11
Heraus aus Mutter Teresas Schatten
»Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.«
(Lukas 9,62)
 
 
Als ich die Gemeinschaft verließ, waren meine Träume und Ideale zwar erschüttert, aber noch intakt. Meinen neuen Bekannten erzählte ich nichts davon, dass ich eine Schwester von Mutter Teresa gewesen war, obwohl elf Jahre eine lange Zeit waren. Meinen Ausstieg in kurzen Worten zu erklären, war schwierig, und wenn die Leute erst einmal wussten, dass ich Nonne gewesen war, behandelten sie mich anders.
Manchmal schrieben mir meine Freundinnen aus der Gemeinschaft. Von Schwester Ling in Hongkong bekam ich einen rührenden Brief, sie schrieb, sie verstehe den Kampf und das Unverständnis, dem ich ausgesetzt war; sie bedankte sich bei mir und wünschte mir alles Gute. Eine andere Schwester, eine Australierin, erinnerte mich daran, dass ich ihr während ihrer ersten Tage im Tahanan geholfen hatte. Scherzend erzählte sie, dass ich ihr beigebracht hatte, ihren Sari anzuziehen, was sie aber dann noch einmal richtig lernen musste. Als sie krank war und nichts essen konnte, hatte ich ihr Vegemite - australischen Brotaufstrich - auf Toast gebracht, und sie sagte, das habe ihre Lebensgeister wieder geweckt. Wir ehemaligen Schwestern schienen alle ähnliche Erfahrungen gesammelt und gleichermaßen Angst, Verärgerung und Verwirrung erlebt zu haben.
Nach ein paar Monaten zog ich aus dem Haus meines Bruders aus und bezog ein Zimmer im Pflegeheim. Ich bewarb mich an sämtlichen Universitäten von Australien für ein Medizinstudium und außerdem in Sydney für ein Krankenpflegestudium. Ich brachte den auf zwei Jahre angelegten Fernkurs in Hochschulphysik und Chemie in einem Jahr zum Abschluss und dachte, dies würde mir den Einstieg ins Universitätsstudium erleichtern. Im Oktober kehrte ich nach Hause zurück, um bei meiner Mutter zu wohnen, und schrieb mich für die Examina an der Moss-Vale-Highschool ein, die im November stattfanden.
Wieder in meiner Heimatstadt, fühlte ich mich unwohl, denn immer wieder merkte ich, dass die Leute mich schief ansahen und dann in kleinen Grüppchen über mich redeten. In meiner Gemeindekirche bekam ich eine Panikattacke und musste die Messe verlassen, weil ich glaubte, die Wände würden mich erdrücken.
Nach meinen Prüfungen arbeitete ich als Hilfsschwester in einem Pflegeheim in Bowral in der Nähe von Moss Vale und wartete, bis in den Zeitungen die Aufnahmen in die Universitäten veröffentlicht wurden.
Kurz vor Weihnachten 1985 erhielt ich ein Anmeldeformular von der Studentenvereinigung der University of Queensland, ehe ich offiziell die Bewilligung eines Studienplatzes erhalten hatte. Da Medizin das einzige Studium war, für das ich mich im ganzen Land beworben hatte, konnte dies nur eins bedeuten - dass die Queensland University mir die Chance gab, Medizin zu studieren. Ich erhielt auch noch das Angebot für ein wissenschaftliches Krankenpflegestudium in New South Wales, aber mein Herz schlug für die Medizin. Nach Weihnachten traf das offizielle Angebot ein. Ich war sehr aufgeregt und fuhr zwei Wochen vor Semesterbeginn mit dem Zug nach Brisbane. Toby brachte mich vorübergehend in einem Apartment auf dem Gelände seines Mönchsklosters unter und half mir bei der Suche nach einer billigen Unterkunft - einem Zimmer in einer Pension.
Da ich bei Beginn meines Studiums dreizehn Jahre älter war als die meisten, wurde ich gefragt, ob ich in der Subquota sei, einem Einsteigerprogramm für reifere Studenten.
