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»Ich werde der Mutter Kirche Heilige geben.«
»Er hat mich geführt und gehen lassen in die Finsternis und nicht ins Licht … Du hast Dich mit einer Wolke verdeckt, dass kein Gebet hindurchkonnte.«
Klagelieder Jeremias 3,2 und 44
 
 
Ich weiß nicht, was mich dazu veranlasst hat, im Oktober 2003 zur Seligsprechung von Mutter Teresa nach Rom zu fahren.
Im antiken Herzen der Ewigen Stadt spazierte ich über das Kopfsteinpflaster durch den Titusbogen aufs Forum, wo man Laurentius gegrillt hatte, weil er gesagt hatte, die Armen seien der Schatz der Kirche. Das Kolosseum und die nackten Katakomben legen Zeugnis von einem Volk ab, das voller Hoffnung gestorben ist.
Die Scavi oder Ausgrabungen tief unter dem Vatikan haben eine kleine Stadt mit alten Straßen und Fresken zutage gefördert, die sich in ihrem Originalzustand erhalten hat, begraben aufgrund von Erdarbeiten, die unter Konstantin, dem Kaiser aus dem vierten Jahrhundert, ausgeführt wurden, der die erste Basilika von St. Peter errichtete. Konstantin hat das Kreuz falsch interpretiert und es als Schlachtenstandarte benutzt. Vielleicht hatte er die Evangelien nicht gelesen. Seine Basilika begrub eine kleine Stadt und einen Knochenhaufen, die zu einem Mann namens Petrus gehörten, zusammen mit einem schmucklosen Idealbild.
Der auf dem Grundriss der von Konstantin erbauten Basilika errichtete barocke Petersdom war tatsächlich prächtig mit seinem Marmor, Messing und Gold, stand aber in starkem Kontrast zu den Ermahnungen der Evangelien: »Verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach.« (Lukas 18,22) Ich wollte am Fuß einer Säule ein wenig ausruhen, aber ein Wächter sagte mir, ich solle aufstehen. Christus sagte: »Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.« (Matthäus 11,28) Mag ja sein, aber nicht hier. Die Basilika war kein heiliger Ort. Es war ein regnerischer Tag, also stellte ich mich an, um in die Kuppel von St. Peter zu entfliehen, wo ich in Augenhöhe des Buntglasfensters stand, das den Heiligen Geist abbildete. Es fiel nur wenig Licht in die dunkle Kirche.
Am Tag der Seligsprechung war ich zeitig auf und stellte mich in die Schlange, um mir einen guten Standort auf dem Petersplatz zu sichern. Bei meiner Ankunft in Rom hatte ich Schwester Regina angerufen und mit ihr vereinbart, mich gleich nach der Seligsprechung mit ihr zu treffen, doch sie war zusammen mit den anderen MNs im vorderen Bereich des Platzes und ich im hinteren Teil neben einem der Brunnen. Uns trennte ein undurchdringliches Menschenmeer, eingedämmt durch provisorische Metallgitter.
Nach der Zeremonie zur Seligsprechung hielt ich mich im Umfeld des Doms auf, weil ich hoffte, einige Schwestern zu treffen, die ich kannte. Sie waren zum Mittagessen alle ins Paul VI. Auditorium gegangen, und farbenprächtige Schweizer Garden sicherten den Eingang. Ohne Ausweis kam keiner hinein. Also wartete ich vor dem Tor zum Auditorium und hoffte, jemanden zu treffen, der für mich eine Nachricht an Schwester Regina überbringen konnte. Meine Tertianerlehrerin näherte sich dem Tor. Ich rief sie beim Namen. Sie sah mich argwöhnisch an. Ich sagte: »Tobit.«
Es war eine peinliche Situation. »Hallo, wie geht es?«, fragte ich.
»Gut, ich bin im Aufbruch«, erwiderte sie.
»Kannst du mich reinlassen?«
»Nimm einfach diesen Ausweis, dann lassen sie dich rein.« Es war ihr eigenes Ticket mit dem blauen Erkennungsmerkmal, das mich als MN-Schwester aus der Gemeinschaft von Primavale auswies.
