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»Ich werde der Mutter Kirche Heilige
geben.«
»Er hat mich geführt und gehen lassen in die
Finsternis und nicht ins Licht … Du hast Dich mit einer Wolke
verdeckt, dass kein Gebet hindurchkonnte.«
Klagelieder Jeremias 3,2 und 44
Ich weiß nicht, was mich dazu veranlasst hat, im
Oktober 2003 zur Seligsprechung von Mutter Teresa nach Rom zu
fahren.
Im antiken Herzen der Ewigen Stadt spazierte ich
über das Kopfsteinpflaster durch den Titusbogen aufs Forum, wo man
Laurentius gegrillt hatte, weil er gesagt hatte, die Armen seien
der Schatz der Kirche. Das Kolosseum und die nackten Katakomben
legen Zeugnis von einem Volk ab, das voller Hoffnung gestorben
ist.
Die Scavi oder Ausgrabungen tief unter dem
Vatikan haben eine kleine Stadt mit alten Straßen und Fresken
zutage gefördert, die sich in ihrem Originalzustand erhalten hat,
begraben aufgrund von Erdarbeiten, die unter Konstantin, dem Kaiser
aus dem vierten Jahrhundert, ausgeführt wurden, der die erste
Basilika von St. Peter errichtete. Konstantin hat das Kreuz falsch
interpretiert und es als Schlachtenstandarte benutzt. Vielleicht
hatte er die Evangelien nicht
gelesen. Seine Basilika begrub eine kleine Stadt und einen
Knochenhaufen, die zu einem Mann namens Petrus gehörten, zusammen
mit einem schmucklosen Idealbild.
Der auf dem Grundriss der von Konstantin erbauten
Basilika errichtete barocke Petersdom war tatsächlich prächtig mit
seinem Marmor, Messing und Gold, stand aber in starkem Kontrast zu
den Ermahnungen der Evangelien: »Verkaufe alles, was du hast, und
gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm
und folge mir nach.« (Lukas 18,22) Ich wollte am Fuß einer Säule
ein wenig ausruhen, aber ein Wächter sagte mir, ich solle
aufstehen. Christus sagte: »Kommet her zu mir, alle, die ihr
mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.« (Matthäus
11,28) Mag ja sein, aber nicht hier. Die Basilika war kein heiliger
Ort. Es war ein regnerischer Tag, also stellte ich mich an, um in
die Kuppel von St. Peter zu entfliehen, wo ich in Augenhöhe des
Buntglasfensters stand, das den Heiligen Geist abbildete. Es fiel
nur wenig Licht in die dunkle Kirche.
Am Tag der Seligsprechung war ich zeitig auf und
stellte mich in die Schlange, um mir einen guten Standort auf dem
Petersplatz zu sichern. Bei meiner Ankunft in Rom hatte ich
Schwester Regina angerufen und mit ihr vereinbart, mich gleich nach
der Seligsprechung mit ihr zu treffen, doch sie war zusammen mit
den anderen MNs im vorderen Bereich des Platzes und ich im hinteren
Teil neben einem der Brunnen. Uns trennte ein undurchdringliches
Menschenmeer, eingedämmt durch provisorische Metallgitter.
Nach der Zeremonie zur Seligsprechung hielt ich
mich
im Umfeld des Doms auf, weil ich hoffte, einige Schwestern zu
treffen, die ich kannte. Sie waren zum Mittagessen alle ins Paul
VI. Auditorium gegangen, und farbenprächtige Schweizer Garden
sicherten den Eingang. Ohne Ausweis kam keiner hinein. Also wartete
ich vor dem Tor zum Auditorium und hoffte, jemanden zu treffen, der
für mich eine Nachricht an Schwester Regina überbringen konnte.
Meine Tertianerlehrerin näherte sich dem Tor. Ich rief sie beim
Namen. Sie sah mich argwöhnisch an. Ich sagte: »Tobit.«
Es war eine peinliche Situation. »Hallo, wie geht
es?«, fragte ich.
»Gut, ich bin im Aufbruch«, erwiderte sie.
»Kannst du mich reinlassen?«
»Nimm einfach diesen Ausweis, dann lassen sie dich
rein.« Es war ihr eigenes Ticket mit dem blauen Erkennungsmerkmal,
das mich als MN-Schwester aus der Gemeinschaft von Primavale
auswies.
