir zu, und ich wusste, was das bedeutete. Jetzt waren wir dran. Ich war froh, dass Danny bereits Stellung bezogen hatte und uns deckte, und ich war ungeheuer erleichtert, dass Kinane und seine Jungs es geschafft hatten, aber jetzt mussten auch wir über den Hof; ein großer offener Kiesplatz, der ungefähr so groß zu sein schien wie ein Fußballfeld, und es sollte völlig geräuschlos vonstattengehen. Schlimmer noch aber war, dass wir direkt ans Farmhaus heranmussten, so dass nur noch die Breite einer Mauer zwischen uns und den Männern lag, die furchtbar gerne Menschen einfach so zum Spaß in Stücke schnitten.

Ich holte tief Luft, versuchte, nicht daran zu denken, dass ich am liebsten noch mal gekotzt hätte, und stand auf. Ich folgte Palmer, der um die Hecke herumging. Er hielt inne, um sich zu vergewissern, dass nicht gleich die Tür aufgehen würde, und wir traten in den Hof hinaus. Wir bewegten uns quälend langsam über die Kiesauffahrt und näher an das Gebäude heran als Kinane und seine Söhne, aber nur, weil uns nichts anderes übrigblieb. In den Bäumen über uns rauschte der Wind, und ich spürte den Kies unter meinen Füßen, der bei jedem Schritt leise knirschte. Ich wandte den Blick nicht von der Tür des Farmhauses ab, obwohl ich wusste, dass mir das nicht helfen würde. Wenn die Tür aufging, war ich ein toter Mann.

Wir hatten es fast geschafft, waren unserem Ziel so nahe, dass mich ein Hochgefühl wie eine Welle überrollte. Ich sah das Ende des Gebäudes, die hintere Giebelwand, hinter der wir verschwinden konnten. Nur noch wenige Meter, und dann passierte es.

Ich machte einen Schritt und spürte, wie sich etwas an meiner Hüfte löste. Bevor ich wusste, was geschah, war mir die Waffe aus dem Gürtel gerutscht. Panisch griff ich danach, wollte verhindern, dass sie auf den Kies aufschlug, wodurch genug Lärm entstehen würde, so dass ihn alle im Farmhaus hören konnten, selbst wenn sich dabei kein Schuss löste. Wie soll man etwas so Schreckliches, so Herzzerreißendes beschreiben, das einem innerhalb einer Tausendstelsekunde widerfährt? Instinktiv griff ich mit meiner rechten Hand nach der Waffe, bekam sie aber nicht rechtzeitig zu fassen. Stattdessen schlug ich mit der Hand gegen das Metall, versetzte ihr einen Stoß, so dass sie nach links flog. Entsetzt griff ich mit der anderen Hand danach, allerdings mit demselben Ergebnis, ich fing sie fast auf, war aber nicht in der Lage, zu verhindern, dass sie mir aus der Hand rutschte wie ein nasser Cricketball. Palmer wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie mir die Glock entglitt und auf den Boden zu knallen drohte, wodurch wir uns garantiert verraten hätten.

Ich weiß nicht, wie ich es gemacht habe, und will auch gar nicht so genau darüber nachdenken, dass wir um Haaresbreite an einer Katastrophe vorbeigeschrammt sind. In letzter Sekunde streckte ich den Fuß aus. Eine ähnliche Bewegung, wie wenn man einen Fußball stoppt. Die Waffe traf auf meinen Fuß und rutschte mit nervenaufreibendem Geklapper auf den Kies.

Das Geräusch war hörbar, aber nicht halb so schlimm, wie es gewesen wäre, hätte ich den Fall der Glock nicht mit meinem Schuh abgebremst. Ich erstarrte, mein Fuß hing noch immer in der Luft. Palmer hob seine SLR und richtete sie auf die Tür, bereit, jeden abzuknallen, der sich dort zeigte.

Wir warteten eine Sekunde und dann noch eine.

Nichts. Kein Geräusch von drinnen. Gott sei Dank, wir hatten es geschafft.

Palmer nickte mir zu, damit ich die Waffe wieder aufhob. Ich verlor keine Zeit und tat, wie mir geheißen, dann rückten wir langsam bis zur Rückseite des Gebäudes vor und verschwanden dahinter. Dort gingen wir auf die Knie und hielten uns im Schatten. Ich konnte sein Gesicht gerade noch so erkennen und warf ihm einen, wie ich hoffte, entschuldigenden Blick zu. Er nickte, als hätte er verstanden, aber er war kreideweiß wie ein Gespenst. Anscheinend war es mir gelungen, ihm einen beinahe ebenso großen Schrecken einzujagen wie mir selbst.

Wir hatten nicht vor, das Haus der Russen zu stürmen. Schließlich wussten wir nicht, was Vitali und seine Kumpels gerade machten, wie wachsam sie waren und was sie an Waffen zur Hand hatten. Wenn wir uns mit Männern wie diesen anlegen wollten, dann nur zu unseren eigenen Bedingungen.

Wir konnten nichts anderes tun als abwarten, bis es hell wurde. Dann musste es passieren. Ich blickte in den dunklen Himmel und fragte mich, wie viele von uns noch am Leben sein würden, wenn es erneut Nacht wurde.

Crime Machine: Thriller
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