13
Ein verwüstetes Land
»Ich bat, und das Kind starb dennoch; ich
suchte, aber ich fand nicht. Mein Gott, rief ich, und es kam keine
Antwort.«
Anonymus
Am 22. Juni 2000 landete ich mit einem
Militärtransporter in Dili.
Dili, das auf einem schmalen fachen Küstenstreifen
erbaut war, lag eingezwängt zwischen dem gebirgigen Rückgrat des
Landes und dem Meer. Am Flughafen wurde ich von Graham, dem
Logistikbeamten von OIKOS, abgeholt, der portugiesischen
Nichtregierungsorganisation, für die ich arbeiten würde. Wir fuhren
an der Küstenstraße entlang, vorbei an vielen zerstörten Häusern.
Am Strand spielten Kinder, sie winkten und riefen uns zu. Die
majestätische Insel Atauro trieb wie ein malvenfarbenes Zirkuszelt
mit Doppelspitze am Horizont, während an der Ostseite der Bucht
eine Christusstatue aufs Meer hinaus Richtung Indonesien schaute.
Die am Meer gelegenen Häuser der Reichen lagen in Trümmern, doch
die UN und ausländische Regierungsorganisationen richteten sich
einige für den eigenen Gebrauch her.
Als wir den Stützpunkt von OIKOS erreicht hatten,
begrüßte mich Mica, eine portugiesische Ärztin, die hier die
Einsatzleitung hatte. »Möchten Sie gleich morgen nach Aileu
fahren?«, fragte sie mich.
»Ja, so bald wie möglich«, erwiderte ich.
»Dr. Hans ist dort schon seit ein paar Monaten«,
sagte Mica. »Sie werden also nicht allein sein.«
Nach dem Mittagessen machte Graham mit mir eine
Besichtigungstour durch Dili, damit ich mich zurechtfand. Wir kamen
an der Motael Church in der Nähe des Hafens vorbei. »Hier hat der
Trauerzug eines Mannes namens Sebastiao Gomes seinen Anfang
genommen«, klärte Graham mich auf und deutete auf die weiße Kirche.
»Er war ein Student, der von indonesischen Soldaten erschossen
wurde. Das war der Anfang …«
»Das Massaker von Dili?«
»Ja.« Er nickte.
»Wie viele kamen dabei um?«
»Schwer zu sagen - mindestens zweihundertfünfzig,
und etwa genauso viele sind verschwunden. Manche sagen, viele
Leichen seien einfach vor der Küste ins Meer geworfen worden.
Außerdem wurden Hunderte verwundet. Ich kannte den Mann, der das
gefilmt hat - Max Stahl. Er begrub den Film neben einem Grabstein
auf dem Friedhof und holte ihn sich dann später wieder. Es war sehr
gefährlich.«
»Und wie bekam er ihn aus dem Land?«, hakte ich
nach.
»Nun, man erzählt sich, eine dänische Aktivistin
habe ihn in ihrem Büstenhalter rausgeschmuggelt. Auf jeden Fall hat
er der Welt die Augen für das geöffnet, was sich hier
abspielte.«
Er gab mir einen Überblick über die Geschichte des
Landes. Nachdem die Portugiesen im Anschluss an den Militärputsch
in Lissabon 1974 nach und nach die Kontrolle über ihre Kolonien
verloren, kam es zum Machtkampf der politischen Kräfte und Parteien
in Osttimor. Die Fretilin, eine linke Partei, und die Falintil,
deren militärischer Flügel, gewannen die Vormachtstellung und
erklärten Osttimor im November 1975 für unabhängig. Im Dezember
1975 marschierte Indonesien in Osttimor ein, unterstützt von den
USA, die in den Fretilin eine prokommunistische Gefahr sahen. Die
Herrschaft der Indonesier war brutal, und mindestens hunderttausend
Timorer starben entweder direkt als Kriegsopfer oder verhungerten,
weil die Ernte und die Viehbestände zerstört worden waren. Die
Falintil führten während der fünfundzwanzigjährigen Besatzungszeit
einen Guerillakrieg gegen Indonesien, während Ramos Horta die
Osttimor-Frage bei der UN lebendig hielt. Nachdem die Indonesier
Lobato, den Vorsitzenden der Falintil, getötet hatten, übernahm
Xanana Gusmao den Vorsitz. 1992 von den Indonesiern ins Gefängnis
gebracht, wurde er 1999 entlassen und sollte später der erste
Präsident des Landes werden. Aufgrund seiner Kolonialvergangenheit
war Osttimor hauptsächlich katholisch geprägt, obwohl der
traditionelle Glaube an einen himmlischen Gottvater und eine
irdische Muttergöttin neben der christlichen Lehre
weiterexistierte. Es gab auch ein paar Muslime in Osttimor.
Leste ist das portugiesische Wort für »Osten«, und
loro’sae, wörtlich Sonnenaufgang, bedeutete »Osten« auf
Tetun. Deshalb wird Osttimor auch Timor Leste oder Timor Loro’sae
genannt.
Wir fuhren an dem eindrucksvollen weißen
Regierungspalast vorbei, auf dem die Fahne der Vereinten Nationen
wehte und der das ansonsten heruntergekommene Stadtzentrum
beherrschte. In der Nähe lag das vor der Küste vertäute schwimmende
Luxushotel Olympia, die inadäquate Unterkunft der UN-Beamten und
anderer Ausländer. Entlang der Küste verkauften kleine, aus Blech
und roh behauenem Holz gezimmerte Läden Lebensmittel und
Victoria-Bitter-Bier. Ein Stück weiter boten Fischer ihren Fang
feil, den sie in Einbäumen aus dem Meer geholt hatten.
Dili war nur noch die ausgebrannte Hülle einer
Stadt. Hätte sie ein Maskottchen gehabt, wäre dies der
allgegenwärtige Kampfhahn gewesen, dessen rauer Schrei Tag und
Nacht zu hören war. Der Verkehr war chaotisch. Soldaten aus
unzähligen Nationen fuhren in Geländewagen der UN und weißen
indischen Tatas durch die Gegend, während die Timorer sich in
kleine Busse pferchten, die man microlets nannte. Manchmal
saßen Mama, Papa und drei Kinder allesamt auf einem kleinen Moped.
Moderne junge Mädchen in kunstvoll ausgebleichten, hautengen Jeans
mischten sich mit traditionell gekleideten hageren Frauen in
knöchellangen lipas, leuchtenden langärmeligen Blusen mit
Stehkragen und Kopftüchern. Große schwarze Säue, deren Euter den
Boden streiften, watschelten ohne Rücksicht auf die Autos über die
Straße, um in offenen Abwasserkanälen und im Müll zu wühlen. Auch
Hühner und Ziegen liefen frei herum, während halb verhungerte
apathische Hunde mitten auf der Straße saßen, ohne sich vom Verkehr
irritieren zu lassen. Sobald die Autos anhielten, stürzten sich
Kinder wie Fliegenschwärme darauf, um gegen
eine Gebühr »Security« oder eine Wagenwäsche anzubieten,
verteilten aber nur den Staub auf dem Fahrzeug und verschmierten
die Windschutzscheibe mit dreckigem Abflusswasser.
Am nächsten Morgen fuhr Graham mich hinauf nach
Aileu, das etwa eine Autostunde von Dili entfernt über eine
gewundene Straße durch den Wald erreicht wurde. Während wir immer
höher kamen, taten sich prächtige Panoramablicke auf Atauro und die
nördliche Küstenlinie vor uns auf. Wir kamen an strohgedeckten
Läden vorbei, die Palmwein und Bananen verkauften, aber auch an
einem Bus, der umgestürzt halb über die Böschung hing, sowie an
vielen ausgeweideten Behausungen, die an die kriegerischen
Auseinandersetzungen erinnerten. Neben der Straße kämpften sich
Kinder mit schweren Wasserkanistern oder den Produkten ihrer Gärten
die steilen Abhänge hinauf. Aufgeregt schrien sie den Autos zu, die
Kleinen sprangen auf und ab, lachten dabei übers ganze Gesicht und
schrien »Hallo Mister« oder Da, was »Auf Wiedersehen«
bedeutete.
Die Dorfbewohner sammelten Feuerholz auf den
steilen Hängen, da es sonst keinen Brennstoff zum Kochen gab. Neben
der Straße verkauften sie das Feuerholz in kleinen Bündeln sowie
lange Pfähle, um daraus Hütten zu bauen. Infolgedessen waren die
Abhänge kahl. Die anfängliche Entwaldung hatte mit den
Bombardierungen und Entlaubungsmitteln während der indonesischen
Invasion 1975 begonnen, aber heftige Regengüsse hatten die
erodierten, ockerfarbenen Narben der Hänge erweitert und vertieft.
Wir kamen an Bauern vorbei, die mit der Hacke ihre Felder
bearbeiteten, um mit dem erhofften Regen darauf Mais
anzubauen. Die Gebirgstäler waren für den Reisanbau kultiviert,
oben in den Bergen wuchsen Mais, Tabak, Gemüse und Kaffee.
»Mist!«, fluchte Graham und trat auf die Bremse,
als er beinahe einen microlet im toten Winkel übersehen
hätte. »Man gewöhnt sich daran, wenn man lang genug lebt«, rief er.
