29

Als ich den Club verließ, wählte ich die Nummer von Bobbys Handy und ließ es klingeln. »Geh schon ran, Bobby«, sagte ich laut. Ich ging schnell und drückte auf den Schlüssel für den Mercedes. Er piepte zweimal zum Zeichen, dass er mich wiedererkannte. Ich beendete den Anruf und versuchte, Finney anzurufen, bis ich den Wagen erreicht hatte. Es klingelte acht Mal ohne Antwort. Als ich auflegte, klingelte mein Handy.

»Hallo«, sagte ich.

»Ich bin’s.« Es war Sharp. »Ich hab herumtelefoniert, wie du gesagt hast, und ich glaube, ich hab endlich was herausbekommen.« Wie nicht anders zu erwarten, war er nach unserem letzten Treffen sehr darauf bedacht, es mir recht zu machen.

»Und?«

»Ein großer Russe mit rasiertem Schädel hat draußen auf dem Land ein Farmhaus gemietet. Ein halbes Dutzend Leute hat da Platz, und ich dachte, wie viele große Russen verbringen schon ihre Ferien als Gruppe in Tyneside.«

»Das sind sie.«

Er gab mir die Adresse.

»Danke«, sagte ich, »ich brauche noch eine Adresse, solange ich dich am Telefon hab. Die wird leichter zu finden sein, aber du darfst sie niemandem geben, der sie später mit dir in Verbindung bringen kann, also benutze nicht deinen Polizeicomputer.«

Es entstand eine Pause, während er verdaute, was ich gesagt hatte. »Name?«, fragte er. Ich nannte ihn.


Ich war fast wieder am Wagen, als ich erneut Palmer anrief und ihm die Adresse der Russen gab, die Sharp ausfindig gemacht hatte.

»Du wirst dieses Wochenende arbeiten«, erwiderte ich.

»Was ist der Plan, Boss?«, fragte er gelassen.

»Warte, bis ich mit Bobby gesprochen habe«, sagte ich.

»Na schön.«

Ich legte auf und öffnete die Wagentür. Ich wollte gerade einsteigen, als plötzlich zwei riesige Kerle aus dem Nichts auftauchten. Der eine blockierte die Tür, die ich hatte öffnen wollen, und der andere stand auf einmal hinter mir. Ich hatte nichts gehört, und sie waren so schnell, dass an Flucht nicht zu denken war. Beide waren sie große Männer mit rasierten Schädeln. Sie sahen genau aus wie die Typen, die Benny, den Türsteher, verdroschen hatten. Dieselben Jungs, die Jerry und George umgebracht hatten. Ich saß in der Falle.

Ich wusste sofort, dass ich geliefert war. Ich war dumm und leichtsinnig gewesen. Ich hatte mich so darüber gefreut, dass ich den Grauhaarigen reingelegt hatte, mir so viel auf meinen scheiß Instinkt eingebildet, dass ich meinen Wagen in einer Seitenstraße neben dem Fitnesscenter geparkt hatte. Das war bei Tageslicht in Ordnung, aber als ich zurückkam, war es dunkel und niemand mehr in der Nähe. Ich hatte es ihnen leichtgemacht.

Der Kerl hinter mir schob mir den Lauf einer Pistole in die Seite. »Steig in den Wagen«, befahl er auf Englisch, mit schwerem Akzent. Er klang auf jeden Fall wie ein Russe.

Instinktiv sah ich mich nach Hilfe oder einem Fluchtweg um, aber es war niemand sonst in Sicht, und ich konnte schlecht laut rufen. Das wäre das Letzte gewesen, was ich je von mir gab. »Sei nicht dumm«, sagte er, »steig ein, bevor wir dir weh tun. Du fährst.«

Also stieg ich ein. Was hatte ich für eine Wahl?

Ich konnte nichts tun außer den Wagen anlassen, so heftig zitterten meine Hände. Meine Gedanken rasten, als ich versuchte herauszukriegen, was sie von mir wollten, wohin sie mich brachten und was sie mit mir vorhatten, wenn wir dort ankamen.