Die Schweizer Garde achtete nicht darauf, dass ich kein Habit trug, da ich im Besitz eines Ausweises war. Ich betrat das Auditorium, wo Hunderte von Schwestern vieler Nationalitäten sich versammelt hatten. Anfangs erkannte ich niemanden, aber dann entdeckte ich Schwester Regina, die mit der für sie typischen Energie den Gang entlangeilte. Bevor sie nach Rom kam, hatte sie in einem abgelegenen Teil von Tansania gelebt, nahe der Grenze zu Ruanda. Die aufgedunsenen Leichen, die nach den tragischen Massakern die Flüsse und Wasserfälle hinuntertrieben, hatten ihr arg zugesetzt. Sie hatte sich um Menschen mit Aids im fortgeschrittenen Stadium gekümmert, die in von den Schwestern und Dorfbewohnern errichteten Lehmhütten lebten. Wie erhofft, traf ich viele der Frauen, die ich während meiner Zeit im Orden kennengelernt hatte, obwohl ich enttäuscht feststellen musste, dass Gabrielle, Naomi und Ling der Seligsprechung nicht beigewohnt hatten.
Am Nachmittag sah ich die Premiere von Mother Teresa: The Legacy, ein Film von Ann und Jeanette Petrie. Die Filmvorführung verzögerte sich durch eine amerikanische Politikerin, die dem republikanischen rechten Flügel zuzuordnen und begeisterte Bush-Anhängerin war und von einem amerikanischen Erzbischof vorgestellt wurde. Anstatt kurz den Film anzukündigen, erzählte sie über eine halbe Stunde lang von Präsident Bushs Agenda für die Welt und sagte wenig über Mutter Teresa. Selbst Schwester Regina war verärgert. Als der Film dann endlich losging, sah man Archivaufnahmen von Mutter Teresa, die direkt in die Kamera sprach, dazu Filme aus ihrem Leben. Sie hatte noch dieses »gewisse Etwas« - das Leuchten in ihren Augen, ihr Lächeln. Als eine Frau der Tat hatte sie auf eine leidende Welt reagiert, ein Mensch ihrer Zeit. Zum ersten Mal jedoch entdeckte ich das Aufblitzen ihres Egos, als sie vor den männlichen Geistlichen, die ihr Hindernisse in den Weg legten, ihre Sache verteidigte und auf die Errungenschaften ihres Ordens hinwies.
Zwei Tage vor der Seligsprechung Mutter Teresas sollte Johannes Paul II. mehrere Männer, darunter auch den Erzbischof von Australien, George Pell, zu Kardinälen ernennen. Im L’Osservatore Romano forderte der Papst alle diese Männer auf, Bischöfe der Seligpreisungen zu sein, wie es das Evangelium für die Armen im Geiste, die Barmherzigen und diejenigen reinen Herzens vorsieht. Am Welternährungstag ermahnte er die Christen, sich für die Hungernden in der Welt einzusetzen. Nach der Messe zur Feier der Elevation der Kardinäle in ihren fürstlichen Rang drängten sich viele Menschen auf dem Pflaster gleich hinter den Kolonnaden des Petersplatzes. Ein neues Mercedesmodell mit Chauffeur und einem aristokratischen Kardinal in seiner roten Robe als Passagier raste von den Feierlichkeiten davon und hätte beinahe ein paar Gläubige über den Haufen gefahren. So stellte ich mir eine Seligpreisung nicht vor. Es gab Kirchenvertreter, deren Verhalten paradox war, sie priesen das in den Evangelien verankerte Ideal der Armut und den Dienst an den Armen, handelten aber nicht danach.
 
 
Von Rom aus fuhr ich weiter nach Assisi, der Heimat des heiligen Franziskus, des Helden meiner Kindheit. Als ehemaliger Soldat wurde er zu einem Mann des Friedens, der Armut und ein Naturliebhaber. Obwohl durch die wunderschöne Stadt mit ihren Steinmauern die Touristen strömten, bewahrte sie seinen Geist. Unser Gästehaus befand sich gegenüber der Basilika San Francesco mit Blick auf das umbrische Tal. Die Kuppel der Basilika von Santa Maria degli Angeli leuchtete in der Ferne. Sie umschloss die winzige Kapelle von Portiuncula, wo Franziskus gestorben war. Wenn der Glockenklang sich im Tal ausbreitete, erstrahlte der Kreuzgang vor der Basilika des heiligen Franziskus im goldenen Schein der untergehenden Sonne. Ich stand in der Morgendämmerung auf und ging über das Steinpflaster zur Basilika. In den Blumenbeeten, die den Rasen des Vorhofs umgrenzten, stand PAX - FRIEDEN. Um diese Tageszeit waren keine Touristen unterwegs. Ich umrundete ungestört die riesige Kirche, während die Mönche in ihren braunen Kapuzenkutten die Morgenandacht in einer Seitenkapelle sangen. Ich musste an meinen Onkel Toby denken und stieg dann hinab in die Krypta, in der Franziskus begraben war, um dort ganz still eine Weile sitzen zu bleiben und den Code des Lebens zu knacken, dem Unverständlichen einen Sinn zu geben.