»Auf der Straße kommt es häufig zu Unfällen. Zum Glück fahren sie
nicht schnell, obwohl einige der UN-Fahrer ein Albtraum sind.« Im
Schritttempo passierten wir den nächsten Straßenabschnitt, der
während der letzten Regenzeit teilweise weggebrochen war.
Schließlich fuhren wir talwärts vorbei an strohgedeckten Hütten,
Weihnachtssternbäumen und Kaffeebüschen, passierten die
Kontrollpunkte der Falintil und erreichten schließlich Aileu. Neben
einem kleinen weißen Haus gegenüber dem Markt von Aileu hielten wir
an. Die Stadt selbst hatte eine Bevölkerung von über fünftausend
Menschen und war Einzugsgebiet von vierzigtausend.
Doktor Hans hatte einen Besucher, Professor Max
Kamien aus Westaustralien, den ich aufgrund seiner
wissenschaftlichen Artikel in medizinischen Zeitschriften »kannte«.
Wir unterhielten uns bei traditionell gebrühtem Kaffee, und Hans
berichtete, wie die pro-indonesischen Milizen das Krankenhaus und
die Poliklinik zusammen mit anderen Gebäuden während der
Zerstörungswelle in Aileu niedergebrannt hatten, die auf das
timorische Votum auf Unabhängigkeit gefolgt war. Als die Indonesier
sich zurückzogen, standen nur noch wenige Gebäude. Es hieß, eine
Frau sei in ihrem eigenen Haus ermordet und ihre Leiche in einen
Wassertank geworfen worden. Er erzählte
mir, er leite die Klinik von einem ausgebrannten Gebäude neben dem
früheren Krankenhaus aus, das von OIKOS wieder aufgebaut werde. Es
gab weder Strom noch Wasser dort.
Das Gesundheitssystem basierte auf
Krankenambulanzen in den Dörfern, die von Krankenschwestern
geleitet wurden. In unserer Klinik gab es an die zehn
Krankenschwestern, aber Hans meinte, ihre medizinischen Kenntnisse
und ihre Zuverlässigkeit seien unterschiedlich. Wir behielten in
Aileu keine Patienten über Nacht, da wir dafür gar keine
Räumlichkeiten hatten, und so wurden die schweren Fälle von den
Bombeiros, einem kombinierten Feuerwehr- und Ambulanzdienst, ins
Rot-Kreuz-Krankenhaus in Dili gebracht, sofern das Sanitätsfahrzeug
einsatzfähig war. Seinem Ton entnahm ich, dass dies nicht oft der
Fall war.
Am nächsten Tag zeigte Hans mir die Klinik, die
nichts weiter als ein verfallenes, mit einem Vorhängeschloss
provisorisch gesichertes Gebäude mit zugenagelten Fenstern war.
»Doctora Fong, Doctora Fong«, stellte Hans mich immer wieder bei
unserer Tour durch die Klinik vor. Ich dachte, er habe meinen Namen
falsch verstanden, weil Fong weder Colette noch Livermore ähnelte.
Aber dann wurde mir klar, dass foun das Tetunwort für »neu«
war.
Die Klinik verfügte über Medizinschränke mit
einigen grundlegenden Verbänden, Spritzen, Infusionen und Nadeln
sowie Medikamenten und über ein paar alte Betten, aber es gab weder
Laken noch Kissen, keine Stühle, Tische oder Regale. Es fehlte
selbst an einfachster Ausstattung - keine Maßbänder oder Waagen, um
die Babys zu wiegen.
Ich konnte weder einen Mopp noch einen Eimer finden, und ohne
fließendes Wasser waren auch die Hygienestandards schlecht; überall
lagen schmutzige Instrumente herum. Zwei robust wirkende
Krankenschwestern der Klinik, Americo und Rogerio, begrüßten mich
herzlich, waren aber im Umgang mit Dr. Hans sehr angespannt.
»Woher kommen Sie, Doctora?«
»Aus Australien.«
»Das ist sehr gut. Sie lange hier?«
»Ich weiß nicht. Ein paar Jahre, hoffe ich.«
»Jahre? Gut, gut, besser als ein Monat. Ärzte gehen
weg sehr schnell.« Das stimmte mich ein wenig ängstlich, und ich
fragte mich, was wohl der Grund für diese Fluktuation sein
mochte.
Meinen ersten Samstagsdienst in der Klinik machte
ich allein, ohne Krankenschwestern, und ich hatte Mühe mit der
Sprache, da Hans übers Wochenende nach Dili gefahren war. Es war
immer unklar, ob die Schwestern samstags arbeiteten, was zu einem
ständigen Konflikt mit Hans führte.
Da die Klinik so schlecht ausgestattet war, war ich
froh, dass ich mich gegen den Flughafenbeamten durchgesetzt und
meine Arzttasche mit in die Transportmaschine genommen hatte,
obwohl mein Gepäcklimit bereits überschritten war. Ich hatte mich
mit dem UN-Protokoll für die Behandlung von verschiedenen
Infektionskrankheiten gewappnet, insbesondere Malaria. Ein kleines
Mädchen, das an diesem ersten Samstag kam, war etwa vier Jahre alt,
wog aber weniger als ein australisches Einjähriges und war aufgrund
der wiederholten Ausbrüche der Krankheit hochgradig
anämisch. In der Gruppe der wartenden Patienten erspähte ich das
vertraute gelbe T-Shirt der Clyde Fenton School in Katherine. Ein
kleiner Kerl mit Gastroenteritis trug es wie ein Kleid, denn es
reichte ihm bis über die Knie. Dies war wenigstens ein Beweis
dafür, dass einige der Dinge, die wir gesammelt hatten, die
Menschen erreichten.
Am Abend verlor ein Junge mit zerebraler Malaria
das Bewusstsein. Ich behandelte seine Anfälle und brach dann zum
ersten Mal mit ihm zusammen im Ambulanzjeep der Bombeiros auf. Es
war eine fürchterliche Fahrt, und ich dachte, er würde unterwegs
sterben. Doch wir brachten ihn lebend ins Krankenhaus, und wie ich
hörte, hat er auch überlebt.
Kurz nach meiner Ankunft brach Dr. Hans zu einem
»Urlaub« auf. Eine Weile hielt ich mich zurück, etwas Neues
einzuführen, da er hier das Sagen hatte und ich ihn jederzeit
zurückerwartete. Die Wochen dehnten sich zu Monaten, aber er kam
nie zurück. Ich hörte, dass er für Shell arbeitete, bekam aber nie
Gewissheit. Americo und Rogerio waren sehr engagierte
Krankenschwestern, die während der Okkupation ihr Leben riskiert
hatten, indem sie sich um die Leute kümmerten und ihnen eine
medizinische Grundversorgung zuteilwerden ließen.
In Aileu hatte ich an vier Tagen in der Woche
Ambulanz und fuhr dann mit dem mobilen Gesundheitsdienst zwei Mal
die Woche in die umliegenden Dörfer. Nach etwa einem Monat wurde
das Krankenhaus wieder eröffnet, aber Wasser und Strom gab es nur
mit Unterbrechungen, und wir hatten noch immer viel zu wenig Betten
und Mobiliar. Mithilfe der Krankenschwestern untersuchte ich etwa
hundert Menschen am Tag. Wenn wir mit dem mobilen
Gesundheitsdienst unterwegs waren, blieb ein Teil des Personals im
Krankenhaus von Aileu. Im Wesentlichen behandelten wir Bronchitis,
Wunden, Parasiten, Malaria, Gastroenteritis und Tuberkulose. Ich
war viel mit Schwangerschaftsberatung und Entbindungen beschäftigt
und führte Listen der Patienten mit Erkrankungen der Augen, des
Herzens, mit orthopädischen oder Zahnproblemen oder
HNO-Erkrankungen, damit wir, wenn die Teams der Gastärzte,
Zahnärzte oder anderen medizinischen Fachkräfte von Australien
herüberkamen, wussten, welche Patienten kontaktiert werden
mussten.
Am 8. Juli 2000 erhielt ich einen Brief von Bruder
Andrew als Antwort auf einen von mir, den ich ein paar Wochen nach
meinem Eintreffen in Osttimor an ihn geschrieben hatte.
Typischerweise erwähnte er seine Krankheit nicht, sondern schrieb,
mein Brief habe ihn an die schrecklichen Zustände in Kambodscha
erinnert.
Drei Monate später starb Andrew, am Festtag des
heiligen Franz von Assisi 2000, in Melbourne. Ich mochte Andrew. Er
war kein Heiliger, aber er war ein Mann, der sein Bestes tat, aber
manchmal gegen den Fels der Kirche prallte oder über seine eigenen
luftigen Ideale stolperte. Ich vermisste ihn und war sehr traurig,
dass er am Ende ein Dasein am Rande führte. Aber dies war genau der
Ort, wo er hatte sein wollen - in Gesellschaft der Armen und der
Verlorenen.
