4

Kaum waren wir wieder in Bigg Market, versuchte ich, mir eine Zigarette anzuzünden, aber meine Hand zitterte so stark, dass mir das Streichholz bis auf die Finger herunterbrannte und ich noch mal von vorn anfangen musste. Überall um mich herum auf dem Platz strebten betrunkene Jugendliche dem nächsten Nachtclub entgegen, manche stetiger und stiller als andere. Nicht weit von mir entfernt fiel ein Mädchen auf den Hintern, und ihre Freundinnen schrien vor Lachen. Auch sie selbst gackerte mit, weil sie den blauen Fleck erst am Abend spüren würde. Im Eingang eines Pubs, das schon lange dichtgemacht hatte, versuchte ein sehr besoffener Teenager, zwei junge Mädchen anzugraben, indem er vor ihnen herumtanzte und das, obwohl er kaum noch stehen konnte. Er versuchte es mit ein paar Schritten, dann ließ er den Kopf wie eine Marionette hängen.

Die Mädchen fanden das rasend komisch. »Hey«, sagte die eine, »mit den geilen Schritten kriegst du heute Nacht alle Frauen rum.« Sie lachten ihn aus und gingen weiter, ließen ihn stehen, während er sinnlos ins Leere starrte, als könnte er nicht fassen, dass die beiden nicht mehr da waren.

Es war laut, und es wurde geschrien, aber größtenteils völlig harmlos. Ein junges Paar stritt sich heftig über alles und nichts, dafür lachten diejenigen, die in der langen Schlange am Taxistand warteten und schon früh nach Hause wollten, umso lauter.

Ich nehme an, Finney und ich waren die einzigen nüchternen Menschen in Bigg Market.

Finney fragte: »Wohin jetzt?«

Obwohl mir so was eigentlich gar nicht ähnlich sieht, sagte ich: »Keine verdammte Ahnung.« Und bereute es sofort. Finney hatte mich bereits so von Angst überwältigt gesehen, dass ich gekotzt hatte, deshalb musste ich jetzt zumindest oberflächlich den Anschein erwecken, nicht vollkommen die Kontrolle zu verlieren. Ich hatte es auf das seltsame Thai-Essen geschoben, aber er sah nicht aus, als hätte ihn das überzeugt. »Überallhin«, erklärte ich mit Nachdruck. »Hier geht er trinken, immer schon, Quayside hat ihm nie gefallen, das ist ihm zu modern. Wir reden mit allen. Wir müssen wissen, wann er zuletzt gesehen wurde.« Ich dachte mir, wenn Mandy nicht wusste, wo er war, würde es auch sonst niemand wissen. Ich befürchtete, er könnte mit Bobbys Geld das Land verlassen haben. »Ein paar von seinen Pubs werden schon geschlossen haben, aber wir können in die anderen gehen, die länger offen sind, und mit den Typen an der Tür und dem Personal hinter der Theke sprechen, fragen, ob jemand Geordie Cartwright gesehen hat.«

»Gut«, sagte er.

»Ich denke, wir sollten uns trennen. Dann geht’s doppelt so schnell.«

Er sah mich an: »Du willst doch nicht stiften gehen?«

»Sehe ich so bescheuert aus?«


Kaum war ich Finney los, rief ich Laura an. Ihr Handy klingelte eine gefühlte Ewigkeit. Wo war sie? Normalerweise hatte sie sich das Telefon ans Ohr getackert.

Als ich darauf wartete, dass sie sich meldete, ging ich in Gedanken noch mal die ganze Geschichte mit dem Hotel durch. Laura hatte angeboten, es zu buchen: »Ich mach das, David, du hast dich doch schon um die Flüge gekümmert, die ganzen schönen Restaurants rausgesucht und das Geld gewechselt, also mach ich das jetzt mal.« Ich war ganz gerührt, weil sie meine Bemühungen offenbar zu schätzen wusste, mir helfen wollte und nicht wie selbstverständlich davon ausging, dass ich alles allein erledigte.