Unter den zweihundertzwanzig Studenten befanden sich etwa fünfzehn ältere, die aber alle schon einen Abschluss in Biochemie, Pharmazie, Mikrobiologie, Krankenpflege oder verwandten Bereichen hatten. Ich wusste nichts von der Subquota und hatte mich auch nicht als Studentin reiferen Alters, sondern als normale Studienanfängerin beworben. Der Computer hatte offenbar kein Programm, das mich ausgesondert hätte, und dieser Irrtum verschaffte mir den Einstieg in die Medizin auf der Grundlage meiner dreizehn Jahre alten Hochschulprüfungen, bei denen ich überdurchschnittlich gut abgeschnitten hatte. Erst in meinem zweiten Jahr fiel dem Dekan auf, dass er eine dreißigjährige Studienanfängerin im Kurs hatte.
In meiner Medizinausbildung musste ich wieder lernen zu denken, zu zweifeln und die Beweise zu analysieren, anstatt ungefragt hinzunehmen, was man mir sagte. Während meines ersten Jahrs war ich in der Gruppe der viel Jüngeren eine Außenseiterin. Doch langsam schloss ich Freundschaften mit einigen meiner Studienkollegen, und wir belegten gemeinsam Tutorien und Wahlpflichtfächer, machten zusammen Urlaub und halfen einander bei den Prüfungen. Zu meiner Gruppe gehörten die Kettenraucherin Kathy, ein kluger Kopf mit einem naturwissenschaftlichen Abschluss, Andrew longus, wie wir ihn nannten, ein großer Biochemiker, Andrew brevis, ebenfalls ein Naturwissenschaftler, Robyn, ein Mikrobiologe, Jean, Tuntuni und George, alles Studienanfänger. In den Ferien fuhren wir nach Stradbroke Island, Fraser Island und O’Reillys, ins Hinterland Gold Coast. Ich liebe den Busch und habe ihn während meiner Zeit bei der Gemeinschaft fürchterlich vermisst.
Im ersten Jahr kam ich in anorganischer Chemie ziemlich ins Schwimmen, weil ich lang vergessene Integralrechnungen benötigte, um Berechnungen anzustellen. Mit Müh und Not schaffte ich aber dennoch die Prüfung, weil ich die anderen Berechnungen ganz gut hinbekommen hatte. Während eines Spektometrie-Experiments vertraute ich einem achtzehnjährigen Mitstudenten an, dass ich während meiner Schulzeit Logarithmentafeln verwendet hatte und seine Hilfe benötigte, um die Funktionen auf dem wissenschaftlichen Taschenrechner nutzen zu können. Er war völlig perplex: »Wie kannst du so alt sein, dass du zur Schule gingst, als man noch keine Taschenrechner benutzt hat, und bist dennoch zum Medizinstudium zugelassen worden?« Als wir dann zu den klinischen Bereichen wie Anatomie, Physiologie und Psychologie kamen, hatte ich keine Probleme mehr.
Mit menschlichen Knochen, die aus meinem Rucksack herausragten, radelte ich täglich auf dem Fahrradweg, der sich längs des Brisbane River schlängelte, zu den Anatomiekursen. Die Geschichte des an Tuberkulose erkrankten Rikschaführers von Kalkutta aus Lapierres Stadt der Freude, der sein Skelett an einen Sanitätshändler verkaufte, um die Mitgift seiner Tochter bezahlen und das Hochzeitsfest ausrichten zu können, ließ mich nicht los. Der Mann starb kurz nach der Feier, und seine Leiche wurde abgeholt, damit Medizinstudenten wie ich Anatomie lernen konnten.
Als es um Parasitologie ging, erkundigte ich mich bei dem Vortragenden wegen einer »Freundin«, die sich in der Golfprovinz von Papua-Neuguinea mit zerebraler Malaria angesteckt hatte: »Sie streckte unwillentlich ihre Zunge heraus, und ihr Rücken bog sich durch, obwohl sie bei Bewusstsein war. Was geschah mit ihr? Ich habe darüber nichts in den Lehrbüchern gefunden.«
»Die Parasiten haben ihren Hirnstamm angegriffen«, erwiderte er. »Sie finden das im Complete Oxford Text Book of Medicine. Wie geht es Ihrer Freundin jetzt? Ein wenig abgeschlagen?« Spätere computergestützte Tests sollten zeigen, dass die weiße Materie meines Gehirns beschädigt war, obwohl ich keine dauerhaften körperlichen oder seelischen Einschränkungen spürte. Parasitologie war das erste Fach, in dem ich gut abschnitt. Ich war persönlich vertraut mit vielen dieser Krankheiten, und es interessierte mich. Die Auszeichnung, die ich dafür bekam, stärkte mein Vertrauen und sorgte in der Klasse für einen gewissen Status und Akzeptanz. Danach stellte ich meine Berufswahl nicht mehr infrage.