Im frühmorgendlichen Sonnenschein stieg ich die schmalen gepflasterten Gassen hoch. Geranientöpfe, Mosaike der Muttergottes und Friedensfahnen in Regenbogenfarben schmückten die Fassaden der Häuser. Hinter den Bogentoren der Stadtmauer säumten farbenfrohe Herbstbäume die Straße, die zu einem Olivenhain führte, der San Damiano umgab, wo Klara, die Franz gefolgt war, ihr karges Kloster hatte. Im späteren Verlauf des Tages stieg ich weiter hinauf auf den Hügel zu der schlichten Einsiedelei aus Stein, die um die Höhle herum erbaut war, in die Franz sich zum Beten geflüchtet hatte. Die Tauben auf dem Ziegeldach gurrten leise. Unter uns floss der Bach unter der gebogenen Steinbrücke hindurch und weiter in ein kühles Waldgebiet. Der Geist von Franz klang noch immer in mir nach.
In anderen Städten wie Venedig, Siena, Ravenna, Florenz und Padua sah ich, wie die Kirche ihre Heiligen, die in ihrem Leben allem Materialismus abgeschworen hatten, ehrte, indem sie Teile ihres Körpers in goldenen Reliquienschreinen verwahrte und um ihre Gräber Basiliken errichtete. Als ich nach Rom zurückkehrte und durch die vatikanischen Souvenirshops schlenderte, fiel mir auf, dass auch Mutter Teresa feilgeboten wurde. Statuen und Medaillons waren ihr zu Ehren gegossen worden, und Stücke ihres Habits in laminierten Karten wurden als Reliquien vertrieben.
Auf dem Campo dei Fiori, dem Blumenmarkt, dachte ich darüber nach, wieso die Vertreter einer Kirche auf eine Weise handeln können, die ihren eigenen Lehren absolut konträr war. Damals um 1600 band die Kirche, die sich das »Liebe deine Feinde« auf die Fahne geschrieben hat, den nackten, geknebelten Dominikanermönch Giordano Bruno auf einen Scheiterhaufen und verbrannte ihn im Namen Gottes bei lebendigem Leib. Sein Verbrechen bestand darin, dass er Zweifel an den katholischen Doktrinen wie etwa der Eucharistie hatte und dem kopernikanischen Weltbild, wonach die Erde sich um die Sonne dreht, nicht abschwor. Seine düster brütende Statue beherrscht die Stände der Blumenverkäufer.
Ich traf mich mit Schwester Regina und half ihr ein paar Tage lang, eine Abendmahlzeit für heimatlose und staatenlose Menschen auszurichten, die in einem Kellerraum in Nähe der Stazione Termini verteilt wurde. Einige Männer, hauptsächlich aus Osteuropa und Russland, bekamen auch ein Bett in einem angeschlossenen Gebäude, dem Obdachlosenheim vergleichbar, das wir gemeinsam in Melbourne geführt hatten. Tagsüber führte Schwester Regina mich durch San Gregorio, wo sich die Schwestern um gebrechliche und bedürftige Männer kümmerten, die in einem Klostertrakt in Nähe des Kolosseums und der Ruinen der Diokletianthermen aus dem Jahre 306 v. Chr. untergebracht waren. Die Schwestern hatten die Hühnerställe und Vorratsräume der Mönche in ein Kloster verwandelt.
Ironischerweise benutzten die Schwestern in Rom Computer, um an Mutter Teresas Heiligsprechung zu arbeiten. Ich bin mir sicher, dass sie das nicht für gut befunden hätte, und ich sehe sie direkt vor mir, wie sie hineinstürmt und die Kabel herausreißt. »Schwestern, wir haben uns dafür entschieden, diese Dinge nicht zu benutzen«, würde sie sagen. »Ihr solltet euch schämen, reicher als Christus und unsere Leute zu sein.«
In ganz Rom warben Flugblätter für Fabrizio Costas Filmversion von Mutter Teresa, die von Olivia Hussey gespielt wurde. Als ich den Film später in Australien sah, empfand ich ihn als misstönend. Eine weitere Hauptrolle übernahm darin ein Priester, der eine sehr enge Beziehung zu Mutter und den Schwestern hat, mir war jedoch nicht klar, wen dieser repräsentieren sollte. Er aß im Film regelmäßig im Refektorium der Schwestern, was im wirklichen Leben nie vorkam. Der Film stellte alle Auszubildenden, die den Orden wieder verließen, als verdorbene Frauen hin, die nicht über das nötige Rüstzeug verfügten.
