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Bourke oder Fernab von allem
»Die Nacht ist schwarz, schwarz wie ein
Stein. Lass nicht die Stunden im Dunkeln vergehen.
Entzünde die Lampe der Liebe mit deinem Sein.«
Tagore, Gitanjali XXVII
Die Arbeit im Tahanan von Manila und im Magdaragat
hatte mir das Leben erträglich gemacht und mir einen Sinn gegeben.
So gern ich die praktische Arbeit dort geleistet hatte, so groß
waren meine Schwierigkeiten gewesen, mit den anderen über meine
Überzeugungen zu sprechen oder auch nur Religionsunterricht zu
erteilen. Ich wusste nicht, welche Aufgaben mich in Australien
erwarteten, ging aber davon aus, dass es für mich schwer werden
würde, dort eine Missionarin der Nächstenliebe zu bleiben. Für mich
war nun ein Punkt erreicht, wo ich einen täglichen Kampf um meinen
Verbleib in der Gemeinschaft führte, und oftmals wollte ich
ausbrechen. Aber ich hätte es als nicht richtig empfunden, meine
vor Gott abgelegten Gelübde zu brechen, also gehorchte ich
weiterhin meinen Befehlen.
Weil meine Versetzung so plötzlich kam, wusste
meine Familie nichts von meiner Ankunft. Als ich endlich zu Hause
war, ließ ich resigniert meinen Blick über die wartende
Menge am Flughafen von Sydney schweifen, wohl wissend, dass keiner
da wäre, um mich abzuholen. Im Pendelbus vom Flughafen konnte ich
nicht in die angenehme Anonymität der Einheimischen schlüpfen. Man
starrte mich in meinem Geschirrtuchgewand an wie eine Ausländerin.
Nach dem Gewimmel der Marktstraßen von Kowloon empfand ich Sydney
als so leer, dass ich glaubte, in der Stadt würde gestreikt.
Weil ich vor meinen endgültigen Gelübden nicht zu
Hause gewesen war, wurde mir ein zweiwöchiger Besuch bei meiner
Familie erlaubt, ehe ich mich in Bourke meldete. Ich hatte Mühe,
mit den »neuen« öffentlichen Fernsprechern zurechtzukommen,
schaffte es aber, Mama vom Bahnhof aus anzurufen. »Wer ist das
denn, der mich Mama nennt?«, fragte sie verwirrt. Dann merkte sie,
dass ich es war, und wurde sehr aufgeregt. Mama rief meine
Schwester an, und gemeinsam holten sie mich vom Bahnhof in Picton
ab. Judy war mittlerweile eine erwachsene Frau. Als ich damals mein
Zuhause verlassen hatte, war sie erst zehn Jahre alt gewesen. Mama
sah noch immer gleich aus. Ich fiel Mama und Judy um den Hals. Wir
waren alle in Tränen aufgelöst. Ich konnte es kaum fassen, wieder
zu Hause zu sein.
Es war großartig, wieder mit der Familie zusammen
zu sein, aber der Sari sorgte dafür, dass ich meine Rolle nicht
vergaß. Ich musste »treu und brav« meine Gebete verrichten, die
täglich etwa drei Stunden in Anspruch nahmen. Mit meinen kurz
geschorenen Haaren konnte ich nicht einfach in Zivilkleidung
schlüpfen, und in meinem charakteristischen Habit fiel ich in
unserer ruhigen Stadt auf dem Land auf. Man bat mich, an unserer
Grundschule und
an der katholischen Highschool einen Vortrag zu halten, und selbst
in unserer Lokalzeitung erschien ein Artikel über mich. Ich
erzählte Mama so gut wie gar nichts von meinen inneren Konflikten,
weil wir mit Außenstehenden nicht über Privatangelegenheiten
innerhalb der Gemeinschaft sprechen durften. Es war keine gute
Planung, dass ich damals nach Hause kam, denn die Stadt hätte sonst
vielleicht vergessen, dass ich Mutter Teresas Orden beigetreten
war, und es wäre kein so großer Schock für sie gewesen, als ich
letztendlich den Orden verließ.
Mein zweiwöchiger Urlaub verging wie im Flug, und
schon war ich mit Mama auf dem Weg nach Bourke. Als wir uns der
staubigen Stadt näherten, die an den Ufern des Darling River
errichtet worden war, hörte das Buschland unvermittelt auf. Zu
fünft, zwei Inderinnen, zwei Australierinnen und eine Filipina,
lebten wir in einem Fertighaus am Stadtrand in der Nähe des
Aborigines-Reservats, einer Anhäufung von Blechhütten und Anbauten.
Viele Aborigines waren in richtige Häuser gezogen, aber noch immer
lebten mehrere Hundert Menschen im Reservat unter notdürftigen
Bedingungen. Unser großes Haus war in zwei Bereiche unterteilt, den
Bereich der Schwestern und einen für die Arbeit reservierten Raum.
Schwester Patience, die mit mir im Noviziat gewesen war, war die
Oberin, und sie freute sich sehr, mich zu sehen. Ich kannte auch
die drei anderen Schwestern dort, da ich sie in Manila ausgebildet
hatte. Die Einheimischen nannten unsere Straße den »Crystal
Highway«, weil der Glasbruch von Bier und Weinfaschen sich in den
Schmutz eingegraben hatte und den Glitzereffekt einer
Edelsteinstraße hervorrief.