Die Schweizer Garde achtete nicht darauf, dass ich
kein Habit trug, da ich im Besitz eines Ausweises war. Ich betrat
das Auditorium, wo Hunderte von Schwestern vieler Nationalitäten
sich versammelt hatten. Anfangs erkannte ich niemanden, aber dann
entdeckte ich Schwester Regina, die mit der für sie typischen
Energie den Gang entlangeilte. Bevor sie nach Rom kam, hatte sie in
einem abgelegenen Teil von Tansania gelebt, nahe der Grenze zu
Ruanda. Die aufgedunsenen Leichen, die nach den tragischen
Massakern die Flüsse und Wasserfälle hinuntertrieben, hatten ihr
arg zugesetzt. Sie hatte sich um Menschen mit Aids im
fortgeschrittenen Stadium gekümmert, die in von den Schwestern und
Dorfbewohnern errichteten Lehmhütten lebten.
Wie erhofft, traf ich viele der Frauen, die ich während meiner
Zeit im Orden kennengelernt hatte, obwohl ich enttäuscht
feststellen musste, dass Gabrielle, Naomi und Ling der
Seligsprechung nicht beigewohnt hatten.
Am Nachmittag sah ich die Premiere von Mother
Teresa: The Legacy, ein Film von Ann und Jeanette Petrie. Die
Filmvorführung verzögerte sich durch eine amerikanische
Politikerin, die dem republikanischen rechten Flügel zuzuordnen und
begeisterte Bush-Anhängerin war und von einem amerikanischen
Erzbischof vorgestellt wurde. Anstatt kurz den Film anzukündigen,
erzählte sie über eine halbe Stunde lang von Präsident Bushs Agenda
für die Welt und sagte wenig über Mutter Teresa. Selbst Schwester
Regina war verärgert. Als der Film dann endlich losging, sah man
Archivaufnahmen von Mutter Teresa, die direkt in die Kamera sprach,
dazu Filme aus ihrem Leben. Sie hatte noch dieses »gewisse Etwas« -
das Leuchten in ihren Augen, ihr Lächeln. Als eine Frau der Tat
hatte sie auf eine leidende Welt reagiert, ein Mensch ihrer Zeit.
Zum ersten Mal jedoch entdeckte ich das Aufblitzen ihres Egos, als
sie vor den männlichen Geistlichen, die ihr Hindernisse in den Weg
legten, ihre Sache verteidigte und auf die Errungenschaften ihres
Ordens hinwies.
Zwei Tage vor der Seligsprechung Mutter Teresas
sollte Johannes Paul II. mehrere Männer, darunter auch den
Erzbischof von Australien, George Pell, zu Kardinälen ernennen. Im
L’Osservatore Romano forderte der Papst alle diese Männer
auf, Bischöfe der Seligpreisungen zu sein, wie es das Evangelium
für die Armen im Geiste, die Barmherzigen und diejenigen reinen
Herzens vorsieht. Am Welternährungstag
ermahnte er die Christen, sich für die Hungernden in der Welt
einzusetzen. Nach der Messe zur Feier der Elevation der Kardinäle
in ihren fürstlichen Rang drängten sich viele Menschen auf dem
Pflaster gleich hinter den Kolonnaden des Petersplatzes. Ein neues
Mercedesmodell mit Chauffeur und einem aristokratischen Kardinal in
seiner roten Robe als Passagier raste von den Feierlichkeiten davon
und hätte beinahe ein paar Gläubige über den Haufen gefahren. So
stellte ich mir eine Seligpreisung nicht vor. Es gab
Kirchenvertreter, deren Verhalten paradox war, sie priesen das in
den Evangelien verankerte Ideal der Armut und den Dienst an den
Armen, handelten aber nicht danach.
Von Rom aus fuhr ich weiter nach Assisi, der
Heimat des heiligen Franziskus, des Helden meiner Kindheit. Als
ehemaliger Soldat wurde er zu einem Mann des Friedens, der Armut
und ein Naturliebhaber. Obwohl durch die wunderschöne Stadt mit
ihren Steinmauern die Touristen strömten, bewahrte sie seinen
Geist. Unser Gästehaus befand sich gegenüber der Basilika San
Francesco mit Blick auf das umbrische Tal. Die Kuppel der Basilika
von Santa Maria degli Angeli leuchtete in der Ferne. Sie umschloss
die winzige Kapelle von Portiuncula, wo Franziskus gestorben war.
Wenn der Glockenklang sich im Tal ausbreitete, erstrahlte der
Kreuzgang vor der Basilika des heiligen Franziskus im goldenen
Schein der untergehenden Sonne. Ich stand in der Morgendämmerung
auf und ging über das Steinpflaster zur Basilika. In den
Blumenbeeten, die den Rasen des Vorhofs umgrenzten, stand PAX -
FRIEDEN. Um diese Tageszeit waren keine Touristen unterwegs. Ich
umrundete ungestört die riesige Kirche, während die Mönche in
ihren braunen Kapuzenkutten die Morgenandacht in einer
Seitenkapelle sangen. Ich musste an meinen Onkel Toby denken und
stieg dann hinab in die Krypta, in der Franziskus begraben war, um
dort ganz still eine Weile sitzen zu bleiben und den Code des
Lebens zu knacken, dem Unverständlichen einen Sinn zu geben.
