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Fliegende Ärztin
»Die Vergangenheit ist in uns und nicht hinter uns. Nichts ist je vorbei.«
Tim Winton, The Turning
 
 
Das Territory ist ein weitläufiges, altes Gebiet ohne Besonderheiten, wo man für die Heucheleien und kosmetischen Verblendungen des Südens kaum Zeit hat. Das Leben hier verlief zum einen entspannter, war aber auch intensiver. Manchmal versammelte sich das Krankenhauspersonal auf einen abendlichen Drink auf dem Rasen unter dem aufmerksamen Blick der hier beheimateten Kragenechse und genoss die Kameradschaft der Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und Staaten. In der Katherine Gorge, wo der alte Fluss den zwischen Rot und Ocker changierenden Sandstein ausgehöhlt hat, bis nur noch Klippen an beiden Ufern übrig blieben, trieben Livingstonpalmen aus dem unwirtlichen Fels, und die Jawoyn-Aborigines nutzten die felsigen Überhänge als Kunstgalerien.
Ich fing im Krankenhaus als Stationsärztin an, wurde aber nach wenigen Monaten zum Air Medical Service versetzt, der das große Gebiet bis hinunter nach Eliot im Süden, nördlich bis zum Pine Creek und bis zu den Grenzen von Queensland und Western Australia versorgte. Unsere Arbeit war zweigeteilt: die Leitung der Kliniken für Allgemeinmedizin in fernen Gemeinden und einen telefonischen Notdienst mit Rettungsdienst für dieses Gebiet.
Wöchentlich oder vierzehntägig, je nachdem, wie gut wir besetzt waren, legte ich im Postfugzeug die fünfhundert Kilometer nach Kalkaringi-Daguragu zurück, um in der dortigen Aborigines-Siedlung drei Tage lang in einer Ambulanzklinik Dienst zu tun. Kezia, eine lebhafte Engländerin jamaikanischer Abstammung mit wilden Dreadlocks und einem breiten Lächeln, reiste mit mir, weil sie in Lajamanu arbeitete, etwa hundertfünfzig Kilometer weiter in südwestlicher Richtung.
In Kalkaringi hatte auch der Kampf der Aborigines für ihre Landrechte begonnen, als sie 1966 einfach von der berühmten Wave Hill Station, einer großen Viehzuchtfarm, weggelaufen sind. Die bisher mit Lebensmittelscheinen bezahlten Farmarbeiter forderten einen Lohn und die Rückgabe ihres angestammten Landes. 1973, in dem Jahr, als ich Mutter Teresas Orden beitrat, war Premierminister Gough Whitlam nach Daguragu gegangen und hatte in einer symbolischen Geste den roten Wüstensand aus seiner geballten Faust in die Hände von Vincent Lingari, dem Führer der Gurindji, rinnen lassen und auf diese Weise den Einheimischen einen Teil des Landes ihrer Vorfahren zurückgegeben.
»Hallo! Wen haben wir denn da?«, wollte Nora, die Klinikschwester, mit ihrer breiten schottischen Aussprache wissen, als sie mich aus dem Postfugzeug herauskommen sah. In den vielen Jahren, die sie auf der Wave Hill Station und in Kalkaringi Dienst tat, hatte sie viele Ärzte kommen und gehen sehen. Die Patienten warteten bereits vor der Klinik, als wir eintrafen: Diabetiker, dehydriert und unkontrolliert, hinkende Farmarbeiter, kranke Kinder, Frauen mit Wunden von Unfällen und häuslicher Gewalt. Entlassene Patienten und Mütter mit ihren Neugeborenen drängten in den Transporter der Klinik, der sie in die Stadt brachte. Nora wusste von jedem, wo er wohnte.