Bourke war ein Kulturschock. Viele der Aborigines
machten einen völlig verlorenen Eindruck, stritten und tranken
ständig, und ihre Kinder wuchsen unter harten Bedingungen, aber
völlig ohne jede Kontrolle auf. Schwester Patience war oft in
Tränen aufgelöst und wusste sich keine Hilfe mehr. Nach den zwölf
Jahren, die sie hier ihren Dienst versehen hatte, war keine
Veränderung wahrnehmbar, aber die Kirche hatte den Leuten
beigebracht, wie man Bingo spielte, eine Freizeitbeschäftigung, die
wie das Kartenspiel viel Zeit in Anspruch nahm.
Am Morgen kümmerte ich mich immer um neun ältere
Männer, sowohl Aborigines als auch Weiße, die in einer großen
Wellblechhütte untergebracht waren. Einige von ihnen waren
Farmarbeiter gewesen und groß und drahtig und hatten O-Beine vom
Reiten. Ich wusch ihre Wäsche, badete einige von ihnen, kochte und
machte sauber. Ich besuchte auch Familien und machte Einkäufe.
Einige der Frauen waren im Mädchenheim von Cootamundra
aufgewachsen, nachdem man sie aufgrund der rassistischen
Regierungspolitik von ihren Familien getrennt hatte. Viele sagten,
sie seien zu Hause weder vernachlässigt noch missbraucht, sondern
nur weggebracht worden, weil ihr Vater Weißer war.
An den Nachmittagen kamen vierzig bis fünfzig junge
Grundschüler zu uns, denen wir bei den Hausaufgaben halfen und mit
ihnen Spiele machten. Darunter gab es ein paar harte Brocken, die
die anderen Kinder schlugen und uns »verdammte Miststücke« nannten.
Ein paar von unseren Kindern, vor allem Jungs, schnüffelten
Klebstoff und steckten immer in Schwierigkeiten, wegen Diebstahls
und
tätlicher Auseinandersetzungen. Die Gerichte verurteilten sie zu
Gefängnisstrafen, aus denen sie zornig und verhärtet zurückkehrten,
ohne jede Perspektive. Mein Vokabular erweiterte sich, denn ich
lernte, was eine »verdammte Fotze« war. Ein Kind steckte eine
Machete in unseren Wassertank, und ein anderes raubte uns aus,
während wir in der Messe waren. Andere konnten sich mit ein
bisschen Nachhilfeunterricht in der Schule verbessern.
Über ein Alphabetisierungsprogramm arbeitete ich
mit Aborigines-Frauen und brachte ihnen Lesen und Schreiben bei,
gab aber auch Religionsunterricht in Engonia, etwa hundertvierzig
Kilometer von Bourke entfernt. Nach Regenfällen war diese Fahrt ein
Genuss, wenn gelbe und violette Wildblumen entlang der Straße
blühten. Die Kinder in meiner Klasse waren gelenkige Energiebündel,
die gern rannten, sangen und zeichneten, es aber hassten, längere
Zeit still zu sitzen.
Leute aus unserer Gemeinde halfen uns Schwestern,
indem sie uns Orangen, Kuchen und Kleider für unsere große Familie
schenkten. Oft wurde an unsere Tür geklopft, wenn jemand ins
Krankenhaus gefahren werden musste oder keinen Zucker oder kein
Mehl mehr hatte. Jeden Morgen kamen die Kinder der Aborigines zum
Vorschulunterricht bei Schwester Clara, der Filipinaschwester, und
Schwester Shaddai, der Australierin. Sie badeten die Kinder und
gaben ihnen zu essen, spielten und sangen mit ihnen.
Im Leben vieler Menschen in Bourke wirkten
destruktive Kräfte unterschiedlicher Intensität. Alkoholismus
führte zu Streitigkeiten und Krankheiten. Wenn es für Frauen und
Kinder zu Hause zu gefährlich war, blieben sie häufig
bei uns auf dem Vorschulgelände. Wir mussten unsere Türen vor den
Drohungen und Obszönitäten verschließen, die man uns von draußen
entgegenschleuderte. Ein Mann, ein Schafscherer, schlug seine Frau
und verwundete dabei das Kleinkind, das sie im Arm hielt. Gut
möglich, dass ihm die Nerven durchgegangen waren, denn es gab sehr
große Spannungen zwischen australischen und neuseeländischen
Schafscherern, wobei es nur vordergründig um die Kammgröße ging,
denn es war ein Grabenkrieg um die Sicherheit von Arbeitsplätzen,
der, wenn er überkochte, zu Raufereien und Brandstiftung
führte.
Aber auch zwischen Aborigines und Weißen war die
Stimmung angespannt. Schon bald nach meiner Ankunft in Bourke trat
der Darling River über seine Ufer. Die ganze Ernte eines
Honigmelonenfarmers wurde vom Regen vernichtet - obwohl es so viele
beschäftigungslose Menschen in der Stadt gab, konnte er niemanden
finden, der ihm half, seine Früchte schnell genug zu ernten, ehe
sie schimmelten.