Im frühmorgendlichen Sonnenschein stieg ich die
schmalen gepflasterten Gassen hoch. Geranientöpfe, Mosaike der
Muttergottes und Friedensfahnen in Regenbogenfarben schmückten die
Fassaden der Häuser. Hinter den Bogentoren der Stadtmauer säumten
farbenfrohe Herbstbäume die Straße, die zu einem Olivenhain führte,
der San Damiano umgab, wo Klara, die Franz gefolgt war, ihr karges
Kloster hatte. Im späteren Verlauf des Tages stieg ich weiter
hinauf auf den Hügel zu der schlichten Einsiedelei aus Stein, die
um die Höhle herum erbaut war, in die Franz sich zum Beten
geflüchtet hatte. Die Tauben auf dem Ziegeldach gurrten leise.
Unter uns floss der Bach unter der gebogenen Steinbrücke hindurch
und weiter in ein kühles Waldgebiet. Der Geist von Franz klang noch
immer in mir nach.
In anderen Städten wie Venedig, Siena, Ravenna,
Florenz und Padua sah ich, wie die Kirche ihre Heiligen, die in
ihrem Leben allem Materialismus abgeschworen hatten, ehrte, indem
sie Teile ihres Körpers in goldenen Reliquienschreinen verwahrte
und um ihre Gräber Basiliken errichtete. Als ich nach Rom
zurückkehrte und durch die vatikanischen Souvenirshops schlenderte,
fiel mir auf, dass auch Mutter Teresa feilgeboten wurde. Statuen
und Medaillons
waren ihr zu Ehren gegossen worden, und Stücke ihres Habits in
laminierten Karten wurden als Reliquien vertrieben.
Auf dem Campo dei Fiori, dem Blumenmarkt, dachte
ich darüber nach, wieso die Vertreter einer Kirche auf eine Weise
handeln können, die ihren eigenen Lehren absolut konträr war.
Damals um 1600 band die Kirche, die sich das »Liebe deine Feinde«
auf die Fahne geschrieben hat, den nackten, geknebelten
Dominikanermönch Giordano Bruno auf einen Scheiterhaufen und
verbrannte ihn im Namen Gottes bei lebendigem Leib. Sein Verbrechen
bestand darin, dass er Zweifel an den katholischen Doktrinen wie
etwa der Eucharistie hatte und dem kopernikanischen Weltbild,
wonach die Erde sich um die Sonne dreht, nicht abschwor. Seine
düster brütende Statue beherrscht die Stände der
Blumenverkäufer.
Ich traf mich mit Schwester Regina und half ihr ein
paar Tage lang, eine Abendmahlzeit für heimatlose und staatenlose
Menschen auszurichten, die in einem Kellerraum in Nähe der Stazione
Termini verteilt wurde. Einige Männer, hauptsächlich aus Osteuropa
und Russland, bekamen auch ein Bett in einem angeschlossenen
Gebäude, dem Obdachlosenheim vergleichbar, das wir gemeinsam in
Melbourne geführt hatten. Tagsüber führte Schwester Regina mich
durch San Gregorio, wo sich die Schwestern um gebrechliche und
bedürftige Männer kümmerten, die in einem Klostertrakt in Nähe des
Kolosseums und der Ruinen der Diokletianthermen aus dem Jahre 306
v. Chr. untergebracht waren. Die Schwestern hatten die Hühnerställe
und Vorratsräume der Mönche in ein Kloster verwandelt.
Ironischerweise benutzten die Schwestern in Rom
Computer,
um an Mutter Teresas Heiligsprechung zu arbeiten. Ich bin mir
sicher, dass sie das nicht für gut befunden hätte, und ich sehe sie
direkt vor mir, wie sie hineinstürmt und die Kabel herausreißt.
»Schwestern, wir haben uns dafür entschieden, diese Dinge nicht zu
benutzen«, würde sie sagen. »Ihr solltet euch schämen, reicher als
Christus und unsere Leute zu sein.«
In ganz Rom warben Flugblätter für Fabrizio Costas
Filmversion von Mutter Teresa, die von Olivia Hussey
gespielt wurde. Als ich den Film später in Australien sah, empfand
ich ihn als misstönend. Eine weitere Hauptrolle übernahm darin ein
Priester, der eine sehr enge Beziehung zu Mutter und den Schwestern
hat, mir war jedoch nicht klar, wen dieser repräsentieren sollte.