Als jedoch mehrere Wochen ins Land gezogen waren und sie immer noch nicht gebucht hatte, betrachtete ich ihr Angebot allmählich in einem anderen Licht. Alles, was ich zu hören bekam, war: »Ich mach’s später, jetzt bin ich müde.« Als wäre ich nicht müde gewesen. Oder: »Im Büro war diese Woche die Hölle los«, als hätte ich meine Tage damit verbracht, Teenagermädchen für einen Pornodreh zu casten.

Ich hätte das Telefon in die Hand nehmen oder ins Internet gehen und die Sache innerhalb von Minuten klarmachen können, aber nein, das wollte sie nicht, obwohl ich angeboten hatte, es doch lieber selbst zu machen. Zum Schluss gab es deshalb echte Spannungen zwischen uns. Jeden Abend fing ich mit dem Thema an und jeden Abend auf andere Weise; mal scherzhaft, stichelnd, ungeduldig, genervt, sehr genervt und schließlich auf Alarmstufe Rot. »Warum kannst du das scheiß Hotel nicht endlich buchen?«, brüllte ich sie an, und erst dann blaffte sie zurück.

»Schon gut, schon gut, hör auf, darauf herumzureiten, du lieber Himmel!«

»Ich würde ja aufhören, drauf rumzureiten, wenn du einfach mal buchen würdest. Du bist wie ein Teenager, der sein Zimmer nicht aufräumen will!«

Sie rauschte ab, und zwanzig Minuten später hatte sie es erledigt. Dass sie wieder mit mir sprach, dauerte allerdings sehr viel länger.

Als Laura meinte, »Ich buche das Hotel«, hatte ich sie ausdrücklich gebeten, unsere beiden Namen anzugeben, und das war jetzt das Problem.


Als Laura endlich ans Handy ging, sagte ich: »Ich bin’s. Als du das Hotel gebucht hast, hast du da unsere beiden Namen angegeben, so wie ich dich gebeten hatte?«

»Hm? Äh, ich weiß nicht, ja, glaub schon, wieso?«

»Glaubst du’s, oder weißt du’s? Es ist wichtig.«

»Kann mich nicht erinnern«, jammerte sie, »du hast mich angeschrien. Ich weiß es nicht, und ich bin sehr müde. Wo bist du?«

Ich ignorierte die Frage: »Du weißt es nicht?«

»Nein, ich weiß es nicht. Welchen Teil davon verstehst du nicht?«

»Das hätte mich heute Abend mein Leben kosten können, nur weil du nicht getan hast, worum ich dich gebeten habe. Bobby hat mich gesucht und im Hotel angerufen, aber die hatten meinen Namen nicht im Computer. Er ist nicht darauf gekommen, nach einer Laura Collins zu fragen, weil er sich wahrscheinlich nicht mehr an deinen Nachnamen erinnern kann. Gott, manchmal versteh ich dich einfach nicht. Das war das Einzige, worum ich dich gebeten habe!«

»Ach, halt die Klappe, David«, schrie sie, »hör auf, so zu übertreiben. Dein Boss bringt dich schon nicht um.«

Mein Gott, wollte sie mich absichtlich verarschen?

»Hast du vergessen, für wen ich arbeite!«

»Nein! Hab ich nicht!«, schrie sie. »Und ich hab’s satt, mir das dauernd anhören zu müssen!« Das war ein bisschen dreist, zumal ich jeden Abend sämtliche banalen Details aus ihrem Arbeitsleben vorgekaut bekam, angefangen von dem Moment, in dem sie morgens das Büro betrat.

»Blöde Kuh!«, schrie ich. Ihre Antwort war eine tote Leitung und ein ausgeschaltetes Handy. »Laura? Laura!?« Ich wusste nicht, weshalb ich sie immer noch anschrie. Sie hatte das Gespräch längst beendet.