Einige der für die Aborigines gebauten Häuser
wurden zerstört, weil zu viele Menschen in ihnen wohnten und die
Streitigkeiten im Haus zu zerbrochenen Fensterscheiben und kaputten
Paneelen führten. Die Weißen, insbesondere diejenigen, die in
schlechten Wohnungen hausten, wurden wütend angesichts der
Vernachlässigung und absichtlichen Zerstörung von neuen Häusern,
die ihnen gefallen hätten. Ich dachte, es müsste einen Weg geben,
die Wohnungspolitik anders zu gestalten, sodass die Aborigines sich
ihre Behausungen selbst entwarfen, bauten und unterhielten, aber
ich befand mich mitten in einer Kluft zwischen den Kulturen und zog
die Feindseligkeit beider Seiten auf mich.
Unser normaler Umgang mit sozialen Problemen
funktionierte hier jedenfalls nicht. Das Leben war weitaus
komplexer als das freiwillige Modell »Du sollst nicht …« In
Hongkong setzten die Flüchtlinge Plastikblumen zusammen und bekamen
Geld dafür, und ich überlegte, ob sich nicht auch eine einfache
Produktion finden ließe, damit die Leute eine Aufgabe bekamen. Ich
überlegte auch, einen Gemeinschaftsgarten anzulegen. Die Kinder im
Outback waren durch Vernachlässigung und Missbrauch schon
benachteiligt, ehe sie alt genug waren, um zu entscheiden, was
richtig oder falsch war, denn in diesem Alter waren ihre
Verhaltensmuster bereits festgelegt. Schon der Eintritt ins Leben
verlief bei Weißen und bei Aborigines unter ungleichen
Voraussetzungen. Viele Menschen in den »Reservaten« waren
demoralisiert und hatten ihre »Träume« und »Traumpfade«
verloren.
Ich versuchte, mich einzuleben, aber mir wurde
immer klarer, dass mir in Australien ein Leben als MN nicht möglich
war. Jahrelang hatte ich gerungen, aber jetzt, da ich mich »zu
Hause« befand, wurde deutlich, dass ich am falschen Ort war. In
meinem eigenen Land und meiner Kultur empfand ich die Diskrepanz
zwischen meinen eigenen Werten und einem Leben als MN sogar noch
stärker. Als ich in Manila arbeitete, lenkte mich der Kampf der
Menschen auf dem Müllberg von meinem eigenen inneren Aufruhr ab -
ihnen zu helfen, gab meinem Leben einen Sinn. In Bourke traten die
Unstimmigkeiten noch deutlicher hervor. Ich hatte die Aufgabe,
Aboriginekinder am Sonntag zur Messe zu holen, eine Schikane, wie
ich heute erkennen kann. Ich wurde losgeschickt, um beim Metzger
vor Ort um Fleisch zu betteln, als hätten wir kein Geld gehabt, es
einfach zu kaufen.
Wieder teilte ich meine Verwirrung Schwester
Gabrielle in einem Brief mit, die jedoch nicht wusste, was sie mir
darauf antworten sollte, und mich tröstete, indem sie schrieb, wenn
die Kreuzigung Christi zu Gottes Plan gehöre, dann auch diese
kleineren Rückschläge, die wir alle einstecken mussten. Sie meinte,
sie kenne die Gründe nicht, die zu meiner Versetzung nach Bourke
geführt hatten, und wisse auch nicht, was zwischen Hongkong und
Manila besprochen worden sei, schrieb, dass die Gemeinschaft eher
durch Kräfte, die im Inneren wirkten, zerstört werden könne als
durch äußere Angriffe. Sie ermutigte mich: »Verfolge deine Vision
und halte deine Antennen intakt.« Ihre Antwort legte für mich den
Schluss nahe, dass sie begriff, was ich durchmachte, und auch nicht
der Meinung war, es läge an mir. Bis zu diesem Brief hatte jeder
Versuch, mit meinen Vorgesetzten über meine Probleme zu reden, die
ich mit der Gemeinschaft hatte, einen Vortrag über meinen Stolz,
mein mangelndes Vertrauen und ungenügende Demut zur Folge gehabt.
Ich hatte jegliches Vertrauen in die Art und Weise verloren, wie
die Gemeinschaft geführt wurde. Im August 1983, zwei Monate nach
meiner Rückkehr nach Australien, konnte ich meinen Wunsch, die
Gesellschaft zu verlassen, nicht mehr länger unterdrücken und
besprach mich eines Abends mit Schwester Patience. In Vorbereitung
auf meinen zukünftigen Abschied hatte ich mir bereits die Haare
wachsen lassen. Sie flehte mich an, es doch noch mal zu versuchen,
und vereinbarte ein Treffen mit einem Priester, der meinte,
dass mein Wunsch zu gehen, das Resultat eines »bösen Geistes« war.
Ich glaubte nicht an böse Geister, und so fragte er mich: »Was
möchten Sie denn tun, wenn Sie gehen? Wo würden Sie wohnen?« Ich
wusste schon seit Monaten, ja, schon seit Jahren, was ich darauf
antworten würde. Ich sagte ihm, ich würde mir in Sydney eine
Wohnung oder ein Zimmer suchen und eine Ausbildung als
Krankenschwester oder Ärztin anfangen, und ich würde mich für
Austudy bewerben, ein Projekt, das minderbemittelten Australiern
half, einen Abschluss zu bekommen.