Er aß im Film regelmäßig im Refektorium der Schwestern, was im
wirklichen Leben nie vorkam. Der Film stellte alle Auszubildenden,
die den Orden wieder verließen, als verdorbene Frauen hin, die
nicht über das nötige Rüstzeug verfügten.
Nachdem ich den Orden verlassen hatte, war ich wie
ein Mensch gewesen, der sich ohne Kompass zurechtfinden muss. Die
ultimative Frage für mich lautete, ob Liebe oder Chaos das
Universum regiert. Mutter erfuhr Dunkelheit und Schatten in ihrem
Leben, Leere und das Gefühl der Nutzlosigkeit, und diese
Erfahrungen waren echt und keine erfundene spirituelle
Versuchung.
Anders als Mutter kam ich zu dem Schluss, dass es
keine göttliche Anwesenheit gibt, die alles richtet. Nur die Liebe
der Menschen und die Schönheit der Natur geben uns Hoffnung. Wir
müssen ihn aushalten, wie Mutter gesagt
hat, »diesen schrecklichen Schmerz des Verlusts … dass Gott nicht
Gott ist, Gott nicht wirklich existiert«. Was am Ende zählt, ist,
dass wir versucht haben, einander zu lieben.
Mutter erinnerte mich an den Maori-Häuptling in dem
neuseeländischen Film Whale Rider. Er war vornehm in der
reichen Tradition seiner Vorfahren erzogen worden, aber diese alten
Lehren machten ihn auch engstirnig. Er war blind für die
Fähigkeiten seiner Enkelin, weil in seiner Vorstellungswelt diese
Qualitäten bei einem Mädchen nicht vorkommen konnten. Die
katholischen Glaubenstraditionen und die Spiritualität, die Mutter
übernommen hat, waren zugleich ihre Stärke und ihre Schwäche. Sie
war eine Visionärin, aber die Tradition machte sie für einige
Bereiche blind. Viele Frauen hatten Schaden genommen, indem sie
versuchten, ihr zu folgen, und den Orden verwirrt und
desillusioniert, zornig und niedergeschlagen verlassen. Andere
mühten sich, dem treu zu bleiben, wovon sie glaubten, dass Gott es
so wollte. Für einige ging diese Treue auf Kosten ihrer eigenen
Persönlichkeit.
Die repressive Disziplin im Orden hat einigen
seiner Mitglieder geschadet, aber auch den Armen, denen zu helfen
er sich verpflichtet hat. Wir neigen dazu, andere so zu behandeln,
wie wir selbst behandelt wurden, und die Missionarinnen der
Nächstenliebe wurden von einer ganzen Reihe von Skandalen
erschüttert. So wurde beispielsweise eine Schwester strafrechtlich
belangt, weil sie die Hand eines Kindes verbrannt hatte. Solange
die menschlichen Bedürfnisse der Schwestern nicht anerkannt werden
und es ihnen nicht erlaubt ist, selbst zu denken und zu lernen,
wird es auch diese Probleme geben. Mutters Nachfolgerin,
Schwester Nirmala, steht in dem Ruf, mitfühlend zu sein und einen
Weg des gegenseitigen Respekts und der Verantwortung eingeschlagen
zu haben. Aber im Kern von Mutter Teresas Orden steckt ein Paradox.
Couragiertes Mitgefühl war die Tarnung für eine Organisation, die
blinde Unterwerfung und Unterdrückung des Intellekts verlangte. In
meiner Zeit bei ihr habe ich gelernt, alle Ideen einer Prüfung zu
unterziehen, darunter auch die Wertvorstellungen, die meine Kultur
mir bei meiner Geburt mitgegeben hat, und den vorherrschenden
Sittenkodex und die Vorurteile zu hinterfragen, die jede
Gesellschaft durchsetzen. Güte kommt nicht durch Gehorsam, sondern
indem man sich selbst mutig treu bleibt. Ich habe gelernt, auf der
Hut zu sein, wann immer eine Gruppe von mir fordert, mich meiner
Vernunft zu entledigen.
Mein Besuch in der Heiligen Stadt trug zu einer
weiteren Lockerung des Glaubens bei, auf den ich mein Leben
gegründet hatte. Meine Überzeugungen hatten mich vor der
Verzweifung bewahrt, selbst wenn ich oft Angst hatte, sie könnten
nicht stimmen. Ich hatte auch immer gedacht, die Gesellschaft sei
ärmer ohne die Ideale, die Empathie und die im Christentum
verankerte Ethik, von der Kunst, Architektur und Musik inspiriert
wurden. Aber wenn es einen Gott gibt, dann ist dieser Gott Liebe
und Wahrheit, und ER/SIE müsste keine Angst vor Fragen unseres
winzigen menschlichen Intellekts haben. Für die Kirchen und andere
Zentren der Religiosität ist es an der Zeit, auf blinde
Anhängerschaft und Zustimmung zu verzichten, denn die Menschen
können ihre Sinne nicht mehr länger dem Irrationalen unterordnen.