Falls sie planten, mich an einen abgelegenen Ort zu bringen und zu töten wie George Cartwright, würde ich lieber doch jetzt versuchen abzuhauen. Den fahrenden Wagen mit Vollgas in den entgegenkommenden Verkehr oder gegen einen Laternenmast zu lenken, schien die einzige Möglichkeit zu sein, die mir blieb. Die Chance, den beiden weh zu tun, ohne mir selbst ernsthaft Schaden zuzufügen, schien mir nicht allzu groß, aber ich wusste, dass mir vielleicht kein besserer Plan einfallen würde. Mir schoss durch den Kopf, dass mich die beiden ohne weiteres bereits in der ruhigen Seitenstraße hätten töten können, wenn sie mich hätten tot sehen wollen. Ich lebte noch, und das war gut, sagte ich mir, während ich den Wagen in den Verkehr steuerte.

»Mach keine Dummheiten«, sagte der Mann. »Wir wollen reden, das ist alles.«

Insgesamt sehr tröstlich, nur dass ich denselben Spruch auch schon bei Leuten angebracht hatte, mit denen Bobby sich nur hatte unterhalten wollen, und einige von ihnen waren mit dem Gesicht nach unten und fehlenden Fingern im Tyne gelandet. Der Russe sagte, er wolle mich nicht töten, aber das bedeutete nichts. Es gibt Schlimmeres als den Tod.


Sie fuhren mit mir durch die Stadt und auf der anderen Seite hinaus, sagten mir, wo ich abbiegen sollte, obwohl sie nicht erklärten, wohin wir wollten. Es beunruhigte mich, dass sie mir die Augen nicht verbunden oder mich nicht in den Kofferraum gesteckt hatten. Ich fragte mich, warum es ihnen nichts ausmachte, dass ich wusste, wohin wir fuhren. Vielleicht sollte ich nicht zurückkommen.


Wieder eine stillgelegte Fabrik. Sie wirkte menschenleer, als wäre hier seit Monaten nichts mehr produziert worden, auch ein Opfer des wirtschaftlichen Niedergangs.

Draußen parkte ein Porsche Cayenne mit verdunkelten Scheiben. Sie ließen mich vor einer großen Stahltür halten und stießen mich aus dem Wagen. Sie nahmen mir mein Handy und meine Brieftasche ab und stießen mich durch die Tür, die laut donnernd hinter mir zufiel. Ich befand mich jetzt in einem großen, fensterlosen Raum, in dem es aber noch Strom gab, und so blinzelte ich in das grelle Neonlicht über mir.

Dort, mitten im Raum, stand eine vertraute Gestalt. Tommy Gladwell, Arthur Gladwells ältester Sohn, lächelte mich an und schien so zufrieden mit sich, wie man es nur sein kann. Neben ihm standen die anderen beiden großen Russen. Palmer war es gelungen, dem Kerl, den wir im Fitnesscenter hatten auffliegen lassen, die richtige Geschichte zu entlocken. Was auch immer mein Mann vom SAS mit ihm angestellt hatte, es hatte funktioniert.

Er hatte Palmer alles erzählt, und plötzlich ergab es Sinn; Wieselgesicht, die Glasgower Connection, sogar Tommys blaues Auge. Nicht der müde alte Arthur Gladwell, der König in seiner Stadt, hatte es auf uns abgesehen. Es war Tommy, sein Ältester, der Prinz im Wartestand, der das Warten satthatte. Er war ein Gangster ohne eigenes Reich und zu ungeduldig, um ruhig abzuwarten, bis sein Dad endlich das Zeitliche segnete. Er brauchte seine eigene Stadt, deshalb wollte er uns unsere abnehmen.

»Was, zum Teufel, willst du?«, fragte ich ihn, obwohl ich die Antwort auf meine Frage längst kannte. Ich gab mir die größte Mühe, hart zu klingen, auch wenn ich mich nicht so fühlte. Ich hätte jeden Penny, den ich besaß, dafür hergegeben, Finney mit einem Gewehr und Bobby an seiner Seite durch die große Stahltür kommen zu sehen. Ich fragte mich, wo die beiden steckten und ob sie eine Ahnung hatten, was hier vor sich ging. Bestand die Chance, dass sie hier eintrafen, bevor es zu spät war?