Wie der größte Teil von Osttimor war auch Aileu
gebirgig, und die Straßen waren gefährlich, vor allem nach heftigen
Regenfällen. Unser mit Medikamenten und Verbandszeug
beladener Allradwagen brach zwei Mal in der Woche zu den diversen
Ambulanzstationen und Dörfern auf, wo uns oft schon Hunderte von
Menschen erwarteten, von denen aber nicht alle ernsthaft krank
waren. Eine Sprechstunde war zu einem so seltenen Ereignis
geworden, dass die Dörfer sie einfach aufsuchen wollten, um sich
für den Fall, dass sie in Zukunft krank würden, mit Medizin zu
versorgen. Ich begann dann immer in meinem rudimentären Tetun mit
dem Satz: »Ita boot moras saida? - Was fehlt Ihnen?«
Einige Leute hatten alle nur denkbaren Symptome -
Kopfschmerzen, Fieber, Rückenschmerzen, wunde Beine, also stellte
ich meine Fragen auf andere Weise, um zu erfahren, was das akute
Problem war. Gastroenteritis, Lungenentzündung, Hautkrankheiten und
Malaria waren die häufigsten Krankheiten neben unterernährten
Kindern und Menschen mit Tuberkuloseverdacht. Sehr oft nahmen wir
die Schwerkranken mit, um sie in der Stadt zu behandeln oder nach
Dili zu schicken. Es kam auch vor, dass Leute am Straßenrand
standen und uns für eine Diagnose auf der Straße heranwinkten. Wenn
sie wussten, dass wir in der Gegend waren, holten sie mich auch zu
Geburten. Manchmal kamen wir an Häusern vorbei, vor denen eine
weiße oder eine schwarze Fahne am Straßenrand aufgestellt waren, um
uns darauf aufmerksam zu machen, dass hier jemand gestorben war.
Wenn wir das Haus kannten, gingen wir hinein, um zu kondolieren.
Eine weiße Fahne signalisierte, dass ein Kind gestorben war, eine
schwarze stand für einen Erwachsenen.
Schwestern des Maryknoll-Missionsordens - Dorothy,
Nora, Susan und Teresa - wohnten in einem Teil des
Hauses des Gemeindepriesters, nachdem die Milizen ihr Kloster und
ihre Klinik niedergebrannt hatten. In der geschwärzten Schale ihres
früheren Wohn- und Arbeitsplatzes verkündete eine abgebrochene
Plakette an der dachlosen Wand in Tetun: »Wir bedanken uns bei
Misereor, die uns halfen, dieses Gebäude zu errichten.« Erst
kurz vor der Zerstörung 1999 hatten sie dank der gesammelten
Spenden vieler Menschen eine Klinik bauen können, doch nur um
zusehen zu müssen, wie die willkürlichen Aktionen einiger weniger
sie zerstörten. Verkohlte Nähmaschinen und Maßvorrichtungen lagen
über den Boden verstreut.
Die Schwestern wurden meine Freundinnen und luden
mich manchmal in ihr Haus zu einer Pasta, zu Fleischkäse und bei
besonderen Anlässen zu gebratenem Hühnchen ein. Das war eine
angenehme Abwechslung zu meiner täglichen Ration Eier, Gemüse und
Thunfisch, den Dingen, die man auf dem örtlichen Markt bekam. Wenn
ein Kind gestorben war oder ich einen schlimmen Tag in der Klinik
hinter mir hatte, weil die Krankenschwestern nicht erschienen
waren, ging ich zum Haus der Schwestern.
1999, während des Wütens der Milizen, hatte man sie
schon für tot erklärt, und ich glaube sogar, dass man in Bandong,
ihrem Einsatzort in Indonesien, eine Messe für sie gelesen hat. Sie
waren zwar dem Tod sehr nahe gewesen und hatten auf ihrer Flucht
nach Dili auf der von den Milizen kontrollierten Straße einige
bedrohliche Begegnungen gehabt, aber sie überlebten und blieben ein
paar Monate als Flüchtlinge in Darwin, wo sie bei den Schwestern
von Our Lady of the Sacred Heart untergekommen waren.
Im September 2000 gedachte Osttimor derer, die ein
Jahr zuvor umgekommen waren. Kleine Steinhaufen, geschmückt mit
roten Bougainvilleen, markierten die Orte auf der Straße, wo jemand
einen Toten zu beklagen hatte. Nachts leuchteten Hunderte von
Kerzen auf den Gehwegen. Um diese Zeit luden die Schwestern mich
ein, mit ihnen nach Suai zu fahren, in den Südwesten von Osttimor.
Ich nahm mir für ein paar Tage frei und brach mit ihnen zu der
langen Reise über die Berge und über die fache trockene Küstenebene
im Süden auf. Bischof Belo leitete eine Zeremonie zur Erinnerung an
die dortigen Massaker. Die Milizen hatten viele Menschen getötet,
darunter auch drei Priester, und sie in der Kirche verbrannt. Zu
meiner großen Überraschung traf ich Teresa Osland wieder, die mit
mir in Beswick nach der Überschwemmung von Katherine
zusammengearbeitet hatte und nun für Oxfam als Entwicklungshelferin
arbeitete. Da unsere geplante Unterkunft sich als Schlag ins Wasser
erwies, landeten wir bei ihr im Haus.
Vor der Kirche in Suai lag ein Kreis aus Steinen,
von denen jeder einen Namen und manchmal auch ein Foto eines der
etwa hundertsiebzig Menschen trug, die zu Tode geprügelt oder
verbrannt worden waren. Die trauernden Familien beteten die ganze
Nacht hindurch und brachten Blumenkränze und tais an den
Altar, mit denen man die Toten umhüllt hätte, wenn ihnen eine
angemessene Bestattung zugebilligt worden wäre. Die Verwandten
klagten und beteten um den Steinkreis, der von Hunderten von Kerzen
erstrahlte. Am nächsten Tag nahmen Tausende an der Totenmesse teil.
Sargträger trugen ein tabernakelartiges Gebilde mit den Namen der
Toten in einer Prozession
von der Kirche, wo sie gestorben waren, hinaus zum Altar im
Freien.
Zwei Tage später kehrte ich in die Klinik zurück
und bekam großartige Hilfe von Sara, einer jungen
Highschool-Absolventin, die meine Dolmetscherin und Tetun-Lehrerin
wurde. Sie wohnte bei mir und half mir, die Kultur zu verstehen.
»Wie war das letzten September in Dili?«, fragte ich sie.
»Es war wirklich entsetzlich«, erwiderte sie.
»Überall brannte es. Keiner lächelte. Überall Rauch, Gewehrfeuer,
Explosionen und Schreie. Wir konnten nicht schlafen. Die Leute
rannten wild durcheinander. Eltern und Kinder wurden voneinander
getrennt. Ich schlief bei meinen Freunden unter dem Bett im Haus
der Christlichen Brüder. Die Milizen bedrohten die Leute mit Waffen
und drangen gewaltsam in Häuser ein. Einige von ihnen waren vom
indonesischen Militär, andere hatten die indonesische Flagge um
ihren Kopf geschlungen. Ich sah die Milizen hinter meinem Haus. Sie
schlugen an die Türen meiner Nachbarn, warfen mit Kerosinbomben,
trennten die Stromleitungen durch und benutzten Granaten, um die
Häuser zu zerstören. Ich verlor jegliche Hoffnung. Die Militärs
suchten nach meinem Vater, um ihn umzubringen, weil er für die
Unabhängigkeit war. Wir befanden uns in einer sehr gefährlichen
Situation und fühlten uns dem Tode nah.«
Sara gehörte zu einer Gruppe, die zusammen mit
Bruder Dan aus Australien und Vater Peter aus Indien nach Westtimor
geflohen war. Dreiundzwanzig Menschen hatten sich in ein
Allradfahrzeug gequetscht und den Milizen und den Straßensperren
der Militärs getrotzt.
»Wir saßen sehr beengt in dem Wagen, und als wir
nach drei Uhr morgens in Kupang ankamen, waren meine Beine taub,
und ich konnte kaum mehr laufen«, erläuterte sie. »Unsere Rückkehr
nach Osttimor fand unter großen Schwierigkeiten statt. Tausende
Menschen waren dort. Es ging zu wie auf einem Markt. Wir mussten
drängeln, um die Papiere zu bekommen. Wir warteten ohne Wasser in
der Sonne. Bruder Dan hatte mir Geld gegeben, das ich sehr
umsichtig für Essen und Wasser ausgab. Die Menschen verrichteten
ihre Notdurft, wo sie gerade waren, und wir konnten nicht schlafen.
Wir gingen nachts auf die Toilette. - Es war einfach nur
schrecklich. Viele Menschen starben. Ich war traurig und weinte die
ganze Zeit.«
Sara wurde in der Nähe von bewaffneten Soldaten
jedes Mal sehr nervös und hatte Probleme beim Passieren der
Kontrollpunkte. Zwei ihrer Verwandten in Dili waren umgekommen, und
ihr Großvater war heftig geschlagen worden. »Wie geht es dir
jetzt?«, fragte ich.
»Mir geht es gut. Manchmal bekomme ich noch Angst,
vor allem wenn ich die Gesichter der Falintil und die Waffen sehe.