Wie kann beispielsweise die Verwendung
eines Kondoms schlimmer sein, als andere mit AIDS anzustecken? Die
Kirche benutzt die Waffen der Zensur und der Exkommunikation, um
Abweichler zum Schweigen zu bringen. Das ist unnötig, denn die
Wahrheit kann sich in einer offen geführten Debatte sehr wohl
selbst verteidigen.
Das wissenschaftliche Credo lehrt uns, dass vor
vierzehn Milliarden Jahren das absolute Nichts war.
Unerklärlicherweise tauchte dann ein äußerst heißes, dichtes
»Etwas« - Materie - auf, explodierte und weitete sich zu der
beinahe unendlichen Masse des Kosmos aus. Vor etwa vier Milliarden
Jahren begann sich unser kleiner unbedeutender Planet abzukühlen.
Atome verbanden sich, Moleküle bildeten sich. Durch willkürlichen
Zufall und natürliche Auslese entwickelte sich Leben, komplex und
schön, in seinen unzähligen Formen. Es fällt schwer hinzunehmen,
dass diese raffiniert strukturierte Welt ein Zufallsprodukt war,
dass der Mensch das Ergebnis unbelebter, gleichgültiger
evolutionärer Kräfte ist, eine Ansammlung von Molekülen, die es so
weit gebracht haben, sagen zu können: »Ich bin.« Meine Gedanken
zielten darauf, dass Gott womöglich die Lücke zwischen dem Nichts
und dem Sein überbrückt hat.
Die Welt ist wunderbar, aber auch gleichgültig.
Unschuldige werden verletzt, verhungern, werden durch Krankheiten
vernichtet. Die Sanftmütigen erben die Erde nicht, sie sind
enteignet. Mag ein Spatz auch nicht zu Boden zu fallen, ohne dass
der Himmlische es weiß, scheint das bei Millionen von Kindern
anders zu sein. Die christliche Antwort lautet, es gibt Hoffnung
jenseits des irdischen Leids im Versprechen und in der
Glückseligkeit des ewigen Lebens,
und Tod und Leiden seien Irrtümer, die durch die Sünde in die Welt
gekommen sind. Klar ist jedoch, dass jedes Lebewesen seine ihm
bemessene Lebensspanne hat; Verfall und Krankheit waren immer schon
Teil der Weltordnung. Zerstörung ist eine unausweichliche Folge der
naturimmanenten Kräfte. In der Tierwelt gehören Beuteverhalten und
Leid zum Netz des Lebens. Und nichts davon ist eine Folge von
Sünde, wie es das Christentum erklärt.
Wenn man den Eckstein der Auferstehung
herausschlägt, fällt das ganze Hoffnungsgebäude in sich zusammen.
Jeglicher Glaube an eine irgendwie geartete Form göttlicher
Anwesenheit wurde mit dem Tsunami am 2. Weihnachtstag 2004
gründlich weggespült. Ohne Glauben kam ich mir vor wie auf einer
beschwerlichen Reise mit falschem Kartenmaterial - verloren.
Als ich auf der Suche nach einem glaubwürdigen
Standpunkt die alternativen Glaubenssysteme durchforstete, stieß
ich auf Deismus, Atheismus, Hedonismus und Konsumismus, die
allesamt unbefriedigend waren, und entwickelte mich nach und nach
zu einer Agnostikerin. Aufgrund unseres begrenzten Wissens hielt
ich die absolute Gewissheit, dass es keinen Gott gab, für
unmöglich. Glaube war mein Wesenskern - ohne ihn fühlte ich mich
hohl.
Trotz des Hohngelächters all jener Intellektuellen,
die sich über die »Religionsfanatiker« lustig machen und Religion
zum Virus und »Wurzel allen Übels« erklären, kann Glaube
schön sein. Ich habe diese Schönheit erfahren. Glaubt Richard
Dawkins denn allen Ernstes, dass es ohne Religion das Böse auf der
Welt nicht gäbe? Wollen diese eifrigen Atheisten die zahllosen
heroischen und aus Mitgefühl
geborenen Taten religiöser Menschen als wertlos und krank abtun?