Trotz meiner Freude am Medizinstudium fehlte mir doch der jugendliche Schwung. In der Schule war ich voller Zuversicht gewesen, aber die Ordensgemeinschaft hatte mich gelehrt, an mir selbst zu zweifeln. Ich träumte davon, eine kompetente Landärztin zu werden, die operieren, anästhesieren, entbinden und mit jedem Notfall fertig werden konnte, aber ich war nicht in der Lage, diese Person zu werden. Ich war ängstlich, hielt mich in Kolloquien im Hintergrund und hoffte, der Tutor würde mich nicht auswählen, um etwas vorzuführen. Ich hatte Zweifel an meinem Können. Weil ich Angst hatte, dem Patienten durch meine Inkompetenz Schaden zuzufügen, kämpfte ich gegen meine religiöse Ausbildung und meine erlernte Hilflosigkeit an, aber die Selbstzweifel waren zäh. Ich hatte Schuldgefühle, wenn ich mit Freunden zum Essen ausging, und dachte dabei nur an die Geldverschwendung. Ich fand mich damit ab, Dinge, die ich brauchte, nicht zu besitzen. Als ich einmal einen Aufsatz zusammenzuheften versuchte, sagte ich mir: Jetzt geh doch um Himmels willen und kauf dir ein Heftgerät!
Am Ende meines ersten Jahres erhielt ich einen Brief von Mutter Teresa, in dem sie mir alles Gute wünschte und ihre Hoffnung ausdrückte, ich möge die vollen sechs Jahre bis zu meinem Medizinexamen durchhalten. Sie schrieb auch, es täte ihr leid, mich verletzt zu haben, indem sie meine Entscheidung, die Gemeinschaft zu verlassen, meinem Stolz zuschrieb. Sie habe damals das Gefühl gehabt, ich sei zur MN berufen und würde dies wegwerfen, nur um meinen eigenen Willen durchzusetzen. Dieser Brief tat mir gut, denn er zeigte mir, dass Mutter von ihrer früheren Haltung abrückte. Aber dennoch verwirrte es mich, wieso die Situation hatte so schiefgehen können. Mutter war eine gute Frau. Sie versuchte gemäß ihrem Glauben das Beste, und ich hatte auch mein Bestes getan. Bei so viel gutem Willen hätte ich erwartet, dass mein Versuch, mit ihr ein Leben im Dienste der Armen zu führen, sich gut entwickeln würde, aber die überkommenen Strukturen einer älteren Form katholischen Ordenslebens und unsere unterschiedlichen Weltsichten hatten das Versagen zwangsweise herbeigeführt.
 
 
In meinem zweiten Jahr an der Uni wurde mir ein kleines Apartment im Rückgebäude eines Hauses in Milton angeboten. Die Besitzer waren sehr nett, und wir wurden gute Freunde. In ihrem Garten gab es viele Vögel und Opossums.
Meine Schwester Judy hatte das ganze Jahr über gespart und gab mir Weihnachten Geld, damit ich mir medizinische Lehrbücher kaufen konnte. Ich arbeitete als Putzfrau, als Hilfspflegerin und Spülkraft in Pflegeheimen, um meine staatliche Ausbildungsförderung aufzubessern, da meine Bücher teuer waren. Damals unterstützte die Regierung Menschen mit niedrigem Einkommen, damit sie studieren konnten. Während der letzten beiden Jahre meines Studiums wurde daraus ein Darlehen, das ich nach meinem Abschluss zurückzuzahlen hatte. Ich konnte mir ein Auto leisten, einen alten Galant für etwa tausend Dollar, den meine Freunde das Sumpfmobil nannten, weil ich die rostigen Stellen mit Spachtelmasse zugekleistert hatte.
Für zwei meiner Pflichtwahlfächer im Ausland bekam ich Stipendien, um nach Samoa und in die West-Sepik-Provinz von Papua-Neuguinea zu gehen, wo die Medizin auf einem sehr viel einfacheren Niveau unterrichtet wurde.