In Aileu versuche ich, mich langsam an die Waffen zu gewöhnen. Aus
Erfahrung weiß ich, was Leiden bedeutet, und ich denke jetzt mehr
über mein Leben und meine Situation nach. Auch wenn es eine
schmerzliche Erfahrung war, denke ich, dass ich doch auch viel
daraus gelernt habe. Ich bin ernsthafter geworden. Ich weiß, wie
Menschen sich fühlen, die keine Eltern mehr haben und um Essen und
Kleidung betteln müssen. Wenn andere Menschen leiden, kann ich das
nachempfinden. Davor bin ich ganz behütet
aufgewachsen. Alles war in Ordnung. Wenn ich was essen wollte, war
immer Reis da.«
Sara und ich arbeiteten gut zusammen, und ich
befreundete mich mit ihrem Onkel, ihrer Tante und ihrer Familie,
die in Asirimou lebten, einem Nachbarort von Aileu neben der
Highschool, wo ihnen ein kleiner Laden am Markt gehörte.
Wenn ich etwa zwanzig Minuten den Berg hinauffuhr,
sodass man einen Blick auf Dili hatte, bekam ich ein Funksignal für
mein australisches Mobiltelefon, ansonsten hatten wir in Aileu
keine Telefonverbindung außer den Satellitentelefonen der UN. Zu
dieser Zeit versorgte Telstra Osttimor noch mit Telefondiensten. Es
war bizarr. Ich hockte am Berg mit Blick auf Dili, manchmal bei
strömendem Regen, umgeben von neugierigen Dorfkindern und
strohgedeckten Hütten, und versuchte, ein Flugticket zu bestellen
oder etwas mit einer australischen Behörde zu regeln. Einmal musste
ich so lange warten, bis meine Batterie leer war, und so blieb mir
nichts anderes übrig, als den Berg wieder hinunterzufahren, darauf
zu warten, dass wir Strom hatten, die Batterie aufzuladen und am
nächsten Tag einen neuen Versuch zu starten.
Ich hatte beschlossen, meinen Vertrag mit OIKOS
nicht zu verlängern, da sich die Organisation bald aus Aileu
zurückziehen wollte. Sara, meine Freundin und Übersetzerin, hatte
ein Stipendium für ein Lehramtsstudium an der University of
Newcastle bewilligt bekommen und würde bald nach Australien gehen.
Die Maryknoll-Schwestern meinten, sie würden sich freuen, wenn ich
mit ihnen in der Klinik Uma Ita Nian arbeiten würde, also
wandte ich mich
an PALMS, eine australische Freiwilligenorganisation mit
Verbindungen zur katholischen Kirche, um zu sehen, ob sie mich
unterstützen würden. Sie willigten ein, und ich kehrte nach
Australien zurück, um Weihnachten mit meiner Familie zu feiern und
im Januar 2001 an einem Orientierungskurs von PALMS
teilzunehmen.
Der Vortragende, der über die Probleme der
Aborigines sprach, schien keine Ahnung von deren Lebenswirklichkeit
zu haben und vermittelte uns nur Plattitüden. Ein anderer Redner
warnte davor, andere Kulturen »retten« oder ihnen »westliche
Konzepte« überstülpen zu wollen. In Osttimor hatte ich Mühe gehabt,
genügend Helfer zu bekommen. Würde man hier auf »westliche Konzepte
der Verlässlichkeit von Zeitangabe und Arbeit« verzichten, hieße
dies, dass Leute, die weite Entfernungen zurückgelegt hatten,
vergebens auf das Eintreffen der mobilen Ambulanz warten könnten.
Wenn die Mitarbeiter nicht kamen, gab es keine Ambulanz - und die
Menschen starben an behandelbaren Krankheiten.
Das Nebeneinander von Reichtum und schwerer Armut
hatte dazu geführt, dass sich unter den Timorern Enttäuschung
breitmachte, verbunden mit dem Gefühl, verraten worden zu sein. Die
Haltung gegenüber den malaes oder Ausländern veränderte sich
während meines Aufenthalts, weil die gewöhnlichen Leute das Gefühl
hatten, Außenstehende machten jede Menge Geld bei der UN, während
die Timorern leer ausgingen. Das Wort malae klang bald schon
wie ein Schimpfwort. Mutter Teresa war klug gewesen, von uns zu
verlangen, dass wir arm unter Armen waren und so dicht wie möglich
an den Menschen lebten. Die hoch bezahlten
UN-Angestellten standen im Ruf, ineffizient und verschwenderisch
zu sein.
Ich hatte meinen Pick-up, bepackt mit Büchern,
einem Fahrrad und Küchenutensilien, mit dem Frachtkahn von Darwin
nach Osttimor geschickt. Ich würde im Wohnbereich der Lehrer
unterkommen, den die Schwestern wiederaufgebaut hatten: zwei aus
Zement gebaute Doppelhaushälften mit einem Vorderzimmer, zwei
Schlafzimmern und einer kleinen Küche. Mein Haus verfügte wie alle
anderen über einen Tank im Badezimmer für das Wasser, das im
gesamten Haushalt benötigt wurde, und eine Toilette. Die
Wasserversorgung war dennoch schwierig.
Meine Jahre als MN hatten mich zu einer Expertin
darin gemacht, sparsam mit Wasser umzugehen. In Dili kaufte ich mir
einen Gaskocher, und Männer aus der Schreinerei der Schwestern
bauten mir ein Bett und Schränke, sodass ich gut ausgestattet
war.
Als ich bei den Schwestern zu arbeiten begann, war
die Klinik noch immer provisorisch in einem beschädigten
Schulgebäude untergebracht. Nach und nach nahmen wir die
verschiedenen Tätigkeitsbereiche der Klinik wieder auf, die vor
1999 erfolgreich gearbeitet hatte. Mit dem Personal kam man gut
zurecht, und es war sehr motiviert, sodass ich die Arbeit viel
leichter fand als im Jahr zuvor. Wir hatten es mit allen gängigen
Erkrankungen zu tun - Brust-und Hautinfektionen, TB, Malaria,
Knochenbrüche und Schnittwunden -, unterhielten außerdem eine
Sprechstunde für Schwangere, gaben an Frauen
Nahrungsergänzungsmittel aus, nahmen Immunisierungen vor und
verteilten Utensilien für eine sichere Geburt. Die Klinik der
Schwestern
kümmerte sich um sämtliche Tuberkulosepatienten der Gegend und
gehörte einem Programm für ganz Osttimor an, das von der
katholischen Hilfsorganisation Caritas finanziert wurde. Die
Schwestern hatten ein System entwickelt, das die sechs- bis
achtmonatige Tuberkulosebehandlung in den Dörfern überwachte. Ohne
diese Freiwilligen, welche die Einnahme der Medikamente
kontrollierten, wären alle Patienten gezwungen gewesen, in Aileu zu
wohnen, da eine Unterbrechung der Einnahme von TB-Medikamenten eine
resistente, nicht mehr behandelbare TB zur Folge hat.
Oftmals wurde ich von Leuten in der Nacht oder an
Wochenenden gerufen. Die Klinik von OIKOS war vom staatlichen
Gesundheitsdienst übernommen worden und nach einiger Zeit mit einem
kenianischen und dann mit einem brasilianischen Arzt besetzt
worden, aber es war nicht möglich, sich den Notdienst zu teilen,
und die Ärzte waren an den Wochenenden oft gar nicht da.
Eines Nachts saß ich mit Rosa, die in einem
kritischen Zustand war, im Fond eines Kleintransporters und fuhr
auf dem schnellsten Weg nach Dili. Ihr Ungeborenes war tot und saß
in ihr fest. Ich hatte sie an den Tropf gehängt, weil sie unter
Schock stand, niedrigen Blutdruck hatte und kein Wasser lassen
konnte. Ihr Ehemann Clementino erbrach sich seitlich aus dem
Laster. Ich hatte sie mit einer Plane zugedeckt, aber es war
dennoch bitterkalt. Ich blickte hoch zum majestätischen
Sternenzelt, wo das Kreuz des Südens so strahlend leuchtete wie im
Outback. Bist du dort?, fragte ich mich. Kümmert dich
unser verzweifelter Kampf ums Überleben? Rosa wurde
wiederbelebt und mit einem Kaiserschnitt
von ihrem toten Baby entbunden. Sie bekam später ein gesundes
Baby.
Am späten Morgen des 12. September kam Schwester
Dorothy, eine New Yorkerin, mit ihrem Radio zur Klinik. Ihr Gesicht
spiegelte traurige Bestürzung. Wir hatten nach der morgendlichen
Visite und Essensverteilung gerade sauber gemacht und versammelten
uns um sie und ihr knackendes Radio, um zu erfahren, dass Flugzeuge
ins World Trade Center und das Pentagon gefogen waren, es viele
Tote gab, aber keiner wusste genau, warum. Schwester Dorothys
Bruder war gerade erst als Hauptmann der New Yorker Feuerwehr in
den Ruhestand getreten, und sie wusste, dass einige seiner Männer
umgekommen waren. Die Nachrichten versetzten die Schwestern,
darunter drei Amerikanerinnen, in tiefe Trauer, die auch von uns
anderen geteilt wurde.
Wenige Tage später erhielt ich durch die UN die
Nachricht, zu Hause anzurufen. Ich fuhr hinauf zum »Telefonhügel«
und rief Mama an. Mein Onkel Toby war überraschend in Singapur
gestorben, und meine Familie hatte versucht, mich zu erreichen.