Der Frieden in der Einsiedelei von Assisi, der gregorianische
Gesang, die großen Sakralbauten der Welt sind Ausdruck einer
Schönheit, die aus den Tiefen der Seele hervorsprudelt - sie sind
harmonisch und nicht pathologisch.
Ich teile nicht die anmaßende Zuversicht der
Wissenschaftler, die uns lehren, dass die Wissenschaft zu gegebener
Zeit alle Fragen des Lebens beantworten werde. Womöglich gibt es
gar keine Antworten auf die Fragen, warum wir leiden und sterben,
doch wie der Auschwitz-Überlebende Victor Frankl lehrte, hängt die
mentale Gesundheit eines Menschen davon ab, ob er einen Sinn im
Leben findet. In irgendeiner Form ist der Glaube menschlichen
Kulturen immanent. Das Gehirn selbst hat sich dahin entwickelt,
Glaubensinhalte zu erschaffen; es muss an etwas glauben, wenn nicht
an eine Gottheit, dann zumindest an Fakten und Ideen. Ich fürchte,
dass durch die Niederlage des despotischen Deismus ein chaotischer,
egozentrischer Materialismus freigesetzt wird. Im Schlamm
religiöser Scheinheiligkeit und Intoleranz sind Goldstücke
begraben, aus denen sich Refexionen und Erfahrungen von Tausenden
von Jahren herauslesen lassen. Wir verzichten auf diese Einsichten
auf eigene Gefahr. Das Glück lässt sich nicht so einfach packen -
es muss erst in Liebe, Dienst und Mitgefühl gesteckt werden, ehe es
wahrhaft erworben werden kann.
Zwanzig Jahre lang hatte ich so weitergemacht wie
in meiner Ordenszeit und niemals irgendwo dazugehört. Die
Überzeugungen, die mein Leben gestützt hatten, waren weggebrochen.
Ich war an einem einsamen Ort gestrandet und suchte noch immer nach
einem Ausweg. Eins weiß
ich aber mit Gewissheit, dass die Kluft zwischen den Reichen und
den Armen ein kritisches Problem für unsere Welt darstellt. Extreme
Armut ist der Feind des Friedens. Wir vergeuden mehr, als wir
geben. Der Reichtum, der uns zufließt, verseucht, wenn wir ihn
nicht kontrollieren, die Welt und wird uns zerstören.
Vor langer Zeit schon ermahnten die Propheten die
Reichen: »Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne
Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide
ihn und entzieh dich nicht von deinem Fleisch und Blut. Dann wird
dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte … und dein Dunkel wird
sein wie der Mittag.« (Jesaja 58, 7-8,10)
Selbst heute haben wir diese Lektion noch immer
nicht gelernt. Es klingt so einfach: »Denn ich bin hungrig gewesen,
und ihr habt mir zu essen gegeben …« (Matthäus 25,35) - aber es
kann auch zu Problemen führen, wie eine durch Hilfe bedingte
Abhängigkeit und Bevormundung. Ich weiß, dass die elf Jahre, in
denen ich mich bemüht habe, nichts weiter als ein Tropfen waren,
der im Ozean der Not verschwand, ohne die Oberfläche zu kräuseln.
Und auch nachdem ich die MNs verlassen hatte, war es mir
schwergefallen, eine Balance zwischen Geben und Nehmen zu finden,
zwischen den Bedürfnissen der anderen und meinen eigenen. Das
Friedensgebet des heiligen Franziskus, das ich als MN immer wieder
aufgesagt habe, fordert uns auf, eher zu lieben, anstatt geliebt zu
werden, eher zu geben, anstatt zu bekommen. Ich fühlte mich
schuldig, dass ich meine Liebe wenigstens manchmal erwidert haben
wollte. Und ich stellte mir die Frage, ob es ethisch vertretbar
war, mich in den Ferien oder bei einer Reise nach Übersee zu
vergnügen, während andere Hunger litten. Wenn ich diese Gedanken
unterdrückte, lief ich Gefahr, ins andere Extrem zu verfallen und
mich von den Armen ganz abzuwenden.
Ohne den Glauben an ein Leben nach dem Tod wird die
Suche nach einer gerechten Welt umso dringlicher. Die Aufgabe, die
wir einst Gott übertragen haben, wird nun zu unserer. Anstatt für
die Hungrigen und für den Frieden zu beten, muss jeder von uns sich
entscheiden, was er tun kann, um die Probleme von Hunger und Krieg
anzugehen. Wie Mahatma Gandhi sagte: »Sei du die Veränderung, die
du in der Welt zu sehen wünscht.« Der Himmel ist eine heimtückische
Idee, die den Tod für die Politiker und Generäle, die die Armeen
dieser Welt befehligen, akzeptabler macht und für die
Selbstmordbomber, die sich und andere töten in der Hoffnung, ins
Paradies zu kommen.