1988 kam Bruder Andrew nach Brisbane, um auf einer der katholischen Schulen einen Vortrag zu halten. Damals gehörte er schon nicht mehr zu den Missionaren der Nächstenliebe. Nachdem er einundzwanzig Jahre lang der Dienende Leiter des Ordens gewesen war, trat er 1987 zurück, um anderen Brüdern Gelegenheit zu geben, eine Führungsposition einzunehmen. Kurz nach seinem Rücktritt als Leiter des Ordens war er zu einer Zusammenkunft nach Amerika gerufen worden. In einem Brief an die katholische Zeitschrift The Messenger berichtete er, dass man ihn auf diesem Treffen mit einer Liste konfrontiert habe, auf der die Zeiten festgehalten waren, in denen er im Lauf von zwölf Jahren zu viel Alkohol getrunken hatte. Sein Problem schien nach dem Fall von Saigon seinen Anfang genommen zu haben, als seine Leute auf die Straße gesetzt worden waren und ein junger Auszubildender, der in seiner Obhut stand, erschossen wurde. Die meisten der Vorfälle, deren er beschuldigt wurde, lagen Jahre zurück. Er war nicht mehr Leiter der Missionare der Nächstenliebe, und seine neuen Vorgesetzten hatten Vorkehrungen getroffen, dass er nach dem Treffen direkt in ein Rehabilitationszentrum kam. Obwohl er zugab, bei einigen Anlässen zu viel getrunken und sich töricht benommen zu haben und somit ein schlechtes Beispiel gewesen zu sein, hielt er sich nicht für einen Alkoholiker, den man ohne jede Diskussion einfach in ein Rehabilitationszentrum stecken konnte. Zweifellos fühlte er sich überrumpelt. Er weigerte sich hinzugehen und verließ den Orden, den er über zwanzig Jahre lang geführt und dazu beigetragen hatte, dass er auf über fünfhundert Männer angewachsen war, die in dreißig Ländern arbeiteten. Seitdem sei er, wie er sagte, in einem sehr kleinen Boot unterwegs.
Während er zu den Menschen sprach, die sich in der Kapelle versammelt hatten, sah er müde und ausgezehrt aus, mit seinem grauen Bart und dem sich lichtenden Haar. Im Stil der Missionare der Nächstenliebe trug er noch immer ein Poloshirt mit einem links angebrachten Kruzifix. Ich hörte mir seinen Vortrag an und wartete gespannt auf irgendwelche Andeutungen, die seine eigene Desillusionierung und seinen Kampf betrafen. Es kamen keine - nur der Aufruf zur Schlichtheit, dass man sich nicht vom Materialismus und der Modernität beherrschen lassen sollte, um sich noch einen Blick für die Leidenden in unserer Mitte zu bewahren. Als durch und durch demütiger Mensch war er sich seiner eigenen Schwäche bewusst, aber auch der Tatsache, dass Labilität zum Menschsein dazugehörte. Von Mutter und der Hingabe seiner Brüder und Schwestern sprach er voller Bewunderung.
Ich war jedoch nicht bereit, Andrew zuzuhören, ohne die Fassade der Gemeinschaft infrage zu stellen, und sagte anschließend zu ihm: »Sie wissen, dass es nicht so ist, Andrew. Es ist ein Ideal, über das Sie reden, nicht die Realität.« Ich war noch immer wütend.
»Ich weiß, was Sie meinen. Menschliche Schwächen gibt es überall, aber wir brauchen Ideale, die uns fordern und nach vorn bringen. Ohne die Inspiration der Heiligen unter uns könnten wir auch sicher und bequem hinter unseren Mauern und Toren bleiben. Wir sind aufgerufen, Christus ohne irgendetwas zu folgen.« In seinen Worten schwang Resignation mit, aber kein Zorn, und er war auch in keiner Weise defensiv.
Langsam integrierte ich mich wieder in das Leben in Australien. Meine Familie hatte mich zwar mit offenen Armen willkommen geheißen, aber einige unserer Verbindungen waren nach meiner zwölfjährigen Abwesenheit bröckelig geworden. Die Hochzeit meines Bruders Tony 1983 hatte ich verpasst, konnte aber mit Judy und Rodney deren Hochzeiten 1987 und 1989 feiern. Unser Onkel Toby war in allen drei Fällen der Pfarrer. Nachdem ich wieder Teil der Familie war, konnte ich die Geburten aller meiner acht Nichten und Neffen beglückwünschen. 1988 wurde Mama sechzig und feierte mit mir in Brisbane.