»Zuerst will ich dir mal eine Botschaft überbringen«, erklärte mir Tommy Gladwell gut gelaunt und sah den Russen an, der mich in den Wagen gezerrt hatte. »Vitali«, sagte er schlicht. Ohne eine Sekunde zu zögern, verpasste mir der Kerl einen so heftigen Faustschlag in die Magengrube, dass ich zusammenklappte und mit dem Gesicht voraus hinfiel. Ich ging so schnell zu Boden, dass ich nicht mal mehr Zeit hatte, den Aufprall mit einer Hand abzufedern und zu verhindern, dass mein Kopf auf den Betonfußboden knallte. Ich versuchte aufzustehen, aber der Russe hatte mich mit so viel Wucht geschlagen, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ich spürte, wie mir Blut über die Stirn tropfte. Der Schmerz war schlimmer als alles, was ich je zuvor erlebt hatte. Gott, der Kerl wusste, was er tat.

»Das ist von meinem Freund, Stone«, sagte er, »der, den du mit gebrochenem Kiefer ins Krankenhaus gebracht hast. Er hat mehr Stiche im Gesicht als eine Steppdecke.« Ich nahm mir fest vor, es Stone heimzuzahlen, falls ich jemals lebend aus diesem Schlamassel herauskommen sollte, was im Moment eher unwahrscheinlich schien.

»Du hast Glück«, sagte Gladwell, »er wollte, dass ich dir den Kiefer breche und das Gesicht zerschneide, Auge um Auge und der ganze Scheiß, aber ich hab ihm gesagt, dass ich mich erst mal mit dir unterhalten muss. Vielleicht haben wir ja nachher noch Zeit, so dass ich dir den Kiefer brechen kann.«

»Du machst einen großen Fehler«, sagte ich, als ich endlich wieder genug Luft bekam, um zu sprechen.

»Mach ich das?«, fragte er. »Was meinst du? Glaubst du, Finney wird mir mit seinem Bolzenschussgerät nachstellen?« Er lachte, und seine Russen lachten mit.

»Wenn’s so weit ist, wird dir das Lachen vergehen«, sagte ich, und sie zerrten mich auf die Füße.

»Ich will dir was zeigen«, sagte er, »komm mit.«

Zwei hoben mich hoch, schoben mir ihre Riesenpranken unter die Achseln. Sie bewegten sich so schnell, dass sie mich einfach hinter sich herzogen, die Spitzen meiner Schuhe kratzten über den Beton, und ich wurde auf die andere Seite des Raums befördert. Sie lachten immer noch, waren offensichtlich bester Laune, sehr von sich überzeugt. Die Tür vor uns war aus Holz, und sie stießen sie mit meinem Kopf auf, meine Zähne klapperten, und ich verlor beinahe das Bewusstsein. Dahinter befand sich ein kleinerer Raum mit einer Reihe von Büros auf einer Seite.

Hier war es stockdunkel, weshalb sie das Licht im ersten Büro einschalteten, um für mehr Helligkeit zu sorgen. Zuerst begriff ich kaum, was es war. Es sah aus wie ein großes Tier, das im Schlachthof hing. Dann traf es mich wie ein Schlag, und ich wusste ganz einfach, dass wir verloren waren. Für keinen von uns gab es noch Hoffnung.

Es war Finney – oder das, was von ihm übrig war, nachdem sich die Russen an ihm ausgetobt hatten. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten mich an, aber es war kein Leben mehr in ihnen. Sein Gesicht war anscheinend mit einem gezackten Messer verstümmelt worden, und das Fleisch um die Wunden herum war rot, geschwollen und aufgedunsen, als hätte er unglaubliche Schläge abbekommen. Seine Arme und Beine waren mit Handschellen um die Hand- und Fußgelenke an den großen Metallstuhl gekettet. Jemand hatte die Voraussicht besessen, den Stuhl vorher in den Boden einzubetonieren. Offenbar war ihnen bekannt, in welchem Ruf Finney stand und dass er sich wehren würde. Gott, wie er sich abgekämpft haben musste.

Zunächst sah es aus, als sei er zu Tode gefoltert worden, aber dann fiel mir die Schnur um seinen Hals auf, die sich tief ins Fleisch geschnitten hatte. Sie hatten ihm mit einer Art Draht den Rest gegeben. Das erklärte auch die offenen blinden Augen, von denen ich meinen Blick nicht lösen konnte. Jemand hatte seelenruhig hinter ihm gestanden und den Draht um seinen Hals zugezogen, bis Finney schließlich erstickt war.

Ich kotzte auf den Boden.