Er belehrte mich: »Sie sollten sich auf ein Nichts
reduzieren; nach der Logik des Evangeliums müssen Sie Ihr Leben
verlieren, um es wieder zu finden. Ihre Idee, Medizin zu studieren,
ist unrealistisch und nur eine versteckte Form von Stolz, um zu
zeigen, dass Sie etwas leisten können, aber offen gestanden halte
ich das für einen unmöglichen Traum. Sie reagieren nur auf das
Gefühl, innerhalb der Gesellschaft versagt zu haben, aber vergessen
Sie nicht, Gott benutzt die Schwachen, um die Starken zu
verwirren.«
Schwester Margaret, die Vorgesetzte meiner Region,
kam auf Besuch nach Melbourne und schrieb einen Bericht nach
Kalkutta. Sie überredete mich, noch eine Weile länger zu bleiben,
also schnitt ich mir wieder meine Haare, aber es war sinnlos. Ich
konnte nicht bleiben. Während meiner Arbeit im Gemüsegarten hatte
ich alles durchdacht: Ich wusste, dass ich gehen musste.
Ich suchte den Arzt wegen Schmerzen in meinem
Nacken und meiner linken Schulter auf. Probleme hatte ich damit
seit Manila, wo ich viele Säcke Maismehl auf dieser
Schulter hatte schleppen müssen. Wahrscheinlich eine Zerrung,
Arthritis oder ein Muskelkrampf.
Der Arzt fragte mich ganz direkt: »Sind Sie
glücklich?«
»Nein, bin ich nicht. Ich glaube nicht, dass ich
noch länger als Schwester leben kann.«
Seltsamerweise verordnete er mir daraufhin
Tabletten, die es mir unmöglich machten, morgens um zwanzig vor
fünf aufzustehen.
Ich sprach mit Schwester Patience. »Schwester, ich
möchte die Tabletten nicht nehmen, die der Arzt mir verschrieben
hat.«
»Du musst, Tobit.«
»Es ist kein Medikament für meine Schulter. Es sind
Beruhigungsmittel, weil der Arzt meint, ich sei verkrampft und
verspanne deshalb meine Schulter. Ich werde morgens nicht wach
wegen dieser Tabletten, Schwester, und für meine Schulter bringen
sie gar nichts.«
»Dann geh noch mal zum Arzt, aber du musst sie
einnehmen, bis er dir etwas anderes verordnet.«
Ich marschierte wieder zum Arzt.
»Wenn Sie glauben, der Schmerz in meiner Schulter
und meinem Nacken sei nur seelisch bedingt oder dass man nichts
dagegen machen kann, dann sagen Sie es mir. Ich kann die Tabletten
nicht nehmen, die Sie mir verschrieben haben. Ich werde morgens
kaum wach, wenn ich sie einnehme.«
»Warum haben Sie sie dann nicht einfach
abgesetzt?«, fragte er mich verdutzt.
»Weil ich unter einer Vorgesetzten lebe, die alle
Aspekte meines Lebens kontrolliert. Sie wusste, dass Sie mir
Tabletten
verschrieben haben, weil sie sie mir gekauft hat. Sie bestand
darauf, dass ich sie einnehme, bis Sie was anderes sagen.«
Ich kehrte nach Hause zurück.
»Schwester, der Arzt hat gesagt, ich soll die
Tabletten absetzen.«
Mein Onkel Toby und mein Jugendfreund Paul, beides
Franziskanerpriester, besuchten mich Ende September und blieben ein
paar Stunden, in denen wir am Flussbett entlang zum Reservat
liefen. Ich kochte dort, wo die Männer untergebracht waren, Fish
and Chips für meine Besucher, und sprach mit ihnen über mein
Bemühen, eine Antwort auf die Verzweifung der jungen Menschen zu
finden, doch nicht über meinen eigenen Gefühlsaufruhr.
Die Briefe, die ich nach Hause schrieb, waren
oberflächlich. Eine Weile hielt ich den Schein der Normalität
aufrecht, aber diese Fassade sollte bald einstürzen. Mutter Teresa
schrieb mir völlig unerwartet im Oktober 1983 und kündigte ihren
baldigen Besuch an. Sie forderte mich wieder zur völligen Hingabe
auf und zwang mich zu lieben, bis es wehtat. Mutter nannte mir in
ihrem Brief als Ursache meiner Unzufriedenheit die von uns
betreuten Menschen mit ihrer Sauferei und ihren Streitigkeiten. Es
waren aber nicht die Menschen, sondern die Lebensweise, die ich
nicht mehr aushielt. Dennoch hatte ich die Lektion gut gelernt,
dass ich unwürdig und sündig war, weshalb es mir auch so
schwerfiel, meinem eigenen Urteil genügend zu vertrauen, eine
endgültige Entscheidung zu fällen.
Schwester Gabrielle schrieb mir: »Da gibt es jedoch
eine Sache, die ich bei dir nicht verstehe - wenn Gott dir doch
das ECHTE gibt, das Kreuz, warum kannst du es dann nicht
annehmen?« Sie kam auf die dunkle Nacht der Seele zu sprechen, wie
der heilige Johannes vom Kreuz sie lehrt, und sie meinte, dass auch
ich diese Krisenzeit durchstehen müsse, um von Gott geläutert zu
werden, und dass es eine Tragödie wäre, jetzt aufzugeben, da Gott
mich zu einer tieferen Daseinsebene rief. Diese Idee war
heimtückisch, denn sie schmeichelte mir. Doch mir war klar, dass
ich weder besser noch heiliger wurde, sondern einfach
zusammenbrach.