 
 
Nachdem ich den Orden verlassen hatte, war ich wie ein Mensch gewesen, der sich ohne Kompass zurechtfinden muss. Die ultimative Frage für mich lautete, ob Liebe oder Chaos das Universum regiert. Mutter erfuhr Dunkelheit und Schatten in ihrem Leben, Leere und das Gefühl der Nutzlosigkeit, und diese Erfahrungen waren echt und keine erfundene spirituelle Versuchung.
Anders als Mutter kam ich zu dem Schluss, dass es keine göttliche Anwesenheit gibt, die alles richtet. Nur die Liebe der Menschen und die Schönheit der Natur geben uns Hoffnung. Wir müssen ihn aushalten, wie Mutter gesagt hat, »diesen schrecklichen Schmerz des Verlusts … dass Gott nicht Gott ist, Gott nicht wirklich existiert«. Was am Ende zählt, ist, dass wir versucht haben, einander zu lieben.
Mutter erinnerte mich an den Maori-Häuptling in dem neuseeländischen Film Whale Rider. Er war vornehm in der reichen Tradition seiner Vorfahren erzogen worden, aber diese alten Lehren machten ihn auch engstirnig. Er war blind für die Fähigkeiten seiner Enkelin, weil in seiner Vorstellungswelt diese Qualitäten bei einem Mädchen nicht vorkommen konnten. Die katholischen Glaubenstraditionen und die Spiritualität, die Mutter übernommen hat, waren zugleich ihre Stärke und ihre Schwäche. Sie war eine Visionärin, aber die Tradition machte sie für einige Bereiche blind. Viele Frauen hatten Schaden genommen, indem sie versuchten, ihr zu folgen, und den Orden verwirrt und desillusioniert, zornig und niedergeschlagen verlassen. Andere mühten sich, dem treu zu bleiben, wovon sie glaubten, dass Gott es so wollte. Für einige ging diese Treue auf Kosten ihrer eigenen Persönlichkeit.
Die repressive Disziplin im Orden hat einigen seiner Mitglieder geschadet, aber auch den Armen, denen zu helfen er sich verpflichtet hat. Wir neigen dazu, andere so zu behandeln, wie wir selbst behandelt wurden, und die Missionarinnen der Nächstenliebe wurden von einer ganzen Reihe von Skandalen erschüttert. So wurde beispielsweise eine Schwester strafrechtlich belangt, weil sie die Hand eines Kindes verbrannt hatte. Solange die menschlichen Bedürfnisse der Schwestern nicht anerkannt werden und es ihnen nicht erlaubt ist, selbst zu denken und zu lernen, wird es auch diese Probleme geben. Mutters Nachfolgerin, Schwester Nirmala, steht in dem Ruf, mitfühlend zu sein und einen Weg des gegenseitigen Respekts und der Verantwortung eingeschlagen zu haben. Aber im Kern von Mutter Teresas Orden steckt ein Paradox. Couragiertes Mitgefühl war die Tarnung für eine Organisation, die blinde Unterwerfung und Unterdrückung des Intellekts verlangte. In meiner Zeit bei ihr habe ich gelernt, alle Ideen einer Prüfung zu unterziehen, darunter auch die Wertvorstellungen, die meine Kultur mir bei meiner Geburt mitgegeben hat, und den vorherrschenden Sittenkodex und die Vorurteile zu hinterfragen, die jede Gesellschaft durchsetzen. Güte kommt nicht durch Gehorsam, sondern indem man sich selbst mutig treu bleibt. Ich habe gelernt, auf der Hut zu sein, wann immer eine Gruppe von mir fordert, mich meiner Vernunft zu entledigen.
