DANACH

Marti wurde durch eine dicke Schmeißfliege geweckt. Es war kurz vor Mittag. Die Sonne tastete sich mit bleichen Fingern durch die Schlitze im Rollladen und übersäte den Teppich mit hellen Pünktchen.

Scheiße, dachte er benommen.

Das Gleiche hatte er gestern beim Aufwachen gedacht und vorgestern und vorvorgestern. Er hatte ungefähr vier Stunden geschlafen. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an das schummrige Licht im Schlafzimmer seiner toten Großeltern. Leere Schnapsflaschen und Bierdosen waren überall im Raum verteilt, standen auf dem Boden und dem kleinen Couchtisch. Die Fliege knallte mit einem trockenen Geräusch gegen die Scheibe und drehte eine verärgerte Runde durchs Zimmer. Sie versuchte es noch einmal: plong, brumm, plong, brumm, plong. Wie konnte man nur so blöd und stur sein?

Marti drückte auf die verkabelte Fernbedienung neben dem Bett und fuhr das Bett in eine halbaufrechte Position. Mit der rechten Hand tastete er nach den Zigaretten auf dem Nachttischchen, fand auch das Feuerzeug und zündete sich eine an.

Es war ein furchtbar deprimierender Abend gewesen. Schon an Nachmittag hatte er mit dem Trinken begonnen, und seine Gedanken hatten sich immer nur um eine Sache gedreht. Wieder und wieder hatte er sich die gleichen unbeantworteten Fragen gestellt. Was war mit Felix passiert? Warum hatte er in jener Nacht nicht besser auf ihn aufgepasst? Wieso hatten sie bis heute nichts, aber auch keine noch so winzige Spur von ihm gefunden?

Am Ende hatte er nur noch mehr getrunken und geraucht, und irgendwann war er eingeschlafen. Ein Mann Mitte dreißig, zusammengekrümmt auf dem Bett wie ein kleines, jämmerliches Kind. Marti hasste sich dafür. Er hasste sich selbst für seine Schwäche, doch er konnte nichts dagegen tun.

Eine Woche war es nun her, dass er sich hier verkrochen hatte. Auf dem Land, im leer stehenden Haus seiner Großeltern, ohne Fernseher oder Internet. Auch das Handy hatte er ausgeschaltet, in der vagen Hoffnung, er könne sich so sammeln, Abstand gewinnen. Nachdenken. Bei schönstem Sommerwetter hatte er sich im Dunkeln eingebunkert und Unmengen von Bier und Wodka in sich geschüttet.

Einmal war er mit dem alten Jeep Wrangler seines Vaters ins Nachbardorf gefahren und hatte sich im Netto-Markt von Bernhardswald mit tiefgefrorenen Fertiggerichten und Getränken eingedeckt. An einem Abend hatte er sich – von diffusen Schuldgefühlen aus seinem Versteck getrieben – mit Heiner, seinem einzigen Nachbarn weit und breit, mit teurem Rotwein besoffen und sich Safarigeschichten aus Afrika angehört.

Heiner war ein zum Buddhismus konvertierter Unternehmensberater, der nach eigenen Aussagen »die Welt des schnöden Mammons« hinter sich gelassen hatte. Nun lebte er in einem 70er Jahre-Luxusbungalow, zusammen mit dem Hausschwein Hänschen und einem struppigen Perserkater namens Burli. Das Haus und den Garten hatte Heiner über und über mit bunten Fahnen und Wimpeln geschmückt und mit Buddha-Figuren vollgestellt. Obwohl er eine gescheiterte Ehe hinter sich und keine Kinder hatte, war er immer gut gelaunt und fröhlich, wenn Marti ihn zufällig sah.

Marti machte das Mut und Angst zugleich. Manchmal sah er sich selbst Mitte fünfzig herumlungern, ein schrulliger Einzelgänger, ein Homer Simpson ohne Arbeit, mit seltsamen Marotten. Er wühlte unter dem Bettzeug nach seinem Diktiergerät. Zum hundertsten Mal spielte er die darauf gespeicherten Aufnahmen ab.