Schwester Patience, meine Vorgesetzte, wusste, dass
ich labil war. Als sie erkrankte und ins Krankenhaus musste,
übernahm ich zusätzlich zu meinen Aufgaben die ihren. Da ich häufig
in der Stadt zu tun hatte und Schwester Patience die Kosten für
eine Briefmarke nach Indien nicht auffallen würden, die ich
pflichtschuldig ins Rechnungsbuch eintrug, bat ich diesmal nicht
erst um Erlaubnis, Mutter schreiben zu dürfen, aus Furcht, man
würde wieder Druck auf mich ausüben. Ich hatte schon zu oft
nachgegeben.
Im November, kurz vor meinem neunundzwanzigsten
Geburtstag, schrieb ich und bat, mich von meinen Gelübden zu
entbinden. Die Gründe hätten eindeutiger nicht sein können. Ich
verließ den Orden nicht wegen eines gelegentlichen persönlichen
Zusammenpralls mit einer Vorgesetzten oder weil ich in Bourke
unglücklich war, sondern wegen der restriktiven Strukturen und
Verhaltensweisen innerhalb der Gemeinschaft. Meinem Gefühl nach
verfehlte der Orden seine Raison d’être, Mitgefühl zu
zeigen, und zwar sowohl für die eigenen Mitglieder wie auch für die
Armen. Man hatte mich gelehrt, dass ein leidendes
menschliches Wesen heilig war, die Verkörperung Christi selbst.
Nichtsdestotrotz wurde von mir erwartet, das Flehen eines Mannes,
dessen Freund inmitten von Methanolfaschen tot am Boden lag, zu
ignorieren, sterbende Kinder wegzuschicken, einen Mann links liegen
zu lassen, der an Ruhr erkrankt auf der Straße im Sterben lag, mich
zu verschließen und zu gehorchen, egal was man mir befahl oder wie
dumm der Befehl auch war. Der Orden verlangte von mir, auf
selbstständiges Denken zu verzichten, zensierte alles, was ich las,
betrieb eine Art von Gehirnwäsche, die mich fast schon in einen
Automaten verwandelt hatte. Er verlangte von mir, auf mein Urteil
und meine Unterscheidungsfähigkeit zu verzichten. Und er lehrte
mich, die anderen nicht zu beurteilen und nicht aufzubegehren oder
einzuschreiten, wenn etwas Grausames oder Ungerechtes geschah. Das
verlangte er alles im Namen Gottes, der auch die Fäden hinter den
Kulissen ziehen sollte, damit alles gut wurde.
Ich schickte den Brief an Mutter und hatte
ziemliche Angst, dass mich Panik erfassen könnte, sobald ich ihn
eingesteckt hatte, aber dazu kam es nicht.
Als Schwester Patience aus dem Krankenhaus
entlassen wurde, ging ich zu ihr und sagte ihr: »Schwester, ich
habe Mutter geschrieben und sie um einen Dispens gebeten. Ich kann
so nicht weiterleben.«
Meine Vorgesetzte war tief erschüttert. »Ich habe
mich so gefreut, als ich hörte, dass du kommst«, sagte sie. »Alle
sagten, du seiest eine gute Schwester für hier und würdest uns
helfen, aber jetzt bin ich sehr enttäuscht. Ich werde es den
anderen Schwestern mitteilen müssen.« Ich hatte in der
Gemeinschaft von Bourke keine Probleme gehabt, und als mir klar
wurde, dass die Schwestern in Kalkutta womöglich Schwester Patience
für meine Entscheidung verantwortlich machten, stimmte mich das
traurig. Zum damaligen Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich
nach Bourke geschickt worden war, um eine andere Schwester zu
ersetzen, die den Orden verlassen hatte, und auch nicht, dass
bereits an die fünf oder sechs Schwestern davor die Gemeinschaft
von Bourke verlassen hatten.
Ich schrieb Mama, dass ich den Orden verlassen
wollte, und sie rief mich an, gleich, nachdem sie meinen Brief
bekommen hatte, und unterstützte mich. Sie würde herkommen und mich
abholen, sobald Mutter meiner Kündigung zustimmte. Auch mein Bruder
Rod rief mich an und bot mir ein Zimmer in seinem Haus in Newtown
an, falls ich nach meinem Weggang in Sydney bleiben wollte. Ich
schrieb Mama: »Ich weiß wirklich nicht, was aus mir werden soll und
wie meine Zukunft aussehen wird oder wo ich etwas falsch gemacht
habe. Schwester Regina schrieb an Schwester Patience, ich würde
alles negativ sehen, weil ich so sehr verletzt worden bin. Sie
scheinen einfach nicht zu begreifen, was ich sagen möchte. Ich
hoffe, dass es dem Willen Gottes entspricht, was ich tue - in
diesem Fall wird er mich segnen und dennoch bei mir sein.«
Ich versuchte ganz normal weiterzuarbeiten, während
ich auf Mutters Antwort wartete, aber es war schwer. Schwester
Patience aß zwei Tage lang nichts und erschien auch nicht zum
Gebet. Die Ironie wollte es, dass ich in ihrer Abwesenheit die
Gemeinschaft führen musste. Ich dachte daran, einfach
davonzulaufen. Schwester Rachael, eine der
Schwestern aus Ranchi in Indien, weinte die ganze Zeit, weil sie
bei mir in Manila Novizin gewesen war und nun das Gefühl hatte, von
mir fallengelassen zu werden. Noch während ich in Bourke war,
schrieb sie mir eine Notiz mit den Worten, mein Plan verletze sie
tief. Ich wünschte, es wäre vorbei.