Ich hatte einen scheiß Abend gehabt. Inzwischen waren die frühen Morgenstunden angebrochen, und wir hatten nichts erreicht. Finney und ich hatten mit allen gesprochen, und herausgekommen war null Komma null. Meine Augen brannten vor Müdigkeit. Ich überlegte gerade, ob ich nicht für ein paar Stunden nach Hause fahren, die Augen schließen, den Jetlag abschütteln und am nächsten Morgen in aller Frische neu anfangen sollte, als mein Handy in meiner Jackentasche vibrierte. Es war Vincent, der aus dem Privado anrief.

»Tut mir leid, dass ich dich so spät noch stören muss, Mann«, sagte er.

»Ich schlafe nicht«, sagte ich, »was ist los?«

»Na ja … ich fürchte …« Er schien nicht gerne zum Punkt zu kommen.

»Sag schon«, drängte ich.

»… es geht um deinen Bruder.«


Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich überredete Finney, mich am Privado abzusetzen und allein zu lassen. Ich konnte mir immer noch Vincents Wagen leihen oder ein Taxi nehmen, wenn ich eines brauchte, und ich wollte nicht, dass Finney Danny sah, wenn er sich in einem seiner Zustände befand. Als ich eintraf, wartete Vincent bereits an der Tür auf mich, wofür ich ihm dankbar war. Er war entweder ein sehr guter Mensch, oder er hatte noch nichts von meinem Prestigeverlust gehört und dass ich der Mann war, der Bobby Mahoney ein kleines Vermögen gekostet hatte. Er begleitete mich hinein.

Das Privado war eine von Bobby geführte, schäbige Lap-Dance-Bar am Rand von Quayside. Es war einiges los. Anscheinend konnte die Finanzkrise Männer nicht davon abhalten, hierherzukommen und große Summen für einen kurzen Blick auf nackte Titten hinzublättern. Dabei war das blaue Licht so gedämpft, dass man die Augen zusammenkneifen musste, um überhaupt etwas zu sehen, auch wenn sich das Mädchen direkt an einen presste. Die Kerle kamen trotzdem in Scharen. In dem Raum befanden sich ungefähr ein halbes Dutzend Mädchen, alle in BH und Höschen beziehungsweise im Begriff, diese langsam abzustreifen. Die Männer wirkten betrunken, saßen allein in Ledersesseln an den Wänden. Die Mädchen verlangten von ihnen, dass sie sich auf ihre Hände setzten, damit sie erst gar nicht in Versuchung gerieten, anfassen zu wollen, was sie nur ansehen durften, doch das hatte unseren Kleinen offensichtlich nicht davon abgehalten, in Ungnade zu fallen. Sie setzten sich rittlings auf die Männer, balancierten auf deren Knien und rekelten sich, während sie gleichzeitig den Kerlen mit ihren langen Haaren übers Gesicht strichen oder sich die Brüste wenige Millimeter vor deren sabbernden Mündern aneinander rieben. Die Bewegungsabläufe waren allesamt ziemlich ähnlich, aber den Männern schien es nicht an Abwechslung zu fehlen.

Ich sah ein Mädchen, das ich kannte. Michelle war gerade einem Kerl vom Schoß gestiegen und bückte sich ganz tief vor ihm, damit er ihren Arsch sehen konnte. Dabei verpasste sie ihren Hinterbacken einen antriebslosen Klaps, und ihre Augen verrieten, wie gelangweilt sie war. Wem versuchte sie, etwas vorzumachen, dachte ich, doch dann sah ich seinen Gesichtsausdruck. Sein Mund stand weiter offen als der eines Guppys, und seine Augen drohten aus ihren Höhlen zu treten. Er war ganz offenkundig der Ansicht, das ganze Spektakel sei eine ungezügelte Zurschaustellung ungebremster, weiblicher Sexualität und diene nicht in erster Linie der Aufbesserung eines Studienkredits.