Mein Besuch in der Heiligen Stadt trug zu einer weiteren Lockerung des Glaubens bei, auf den ich mein Leben gegründet hatte. Meine Überzeugungen hatten mich vor der Verzweifung bewahrt, selbst wenn ich oft Angst hatte, sie könnten nicht stimmen. Ich hatte auch immer gedacht, die Gesellschaft sei ärmer ohne die Ideale, die Empathie und die im Christentum verankerte Ethik, von der Kunst, Architektur und Musik inspiriert wurden. Aber wenn es einen Gott gibt, dann ist dieser Gott Liebe und Wahrheit, und ER/SIE müsste keine Angst vor Fragen unseres winzigen menschlichen Intellekts haben. Für die Kirchen und andere Zentren der Religiosität ist es an der Zeit, auf blinde Anhängerschaft und Zustimmung zu verzichten, denn die Menschen können ihre Sinne nicht mehr länger dem Irrationalen unterordnen. Wie kann beispielsweise die Verwendung eines Kondoms schlimmer sein, als andere mit AIDS anzustecken? Die Kirche benutzt die Waffen der Zensur und der Exkommunikation, um Abweichler zum Schweigen zu bringen. Das ist unnötig, denn die Wahrheit kann sich in einer offen geführten Debatte sehr wohl selbst verteidigen.
Das wissenschaftliche Credo lehrt uns, dass vor vierzehn Milliarden Jahren das absolute Nichts war. Unerklärlicherweise tauchte dann ein äußerst heißes, dichtes »Etwas« - Materie - auf, explodierte und weitete sich zu der beinahe unendlichen Masse des Kosmos aus. Vor etwa vier Milliarden Jahren begann sich unser kleiner unbedeutender Planet abzukühlen. Atome verbanden sich, Moleküle bildeten sich. Durch willkürlichen Zufall und natürliche Auslese entwickelte sich Leben, komplex und schön, in seinen unzähligen Formen. Es fällt schwer hinzunehmen, dass diese raffiniert strukturierte Welt ein Zufallsprodukt war, dass der Mensch das Ergebnis unbelebter, gleichgültiger evolutionärer Kräfte ist, eine Ansammlung von Molekülen, die es so weit gebracht haben, sagen zu können: »Ich bin.« Meine Gedanken zielten darauf, dass Gott womöglich die Lücke zwischen dem Nichts und dem Sein überbrückt hat.
Die Welt ist wunderbar, aber auch gleichgültig. Unschuldige werden verletzt, verhungern, werden durch Krankheiten vernichtet. Die Sanftmütigen erben die Erde nicht, sie sind enteignet. Mag ein Spatz auch nicht zu Boden zu fallen, ohne dass der Himmlische es weiß, scheint das bei Millionen von Kindern anders zu sein. Die christliche Antwort lautet, es gibt Hoffnung jenseits des irdischen Leids im Versprechen und in der Glückseligkeit des ewigen Lebens, und Tod und Leiden seien Irrtümer, die durch die Sünde in die Welt gekommen sind. Klar ist jedoch, dass jedes Lebewesen seine ihm bemessene Lebensspanne hat; Verfall und Krankheit waren immer schon Teil der Weltordnung. Zerstörung ist eine unausweichliche Folge der naturimmanenten Kräfte. In der Tierwelt gehören Beuteverhalten und Leid zum Netz des Lebens. Und nichts davon ist eine Folge von Sünde, wie es das Christentum erklärt.
Wenn man den Eckstein der Auferstehung herausschlägt, fällt das ganze Hoffnungsgebäude in sich zusammen. Jeglicher Glaube an eine irgendwie geartete Form göttlicher Anwesenheit wurde mit dem Tsunami am 2. Weihnachtstag 2004 gründlich weggespült. Ohne Glauben kam ich mir vor wie auf einer beschwerlichen Reise mit falschem Kartenmaterial - verloren.
Als ich auf der Suche nach einem glaubwürdigen Standpunkt die alternativen Glaubenssysteme durchforstete, stieß ich auf Deismus, Atheismus, Hedonismus und Konsumismus, die allesamt unbefriedigend waren, und entwickelte mich nach und nach zu einer Agnostikerin. Aufgrund unseres begrenzten Wissens hielt ich die absolute Gewissheit, dass es keinen Gott gab, für unmöglich. Glaube war mein Wesenskern - ohne ihn fühlte ich mich hohl.
Trotz des Hohngelächters all jener Intellektuellen, die sich über die »Religionsfanatiker« lustig machen und Religion zum Virus und »Wurzel allen Übels« erklären, kann Glaube schön sein. Ich habe diese Schönheit erfahren. Glaubt Richard Dawkins denn allen Ernstes, dass es ohne Religion das Böse auf der Welt nicht gäbe? Wollen diese eifrigen Atheisten die zahllosen heroischen und aus Mitgefühl geborenen Taten religiöser Menschen als wertlos und krank abtun? Der Frieden in der Einsiedelei von Assisi, der gregorianische Gesang, die großen Sakralbauten der Welt sind Ausdruck einer Schönheit, die aus den Tiefen der Seele hervorsprudelt - sie sind harmonisch und nicht pathologisch.