An Neujahr 1984 war ich zum ersten Mal, seit ich
der Gesellschaft beigetreten war, für ein paar Tage allein im Haus.
Ich kümmerte mich um die alten Männer, während Schwester Patience
mit den drei anderen Schwestern wegen zahnärztlicher und anderer
Termine nach Dubbo fuhr. Als ich die Post abholte, lag darin ein an
mich adressierter Brief von Mutter. Ich war davon ausgegangen, bis
Ende Januar auf eine Antwort warten zu müssen, weil Schwester
Margaret dann erst wieder in Indien zurückerwartet wurde, aber
Mutter hatte mir bereits am 14. Dezember 1983 geschrieben, und ich
bekam ihren Brief am 6. Januar 1984. Es waren genau elf Jahre seit
meinem Eintritt in die Gemeinschaft.
Ich stand allein draußen, als ich den Brief las,
der mir die Freiheit wiedergab. Ich las ihn schnell und geriet in
Hochstimmung. Ich durfte gehen. Ich war so erleichtert, dass Mutter
mich nicht aufforderte, noch zu warten, zu beten, Buße zu tun oder
anderweitig das Unvermeidliche hinauszuzögern. Wäre dies der Fall
gewesen, war ich entschlossen wegzulaufen. Ich hatte Mutter in
meinem Brief daran erinnert, dass ich vor meinen letzten Gelübden
in Kalkutta mit ihr gesprochen und so um eine Entlassung gebeten
hatte, aber in ihrem Brief schien sie dies übersehen zu haben und
fragte mich, warum ich über diese Angelegenheit nicht vor
meiner endgültigen Profess mit ihr gesprochen hatte. Ihrer Meinung
nach wollte der Teufel mich täuschen, indem er als ein »Engel des
Lichts« zu mir kam, und sie schlug mir Gebete und Buße als Weg vor,
seine »Tricks« zu durchschauen. Aber dennoch räumte sie widerwillig
ein, dass das kanonische Recht mir eine einjährige Abwesenheit von
der Gemeinschaft erlaubte, während der, wie sie schrieb, ich zu
meiner eigenen Mutter zurückkehren könne. Obwohl ich fast dreißig
war, schien sie glauben, ich bedürfte jemandes Fürsorge.
Als die Schwestern wieder zurückkamen, teilte ich
ihnen mit, dass ich in wenigen Tagen weggehen würde, rief Mama an,
die dann nach Dubbo kam, um mich abzuholen. Der Gemeindepriester,
Vater Ebert, sorgte dafür, dass ich mir in einem Laden ein paar
Kleider kaufen konnte, und gab mir fünfhundert Dollar mit der
Bitte, sie ihm später zurückzuzahlen. Als er mir riet, gleich nach
meinem Weggang einen Antrag auf Arbeitslosenunterstützung zu
stellen, war ich enttäuscht, dass er zu glauben schien, ich würde
mangels Fähigkeiten oder Qualifikation keine Arbeit finden.
Der Tag meiner Abreise kam. Die Schwestern hatten
darum gebeten, dass Mama mich nicht in Bourke abholte und mich auch
keiner hier in Zivilkleidung zu sehen bekam. Die Gemeinschaft war
in Tränen aufgelöst, als ich mit Schwester Patience nach Dubbo
aufbrach. Alle waren der Meinung, dass ich meine Gelübde verriet.
Mama wartete in Onkel Johns Haus auf mich, der von Nowra
hierhergezogen war, und nachdem ich dort ankam, zog ich Habit und
Sari, die ich elf Jahre lang getragen hatte, aus und gab
sie meiner Vorgesetzten zurück, um einen Rock und eine Bluse
anzuziehen. Mein Haar war sehr kurz, und es war ein komisches
Gefühl ohne den Sari. Schwester Patience war sehr durcheinander,
und ich machte mir Sorgen, weil sie nun allein nach Bourke
zurückfahren musste. Für mich war es ein traumatischer Tag gewesen.
Johns Vorschlag an uns alle war, auszugehen und was zu trinken und
zu essen. Ich hatte noch nie Alkohol getrunken und konnte die
vergangenen elf Jahre nicht einfach abschütteln wie einen schlimmen
Traum. Ich wäre lieber im Haus geblieben, aber wir gingen auswärts
essen, und es war seltsam, und ich fühlte mich unsicher. Am
nächsten Tag fuhren Mama und ich nach Sydney, wo Rodney mich in
seinem Haus in Newtown willkommen hieß, einem ziemlich
avantgardistischen Stadtviertel in der Nähe der Universität. Nach
Moss Vale, meinem Zuhause, wollte ich nicht, denn dort hatte man
mich erst kürzlich noch im Habit als Mitglied des Ordens einer
»lebenden Heiligen« gesehen.