»Heb ihn hoch«, befahl Gladwell, und ich wurde an den Armen in den nächsten Raum gezerrt. Dieser sah aus wie ein stillgelegtes Kühlhaus, aus dem sämtliche Regale entfernt worden waren. Sie schalteten das Licht ein.

»Wie du siehst, waren wir fleißig«, erklärte Gladwell. Northam war leichter wiederzuerkennen. Mit ihm hatten sie nicht annähernd so eine Schweinerei veranstaltet wie mit Finney. Unser bestechlicher Buchhalter sah eigentlich genauso aus wie immer, sah man von dem Einschussloch in seiner Stirn einmal ab. Sie hatten ihn genauso umgebracht wie Geordie Cartwright. »Dabei ist es ja noch früh«, erinnerte mich Gladwell, »wir haben noch die ganze Nacht vor uns.«

»Was willst du von mir?«, brachte ich irgendwie heraus, meine Stimme war ein leises Röcheln.

»Das weiß ich jetzt gar nicht mehr so genau. Als ich die Anweisung gegeben habe, dich holen zu lassen, waren wir noch nicht vollständig im Bilde, aber jetzt sieht es so aus, als hätten wir doch schon alles, was wir brauchen. Der Buchhalter war sehr erpicht darauf, mit uns zusammenzuarbeiten, als er gesehen hat, was wir mit Finney gemacht haben. Wir mussten ihm gar nicht mehr weh tun, obwohl wir ihm natürlich trotzdem ein bisschen weh getan haben, um sicherzugehen, dass er auch die Wahrheit sagt. Er hat uns alles über eure Geschäfte erzählt, sämtliche Lücken geschlossen. Als du abgeholt wurdest, wussten wir schon alles. Wir belohnen die Leute, die uns helfen, und er hat seine Belohnung bekommen. Jetzt hat er keine Sorgen mehr.«

»Wo ist Bobby?«

»Alles zu seiner Zeit.«

»Was habt ihr mit Bobby gemacht?« Er ignorierte mich. Anscheinend wollte er, dass ich mitbekam, wie schlau er war.

»Was hältst du von meinen Jungs, hm?«, fragte er mich. »Hart drauf, was? Die haben eure Türsteher in null Komma nichts ausgeschaltet. Ich hab sie in Amsterdam kennengelernt, da haben sie mit Waffen, Drogen und Frauen gehandelt. Wir haben ein bisschen von allem gekauft.« Gladwell hatte also keine Skrupel, wenn die Frauen in seinen Bordellen nicht freiwillig dort arbeiteten. Irgendein armes, junges Ding verlässt ihr Dorf in der Ukraine, weil sie auf ein besseres Leben im Westen hofft, und landet in einem seiner Puffs, wo sie pro Tag von einem Dutzend Fremder vergewaltigt wird, ohne dass sie je irgendwas von dem Geld zu sehen bekommt. »Und wir haben den Kontakt gehalten.« So wie er es sagte, klang es, als seien sie alte Freunde von der Uni.

»Vitali hier war Hauptmann in der russischen Armee. Weißt du, was die Speznas ist?« Ich nickte kraftlos, aber er erzählte es mir trotzdem. »Eine russische Spezialeinheit. Die sind genauso hart drauf wie unsere Jungs, aber bereit, noch ein bisschen weiterzugehen, wenn du verstehst, was ich meine. Ich glaube, das liegt an Tschetschenien. Der durchschnittliche russische Soldat wollte nicht dahin, wo die Rebellen alle möglichen Greueltaten begingen. Aber meine Jungs hier? Für die war’s ein Gottesgeschenk. Sie standen total darauf. Wenn die einen von den Rebellen erwischt haben, dann haben sie ihm bei lebendigem Leib die Ohren, die Nase und den Schwanz abgeschnitten.« Er lachte. »Das ist kein Witz.« Das glaubte ich ihm sofort. »Dann ließen sie ihn irgendwo liegen, wo ihn seine Freunde finden würden – denn sie wussten, dass die stärkste Waffe die Angst ist. Das wirst du noch verstehen, bis du hier wieder herauskommst.«

Inzwischen fing ich an zu hoffen, wie Northam enden zu dürfen – und nicht wie Finney. Das schien mir noch das günstigste Ende zu sein; Tommy Gladwell erzählen, was auch immer er wissen wollte, und dann hoffen, dass er erst mal keine Lust mehr hatte, anderen Schmerzen zuzufügen. Dann wäre alles vorbei.