Ich teile nicht die anmaßende Zuversicht der Wissenschaftler, die uns lehren, dass die Wissenschaft zu gegebener Zeit alle Fragen des Lebens beantworten werde. Womöglich gibt es gar keine Antworten auf die Fragen, warum wir leiden und sterben, doch wie der Auschwitz-Überlebende Victor Frankl lehrte, hängt die mentale Gesundheit eines Menschen davon ab, ob er einen Sinn im Leben findet. In irgendeiner Form ist der Glaube menschlichen Kulturen immanent. Das Gehirn selbst hat sich dahin entwickelt, Glaubensinhalte zu erschaffen; es muss an etwas glauben, wenn nicht an eine Gottheit, dann zumindest an Fakten und Ideen. Ich fürchte, dass durch die Niederlage des despotischen Deismus ein chaotischer, egozentrischer Materialismus freigesetzt wird. Im Schlamm religiöser Scheinheiligkeit und Intoleranz sind Goldstücke begraben, aus denen sich Refexionen und Erfahrungen von Tausenden von Jahren herauslesen lassen. Wir verzichten auf diese Einsichten auf eigene Gefahr. Das Glück lässt sich nicht so einfach packen - es muss erst in Liebe, Dienst und Mitgefühl gesteckt werden, ehe es wahrhaft erworben werden kann.
Zwanzig Jahre lang hatte ich so weitergemacht wie in meiner Ordenszeit und niemals irgendwo dazugehört. Die Überzeugungen, die mein Leben gestützt hatten, waren weggebrochen. Ich war an einem einsamen Ort gestrandet und suchte noch immer nach einem Ausweg. Eins weiß ich aber mit Gewissheit, dass die Kluft zwischen den Reichen und den Armen ein kritisches Problem für unsere Welt darstellt. Extreme Armut ist der Feind des Friedens. Wir vergeuden mehr, als wir geben. Der Reichtum, der uns zufließt, verseucht, wenn wir ihn nicht kontrollieren, die Welt und wird uns zerstören.
Vor langer Zeit schon ermahnten die Propheten die Reichen: »Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn und entzieh dich nicht von deinem Fleisch und Blut. Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte … und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.« (Jesaja 58, 7-8,10)
Selbst heute haben wir diese Lektion noch immer nicht gelernt. Es klingt so einfach: »Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben …« (Matthäus 25,35) - aber es kann auch zu Problemen führen, wie eine durch Hilfe bedingte Abhängigkeit und Bevormundung. Ich weiß, dass die elf Jahre, in denen ich mich bemüht habe, nichts weiter als ein Tropfen waren, der im Ozean der Not verschwand, ohne die Oberfläche zu kräuseln. Und auch nachdem ich die MNs verlassen hatte, war es mir schwergefallen, eine Balance zwischen Geben und Nehmen zu finden, zwischen den Bedürfnissen der anderen und meinen eigenen. Das Friedensgebet des heiligen Franziskus, das ich als MN immer wieder aufgesagt habe, fordert uns auf, eher zu lieben, anstatt geliebt zu werden, eher zu geben, anstatt zu bekommen. Ich fühlte mich schuldig, dass ich meine Liebe wenigstens manchmal erwidert haben wollte. Und ich stellte mir die Frage, ob es ethisch vertretbar war, mich in den Ferien oder bei einer Reise nach Übersee zu vergnügen, während andere Hunger litten. Wenn ich diese Gedanken unterdrückte, lief ich Gefahr, ins andere Extrem zu verfallen und mich von den Armen ganz abzuwenden.
Ohne den Glauben an ein Leben nach dem Tod wird die Suche nach einer gerechten Welt umso dringlicher. Die Aufgabe, die wir einst Gott übertragen haben, wird nun zu unserer. Anstatt für die Hungrigen und für den Frieden zu beten, muss jeder von uns sich entscheiden, was er tun kann, um die Probleme von Hunger und Krieg anzugehen. Wie Mahatma Gandhi sagte: »Sei du die Veränderung, die du in der Welt zu sehen wünscht.« Der Himmel ist eine heimtückische Idee, die den Tod für die Politiker und Generäle, die die Armeen dieser Welt befehligen, akzeptabler macht und für die Selbstmordbomber, die sich und andere töten in der Hoffnung, ins Paradies zu kommen.