Die meisten Leute hatten ihre Zweifel, was meine
Aussichten auf ein Medizinstudium betraf, und für 1984 war die
Aufnahme ohnehin schon gelaufen. Noch immer entschlossen, es zu
versuchen, schrieb ich mich für einen Fernkurs in Chemie und Physik
auf Hochschulniveau ein und hoffte damit, meine Chancen zu
verbessern, 1985 zum Medizinstudium zugelassen zu werden.
Rod führte mich durch das kosmopolitische Newtown,
wo die Menschen sich exzentrisch kleideten und ihre Haare zu
verrückten Frisuren stylten. In dieser flippigen Umgebung fielen
meine sehr kurzen Haare gar nicht auf. Ich suchte verschiedene
Läden auf, wo billige Secondhandkleidung
verkauft wurde, um mir eine Garderobe zusammenzustellen, und hatte
binnen einer Woche eine Arbeit als Hilfskraft in einem Pflegeheim
für die Nachtschicht. Ich hatte der Oberschwester reinen Wein
darüber eingeschenkt, woher ich kam, und da ich keine
Qualifikationen und Referenzen vorzuweisen hatte, bewarb ich mich
mit einem Brief des Gemeindepriesters von Bourke, der meine
Geschichte bestätigte und sich für meinen Charakter verbürgte.
Ähnlich der Arbeit, die ich im Tahanan geleistet hatte, half ich
der examinierten Krankenschwester dabei, die Bewohner zu duschen,
anzuziehen und sauber zu machen, bezog die Betten und servierte das
Frühstück. Wahrscheinlich war es zu früh, um mit einer Arbeit
anzufangen, aber ich wollte keine Stütze in Anspruch nehmen und
verwendete Vater Eberts Geld dazu, mir Uniformen und ein Fahrrad zu
kaufen, um von Newtown nach Redfern zu kommen, wo sich das Heim
befand.
Unglücklicherweise fiel der Beginn meiner
Nachtschicht mit der Sperrstunde der umliegenden Bars zusammen, und
ich musste häufig betrunkenen Menschen aus dem Weg gehen, die mich
auf dem Gehweg anpöbelten.
Schwester Patience war so freundlich gewesen, mir
dreihundert Dollar zu geben, und sie schrieb mir, sie würden mich
alle vermissen und das Haus sei so leer ohne mich. Eine andere
Schwester schrieb: »Jetzt bin ich immer traurig. Etwas fehlt.
Selbst das Gemüse und die Blumen im Garten fragen nach dir.« Sie
bat mich, bald wieder zurückzukommen.
Ich wusste, dass ich nicht zurückkehren würde.
Erleichtert, von der strengen Reglementierung und Kontrolle befreit
zu sein, fühlte ich mich meistens euphorisch, wenn mich auch zu
anderen Anlässen Leere und Einsamkeit überkamen. Es war, als wären
die letzten elf Jahre meines Lebens einfach verschwunden. Ich stand
wieder am Anfang. Es war nicht leicht, über das, was in den
vergangenen elf Jahren passiert war, zu sprechen, denn es war eine
so anders geartete Erfahrung. Nach den ersten paar Monaten jedoch
ließ der Kontakt zum Orden nach, und obwohl ich meine Freundinnen
in der Gemeinschaft, die Patienten und die anderen, mit denen ich
zusammengearbeitet hatte, vermisste - weil sie mir einen Lebenssinn
gegeben hatten -, dachte ich nie daran, zurückzukehren. In mir hob
und senkte sich die Wutsäule wie der Grundwasserspiegel. Obwohl ich
alles gegeben hatte, fühlte ich mich als Versagerin und machte mir
Vorwürfe, charakterschwach zu sein und zu lange zu brauchen, um die
eigene Stimme zu finden.
Aber ich hatte mich keiner verdächtigen Sekte,
sondern einem katholischen Orden angeschlossen, gegründet von einer
Nonne, die von der Kirche, die mich seit meiner Kindheit
begleitete, als lebende Heilige eingestuft wurde. Sie war
gesellschaftlich anerkannt und hatte 1979 den Friedensnobelpreis
erhalten. Mutter war vertrauenswürdig, und ich war ihr auf die
gleiche Weise gefolgt, wie ein Athlet die Befehle eines fordernden,
aber talentierten Trainers befolgt, festen Glaubens, sie werde mich
spirituell führen und mir dabei helfen, wenigstens einige Menschen
aus der Sklaverei extremer Armut zu befreien. Doch ich verließ die
Gemeinschaft desillusioniert und ohne Existenzgrundlage; dennoch
war ich froh, nicht mehr der Anspannung, dem
Ärger und den Verletzungen ausgesetzt zu sein, die in einigen
Häusern die Atmosphäre bestimmten, und fragte mich, wie ich das
alles so lange hatte aushalten können. Von außen betrachtet, ergab
es überhaupt keinen Sinn.