Mama war verzweifelt, denn Toby war der jüngste und kräftigste
unter den vier Geschwistern und war uns sehr nahe. Es war jedoch
unmöglich, einen Flug nach Hause zu bekommen. »Ich verstehe ja,
dass du wahrscheinlich nicht kommen kannst, aber wenn doch …«, bat
sie. Ich wollte nur allzu gern bei ihr sein, denn als Großmama
starb, war ich auch nicht bei ihr gewesen.
»Ich werde versuchen zu kommen, Mama, aber ich weiß
noch nicht, wie.«
Ich fuhr nach Dili, hielt meinen Reisepass bereit
und hoffte auf den ersten möglichen Flug nach Darwin, aber von dort
gab es keine Anschlussfüge nach Sydney. Schließlich bekam ich einen
Platz von Dili nach Denpasar und dann nach Sydney, aber ich hatte
zu wenig Geld dabei. Der Inhaber des Reisebüros, der die Schwestern
kannte, vertraute mir jedoch, und ich konnte fliegen.
In Sydney stellten sich die Beamten der
Einwanderungsbehörde quer, indem sie meinen Pass einzogen, weil
dieser in Katherine während der Überschwemmung leicht beschädigt
worden und die Fotoseite leicht gebogen war. Bei meiner Abreise
Anfang des Jahres hatte niemand was zu beanstanden gehabt, aber
jetzt galten erhöhte Sicherheitsmaßnahmen. Ohne Schlaf und voller
Anspannung schaffte ich es, eine Stunde vor dem Begräbnis zu Hause
zu sein, das in der Mary Immaculate Church in Waverley stattfand,
wo Mama geheiratet hatte und Toby geweiht worden war.
Rod holte mich vom Flughafen ab, und wir fuhren
direkt zur Kirche. Ich umarmte Mama, die viel verletzlicher wirkte
als jemals zuvor. Paul hielt zusammen mit einigen anderen
Franziskanerpriestern die Messe, und Judys kleine Mädchen führten
die Kollekte durch. Nach dem Begräbnis blieb ich bei Mama in deren
Wohnung in einer Seniorenwohnanlage und unternahm mehrere Fahrten
nach Sydney, bis ich einen neuen Pass bekam. Zum ersten Mal sah ich
die Filmaufnahmen vom 11. September, die alle erschüttert hatten.
Es kam mir unwirklich und unglaublich vor. Ich kaufte die Magazine
Time und Newsweek und sammelte alle anderen
Zeitungsausschnitte, die ich bekommen konnte, um sie den Schwestern
mitzubringen.
Mama hätte gern gehabt, dass ich bis Weihnachten
bei ihr blieb, weil sie Toby, der sie um diese Zeit immer besucht
hatte, dann besonders vermissen würde, aber ich war entschlossen
zurückzukehren. Zudem schien sie wohlauf und mit ihrer Töpferei und
Malerei, den Enkelkindern und einem großen Freundeskreis gut
beschäftigt zu sein.
Zurück in Osttimor erwartete mich eine
Dürreperiode.
In der zweiten Hälfte des Jahres 2001 waren wir aus
unserer ausgebrannten Schule in die neu aufgebaute Klinik
umgezogen. Die Eröffnungszeremonie fand am 13. Oktober 2001 statt,
und Bischof Belo kam, um sie zu segnen, ebenso die Vertreter der
Caritas Norwegens und der Caritas Neuseelands, die Hauptsponsoren
der Klinik. Das Personal begrüßte die Würdenträger herzlich,
Schulkinder tanzten in traditionellen Kostümen mit Schwertern,
Gongs und Trommeln, und ein kleines Mädchen rezitierte feierlich
die Geschichte, wie die Schwestern - nur Frauen, allein, alt, mit
weißen Haaren - tapfer nach der Zerstörung von 1999 zurückgekehrt
seien, um ihre Klinik und ihr Haus wieder aufzubauen. Trotz aller
Not hatten die Schwestern, ein lebhaftes und mutiges Trüppchen, in
Osttimor durchgehalten.
Später im Jahr schickten mir meine Freundin
Schwester Pat und eine Schwester vom Orden Our Lady of the Sacred
Heart, die in Katherine arbeitete, zwei voneinander unabhängige
Artikel von Albert Huart und J. Neuner aus der Review for
Religious. Die Autoren, beides Jesuitenpriester, die Mutter
spirituell gelenkt hatten, berichteten von privaten Briefen zur
Gewissenserforschung, die Mutter Teresa in den Fünfziger- und
Sechzigerjahren geschrieben hatte, und
in denen sie ihr Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenseins und
ihres Kampfes gegen die Zweifel an der Existenz Gottes zum Ausdruck
brachte. Mutter hatte darum gebeten, ihre Briefe zu verbrennen, was
auch mit vielen geschehen war, aber einige hatten überdauert. Sie
schrieb: »Wenn ich versuche, meine Gedanken zum Himmel zu erheben,
ist dort eine so überzeugende Leere … Man sagt mir, Gott liebt mich
- aber die Wirklichkeit besteht aus Dunkelheit und Kälte …« Ich
empfand ein seltsames Hochgefühl, als ich diese Artikel las.
Sie hatte immer so sicher gewirkt, ja sogar
dogmatisch, wenn sie mit mir sprach, und nie einen Zweifel
zugegeben, aber diese Artikel offenbarten, dass Mutter »Dunkelheit,
Kälte und Einsamkeit« erfahren hatte. Indem sie sich von aller
menschlichen Liebe losgelöst hat, hatte sie versucht, sich mit
ihrem ganzen Sein jeder Situation hinzugeben. Diese Anstrengungen
hatten in ihr das Gefühl einer schrecklichen Leere und der
Abwesenheit Gottes zurückgelassen, das sie, wie sie fürchtete, aus
dem Gleichgewicht bringen würde. »Ihre Fröhlichkeit war ein
Deckmantel für ihre Leere und ihr Elend.« Sie trug eine tiefe
Einsamkeit in sich, und es bekümmerte sie, wenn Menschen ihr
sagten, sie fühlten sich angesichts ihres »starken Glaubens« Gott
nah. Sie fragte sich, ob sie womöglich die »Menschen täusche«. Sie
hätte ihnen gern »die Wahrheit gesagt - dass ich keinen Glauben
habe«, schwieg aber. Sie hatte das Gefühl, Jesus lasse sie allein
durchs Dunkel gehen.
1959 schrieb Mutter Vater Picachy, ihrem
Beichtvater, dem späteren Kardinal von Kalkutta, von ihrem Kampf.
Sie habe »so viele unbeantwortete Fragen«, jedoch »Angst,
diese aufzudecken - wegen der Blasphemie«. Sie betete: »Wenn es
einen Gott gibt, möge er mir bitte verzeihen.«
Mutter starb als gläubige Frau. Sie hatte Angst,
Gott könnte nicht existieren, in der Praxis jedoch schaltete sie
diesen Gedanken aus, beichtete und tat Buße, um sich von diesen
verstörenden Ideen zu befreien. Mutter Teresa musste eine
Gläubige bleiben, dazu gab es keine Alternative. Der Glaube an Gott
und das Bekenntnis zur katholischen Kirche waren die Essenz ihres
Seins und ihrer Arbeit. Ihr geistiger Führer gab ihr die Schriften
des Mystikers Johannes vom Kreuz zu lesen, und Mutter fand sich
damit ab, dass dieses Gefühl des Verlassenseins Teil eines
reinigenden, spirituellen Prozesses war, um ihr Ego abstreifen zu
können. Ich hatte diese Werke 1981 während meiner Zeit in Kalkutta
gelesen und mir daraus einzelne Abschnitte abgeschrieben.
»Um Freude an allem zu erreichen, begehre, Freude
zu haben an nichts! Um alles zu besitzen, begehre, nichts zu
besitzen! Um alles zu sein, begehre, nichts zu sein! Um alles zu
wissen, begehre, nichts zu wissen!« Der Schlachtruf des heiligen
Johannes vom Kreuz war nada, nichts, und das war es, was
Mutter in sich fand.
Einen ähnlichen Kampf durchlitt die junge Theresa
von Lisieux, Mutter Teresas Namenspatronin, vor ihrem frühen Tod an
Tuberkulose. Beide Frauen führten Gottes Abwesenheit nicht auf
natürliches Zweifeln zurück, sondern auf jene »dunkle Nacht der
Seele«, während der der Leidende lernen muss, Gott nicht seiner
Tröstung oder einer versprochenen Belohnung wegen zu lieben,
sondern um seiner selbst willen. Als ich diese Artikel las,
entstand in mir das
Bild von Mutter als einer überreizten, angespannten und gequälten
Person, wie das Konzentrat aus einem psychologischen
Dampfdrucktopf. Ein wenig menschlicher Trost und Entspannung hätten
womöglich geholfen, aber sie erlaubte sich niemals eine
Ruhepause.