Ich habe meinen Pazifismus revidiert, der auf der Ermahnung der Evangelien beruhte, seine Feinde zu lieben, und kam zu dem Schluss, dass die Menschen Gewalt anwenden müssen, um sich vor völkermörderischer Wut zu schützen. Wie können wir angesichts des Holocaust, von Ruanda oder Pol Pot passiv bleiben? Wieso sollten die Timorer nicht auf den Tod Zehntausender während der indonesischen Besatzungszeit reagieren? Das Dilemma war nur, wie man auf das Böse reagieren soll, ohne selbst böse zu werden.
Sinn finde ich nun in der Schönheit und in der Freundschaft, aber ich weiß, dass diese so kurzlebig sind wie ich selbst. Wahrhaftig und mitfühlend zu leben, lautet das Credo meines spirituellen Agnostizismus. Ohne die Hoffnung, die sich auf ein Leben nach dem Tod gründet, bleiben einem als einzige Mittel für den Umgang mit dem ultimativen menschlichen Mysterium von Leid und Tod Stoizismus, Courage und Mitgefühl. Unsere Zivilisation muss sich als Erste mit dem Leben und dem Tod ohne religiöse Überzeugungen und Zeremonien auseinandersetzen. Obwohl der religiöse Glaube in unserer Gesellschaft noch immer eine Rolle spielt, können immer mehr Menschen nicht mehr glauben, und dies wird unsere Kultur und die Art und Weise, wie wir unsere Kinder unterrichten und wie wir mit den großen Herausforderungen des Lebens umgehen, tiefgreifend verändern. Meine Mutter wünscht eine katholische Beerdigung, was für mich in vielerlei Hinsicht schwierig werden wird, weil mein Glaube gestorben ist.
Eine meiner frühesten Erinnerungen an Mama ist die, dass sie mich in Leeton durch den Garten führt und mir die Blumen zeigt und »hübsch« sagt. Seit 2003 hat Alzheimer ihre Erinnerung ausgehöhlt. An den meisten Tagen jedoch erhellt sich ihr Gesicht noch immer, wenn sie mich über den Korridor auf sich zukommen sieht. Sie hatte sich immer wieder nach ihrer eigenen Mama und ihrem Papa erkundigt und gewundert, warum diese sie nicht besuchten, aber gnädigerweise ist auch diese Erinnerung verblasst. Es kam mich hart an, ihren Kummer immer wieder aufs Neue zu schüren, indem ich ihr erklärte, sie seien tot, und so wich ich am Ende zu einer Entschuldigung aus, um diesen Moment zu überbrücken. Ich hatte sie zuvor noch nie angelogen.
Solange sie noch in der Lage war, ins Auto zu steigen, blieb sie an den Wochenenden bei uns und aß mit uns, streichelte den Hund und spielte mit ihren Enkelkindern, aber im Lauf des Tages wurde sie von Fantasiegebilden und Ängsten heimgesucht, die sich nicht verjagen ließen. Die alten Sorgen unserer Kindheit quälten sie. »Haben wir die Rechnungen bezahlt?« »Wo sind die Jungs?« »Warum hast du sie nicht abgeholt?« Bei einer Gelegenheit hatte sie während der zwanzig Minuten, die ich brauchte, um von ihrem Heim, wo ich sie abgeliefert hatte, wieder nach Hause zu kommen, acht Nachrichten auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Sie klang ängstlich, wie verlassen, und ihre Stimme war brüchig.
»Ich habe überlegt, ob du vielleicht zu mir kommen könntest. Ich fühle mich so allein. Ich weiß nicht, was los ist. Ich weiß nicht, was ich machen soll … Schade, dass du nicht da bist. Ich möchte dich nicht beunruhigen, aber irgendwas stimmt nicht. Ich habe von keinem was gehört, seit ich hier angekommen bin … Ich komme mir vor, als hätte man mich vergessen. Ich rufe an, um zu erfahren, wie es dir geht … Ich habe überlegt, was passiert ist und ob ich nach Hause gehe. Wenn du mich anrufen könntest, wäre ich wirklich froh.« Die Nachrichten setzten sich in einem stetigen fehenden Sermon fort, der mich hilflos machte, weil ich erst vor einer halben Stunde bei ihr gewesen war. Das war, als sie noch wusste, was ein Telefon war und wie man die automatische Nummernwahl betätigte.
