DAVOR
Frau Fischer kam herein und stellte ein Tablett auf den Tisch. »Sie sollen doch offen lassen, wenn Sie rauchen.«
Sie riss das Fenster wieder auf und sofort flogen die Tauben davon.
Nachdem sie gegangen war, saß der Chef zwei, drei Schluck lang da, das Gesicht stumm zur Sonne gewandt.
Felix wagte es nicht, die Porzellantasse zurück auf den Unterteller zu stellen. Der Hinterkopf des Alten bewegte sich leicht. Der Chef zog an seiner Zigarre, der Qualm trübte das Licht.
»Wann waren Sie eigentlich genau in Afghanistan?«, fragte Felix.
Der Chef sog die Luft ein und drehte sich um. »Sie wollen eine Geschichte, was?« Er legte die Handflächen auf den Tisch und sah Felix an.
Der hielt dem Blick stand. »Will das nicht jeder?«
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Alten. »Die Sonne«, sagte er.
Felix hob die Augenbrauen.
»Die Sonne und das Arschloch von Pressesprecher.«
»Ich verstehe nicht.«
»Sonnenuntergänge und Arschlöcher.«
Der Chef hob den Finger. »Gibt es überall. Aber nur selten gleichzeitig. Deshalb musste ich gerade an eine Sache denken, Oktober 84. Ich war damals für den Stern unterwegs, die hatten ein Treffen mit den Rebellen arrangiert. Wir, mein Fotograf und ich verließen Kabul, Richtung Berge. Zwei Tage mit dem Jeep nach Norden, dann weiter, zu Fuß, im Gänsemarsch über Nachschubpfade. Wir sind nachts gelaufen. Tagsüber waren die Sowjets auf Patrouille, mit schweren Kampfhubschraubern. Sie haben auf alles geschossen, was sich bewegt.«
Der Chef paffte und betrachtete die aufglimmende Glut an der Zigarrenspitze.
»In der Nacht vor dem Treffen ist uns etwas Idiotisches passiert. Raki, unser Dolmetscher, ist auf eine Mine getreten. Er hatte Glück, es war eine kleine Mine, Ahornblatt sagen die Soldaten dazu. Sie hat ihm nur den rechten Fuß abgerissen. Solche Minen haben die Russen zu Tausenden abgeworfen, aus großer Höhe. Maximale Streuung, sehr effektiv.«
Er machte eine kreisende Handbewegung über der Tischplatte. Dann holte er das Zigarrenkästchen wieder heran und stellte seine Tasse daneben.
»An Weitergehen war nicht zu denken. Der Mann hat stark geblutet, alles war voller Blut. Wir haben das Bein abgebunden. Als die Sonne aufging, konnten wir sehen, wo wir waren: auf dem Präsentierteller, ungeschützt zwischen den Berghängen, fünf Kilometer entfernt, auf einem der Hügel ein russischer Vorposten. Kaum hatte er uns entdeckt, hat er auch schon geschossen. Aber wir waren zu weit weg und er hat wieder aufgehört. Wir wollten Raki wegschleppen, er hat fürchterlich geschrien, immer wieder das Bewusstsein verloren. Es war sinnlos, auch wegen der Minen. Jeder Schritt war ein Risiko. Wir hatten nur eine einzige Chance: Kontakt mit den Russen aufnehmen, damit sie uns da rausholten. Wir haben also einen weißen Fetzen geschwenkt, mit den Armen gewedelt. Keine Reaktion.«
Der Chef wickelte beim Reden Zuckerwürfel aus und stellte sie in Reih und Glied auf das Zigarren-Kästchen.
»Eben hatten wir beschlossen, dass einer von uns zu den Russen hinüberlaufen musste, da ist über dem Hügel ein Wölkchen aufgestiegen. Munter sah das aus und wissen Sie, der afghanische Himmel ist so blau. Das vergisst man nicht mehr, niemals. Dann ein Donnern, gefolgt von einem Heulen.«
Der Alte schnippte einen Würfel Richtung Kaffeetasse.
»Granatwerfer«, sagte er. »Die ersten Einschläge waren weit von uns entfernt. Wer auch immer das Teil bediente, war nicht sehr gut.«
»Wieso hat er das getan?«, fragte Felix. »Sie waren doch keine Bedrohung.«
»Nein, waren wir nicht. Wir waren einfach da. Das war damals Grund genug. Eine Zielscheibe, nicht mehr und nicht weniger. Nach jedem Versuch hat der Kerl den Werfer korrigiert. Das hat vielleicht gedauert. Er hat sich Zeit gelassen, wir konnten ja nicht weg. Wenn die Einschläge zu nahe kamen, haben wir die Position gewechselt. Hinter einem Felsen haben wir uns in einen Graben gelegt. Da sind wir geblieben, zwei Tage und Nächte lang. Wir haben uns nicht von der Stelle bewegt. Gott, wir haben in dieses Loch geschissen. Und der Russe hat gefeuert, Granate für Granate.«
Der Chef schnippte den letzten Würfel und traf die Tasse.
»Manchmal hat er eine Pause gemacht. Der Graben war so tief, dass wir nur den Himmel sehen konnten. Sonst nichts. Nur den Himmel. Die Einschläge waren manchmal so nah, es hat Gestein und Erde über uns geregnet. Am schlimmsten war es am Abend, beim Sonnenuntergang. Wir sind nebeneinander gelegen, haben in den Himmel gestarrt und geflennt. Wir dachten immer, das ist unser letzter Sonnenuntergang. Und er war wunderschön.«
Felix hielt immer noch die Tasse in der Hand. Er schluckte.
»So war das«, sagte der Chef.
»Wie ist es ausgegangen? Was ist mit Raki passiert?«
»Tot.« Der Chef wirkte seltsam beschwingt. »Und was macht die Zucker-Sache?«
Felix erzählte von der Wohnung und dem Gespräch mit der Mutter am Zaun, er gab eine Einschätzung, berichtete von seiner Internet-Recherche und dem geplanten weiteren Vorgehen. Der Chef hörte zu, verzog keine Miene. Einmal beugte er sich vor, nippte an seiner Tasse und rauchte wieder. Als Felix fertig war, schwieg er einen Moment.
»Ihre Mafia-Geschichte ...«, sagte er dann. »Hat mir gefallen, das wissen Sie. Da hatten Sie den richtigen Riecher. Gute Arbeit. Solche Geschichten brauchen wir. Ein bisschen dick aufgetragen, vielleicht.« Er zog kräftig an der Zigarre. »Das ist Ihre Story. Martinek soll den anderen Kram übernehmen.«
Das Gespräch war beendet. Felix fuhr mit dem Aufzug hinunter ins Foyer. Der Parkplatz lag im Schatten. Der Pförtner starrte auf einen Bildschirm: Fußball, die Frauen-WM war in vollem Gange.