Gladwell war noch nicht fertig mit seiner Angeberei. Ich denke, er musste lange warten, um der Welt endlich zeigen zu können, wie schlau er ist.

»Sie waren genau die Richtigen, um mir dabei zu helfen, eine Stadt in die Hand zu bekommen. Mein Dad hat nicht den Nerv dafür. Er ist zu alt und hat keine Ambitionen mehr. Ich bin da ganz anders. Ich expandiere, und ihr, na ja, ihr seid mir dabei im Weg. Meine Jungs haben Bobby und sein Team bereits seit Monaten im Visier, aber wir hatten ein großes Problem: Finney. Wenn wir Bobbys Vollstrecker ausgeschaltet hätten, wäre Bobby doch vorgewarnt und auf der Hut. Andererseits konnten wir aber auch nicht Bobby aus dem Weg schaffen und Finney frei herumlaufen lassen. Auf keinen Fall. Das wäre viel zu gefährlich gewesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Finney vernünftig sein und sich uns anschließen würde. Nein, dafür war er zu dämlich. Das Problem war, dass man Finney und Bobby in letzter Zeit kaum noch zusammen sah. Aber dann, siehe da, ein Wunder geschah: Finney zog bei Bobby ein.« Er grinste breit. »Kannst du dir vorstellen, wie’s uns ging, als wir das gehört haben? War das deine Idee? Ich wette, so war’s. Wäre auch gar nicht so schlecht gewesen, wenn du gegen ein paar Schläger aus Glasgow angetreten wärst, aber ich hab fünf schwerbewaffnete, ehemalige Angehörige der Speznas auf meiner Gehaltsliste.«

Fünf? Ich hatte nur vier gesehen. Ich fragte mich, wo sich der Fünfte versteckte.

»Was willst du von mir?«

»Was hast du zu bieten? Komm schon, überzeuge mich, sag mir, warum ich dich nicht einfach töten sollte. In einer Stunde schon wirst du mich vielleicht anflehen, dich zu töten, wenn ich die Jungs hier auf dich loslasse. Du wirst sehen, die haben wirklich Spaß an ihrer Arbeit.«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keinen blassen Dunst, was er wollte, und auch keine verfluchte Ahnung, welche Informationen ich ihm geben konnte, die er nicht bereits hatte.

»Das Arschloch Mahoney«, zischte er wütend, »wollte mir nicht mal die Hand geben, als er gekommen ist, um mit meinem Vater zu sprechen. Kein Respekt«, erklärte er, »na ja, ich denke, jetzt respektiert er mich, meinst du nicht?«

Tommy tigerte auf und ab, die Lippen zusammengepresst, als habe er die Demütigung noch frisch in Erinnerung. »Du hast mir die Hand gegeben. Das vergesse ich nicht. Du warst der Einzige, und das ist der Grund, weshalb du noch lebst, vorläufig.«

Die Bemerkung verschaffte mir Einblick in das Gefühlsleben des Mannes, mit dem wir es hier zu tun hatten. Ein Vierzigjähriger mit einem chronischen Mangel an Selbstwertgefühl, wie man ihn erleidet, wenn man ständig im Schatten seines alten Herrn steht. Tommy Gladwell hatte ohne die Genehmigung seines Vaters nicht einmal ein Taxi bestellen dürfen, und jetzt machte er uns alle fertig. Aber ich lebte noch, einstweilen, aufgrund eines Handschlags.

»Wo ist Bobby?«, fragte ich erneut. »Was hast du mit ihm gemacht?«

»Er ist da drin«, sagte Gladwell und nickte mit dem Kopf in Richtung des nächsten Büros. Vitali führte mich aus dem Raum, in dem wir uns befanden, an die Tür des nächsten.

»Mach auf«, befahl er.

Ich drückte die schwere Holztür auf, und sie gab knarrend nach. Dann spähte ich in die Dunkelheit eines düsteren Lagerraums, konnte aber nichts sehen. »Bobby?«, rief ich.

Stille.

Vitali schob mich in den Raum und machte Licht. Zunächst dachte ich, die Gestalt in dem Stuhl sei tot oder bewusstlos, der zusammengesackte Körper, das silbergraue Haar blutverkrustet nach einem Schlag auf den Schädel. »Bobby?«, rief ich erneut, und langsam hob sich der Kopf.