Zwei Jahre später war sie sich ihrer Umgebung nicht mehr in dem Maße bewusst, dass sie von Angst hätte gequält werden können. Sie scheint jetzt glücklich zu sein. Jedes Mal, wenn wir sie sehen, ist der Erinnerungsfaden schwächer. Ihre Sprache ist zu einem Wortsalat zusammenhangloser Sätze geworden.
»Warum starrst du mich an, weil du keine Haare hast? Es wird wieder wachsen. In Rosa ist es besser. Ich möchte es wärmer haben, ich möchte hungriger sein, ich möchte müde sein. Wo ist meine Mutter? Weißt du, wo sie ist? Sie muss viel zu lesen haben, um ständig das Richtige zu tun. Colette! Kannst du schon laufen? Du musst laufen. Es gibt da ein Beet voller Blumen, aber sie sind nicht im Wasser. Du hast wunderschöne Augen. Deine Augen sind herrlich, als könnten sie die Welt sehen. Und was kann ich sehen? Sechsundzwanzig. Er hat keine Bananen. Ich muss jetzt zu diesem Picknick, weil ich meine prächtigen Kinder sehen muss.«
Manchmal muss man sie zum Essen auffordern; manchmal verfällt sie in leeres, undurchdringliches Starren und erkennt uns nicht. Ihre Welt ergibt keinen Sinn mehr, und was sie durchmacht, lässt mich das Alter fürchten. In dieser zweiten Kindheit gibt es keine Hoffnung auf Jugend. Mama hat keine Kontrolle über ihre Körperfunktionen mehr; ihr Schlaf ist gestört, und sie läuft sehr unsicher. Wie in der Kindheit ist sie einem Zyklus von Baden, Füttern und Waschen unterworfen, und sie empfindet auch Trennungsangst.
Der Glaube gab mir einmal eine Schutzmaßnahme gegen die Verzweiflung in die Hand. Er stellte eine Belohnung für ein gut gelebtes Leben in Aussicht und das Versprechen endgültiger Gerechtigkeit. Wäre der Glaube wahrhaftig, könnte er Antworten auf viele Fragen geben. Aber es gibt keine Antworten. Alles, was ich tun kann, ist mit dem Schweigen, dem Unbekannten, der Grausamkeit, dem Tod und alledem, wofür es keine Erklärung gibt, zu leben und auf diesem Weg das Bestmögliche zu tun. So versuche ich nun, mein jugendliches Ideal zu verwirklichen. Oftmals ist es notwendig, Dinge zu akzeptieren, die man nicht ändern kann, anstatt vergeblich gegen sie anzugehen.
Ich bin mir nicht mehr sicher, was einen zum guten oder heiligen Menschen macht. Ich bin mir des Lebens nicht mehr sicher, das mir so flüchtig erscheint, oder der Liebe, weil ich mich einsam fühle. Ich kämpfe gegen die Beschränkungen eines anderen Zeitplans - des Terminkalenders meiner Praxis - und versuche, ihn pünktlich einzuhalten, ohne den Menschen das Geschenk der Zeit vorzuenthalten. Das Gesundheitssystem ächzt unter dem Gewicht unbefriedigter Bedürfnisse. Als junger Mensch dachte ich, die Bedingungen würden sich im Lauf meines Lebens verbessern. Ich gehöre zu den Glücklichen in einem glücklichen Land, aber noch immer fällt es vielen Menschen schwer, weiterzumachen.
Ich sitze auf der Veranda meines Hauses, in den Händen eine Tasse süßen, heißen Tee, und verfolge, wie in den Bäumen schlagartig das Vogelleben zum Ausbruch kommt. An den Wochenenden arbeite ich im Garten und versuche, die Vielfalt der natürlichen Vegetation gegen die Monokultur von zähem Liguster und Wandelröschen wiederherzustellen, die in unserem Häuserblock Einzug gehalten hat. Ich weiß, dass sich im Frühling die Königspapageien mit ihrem rot und grün aufblitzenden Gefieder wieder vor meinem Fenster einfinden und unsere zurechtgestutzten Obstbäume noch kräftiger als zuvor austreiben werden. Die kahlen Winterzweige im Obstgarten werden blühen und im Sommer Früchte tragen.
Die Reise ist alles, was bleibt, diejenigen, die wir entlang des Wegs lieben, sind unsere größte Freude. Der Weg ist beschwerlich, und deshalb bemühe ich mich, Mut und Mitgefühl zu lernen.
Ich lerne langsam, aber die Hoffnung hat Bestand.