Anfangs verhielt mich ich etwas unbeholfen unter den Aborigines, musste erst eine weitere neue Kultur kennenlernen und mich dem Alltag dort anpassen. Die Menschen vermieden Blickkontakt, und ich lernte meinen Blick zu senken und zu sprechen, während ich wegsah. Manchmal hatte jemand den Namen kulum, der nicht ausgesprochen werden durfte, weil eine Person desselben Namens gestorben war. Diese Person musste dann eine Zeit lang mit einem anderen Namen angesprochen werden.
Am zweiten Tag meines Besuchs überquerte ich den Wattle Creek, um zu einer anderen Klinik in Daguragu zu gelangen. Ein Bulle und ein Esel warteten vor der Bäckerei neben der Klinik, um sich mit Brot oder Brötchen füttern zu lassen.
Die beiden Aboriginemitarbeiter des Krankenhauses, Double R - Robert Roy - und Helen, schafften magere Kinder und andere heran, von denen sie glaubten, dass sie untersucht werden sollten, und brachten sie im Fahrzeug zur Klinik. Das einfallsreiche und robuste Klinikpersonal im Outback vermag sehr gut mit Schlangen, Überschwemmungen, Autounfällen, Schlägereien und den meisten für diese Gegend typischen Katastrophen umzugehen. Gemeinsam führten wir regelmäßige Untersuchungen an den Kindern durch und notierten Größe, Gewicht, Hämoglobin- oder Blutwerte, ihre Blutdruckwerte und die Ergebnisse der Urintests. Wir überprüften ihre Ohren auf Perforationen, hörten ihre Herzgeräusche ab, untersuchten ihre Haut nach Wunden und übernahmen die Nachbehandlung, wenn sie zu einem Spezialisten mussten. Anhand einer Computerdatenbank ließ sich die Entwicklung der Kinder verfolgen. Benachteiligung und ein schlechter Gesundheitszustand unter den Aborigines Australiens sind ein sehr komplexes Problem. Doch das engagierte Outback-Personal mit seinen begrenzten Mitteln versuchte, dies zu ändern, auch wenn dies jahrelange Isolation und erschwerte Arbeitsbedingungen bedeutete.
Wenn ich meine Arbeit noch vor Sonnenuntergang beendet hatte, wanderte ich durch die Gemeinde, bewaffnet mit einem Stock und einem Stein, um mich vor den Hunden im Lager zu schützen, die immer auf der Suche nach einem leckeren Happen waren, und erklomm den nahe gelegenen Possum Hill, um zu verfolgen, wie die Sonne hinter dem Grasland mit seinem niedrigen Gebüsch, den kleinen Bäumen und den Schwärmen weißer Papageien unterging. Dabei hatte ich das Gefühl, hierherzugehören, vielleicht weil die Gegend den heißen, trockenen Ebenen rund um Leeton ähnelte. Vom Possum Hill konnte man kilometerweit sehen. Wegen der spektakulären Sonnenuntergänge grillten wir manchmal hier oben auf dem Kamm. Der Himmel war traumhaft schön - ein jettschwarzer Dom, geschmückt mit dem Diamantenschal der Milchstraße. Sternschnuppen trudelten vom Himmelszelt, und das Kreuz des Südens strahlte wie ein Schlapphut vom Nachthimmel.
Am Ende des dreitägigen Besuchs kehrten wir mit einem Charterfugzeug wieder nach Katherine zurück. Patienten, die keine dringende Einweisung benötigten, flogen mit uns, für gewöhnlich wieder von einem Sonnenuntergang begleitet, der einem die Sprache verschlug. Je nach Dienstplan hatte ich manchmal sofort Bereitschaft, wenn ich wieder in Katherine war, und dann ging mein Piepser, sobald unsere Maschine auf dem Rollfeld in Tindal zum Stehen kam.
Es gab viele Überführungen aus den unterschiedlichsten Ansiedlungen und Farmen: instabile Diabetiker, Kinder mit Lungenentzündung, Verletzungen nach Autounfällen und Krokodilangriffen, Farmarbeiter mit gebrochenen Beinen, Cowboys, die beim Rodeo verletzt wurden, und Frauen, die ein Kind bekamen.