Es dauerte eine Weile, bis ich die Tanzfläche überqueren konnte, auf der die Mädchen ihre Show präsentierten. Ich musste praktisch über eine drübersteigen, die sich auf dem Boden wand. Als ich an Michelle vorbeiging, brach die Musik ab, und das genau in dem Moment, in dem sie ihren BH auszog, um den zweiten der beiden Tänze für den fischgesichtigen Herrn oben ohne zu absolvieren. Das war der Deal: Zwei Tänze für zwanzig Pfund, zwanzig Flocken in sechs Minuten auf den Kopf gehauen. Bei dem Tempo würde er in einer Stunde um hundert Pfund leichter sein, das Trinkgeld noch nicht eingerechnet. Für dieselbe Summe hätte er richtigen Sex mit einem von Bobbys Escort-Mädchen haben können, was mir viel mehr einleuchtete, aber dafür war er vermutlich zu schüchtern.

Der zweite Song war »My Neck My Back« von Khia, und Michelle bückte sich erneut, um ihm alles zu zeigen. Er starrte ihr nach wie vor auf den Arsch, und sie schälte sich das Höschen herunter. Als ich vorbeiging, lächelte sie, warf mir ein Küsschen hinterher und winkte mir nach, was er gar nicht mitbekam. Er merkte nicht mal, dass Michelle ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit vorenthielt, aber er sah ihr ja auch nicht ins Gesicht.

Michelle war ein nettes Mädchen, und sie sah super aus, war um die zwanzig, hatte langes dunkles Haar und eine umwerfende Figur, trotzdem konnte ich nicht verstehen, was daran so aufregend war. Ich bin nicht prüde, aber in meinen Augen war es weder Fisch noch Fleisch. Wenn man Sex brauchte und bereit war, dafür zu zahlen, konnte man auch welchen bekommen. Und musste nicht in einem Lap-Dance-Club abhängen. Ich schlief nicht mit Bobbys Escort-Mädchen und musste auch nicht für Sex bezahlen, auch nicht bei Laura, aber ich hatte kein Problem mit Leuten, die es taten. Die Typen hier kamen mir allerdings wie Feiglinge vor. Sie wollten Sex, waren aber nicht bereit, es richtig krachen zu lassen. Hier war es sicher und hygienisch – ein Appetithappen, aber nicht mehr. Wenn sie nach Hause gingen, waren sie immer noch frustriert. Wie gesagt, mir wollte das einfach nicht in den Schädel.

Vincent führte mich durch eine unbeschriftete Stahltür in einen schwach beleuchteten Korridor. Die Tür fiel hinter uns zu, und die Musik wurde dadurch sofort auf ein leises Dröhnen im Hintergrund gedämpft. Bevor er die Tür zum Hinterzimmer öffnete und wir eintraten, sagte er flüsternd: »Wir mussten ihn herbringen. Ich hoffe, das ist in Ordnung. Er war schon ziemlich hinüber, als er hier ankam, wurde laut, hat die anderen Gäste gestört. Ich hab ein Mädchen zu ihm geschickt, damit sie ihm zwei Tänze aufs Haus spendiert, weil er ja nun mal dein Bruder ist, und das hat ihn auch eine Zeitlang beruhigt, aber als sie ihr Top ausgezogen hat, ist er ihr an die Titten gegangen, und sie hat geschrien wie am Spieß.«

»Ach du Scheiße.«

»Der Türsteher kam an, und dein Bruder wurde aggressiv, aber unser Mann hat ihm nicht weh getan. Dafür hab ich schon gesorgt, aber wir konnten ihn nicht da drin lassen. Ich hoffe, das verstehst du.«

»Natürlich, Vince«, versicherte ich.

»Wir haben ein bisschen mit ihm geschimpft, ihm einen starken Kaffee gemacht und ihn hier eingeschlossen, damit er wieder runterkommt, dann hab ich dich angerufen. Sonst weiß niemand was davon, und ich hab dem Türsteher gesagt, dass er die Klappe halten soll. Aber natürlich waren auch eine Menge Gäste dabei, deshalb …« Er zuckte mit den Schultern, was bedeuten sollte, wenn ich Pech hatte, würde Bobby trotzdem Wind davon bekommen, und mein Glückstag schien es ja sowieso nicht zu sein.