In Osttimor wuchs meine Distanz zur katholischen
Kirche. Eine Statue der Heiligen Muttergottes von Fatima wurde als
Werbung für die Unabhängigkeit durchs Land geflogen, aber eine
solche Transportmöglichkeit wäre niemals für eine Frau auf die
Beine gestellt worden, die in einem abgelegenen Dorf im Kindbett zu
sterben drohte. Ich hörte, wie ein wohlhabender timorischer Bischof
seine Gemeinde während einer Predigt dafür rügte, dass die heilige
Kommunion aus Plastikgefäßen und nicht aus Kelch und Ziborium
verteilt wurde. Er fand, Jesus, der sich entäußerte, um ein armer
Mensch zu werden, müsse in Gold gefasst werden. Doch die
wöchentliche Kollekte seiner verarmten Gemeinde brachte nie mehr
als zehn Dollar ein. Vielleicht hätte der Bischof einen Kelch
stiften sollen, da das Volk sich ganz gewiss keinen leisten konnte.
Der heilige Johannes Chrysostomus lehrte: »Er, der sagte: ›Dies ist
mein Leib‹, sagte: ›Ihr saht mich hungrig und gabt mir nichts zu
essen.‹ Ehrt ihn, indem ihr euren Besitz mit den Armen teilt, denn
was Gott braucht, sind nicht goldene Kelche, sondern goldene
Seelen.«
Ein Gemeindepriester hielt eine Predigt über die
»Frau als Versucherin« und machte den Frauen Vorwürfe, die, wie er
sagte, ihre Körper benutzten, um die Männer auf Abwege zu bringen.
Er setzte keinen Kontrapunkt, erwähnte nicht das gewalttätige oder
raubtierhafte männliche Verhalten.
Eine Woche zuvor hatte ich ein vierzehnjähriges Mädchen behandelt,
das von sechs Männern vergewaltigt worden war, zwei davon seine
Verwandten. Dann kam ein Edikt der Kirche in Dili, wonach
ausländische Ärzte den katholischen Glauben des Landes respektieren
und keine Verhütungsmittel verschreiben sollten. Ich hatte erst
kürzlich eine junge Frau behandelt, von der ich glaubte, sie werde
vor meinen Augen verbluten. Ich mühte mich verzweifelt, die Blutung
zu stillen, und sie überlebte, aber als alles vorbei war, fühlte
ich mich körperlich elend. Die zwischen den »ehelichen Rechten«
ihres Ehemanns und den Gefahren einer isolierten, oft nicht
begleiteten Geburt gefangenen Frauen brauchten andere
Lösungen.
Ich bewunderte die Arbeit und die Haltung der
Schwestern des Maryknoll-Ordens, konnte mich selbst aber nicht mehr
als Katholikin bezeichnen, obwohl ich noch immer in den Evangelien
las, die mir Inspiration und Führung vermittelten. Ich ging nicht
mehr zur Messe, dachte aber auf jede mir mögliche Weise an
Gott.
Nach zweijähriger Vorbereitungszeit war es an der
Zeit, dass die von der UN geführte Interimregierung die Kontrolle
über Osttimor an den noch vor der Unabhängigkeit gewählten
Präsidenten Xanana Gusmao übergab.
Am 20. Mai 2002 strömten die Menschen der
umliegenden Dörfer in die Stadt, die Männer geschmückt mit
Federkopfputz und silbernen Karibuhörnern, die Frauen in
farbenprächtigen tais. Sie schlugen Gongs und Trommeln und
tanzten und sangen dazu, während sie sich auf das Sportgelände
zubewegten, wo die Feiern zum Unabhängigkeitstag
stattfinden sollten. In Erwartung dieses Anlasses kaufte ich mir
auf dem Markt eine Trommel babadok und nahm bei meinem
Nachbarkind Carlos Unterricht, der mich allerdings für rhythmisch
minderbemittelt hielt. Die Frauenkooperative vor Ort schmückte mich
mit einem tais, mit dem Kopftuch konnte ich mich allerdings
nicht anfreunden. Am Abend des Unabhängigkeitstags - ein
Pfingstsonntag - fand eine besondere Messe statt, die gleichzeitig
in allen Kirchen des überwiegend katholischen Landes abgehalten
wurde. Die zuständigen Behörden in Dili verlangten allerdings, dass
die Messe auf Portugiesisch und nicht im landesüblichen Tetun
gehalten wurde, und so wurde die Feier eine ziemliche Enttäuschung.
Der Priester, der fließend Tetun und Indonesisch sprach, hatte
Schwierigkeiten, das Evangelium auf Portugiesisch zu lesen, und die
Menschen waren ungewöhnlich leblos, weil bis auf einige alte
señoras in der ersten Reihe keiner die Sprache verstand. Am
Ende der Messe segnete der Priester die Fahne und überreichte sie
Donna Maria Pas, der Distriktverwalterin. Ihr liefen Tränen übers
Gesicht, als sie die rot-schwarzgelbe Flagge von Osttimor an
Manaloi, den katuas oder Ältesten, überreichte, damit er sie
bis Mitternacht bewachte, denn erst dann sollte sie gehisst
werden.
»Viva Timor Loro’sae! - Lange lebe
Osttimor!«, verkündete der Priester.
»Viva!«, rief die Gemeinde unter Tränen und
Umarmungen. Es war ein ergreifender Moment der Hoffnung nach
jahrelangem Kampf und Mangel. Auch die Schwestern des
Maryknoll-Ordens waren in Tränen aufgelöst, denn sie hatten die
Menschen schließlich durch die Jahre der
Angst und Einschüchterung begleitet. Schwester Susan, die im Jahr
zuvor einen Schlaganfall erlitten hatte, hatte Mühe, das
Gleichgewicht zu halten, als die Leute sich um sie scharten, um sie
zu umarmen. Unglücklicherweise weilte Schwester Dorothy in den
Vereinigten Staaten und verpasste die nächtliche Feier, die bis in
den Vormittag des nächsten Tages dauerte, als um elf Uhr die
offiziellen Unabhängigkeitsfeiern begannen.
Die portugiesischen Friedenswächter bewirkten ein
kleines Wunder, indem sie es schafften, eine Satellitenschüssel
aufzutreiben, mit deren Hilfe wir auf dem Fußballfeld von Aileu die
Unabhängigkeitsfeier in Tasi Tolu, wörtlich Drei Seen, ein Gebiet
am Stadtrand von Dili, als Direktübertragung sehen konnten. Während
wir die Livesendung aus der Hauptstadt anschauten, erklang in Aileu
der lange tiefe Laut der Karibuhörner, und Trommler verkündeten das
Eintreffen von zweihundert traditionell gekleideten Kriegern aus
dem Ort, die ihre neue Flagge von Timor Loro’sae auf das
Fußballfeld trugen. Die timorische Polizei senkte respektvoll die
UN-Flagge, und um Schlag Mitternacht im Einklang mit den Feiern in
Dili sang die Menge zusammen mit Schulchören die neue Nationalhymne
von Osttimor, während die neue Nationalflagge zum ersten Mal
gehisst wurde. Es war ein sehr emotionaler Augenblick. Die ganze
Nacht hindurch wurde getanzt und gefeiert, während die Krieger um
die Fahnenstange bis zum Morgen Wache hielten und auf diese Weise
ihre mühsam erkämpfte Unabhängigkeit sicherten.
Es dauerte nicht lang, bis die Probleme der
neuesten Nation der Welt sich bemerkbar machten, aber allein um
dieser
Nacht willen schienen sich die langen Jahre des Kampfes gelohnt zu
haben.
Portugiesisch wurde als Staatssprache festgelegt,
obwohl nur eine Minderheit der meist älteren Menschen sie sprach.
Es gab Probleme mit Wasser, Strom, medizinischer Versorgung,
Jugendbanden, die in Dili randalierten, und Auseinandersetzungen
mit Australien über Öl- und Gasrechte. Die Menschen hatten jedoch
das Gefühl, dass es sich ohne Unterdrückung besser leben
ließ.
Ich arbeitete weiterhin in der Klinik, besuchte
Patienten, organisierte Schwangerschaftsbetreuung, half beim
Ernährungsprogramm für die TB-Patienten und unterernährten Kinder,
leistete Geburtshilfe und leitete die abgelegenen Ambulanzkliniken.
Einmal wurde ich mit ärgerlich schwammigen Angaben zu einem Kranken
gerufen, überbracht von einem Jungen auf einem Fahrrad. Ich sollte
nach einem Kind in einem Dorf am Rande von Aileu sehen. Es war
gegen zwei Uhr nachmittags, und ich war gerade auf dem Heimweg zum
Mittagessen. Der Bote wusste den Namen des Kindes nicht und hatte
auch nicht die leiseste Ahnung, worunter es litt, wusste aber, wo
der Junge wohnte. Da es in Strömen regnete, lud ich das Fahrrad auf
meinen Pick-up, und wir fuhren los. Er brachte mich zu einer sehr
düsteren Hütte mit gestampftem Boden in Bandadato. Ein neunjähriger
Junge hatte heftige Schmerzen, und sein Atem ging schnell. Er hatte
kein Fieber, aber sein Leib war geschwollen und angespannt. Die
Diagnose war unklar, aber ich war mir sicher, dass er operiert
werden musste.