Meine Lehrerin der Tertianerzeit schrieb mir, dass
die Tatsache, dass ich schon während dieser Zeit hatte aufhören
wollen, aber dennoch blieb, ein Zeichen dafür sei, dass Jesus mich
als Missionarin der Nächstenliebe haben wolle. Sie meinte, Gott
könne seinen Willen umsetzen, indem er Pilatus, Herodes oder einen
Pharisäer zu seinem Werkzeug machte, sofern ich nur mein Leben
darbrachte, wie Jesus es getan hat. Sie sagte, Gott bitte mich,
meine Pläne, Ärztin zu werden, aufzugeben, um eine einfache
Helferin des Herrn zu sein. Sie bat mich darum zu sagen: »Ja,
Herr.«
Doch sie argumentierten alle am Wesentlichen
vorbei, ich verließ den Orden nicht, um Ärztin zu werden, aber wenn
ich ihn verließ, dann musste ich etwas tun, und die Medizin hatte
mich immer gereizt. Am 13. März 1984 schrieb ich an Mutter.
Meine liebste Mutter,
wie geht es dir? Wie du weißt, verließ ich mit
deiner Erlaubnis Bourke am 9. Januar, und du gabst mir Zeit, bis
zum April eine Entscheidung hinsichtlich meiner Gelübde zu treffen.
Es steht bereits jetzt für mich fest, dass ich an meiner Bitte um
einen Dispens festhalten werde, da es mir nicht möglich ist, mein
Leben als MN fortzuführen. Ich habe viele Jahre lang gerungen und
nur deshalb versucht, in diesem Leben durchzuhalten, weil ich
glaubte, mich durch eine Abkehr von der Gemeinschaft vom Willen
Gottes loszusagen. In meiner Arbeit und in meinem Studium habe ich
jedoch neue Freude und Frieden gefunden. Sag mir bitte, Mutter, wie
ich vorgehen muss, um den Dispens zu erhalten.«
Unsere Briefe kreuzten sich. Mutter schrieb mir,
sie sei sich sicher, dass der Teufel, »der Vater der Lügen«, alles
daransetze, um meine Berufung zunichtezumachen, und dass ich meine
Entscheidung aus Stolz getroffen hätte. Sie fragte mich, was es mir
bringe, alle möglichen Titel zu erringen, aber meine Berufung,
»eine Braut des Gekreuzigten« zu sein, dabei zu verlieren. Sie bat
mich, zurückzukommen, und versprach mir, mich in diesem Fall nach
Afrika zu schicken, wo das Leid der Menschen mir helfen würde,
wieder nach Hause zu kommen.
Zehntausende starben 1984 während der Hungersnot in
Äthiopien. 1972 hatte die Hungersnot in Biafra meinen Beitritt
ausgelöst. Im Fernsehen sah ich die Schwestern, die inmitten der
Leidenden arbeiteten, und dachte mir, ich sollte bei ihnen sein,
aber ich konnte nicht zurück und gab stattdessen den größten Teil
meines Verdienstes an die Initiative »Freedom from Hunger«.
»Eine Braut des Gekreuzigten zu sein« war kein
Leben mehr für mich. Ich wollte die Kluft zwischen Reich und Arm
überwinden helfen und das Leid und die Not in der Welt lindern. Und
ich stellte mich dabei glücklich den unvermeidbaren
Schwierigkeiten, nicht aber künstlichem und unnötigem
Durcheinander. Die rigide Struktur des Ordenslebens, nach der wir
lebten, war unvereinbar mit dem gesunden Menschenverstand und
prallte häufig mit den
Idealen von der Liebe und dem Dienst zusammen, zu denen wir uns
bekannten. Jede Schwester hatte fraglos wie ein Soldat zu
gehorchen. Einige der nach diesem System ausgebildeten Frauen waren
wie emotionale Zeitbomben, randvoll mit unterdrücktem Ärger,
verbittert und körperlich nicht auf dem Posten. Mir schien es eine
Vergeudung des so bereitwillig hingegebenen Lebens zu sein, wenn
der Mensch, der diesen Lebensweg gewählt hatte, nicht glücklicher
und besser wurde.
Am 23. März 1984 schrieb ich Mutter noch einmal und
bestätigte meine Entscheidung, den Orden zu verlassen. Ich machte
deutlich, dass ich nicht um Dispens bat, weil ich einen bestimmten
Beruf ergreifen wollte, sondern um ein Leben ohne Spannungen und
den inneren Konflikt zu führen, dessen Ursache die Art und Weise
der bei den Missionarinnen der Nächstenliebe ausgeübten Autorität
war.
Drei Mal schickte Mutter die gleiche Karte mit dem
Bild von Christus in seinem Leid, verstümmelt und mit Dornenkrone,
darunter ihre handschriftliche Botschaft: »Sei die Eine.«
Mutter bat mich, das Leid in der Nachfolge Christi
zu akzeptieren: »Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat
seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt
wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er
seinen Mund nicht auf.« (Jesaja 53,7) Ironischerweise waren die
Bedingungen, unter denen die MNs litten, hausgemacht und setzten
sich immer wieder von Neuem fort. Im Umgang mit ihrer Gemeinschaft
kopierten junge Vorgesetzte ihre alten Vorgesetzten.
Ich verstehe nicht, warum Mutter nicht auf
höflichen
Umgang miteinander achtete. Es sollte jedem Menschen möglich sein,
seine Wahrheit aussprechen zu können. Opfer zu sein, ist kein
würdiges menschliches Ideal. Demut ist nichts weiter als höflicher
Umgang miteinander und Achtung des anderen.
Ich schrieb an den Papst in der mir von Schwester
Frederick genannten Form, damals die Zweite in der Hierarchie des
Ordens, und erhielt noch in diesem Jahr meinen Dispens.