Ich habe meinen Pazifismus revidiert, der auf der
Ermahnung der Evangelien beruhte, seine Feinde zu lieben, und kam
zu dem Schluss, dass die Menschen Gewalt anwenden müssen, um sich
vor völkermörderischer Wut zu schützen. Wie können wir angesichts
des Holocaust, von Ruanda oder Pol Pot passiv bleiben? Wieso
sollten die Timorer nicht auf den Tod Zehntausender während der
indonesischen Besatzungszeit reagieren? Das Dilemma war nur, wie
man auf das Böse reagieren soll, ohne selbst böse zu werden.
Sinn finde ich nun in der Schönheit und in der
Freundschaft, aber ich weiß, dass diese so kurzlebig sind wie ich
selbst. Wahrhaftig und mitfühlend zu leben, lautet das Credo
meines spirituellen Agnostizismus. Ohne die Hoffnung, die sich auf
ein Leben nach dem Tod gründet, bleiben einem als einzige Mittel
für den Umgang mit dem ultimativen menschlichen Mysterium von Leid
und Tod Stoizismus, Courage und Mitgefühl. Unsere Zivilisation muss
sich als Erste mit dem Leben und dem Tod ohne religiöse
Überzeugungen und Zeremonien auseinandersetzen. Obwohl der
religiöse Glaube in unserer Gesellschaft noch immer eine Rolle
spielt, können immer mehr Menschen nicht mehr glauben, und dies
wird unsere Kultur und die Art und Weise, wie wir unsere Kinder
unterrichten und wie wir mit den großen Herausforderungen des
Lebens umgehen, tiefgreifend verändern. Meine Mutter wünscht eine
katholische Beerdigung, was für mich in vielerlei Hinsicht
schwierig werden wird, weil mein Glaube gestorben ist.
Eine meiner frühesten Erinnerungen an Mama ist die,
dass sie mich in Leeton durch den Garten führt und mir die Blumen
zeigt und »hübsch« sagt. Seit 2003 hat Alzheimer ihre Erinnerung
ausgehöhlt. An den meisten Tagen jedoch erhellt sich ihr Gesicht
noch immer, wenn sie mich über den Korridor auf sich zukommen
sieht. Sie hatte sich immer wieder nach ihrer eigenen Mama und
ihrem Papa erkundigt und gewundert, warum diese sie nicht
besuchten, aber gnädigerweise ist auch diese Erinnerung verblasst.
Es kam mich hart an, ihren Kummer immer wieder aufs Neue zu
schüren, indem ich ihr erklärte, sie seien tot, und so wich ich am
Ende zu einer Entschuldigung aus, um diesen Moment zu überbrücken.
Ich hatte sie zuvor noch nie angelogen.
Solange sie noch in der Lage war, ins Auto zu
steigen,
blieb sie an den Wochenenden bei uns und aß mit uns, streichelte
den Hund und spielte mit ihren Enkelkindern, aber im Lauf des Tages
wurde sie von Fantasiegebilden und Ängsten heimgesucht, die sich
nicht verjagen ließen. Die alten Sorgen unserer Kindheit quälten
sie. »Haben wir die Rechnungen bezahlt?« »Wo sind die Jungs?«
»Warum hast du sie nicht abgeholt?« Bei einer Gelegenheit hatte sie
während der zwanzig Minuten, die ich brauchte, um von ihrem Heim,
wo ich sie abgeliefert hatte, wieder nach Hause zu kommen, acht
Nachrichten auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Sie klang
ängstlich, wie verlassen, und ihre Stimme war brüchig.
»Ich habe überlegt, ob du vielleicht zu mir kommen
könntest. Ich fühle mich so allein. Ich weiß nicht, was los ist.
Ich weiß nicht, was ich machen soll … Schade, dass du nicht da
bist. Ich möchte dich nicht beunruhigen, aber irgendwas stimmt
nicht. Ich habe von keinem was gehört, seit ich hier angekommen bin
… Ich komme mir vor, als hätte man mich vergessen. Ich rufe an, um
zu erfahren, wie es dir geht … Ich habe überlegt, was passiert ist
und ob ich nach Hause gehe. Wenn du mich anrufen könntest, wäre ich
wirklich froh.« Die Nachrichten setzten sich in einem stetigen
fehenden Sermon fort, der mich hilflos machte, weil ich erst vor
einer halben Stunde bei ihr gewesen war. Das war, als sie noch
wusste, was ein Telefon war und wie man die automatische
Nummernwahl betätigte.