Ich sprach mit seinen Eltern und Nachbarn, die sich
in diesem stickigen Raum drängten, und musste schreien,
um mir bei dem prasselnden Regen Gehör zu verschaffen. »Wenn wir
was für ihn tun können, dann muss Flaviano nach Dili.« Weder der
Junge noch der Vater wollten, dass er dort hinkam. Rita, die Frau
des Mannes, hatte bei der Geburt ihres letzten Kindes einen
Schlaganfall erlitten, und sie meinten, sie nicht allein lassen zu
können. Ich schlug vor, dass die Nachbarn und unsere freiwilligen
Hilfskräfte für sie sorgen könnten, während sie weg waren, aber sie
forderten: »Geben Sie dem Jungen eine Medizin.«
»Sie sehen doch, der Junge schreit vor Schmerz«,
versuchte ich, sie zu überzeugen. »Da stimmt was nicht in ihm drin,
in seinem Bauch. Ich habe keine Medizin, die ihm helfen könnte. Es
ist nichts Einfaches wie Malaria.«
»Der Junge möchte nicht nach Dili«, erklärte sein
Vater.
Ich machte ihm klar: »Sie sind der Vater, er wird
gehen, wenn Sie ihn mitnehmen.«
Das Kind schrie und stöhnte unentwegt vor Qual. Ich
hatte kein Narkotikum, und es konnte auch keins eingeführt werden,
aber es war ohnehin besser, ihm keine Injektion zu geben, da man
mich dann beschuldigen könnte, ihn getötet zu haben. Ich spürte,
wie ich angesichts der Ausweglosigkeit der Situation wütend wurde.
Schließlich willigten sie ein, dass er mit mir nach Dili fahren
könne. Es dauerte lang, weil sie dem Jungen frische Kleidung
anziehen wollten. Ich flehte sie an: »Auf die Kleider kommt es doch
nicht an.«
»Wir können nicht in schmutzigen Kleidern nach Dili
fahren«, bestimmte der Vater. Schließlich trug er Flaviano hinaus
und bugsierte ihn auf den Rücksitz meines Autos. Ich war erst drei
oder vier Minuten auf der schlammigen
Straße durch den Platzregen gefahren, als das Stöhnen aufhörte.
Ich hörte sein Todesröcheln. Ich hielt an und drehte mich um. Der
Junge war tot, starrte geradeaus und hatte Schaum vor dem Mund.
Jeder Wiederbelebungsversuch wäre zwecklos gewesen. Wir kehrten um.
Seine geistig etwas zurückgebliebene Schwester rannte fröhlich
hinaus in den Regen und rief lachend: »Flaviano ist zurück. Er war
nicht lang weg.« Sein Vater herrschte sie wütend an:
»Is la iha - er atmet nicht.«
Die Dörfer kamen wehklagend, schreiend und weinend
zusammen. Bei einem Todesfall sangen die Frauen eine Geschichte und
erzählten das Leben des Menschen. Bei diesem Trauergesang klagte
ein Nachbar: »Die Ärztin sagte, es sei nichts, und nun ist er
tot.«
Ich lebte allein in einiger Entfernung vom Haus
der Schwestern. Ständig kamen Leute an meine Tür. Ich hatte viele
Nächte hintereinander nur wenig Schlaf. Eines Donnerstags fuhr ich
nicht wie sonst zu der mobilen Ambulanz, weil ich das Gefühl hatte,
eine Pause nötig zu haben. Ich hatte vor, den Papierkram zu
erledigen, Berichte an die WHO und das World Food Program zu
schreiben, damit unser Ernährungsprojekt weiterlief. Ich redete mit
einem TB-Koordinator, und die Tür zu meinem Haus stand offen. Eine
Gruppe Frauen auf dem Heimweg von der Kirche erspähten mich, und
eine Frau näherte sich der Tür und bat mich, nach ihrer kranken
Mutter zu sehen. »Bitte suchen Sie die staatliche Klinik auf«,
sagte ich. »Wir haben heute geschlossen.«
»Meine Mutter ist zu schwach, um zu laufen.«
»Rufen Sie die Bombeiros. Sie werden sie in die
Klinik fahren.«
»Fila, diet! - Dann gehe ich jetzt nach
Hause.«
Ich war wütend: »Ihre Mutter ist sehr krank, aber
Sie wollen dennoch niemand anderen rufen.« Verärgert begleitete ich
sie. Wir fuhren so weit es ging, dann gingen wir zu Fuß über die
Felder bis zu einer strohgedeckten Hütte. Die schon betagte Mutter
der Frau hatte eine Lungenentzündung. Ich gab ihr Penicillin. Im
Haus gab es einen neunjährigen Jungen mit zerebraler Lähmung und
schweren Zuckungen. Als ich ging, schenkten sie mir zwei Eier und
ein paar Bananen.
Was geschieht hier mit mir?, fragte ich
mich. Ich hatte das Gefühl, ein Anrecht auf einen freien Tag zu
haben, um einem Zusammenbruch vorzubeugen, aber ich hatte an mich
auch den Anspruch, auf die Bedürfnisse dieser Frau einzugehen, ohne
verärgert zu sein. Eine Lösung dieses Problems sah ich nicht. Auch
wenn ich nicht mehr an die Evangelien glaubte, sah ich in ihnen
doch eine Anleitung, wie man sein Leben führen sollte, ein
Destillat menschlicher Weisheit, doch ich begann nun selbst, dies
anzuzweifeln. Ich konnte Mutter Teresas »Leben in vollkommener
Hingabe« oder den Rat der Evangelien, dem zu geben, »der dich
bittet« (Matthäus 5, 42), nicht leben, fragte mich aber, ob
bedingungslose Liebe und Vergebung möglich waren oder ob sie das
Individuum, das diesen Weg zu leben versuchte, vernichteten und zu
einem Fußabstreifer machten.
Ich handelte immer noch nach dem Prinzip der MN,
wonach das Leben mir etwas abverlangte, und ich verfügte auch über
die Kraft und die Fähigkeit dazu. Man hatte
mich gelehrt, »um nichts zu bitten und nichts zu verweigern«, »mit
einem Lächeln zu nehmen, was immer Er gibt, und zu geben, was immer
Er nimmt«. Diese Ratschläge waren im Kontext eines streng
kontrollierten religiösen Lebens erteilt worden. Dabei wurde davon
ausgegangen, dass die Kraft Gottes zur Verfügung stand. Wenn ich
nicht zurechtkam, machte ich etwas falsch. Und obwohl ich meinen
Glauben verloren hatte, handelte ich immer noch unter der
Voraussetzung des Glaubens: »Ich vermag alles durch den, der mich
mächtig macht« (Philipper 4,13).
Der große Hymnus des heiligen Paulus besagt, dass
alles heroische Auftreten und sich selbst auferlegte Handeln
sinnlos sei, sofern es nicht in der höflichen Liebe geschehe, die
»langmütig und freundlich« ist (1.Korinther 13,4). Ich hatte noch
keinen Weg gefunden, der mich vor Überarbeitung bewahrte.
Im Oktober 2002 war Captain Rodney Cocks, ein in
Aileu stationierter australischer Militäroffizier der Vereinten
Nationen, auf Urlaub in Bali. Er hatte gerade Paddys Bar verlassen,
um ein Internetcafé aufzusuchen, als es hinter ihm eine Explosion
gab und sämtliche Lichter ausgingen. Bald darauf gab es eine
zweite, stärkere Explosion. Er rannte zurück in den Sari Club und
suchte in dem dunklen, rauchigen Chaos nach seinen Kameraden, die
er gerade erst verlassen hatte, und traf auf eine junge Balinesin.
Obwohl der größte Teil ihres Körpers verbrannt war, lebte sie noch.
Er blieb bei ihr und konnte auch eine Ambulanz für sie auftreiben,
die sie ins Krankenhaus brachte, wo man um ihr Leben kämpfte. Viele
verkohlte Leichen lagen um ihn herum.
Unter ihnen war einer der portugiesischen Friedenswächter aus
Aileu. Es war unbegreiflich, dass diese Dinge im Namen Gottes
geschehen konnten, aber die Geschichte ist übersät mit ähnlichen
Akten religiöser Gewalt. Nachdem ich davon gehört hatte, dachte
ich: Glauben hat Konsequenzen. Eine Wahrheit ist nicht gleich
der anderen. Es ist besser, sich auf das zu beschränken, was man
wissen und beweisen kann, als schreckliche Fehler in Gottes Namen
zu riskieren.
Ich hatte vorgehabt, 2003 für ein weiteres Jahr in
Osttimor zu arbeiten, aber Judy schrieb mir in einer E-Mail, dass
es Mama schlecht gehe und der Arzt sie darum gebeten habe, ihren
Führerschein abzugeben, weil er davon ausging, dass sie an
Alzheimer erkrankt war. Sie hatte ihre Handtasche verloren,
vergessen, den Herd auszumachen, und konnte sich nicht mehr
erinnern, wie sie von den Geschäften zurück nach Hause kam, ein
Weg, den sie Hunderte Male zurückgelegt hatte.
Bereits einen Monat später brach ich einigermaßen
abrupt auf. Der Abschied von den Schwestern fiel mir schwer, da ich
drei Jahre in Osttimor gewesen war und ich sie als Teil meiner
Familie ansah.