»Danke, Vincent, ich weiß das sehr zu schätzen, tut mir wirklich leid, dass du so viel Ärger hattest.« Ich zog zehn Zwanzigpfundscheine aus meiner Brieftasche und drückte sie ihm in die Hand: »Gib das dem Mädchen.«

Ich wusste, dass Vincent ihr genau so viel geben würde, wie nötig war, damit sie den Mund hielt und nicht herumerzählte, dass ihr mein Bruder öffentlich die Titten begrapscht hatte, und er würde den Rest behalten, und für mich war das auch in Ordnung.

»Hey, kein Problem«, sagte er und steckte das Geld ein, »ist dein Bruder. Du musst dich nicht entschuldigen. Er ist trotzdem ein scheiß Held. Das hab ich nicht vergessen. Ich weiß, dass er so seine Probleme hatte.«

Ich klopfte Vincent auf die Schulter, er schloss die Tür auf und ließ mich allein.

Danny saß auf einem von diesen billigen roten Plastikstühlen, die auch in Schulkantinen herumstehen. Er war immer noch sehr betrunken und schwankte ein bisschen, sein Kaffeebecher stand randvoll auf dem Tisch vor ihm. Sein strähniges Haar hing ihm über die Augen, weil er den Kopf geneigt hielt, aber ich konnte nicht feststellen, ob er sich schämte oder einfach nur im Sitzen eingeschlafen war. Er hörte mich durch die Tür kommen, und sein Kopf schnellte hoch.

»Oh, tut mir leid, Bruder. Ich bin ein verdammtes Wrack, tut mir echt leid.« Er lallte, aber wenigstens war er nicht mehr auf Krawall gebürstet, und er wusste, dass er etwas falsch gemacht hatte. Ich war erleichtert. Ich hatte keine Lust, mich mit meinem älteren Bruder zu streiten. Selbst in diesem Zustand hätte er mich noch ohne weiteres windelweich geschlagen.

»Schon in Ordnung, Danny«, sagte ich, »aber ich möchte bezweifeln, dass sich das Mädchen in absehbarer Zeit auf ein Rendezvous mit dir einlassen wird.«

Er grinste wie ein Schuljunge. »Die hatte superscharfe Möpse«, sagte er. »Ich konnte nicht widerstehen. Du hättest sie mal sehen sollen, Mann.«

»Wie kommst du darauf, dass ich sie nicht gesehen hab?«

Sein Lächeln wurde breiter. »Ach ja, hast du wahrscheinlich wirklich, du dreckiger Arsch. Ich wette, du nagelst alle Mädchen aus Bobbys Stall. Weiß Posh Spice Bescheid?« Und er lachte so wie immer, wenn er den Spitznamen verwendete, den er Laura verpasst hatte. Ich glaube nicht, dass er sie je bei ihrem richtigen Namen nannte. Immer nur Posh Spice oder Posh Knickers und manchmal Tara Palmer Topbollockson, was sein Lieblingsname für sie war, aber im Moment war er viel zu betrunken, um es damit auch nur zu versuchen.

Die Tür ging auf. Es war Michelle, sie hatte wieder BH und Höschen an und lächelte mich entschuldigend an. »Tut mir leid«, sagte sie, »wollte nur mal nachsehen, ob alles in Ordnung ist.« Sie errötete ein bisschen, was seltsam wirkt bei jemandem, der sich regelmäßig in einem Raum voller fremder Menschen seiner Kleider entledigt.

»Alles okay«, sagte ich.

»Spitze«, sagte sie, »sicher, dass ihr keinen Tee wollt oder so?«

»Er hat noch Kaffee, danke. Und ich brauch nichts.«

»Schön«, sagte sie, »okay.« Und sie zögerte noch eine Sekunde. »Dann lass ich euch mal allein.« Und damit schloss sie sanft die Tür hinter sich.