Zwei Jahre später war sie sich ihrer Umgebung nicht
mehr in dem Maße bewusst, dass sie von Angst hätte gequält werden
können. Sie scheint jetzt glücklich zu sein. Jedes Mal, wenn wir
sie sehen, ist der Erinnerungsfaden
schwächer. Ihre Sprache ist zu einem Wortsalat zusammenhangloser
Sätze geworden.
»Warum starrst du mich an, weil du keine Haare
hast? Es wird wieder wachsen. In Rosa ist es besser. Ich möchte es
wärmer haben, ich möchte hungriger sein, ich möchte müde sein. Wo
ist meine Mutter? Weißt du, wo sie ist? Sie muss viel zu lesen
haben, um ständig das Richtige zu tun. Colette! Kannst du schon
laufen? Du musst laufen. Es gibt da ein Beet voller Blumen, aber
sie sind nicht im Wasser. Du hast wunderschöne Augen. Deine Augen
sind herrlich, als könnten sie die Welt sehen. Und was kann ich
sehen? Sechsundzwanzig. Er hat keine Bananen. Ich muss jetzt zu
diesem Picknick, weil ich meine prächtigen Kinder sehen
muss.«
Manchmal muss man sie zum Essen auffordern;
manchmal verfällt sie in leeres, undurchdringliches Starren und
erkennt uns nicht. Ihre Welt ergibt keinen Sinn mehr, und was sie
durchmacht, lässt mich das Alter fürchten. In dieser zweiten
Kindheit gibt es keine Hoffnung auf Jugend. Mama hat keine
Kontrolle über ihre Körperfunktionen mehr; ihr Schlaf ist gestört,
und sie läuft sehr unsicher. Wie in der Kindheit ist sie einem
Zyklus von Baden, Füttern und Waschen unterworfen, und sie
empfindet auch Trennungsangst.
Der Glaube gab mir einmal eine Schutzmaßnahme gegen
die Verzweiflung in die Hand. Er stellte eine Belohnung für ein gut
gelebtes Leben in Aussicht und das Versprechen endgültiger
Gerechtigkeit. Wäre der Glaube wahrhaftig, könnte er Antworten auf
viele Fragen geben. Aber es gibt keine Antworten. Alles, was ich
tun kann, ist
mit dem Schweigen, dem Unbekannten, der Grausamkeit, dem Tod und
alledem, wofür es keine Erklärung gibt, zu leben und auf diesem Weg
das Bestmögliche zu tun. So versuche ich nun, mein jugendliches
Ideal zu verwirklichen. Oftmals ist es notwendig, Dinge zu
akzeptieren, die man nicht ändern kann, anstatt vergeblich gegen
sie anzugehen.
Ich bin mir nicht mehr sicher, was einen zum guten
oder heiligen Menschen macht. Ich bin mir des Lebens nicht mehr
sicher, das mir so flüchtig erscheint, oder der Liebe, weil ich
mich einsam fühle. Ich kämpfe gegen die Beschränkungen eines
anderen Zeitplans - des Terminkalenders meiner Praxis - und
versuche, ihn pünktlich einzuhalten, ohne den Menschen das Geschenk
der Zeit vorzuenthalten. Das Gesundheitssystem ächzt unter dem
Gewicht unbefriedigter Bedürfnisse. Als junger Mensch dachte ich,
die Bedingungen würden sich im Lauf meines Lebens verbessern. Ich
gehöre zu den Glücklichen in einem glücklichen Land, aber noch
immer fällt es vielen Menschen schwer, weiterzumachen.
Ich sitze auf der Veranda meines Hauses, in den
Händen eine Tasse süßen, heißen Tee, und verfolge, wie in den
Bäumen schlagartig das Vogelleben zum Ausbruch kommt. An den
Wochenenden arbeite ich im Garten und versuche, die Vielfalt der
natürlichen Vegetation gegen die Monokultur von zähem Liguster und
Wandelröschen wiederherzustellen, die in unserem Häuserblock Einzug
gehalten hat. Ich weiß, dass sich im Frühling die Königspapageien
mit ihrem rot und grün aufblitzenden Gefieder wieder vor meinem
Fenster einfinden und unsere zurechtgestutzten Obstbäume noch
kräftiger als zuvor austreiben werden. Die kahlen
Winterzweige im Obstgarten werden blühen und im Sommer Früchte
tragen.
Die Reise ist alles, was bleibt, diejenigen, die
wir entlang des Wegs lieben, sind unsere größte Freude. Der Weg ist
beschwerlich, und deshalb bemühe ich mich, Mut und Mitgefühl zu
lernen.
Ich lerne langsam, aber die Hoffnung hat
Bestand.