Wieder zurück in Australien, fiel es mir schwer,
mich an das »normale« Leben zu gewöhnen. Es ist so einfach, heiße
Duschen, Kühlschränke, Wasser aus dem Wasserhahn, zuverlässige
Elektrizität, Supermärkte voll frischer Lebensmittel als gegeben
hinzunehmen, aber gleich nach meiner Rückkehr fand ich das alles
wunderbar.
Meine Schwester war mit ihren vier Kindern an die
Central Coast gezogen, und Mama besaß ein Apartment für
Selbstversorger in einer Seniorenwohnanlage in Bateau
Bay, New South Wales. In diesem Komplex gab es zwei Stufen der
Pflege - die Wohneinheiten für die, die noch selbstständig für sich
sorgen konnten, und einen Wohn-/Pflegebereich, wo die Bewohner mit
Mahlzeiten und der jeweils benötigten Pflege versorgt wurden. Wegen
ihres nachlassenden Erinnerungsvermögens fiel es Mama schwer, zu
kochen und einzukaufen, und sie beschloss deshalb, aus ihrem
Apartment aus- und in den Wohn-/Pflegebereich der Seniorenanlage
einzuziehen. Judy und ich halfen ihr beim Umzug, aber es war nicht
leicht, ihr Leben in ein kleines Zimmer hineinzustopfen, sie hatte
so viele Dinge, die durchgesehen werden mussten: Bücher, Fotoalben,
Töpferutensilien, Farben, Kunstbände, ein Spinnrad, Stoff und eine
Nähmaschine. Ich wollte sie auf diesem letzten Teil ihrer
Lebensreise begleiten, wie sie mich auf meiner begleitet hatte.
Mein Auto und alles, was ich besaß, hatte ich in Osttimor gelassen,
und ich musste eine Bleibe finden. Ich fand eine Souterrainwohnung
in Bateau Bay in der Nähe von Mamas Einrichtung, zog für eine paar
Monate dort ein und überlegte, wo ich arbeiten konnte.
In Osttimor hatte ich einiges über christliche
Meditation gelesen, eine stille Form des Gebets, die auf der
Wiederholung eines einzelnen Satzes beruhte, eine Technik, die ich
als MN hilfreich gefunden hatte. Von Timor aus hatte ich mich per
E-Mail für eine Klausur in Ballarat bei dem britischen
Benediktinermönch Lawrence Freeman angemeldet. Da Menschen
verschiedener Glaubensrichtungen daran teilnahmen, dachte ich, dort
vielleicht Antworten zu finden. In der Stille der Klausur jedoch
waren meine Gedanken in Aufruhr.
Während ich mir Lawrences Refexionen zu den
Geschichten der Evangelien anhörte, stellte ich fest, dass sie mir
nicht mehr halfen. Ich glaubte einfach nicht mehr. In unserer Zeit
rufen Seefahrer, wenn sie in einem kleinen Boot in ein schweres
Unwetter geraten, Gott womöglich an, um dann doch zu kentern und zu
ertrinken. Tote kleine Mädchen bleiben tot. In den Evangelien rügte
Jesus uns oft wegen unseres mangelnden Glaubens und unserer Furcht.
Darauf folgte dann immer ein Wunder, um die Glaubenslektion zu
festigen, aber heute geschehen keine Wunder. Immer wieder ging ich
mit mir ins Gericht.
Diese Dinge hat es natürlich nicht gegeben;
magisches Denken ist etwas für Kinder; Gott ist kein
Zauberer.
Schön, aber warum haben die Evangelien ihn dann als
solchen dargestellt? Wenn diese kleineren Wunder symbolisch gemeint
sind, gab es dann die Auferstehung? Wenn diese nicht in irgendeiner
Form stattgefunden hat, es also kein Leben nach dem Tod gibt, fällt
das Christentum in sich zusammen.
Wieder fragte ich mich, ob es wirklich Grund dafür
gab, in Hoffnung zu sterben. Welche Fragmente des Evangeliums waren
»wahr« im Sinne eines wirklichen Geschehens oder als zuverlässiger
Führer für die Lebensreise?
Ich hatte erlebt, wie die Bibel benutzt wurde, um
Leute, vor allem Frauen, zu ermutigen, sich eine Behandlung
gefallen zu lassen, die sie nicht erdulden sollten. Man riet ihnen,
ihr Kreuz zu tragen und sich im Leiden »darzubringen«, als ob Gott
von uns verlangte, sich in Seinem Namen
gefallen zu lassen, dass einen Rüpel schikanierten. Viele Christen
auf den Philippinen und in Osttimor ertrugen ihre schlechte
Behandlung auf diese Weise und hofften auf ein besseres Leben im
zukünftigen. Mein Glaube verließ mich nach und nach.
Nach meiner Heimkehr suchte ich in Ourimbah einen
Arzt auf, weil ich an der timorischen Version eines Delhi-Bauchs
und schmerzenden Gelenken litt. Als ich aus der Praxis kam, hatte
ich einen Job. Es dauerte ein paar Monate, bis ich mein Vertrauen
in die Arbeit als praktische Ärztin wiedergewonnen hatte, denn sie
unterschied sich hier sehr von der im australischen Outback oder in
den Bergen Osttimors. Wenn ein Patient kam, der über Schmerzen
hinter den Augen klagte, dachte ich als Erstes immer an
Denguefieber, obwohl an der Central Coast eine Sinusitis sehr viel
verbreiteter war. Ich frischte meine Kenntnisse über Menopause,
Antidepressiva und Gewichtsreduzierung auf und gewöhnte mich
langsam wieder an das Leben in Australien.
Ich zog aus dem Apartment aus und kaufte mir
zusammen mit meiner Schwester ein Haus auf einem großen Grundstück.
Heute lebe ich in der Erdgeschosswohnung, und Judy und die Kinder
wohnen oben. Wir richteten für Mama ein Zimmer ein, damit sie uns
an den Wochenenden besuchen konnte, aber nach zwei Jahren schaffte
sie es nicht mehr, ins Auto ein- oder auszusteigen, und die
Veränderung ihrer Umgebung verängstigte sie zu sehr.
Wir haben einen großen Garten, und die Buschhühner
richten viel weniger Schaden an als die timorischen Wasserbüffel,
die meine Versuche vereitelt hatten, in Timor einen Garten
anzulegen.
Ich führe ein zufriedenes, erfülltes Leben, obwohl
ich mich in mir nicht vertrauten gesellschaftlichen Situationen
immer unbehaglich fühle, wenn das Gespräch auf mich kommt: »So,
genug von mir, was ist mit Ihnen? Haben Sie Kinder?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Aber Sie sind verheiratet?«
»Nein.« Darauf folgt peinliches Schweigen, oder die
Person entfernt sich sogar. Worüber könnte man sonst reden?
Wie ich höre, karikiert man den praktischen Arzt
gern als jemand, der nur Husten und Erkältungen behandelt, aber das
ist weit gefehlt. Es ist ein Beruf, bei dem man vielen schrulligen
Charakteren und Menschen begegnet, die körperlich und seelisch ums
Überleben kämpfen.
Manchmal kehre ich nach Osttimor zurück, um die
Klinik und die Schwestern zu besuchen. Der anderthalb Stunden
dauernde Flug von Darwin nach Osttimor verschiebt auf dramatische
Weise die Lebenswirklichkeiten. Die Reise in einem
Passagierfugzeug, in dem Drinks und Schokoriegel verteilt werden,
ist weitaus bequemer als in dem rumpelnden Militärtransporter. Die
Zeitung von Darwin hat die immergleiche Schlagzeile eines weiteren
Krokodilangriffs, während die Timor Post von timorischen
Studenten berichtet, die zum Medizinstudium nach Kuba gehen. Neun
kubanische Ärzte arbeiten nun in unserem kleinen Distrikt, aber
medizinische Hilfe ist immer noch schwer zu bekommen.
Sara machte im April 2006 ihren Abschluss in Kunst
und Erziehung an der University of New Castle. Bald darauf kehrte
sie in das chaotische Dili zurück, um dort an ihrer alten Schule zu
unterrichten. Bruder Dan, der Sara und viele andere in die Freiheit
befördert und ihr zu ihrem Studium in Australien verholfen hatte,
wurde bei einem Motorradunfall schwer verletzt und bekommt seitdem
seine Umgebung nicht mehr mit.
Gewalt im Inneren trägt zur weiteren Erschütterung
Osttimors bei. Es gab so viel Hoffnung, als die timorische Flagge
auf dem Fußballfeld von Aileu zum ersten Mal gehisst wurde, aber es
braucht mehr als Reden und Feuerwerke, um eine Nation aufzubauen.
Ich hoffe, Osttimor findet die Führung, die es verdient. Menschen
an der Macht verlieren leider sehr oft den Kontakt zur Not der
Armen. Jene, die gegen ihre Nachbarn gewalttätig geworden waren,
hatte man nicht dafür zur Verantwortung gezogen, und
Arbeitslosigkeit und Armut säen weiterhin die Saat der Armut. Es
ist so einfach, alles niederzureißen und zu zerstören, aber es
braucht Jahre, ein neues Land aufzubauen und zu hegen. Wir neigen
dazu, auf das Drama und die Krise zu reagieren, aber die stillen
Tode all jener zu übersehen, die sterben, weil es keine Straße oder
kein Wasser gibt.