Meinen Teilzeit-Putzjob in einer Bibliothek der Universität musste ich im fünften Jahr meiner Ausbildung aufgeben, weil meine Kurse in Chirurgie, Geburtshilfe und innerer Medizin außerhalb der Stadt stattfanden. Um mich finanziell über Wasser zu halten, verpflichtete ich mich zu einem Praktikum auf dem Land.
Im Dezember 1990 hatte ich endlich alle Prüfungen abgelegt und machte meinen Abschluss in Medizin an der University of Queensland. Mama, Judy und Matthew - mein kleiner Neffe - kamen zur Feier. Beim Abschluss-Dinner genossen wir alle einen wunderbaren Abend.
Anfang des darauffolgenden Monats begann mein Praktikum als Ärztin am Toowoomba General Hospital. Während einer meiner ersten Nächte wurde ich in die Entbindungsstation gerufen, um ein Kind wiederzubeleben, das wie tot aussah, aber ich hatte Glück. Ich hatte auch Dienst, als die Opfer eines schweren Verkehrsunfalls eingeliefert wurden. Ein Mann war an einem Samstagnachmittag unterwegs gewesen, um den Freund seines Sohnes nach Hause zu bringen, als ein Sattelschlepper gegen seinen Wagen prallte. Beide Jungen waren etwa acht Jahre alt. Einer der beiden konnte nicht wiederbelebt werden; der andere hatte schwere Kopfverletzungen. Während sich ein erfahrener Arzt um den verletzten Jungen kümmerte, sah ich nach dem Vater.
»Mein Sohn?«, flehte er mich verzweifelt an.
Ich senkte meinen Blick. Der Mann verstand und fing an zu schluchzen. Der Tod hatte sein Leben erschüttert.
»Es ist doch nur ein verdammter Samstagnachmittag. Nur ein verdammter Samstagnachmittag«, wiederholte er. Er hatte den Rasen gemäht, war dann ins Auto gesprungen, und jetzt war sein Junge tot. Er konnte nicht glauben, dass die Welt sich an einem »verdammten Samstagnachmittag« so rapide verändert hatte.
Nachdem ich ihn untersucht hatte, ging ich zu der Kabine, in welcher der Fahrer des Sattelschleppers saß. Auch er war ein ganz gewöhnlicher Mann, der einer gewöhnlichen Arbeit nachging. Er war körperlich unverletzt, aber eine Unachtsamkeit für den Bruchteil einer Sekunde hatte viele Leben zerstört.
Als ich eines Tages auf der Chirurgiestation Visite machte, rief ein älterer Mann immer wieder: »Heilige Mutter Maria!«
Der Krankenhausarzt dachte, der Mann habe Wahnvorstellungen, aber ich erkannte ihn als einen der Männer, um die ich mich acht Jahre zuvor in Bourke gekümmert hatte.
1992, sieben Jahre nachdem ich den Orden verlassen hatte, besuchte ich erneut die Philippinen, um Schwester Regina wiederzusehen, zu der ich Kontakt gehalten hatte. Die meiste Zeit verbrachten wir gemeinsam. Ich half ein paar Tage im Kinderheim, und wir machten einen Ausfug zum prächtigen Vulkan Mayon, der im neunzehnten Jahrhundert ausgebrochen war und viele Menschen getötet hatte, und zu den Steinruinen an seinem Fuß. Leider hatte ich nur wenig Gelegenheit, mit Schwester Naomi zu sprechen, die in all den elf Jahren, die ich bei den MNs verbracht hatte, meine Freundin gewesen war.
Auf dem Heimweg nach Australien besuchte ich noch einmal Tondo und sah, dass die Tayuman Street noch chaotischer war als in meiner Erinnerung. Die Schwestern hatten expandiert und gegenüber der Kirche noch ein Haus dazubekommen. In einem kleinen Salon neben dem Tor hingen noch immer ein paar Fotos von mir an der Wand, die dazu dienen sollten, Berufungen zu ermutigen. Im Tahanan hießen die Mitarbeiterinnen mich willkommen und erinnerten sich noch der Kämpfe, die wir miteinander hatten, doch von meinen alten Patienten war keiner mehr da. Obwohl ich Tagalog nicht mehr flüssig sprechen konnte, verstand ich doch noch, was um mich herum geredet wurde. Als Schwester hatte ich mich in Manila zu Hause gefühlt, jetzt als Touristin kam ich mir vor wie eine verängstigte Ausländerin.