»Verfluchte Scheiße, Kleiner, bei der hättest du landen können. Mach dir keine Sorgen, ich erzähl Poshy nix.«

»Komm schon«, sagte ich bestimmt, »ich bring dich heim, bevor dich die andere anzeigt, weil du sie begrapscht hast.«

»Sie würde nicht viel kriegen«, sagte er ruhig. »Bei mir gibt’s nichts zu holen.«

»Ich weiß, Danny«, erwiderte ich, »ich weiß.«


Ich entschied, dass unser Kleiner nüchtern genug war, um in ein Taxi verfrachtet zu werden. Ich hab ihn immer unseren Kleinen genannt, obwohl er einige Jahre älter ist als ich. Kann mich nicht erinnern, warum. Ich brachte ihn in seine Wohnung. Ein Dreckloch in einem Hochhaus, das er gemietet hatte und aus dem ich ihn gerne herausgekauft hätte, aber er wollte nicht. Abgesehen von den paar Kröten, die er jeden Monat als Invalidenrente von der Armee bezog, hatte er keinerlei Einkommen. Ich half ihm, sooft ich konnte, steckte ihm immer, wenn ich ihn sah, ein paar Pfund zu, was mir wirklich nichts ausmachte, weil er eine schlimme Zeit hinter sich hatte. Aber mehr ließ er nicht zu, und ich nehme an, er gab praktisch jeden Penny für Alkohol und Pferdewetten aus, setzte auf Gäule, die nie etwas gewannen außer einer Fahrt in die Klebstofffabrik.

Seine Crack rauchenden Nachbarn ließen ihn in Frieden, weil ich dafür gesorgt habe, dass sie kapieren, wer Dannys Bruder ist, aber als ich noch mehr machen wollte, lachte er bloß und sagte: »Du bist mein kleiner Bruder, und es ist nicht dein Job, auf mich aufzupassen. Das müsste eigentlich andersherum sein!«

Ich half ihm durch die Tür und packte ihn auf die Couch, dann kochte ich noch mehr Kaffee, aber erst, nachdem ich die beiden Becher auf dem Abtropfgitter noch mal gründlich gespült hatte. Milch war mal wieder keine da, also wurde es schwarzer Kaffee.

»Du solltest dir ein Mädchen suchen«, sagte ich, »du brauchst eine Frau, die dir die vermüllte Bude sauber hält. Und wenn sie schon dabei ist, kann sie auch dafür sorgen, dass Milch im Kühlschrank steht.«

Er lachte wieder. »Mich will doch keine.« Und ich fürchte, da lag er nicht ganz falsch. »Ich hab keinen schicken Job, ich arbeite nicht für Bobby Mahoney.«

Ich brachte die beiden Kaffeebecher in das winzige Wohnzimmer und stellte sie auf sein klappriges kleines Couchtischchen. Er hatte einen alten Fernseher, an den eine verkratzte Playstation angeschlossen war. Ständig spielte er diese Kriegsspiele, wo man Roboter erschießen muss, die ein bisschen aussehen wie der Terminator, was ich seltsam finde, weil ihn der Krieg, in dem er tatsächlich gekämpft hat, psychisch so fertiggemacht hat. Als ich das letzte Mal hier war, hatte ich ihm einige Päckchen Zigaretten, ein paar Spiele für seine Playstation und einen iPod geschenkt.

»Wie läuft’s mit dem iPod?«, fragte ich.

»Der ist toll, Mann, danke«, sagte er.

»Hast du dir ein paar Stücke runtergeladen?«

»Runtergeladen?«, fragte er mich, Skepsis in der Stimme. Offensichtlich war ihm nicht klar, dass man das machen musste.

Ich lachte: »Du hast ihn nicht mal ausgepackt, oder?«

Er schien gekränkt zu sein. »Doch, hab ich, und wie gesagt, er sieht geil aus. Ich hatte bloß noch keine Gelegenheit, was runterzuladen. Jimmy wird mir helfen. Der kennt sich mit Computern aus.«

»Jimmy? Na, ganz bestimmt. Wahrscheinlich hat er noch einen Dragon 32.« Danny hatte keine Ahnung, wovon ich sprach, und ich wusste, dass er den iPod niemals benutzen würde.