Bobby Mahoney war ebenso wie die anderen an seinen Stuhl gefesselt. Ich sah, dass dies das Einzige war, was ihn noch aufrecht hielt. Sein Kopf rollte wieder zurück, er wirkte wie auf Drogen, aber vielleicht war das auch nur die Wirkung der Prügel, die sie ihm verabreicht hatten.

»Bobby.« Ich sagte es noch einmal, diesmal leiser, wünschte, er würde etwas zu mir sagen, aber mehr als meinen Blick zu erwidern, schaffte er nicht.

Gladwell stellte sich neben mich. »Ich werde dir eine Chance geben, Junge«, sagte er, »nur eine, also denk schnell nach.« Vitali gab auf Russisch einen Befehl, und einer seiner Männer reichte Gladwell seine Makarow, eine Militärpistole aus der Sowjetzeit, die bei den Osteuropäern in unserer Branche beliebteste Waffe. Sie ließ sich auf den Straßen jeder größeren Stadt Großbritanniens ohne weiteres besorgen und war spottbillig.

Gladwell nahm das Magazin heraus und entfernte alle Kugeln, dann hielt er sie hoch, damit ich es sehen konnte, und steckte eine Kugel in das Magazin, bevor er es wieder in die Waffe schob. »Du hast die Wahl«, sagte er, »entweder die Kugel landet in Bobby Mahoneys Gehirn oder in deinem.« Endlich gab Bobby ein Geräusch von sich. Er lachte. Es war ein tiefes, irres Lachen, aber ich war trotzdem beeindruckt davon, wie viel Mut er hatte. Ich wünschte, ich hätte ähnlich viel Widerstandsgeist besessen.

»Was?«, war alles, was ich herausbrachte.

»Sag’s mir«, drängte er mich, »ich will hören, wie du’s sagst.« Er spannte den Hahn der Pistole und presste sie mir fest gegen den Schädel. »Du oder er? Mach schon.«

Ich sah ihn an, dann Bobby, der immer noch lachte, als hätte Gladwell gerade etwas rasend Komisches von sich gegeben.

Ich wollte es nicht sagen. Ich wollte gar nichts sagen.

»Sag es!«, befahl Gladwell.

»Er«, krächzte ich und schämte mich zu sehr, um Bobby anzusehen.

»Braver Junge«, sagte er, als sei dies die korrekte Antwort, und ließ die Waffe sinken.

Vitali und einer seiner Männer packten mich und schoben mich näher an Bobby heran, bis ich nur noch knapp einen Meter von ihm entfernt war, dann ließen sie mich wieder los. Vitali zog seine eigene Pistole und stellte sich neben mich, dann drückte er sie mir an den Kopf.

»Eine Bewegung«, sagte er, »eine Bewegung und …« Er machte ein Geräusch, als hätte er eine Schusswaffe abgefeuert. Die Botschaft war angekommen.

Gladwell kam näher und stellte sich zwischen Bobby und mich, so dass er mir ins Gesicht sah. »Ich bin froh, dass du das so siehst, denn du wirst dir heute dein Recht zu leben verdienen müssen. Wir wissen beide, dass ich Mahoney aus dem Verkehr ziehen muss«, erklärte er mir scheinbar vernünftig, »und ich möchte, dass du es für mich tust.«

»Was?«

Das konnte nicht sein Ernst sein. Sicher wollte er nicht wirklich, dass ich das tat.

Tommy Gladwell zog an meinem Arm, dann drückte er mir die Makarow in die rechte Hand und bog meine Finger um das kalte Metall. Vorher hatte mir der Russe seine Pistole noch fester an meinen Kopf gepresst.

»Nur eine Bewegung«, erinnerte er mich.

Gladwell stellte sich hinter mich.

Ich hielt die Knarre in meiner ausgestreckten Hand und direkt auf Bobby gerichtet. Er starrte mich jetzt sehr ernst an. Sein Lachen war verstummt.

»Mach schon«, drängte mich Gladwell, »erschieß ihn, und du kannst gehen.«

»Halt’s Maul«, bekam ich gerade noch heraus, »du wirst mich doch trotzdem töten.« Ich hielt immer noch die Waffe in der ausgestreckten Hand. Ich spürte, wie sich mir der Lauf von Vitalis Pistole in den Schädel bohrte und Schweiß sich auf meiner Stirn bildete.