 
 
Nachdem ich meinen Dienst auf dem Land in Queensland absolviert hatte, zog ich hinunter an die Central Coast von New South Wales, wo meine Mutter und meine Schwester mit Familie lebten. Ich arbeitete für ein Diplom in Geburtshilfe am Gosford Hospital und begann dann meine Ausbildung als Allgemeinmedizinerin. Ich versuchte weiterhin, an das Evangelium zu glauben, das der Anker meines Lebens gewesen war, aber der Skandal wegen der weit verbreiteten Pädophilie innerhalb der Kirche verstörte mich so sehr, dass ich mich fragte, was unser Glaube und unsere Zeremonien wert waren, wenn sie zu Kindesmissbrauch führten.
Auch das Leid meiner Krebspatienten erschütterte meinen Glauben. Trotz der Fortschritte in der Medizin und der Palliativmedizin ließ sich das Leben für meine Patienten mit invasivem Krebs kaum erträglich gestalten. Ihre Nerven waren betroffen, anstelle ihrer Knochen hatten sie Tumoren, und ihre Organe versagten nach und nach ihren Dienst. Manchmal blieben als einzige Option die Verabreichung von Sedativa oder der Schmerz, und der Leidende konnte nur rufen: »Eli, Eli, lama asabtani?« … Das ist: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Matthäus 27,46)
Selbst Jesus hatte Zweifel an Gottes Liebe zum Ausdruck gebracht, als er am Kreuz starb. In unserer Welt starben Kinder vor Hunger, und ihr Verscheiden blieb unbemerkt. Mich irritierten die Gebete der Gläubigen in der Kirche, und ich fragte mich, welchem Zweck sie dienten. Gott musste sicherlich nicht darum gebeten werden, das Leben eines Kindes zu retten oder es regnen zu lassen. Selbst Mutter Teresa wunderte sich über den Schmerz, den Menschen aushalten mussten. Während der Überschwemmungen in Andra Pradesh 1977, als Tausende zu Tode kamen und die Cholera ausbrach, sagte Mutter in etwa: »Gott versucht, uns etwas zu sagen, aber wir können nicht verstehen, was er sagt.«
Manchmal bekam ich kurze Nachrichten von Mutter, die mich nicht länger mit »mein Kind« ansprach, sondern mit »Tobit, Dr. Colette Livermore«.
Schwester Doreen, die 1976 mit Laras Gruppe ihre Profess abgelegt hatte, besuchte mich 1995 in Gosford, nachdem sie den Orden nach mehr als zwanzig Jahren verlassen hatte. Sie hatte sich zu einer sehr ängstlichen Person entwickelt, die kaum mehr etwas mit der jungen, begeisterungsfähigen Frau gemein hatte, an die ich mich erinnerte. Von der Gruppe der vier Australierinnen, die 1973 in den Orden eingetreten waren, war nur noch Anthea übrig.
Ich zahlte mein Haus in Gosford ab, hatte gute Freunde und war in der Nähe meiner Familie, aber irgendwie gehörte ich nicht hierhin. Ich war enttäuscht, niemanden gefunden zu haben, mit dem ich das Leben hätte teilen können. Weil ich mich nach meinen Erfahrungen in Bourke für die Gesundheit der Aborigines interessierte, las ich häufig Artikel, in denen es um die Probleme in den fernen Gemeinden ging; und weil ich wusste, dass es darauf keine raschen Antworten gab, beschloss ich, ins Northern Territory zu ziehen, wo ich eine Stelle im Katherine Hospital fand.
Ich fuhr die viertausend Kilometer von Gosford nach Katherine mit dem Auto. Die Sonnenblumenfelder der Darling Downs wichen dem trockenen Weideland um die Minenstadt von Mount Isa. Es war Regenzeit, und ich hatte Glück, über die Brücke des Georgina River bei Camoweel zu kommen. Im Schritttempo fuhr ich die etwa zweihundert Meter des erst kürzlich eröffneten einspurigen Asphaltbands und dann über den Barkley Highway, der in den »Track« mündete, wie die Einheimischen den Stuart Highway nannten, der Adelaide und Darwin verbindet. Anschließend ging’s etwa sechshundert Kilometer Richtung Katherine. Bald würde mein Leben als Ärztin im Outback beginnen.