Um die Wahrheit zu sagen, besaß er sowieso nicht viel, abgesehen von ein paar Fotos aus seiner Zeit bei den Fallschirmjägern; eines von sich selbst in Uniform, mit schwarzer Tarnfarbe im Gesicht und einer SLR in der Hand, auf dem er neben drei seiner Kumpels steht, zu denen er über die Jahre den Kontakt verloren hat. Er lächelte, als sei er damals recht glücklich gewesen, aber ich hatte da so meine Zweifel, weil ich wusste, wann das Bild entstanden war, nämlich lange nachdem er seine Medaille bekommen hatte, die er in der Schublade aufbewahrte. Das war die South-Atlantic-Medaille, und die bekam man, wenn man mindestens dreißig Tage zwischen dem siebten und sechzigsten südlichen Breitengrad ununterbrochen im Dienst war, irgendwann zwischen dem zweiten April und dem vierzehnten Juni 1982. Mit anderen Worten, er hatte im Falkland-Krieg gekämpft. Ich weigere mich, Falkland-Krise zu sagen, denn dort wurden Menschen getötet, mein Bruder hat Freunde dort verloren, und deshalb war es ein Krieg.

Ich hatte die Medaille meines Bruders schon oft gesehen, sie schon als kleiner Junge ehrfürchtig in der Hand gehalten. Sogar heute noch kann ich mich erinnern, wie stolz ich war, weil ich wusste, dass mein Bruder einer Eliteeinheit angehörte, dem zweiten Bataillon des Fallschirmjäger-Regiments, das Goose Green eingenommen hatte. Das war seine Glanzstunde gewesen. Das Problem ist nur, dass der Rest seines Lebens absolut und gnadenlos scheiße war. Was man so an Ärger haben konnte, er hatte ihn gehabt; eine beschissene Ehe und eine noch schlimmere Scheidung, Zusammenstöße mit der Polizei, Prügeleien, Besäufnisse, Drogen auch eine Zeitlang, aber zum Glück ist es uns gelungen, ihn aus der Szene herauszuholen, bevor er richtig abgestürzt ist. Nach seinem Abschied von den Fallschirmjägern hat er ein bisschen gearbeitet, Gelegenheitsjobs, hauptsächlich harte körperliche Arbeit, aber selbst damit war nach einer Weile Schluss. Aus einem der zuverlässigsten Männer der gesamten britischen Armee war ein Typ geworden, dem niemand mehr zutraute, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen pünktlich auf einer Baustelle zu erscheinen. Er spricht nicht über den Krieg, aber irgendetwas verdammt Schreckliches musste da mit ihm passiert sein, weil er nie mehr wieder der Alte wurde. Ich frage ihn nicht danach. Ich versuche nur, Ärger von ihm fernzuhalten.

Ich war sauer auf Danny, weil er einfach in einen von Bobbys Läden spaziert war und ein Mädchen begrapscht hatte, obwohl er’s doch eigentlich besser wissen sollte, auch wenn er sternhagelvoll war. Und sein Timing war tadellos. Solche Scherereien konnte ich zusätzlich zu dem ganzen Stress mit Bobby, Geordie Cartwright und der Übergabe brauchen wie eine Operation am offenen Gehirn. Aber er ist mein Bruder und immer noch ein verdammter Held, und das wird er auch bleiben. Nichts kann daran etwas ändern.

Die Nacht war lang. Ich überlegte, ob ich Laura anrufen sollte, aber um ehrlich zu sein, hatte ich in dem Moment keine Lust mehr auf ihr Gezeter. Sie würde inzwischen sowieso vor dem Fernseher eingeschlafen sein, ohne auch nur zu ahnen, dass ihr Freund so gut wie zum Tode verurteilt war.

Crime Machine: Thriller
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