»Nein, werde ich nicht«, versicherte er mir, »tu’s, und wir sind quitt. Ich setze dich in einen Zug nach London. Du hast mein Wort.«

»Dein Wort?« Ich konnte nicht fassen, dass er es ernst meinte.

»Im Prinzip bist du ja Zivilist. Du stellst für mich keine Bedrohung dar. Was, zum Teufel, willst du allein machen – ohne Finney, ohne Mahoney bist du nichts. Aber wie gesagt, du musst dir dein Leben verdienen. Du hast eine Kugel. Jage sie Mahoney in den Kopf, dann bleibst du am Leben. Wenn du versuchst, die Waffe gegen uns zu richten, wird dich Vitali ausschalten, bevor du weißt, wie dir geschieht. Aber ich werde nicht den ganzen Tag warten. Ich zähle gleich von zehn runter, und wenn ich fertig bin, wird dich Vitali sowieso töten, wenn du nicht tust, worum ich dich gebeten habe. Anschließend bringt er dann Mahoney um.«

In meinen Augen ergab das keinen Sinn. Überhaupt keinen.

»Warum soll ich ihn dann erschießen?«

»Weil ich dich dazu bringen will.«

»Warum?«

»Um zu beweisen, dass ich’s kann.«

»Wozu soll das gut sein?«

»Ach scheiß drauf.« Plötzlich verlor er die Geduld, »Vitali …« Vitali spannte den Hahn seiner Pistole.

»Nein!«, schrie ich schnell. »Ich tu’s ja.«

Ich wollte unbedingt Zeit gewinnen. Das brauchte ich. Zeit zum Nachdenken, o Gott, ich brauchte Zeit zum Nachdenken.

»Zehn …«, sagte Gladwell.

»Warte«, rief ich, und meine Hand zitterte so heftig, dass nicht ausgeschlossen war, dass ich danebenschoss, selbst aus so geringer Entfernung. Ich ließ die Waffe sinken.

»Neun …«

»Tu’s, verdammt noch mal«, sagte Bobby plötzlich. Es waren die ersten Worte, die ich von ihm hörte, seit ich in den Raum gekommen war. Seine Stimme klang plötzlich unglaublich müde, als hätte er das ganze Spiel einfach satt.

»Acht …« Ich hob die Waffe wieder und richtete sie direkt auf ihn.

»Guter Junge«, sagte Bobby, »du tust mir einen Gefallen.« Dabei bekam er sogar ein ermutigendes, wenn auch düsteres Lächeln hin.

»Sieben …«

»Tu’s, sonst tun die es.« Bobby versuchte wirklich, mich zu überzeugen.

»Sechs …«

»Komm hier lebend wieder raus, such Sarah, und kümmere dich um sie.« Darum ging es ihm also.

»Oh, um die kümmern wir uns schon«, sagte Gladwell, und die Russen lachten.

»Fünf.«

Ich versuchte abzudrücken, aber ich konnte es nicht. Ich versuchte es noch einmal, aber mein Arm zitterte. Ich wusste, dass ich jetzt heulte wie ein kleines Mädchen, Tränen strömten mir über die Wangen, mein Gesicht war voller Rotz. Ich ließ den Arm sinken, mein Kopf hing herunter, und ich konnte nur noch meine Schuhe sehen. Neben mir sagte Vitali etwas in seiner Sprache, das wie ein Fluch klang.

»Du dummes Arschloch«, sagte Bobby zu mir.

»Vier.«

Erneut versuchte ich, den Arm zu heben, aber es gelang mir nicht. Am liebsten hätte ich mich einfach nur auf den Boden gelegt und mich erschießen lassen, dann wäre alles vorbei gewesen.

»Drei …«

»Tu’s schon, du charakterloses mieses Arschloch! Tu’s!« Bobby schrie mich an.

»Zwei …« Ich hob die Pistole und richtete sie direkt auf Bobbys Kopf.

Er grinste: »Wir sehen uns in der Hölle wieder, Tommy Gladwell, du fette kleine Schwuchtel!«

»Eins.«

»Tu’s«, schrie Bobby, »verdammt noch mal, tu’s!«

Also tat ich es. Ich blies Bobby Mahoney das Hirn weg.

Crime Machine: Thriller
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