Die andere Gemeinde, welche ich regelmäßig anflog, war Wulgar oder Beswick, eine kleine Ansiedlung von etwa vierhundert Menschen am Ufer des Waterhouse River, etwa hundert Kilometer südöstlich von Katherine. Hunderte Wildesel weideten entlang der Straße, und die Umgebung war wunderschön mit hufeisenförmigen Teichen oder Altwasserarmen, auf denen Wasserlilien schwammen. Ein großer See in der Nähe von Wulgar war von roten Sandsteinklippen umgeben, in die sich ein kleiner Wasserfall eingegraben hatte. Es war ein bevorzugtes Ausfugsziel für die Bewohner, um sich dort zu entspannen oder zu picknicken. Kleine Kinder fischten entlang der von Teebaumsträuchern gesäumten Ufer mit einer Schnur oder balancierten auf traditionelle Weise auf einem Bein mit einem Speer in der Hand, bereit, ihre Beute aufzuspießen.
In Wulgar waren hervorragende Künstler zu Hause. Männer fertigten Didgeridoos an, während ältere Frauen Kindern beibrachten, wie man dilly bags - kleine Beutel zum Aufbewahren von Lebensmitteln - oder Matten focht. Dazu wurden erst die Fasern des Schraubenbaums entsprechend präpariert, dann setzte man sich zum Flechten unter einen Baum im Schulhof. Zum Färben wurden verschiedene Wurzeln und Knollen ausgekocht.
Wulgar war eine trockene Gegend, und ein fester Kern, der vorwiegend aus Männern bestand, wartete am Weiderost am Stadtrand auf die Bierdosen, die mit dem Taxi von Katherine kamen. Sie tranken stundenlang und schwankten dann in die Stadt, wo sie ausfallend und gewalttätig wurden. Viele Kinder hatten zu Hause Probleme und fehlten oft in der Schule. Bei meiner Schulreihenuntersuchung fiel mir auf, dass viele Kinder in der Mittel- und Oberstufe der Grundschule weder lesen noch schreiben konnten. Ältere Kinder hatten im Alter zwischen dreizehn und fünfzehn die Schule verlassen und waren immer noch Analphabeten, ohne Aussicht auf weitere Ausbildung. Da es keinen Schulbus gab, fiel es vielen Eltern in Wulgar schwer, ihre älteren Kinder zum Besuch der Highschool in Katherine zu bewegen.
Das Territory ist schön, aber voller Widersprüche. Rund um Katherine versammelten sich überall Gruppen in Parks oder auf den Mittelstreifen, um zu trinken. Gewalt, Autounfälle und versuchte Selbstmorde waren das Ergebnis von zu viel Grog, mit dem die Leute die Enttäuschungen betäubten. Es gab Vergewaltigungen, Notzucht an jungen Mädchen und einen Ausbruch von Bindehautentzündung, die, wie Tests bewiesen, von Gonorrhö stammte.
Ich kam in jede Gemeinde in der Umgebung von Katherine und bekam die Streitigkeiten mit, die in der Nachbarschaft ausgetragen wurden. Ich fragte mich: Gibt es eine Möglichkeit, das Blatt für die nächste Generation zu wenden? Die Australier entlang der südlichen Küstengegenden wissen wenig über die Kämpfe, die im fernen Australien ausgetragen werden, wo der Konflikt zwischen zwei Kulturen noch immer zu den Alltagserfahrungen gehört, und haben auch kein Verständnis dafür. Erst im vergangenen Jahrhundert verloren die Aborigines einen Großteil ihrer Population durch Krankheit, aber auch weil man ihnen ihr Land und ihre Nahrungsquellen wegnahm. Noch in den Dreißigerjahren wurden sie hingemetzelt - es war die Generation ihrer Eltern und Großeltern.
Die Mehrheit der Aborigines trinkt keinen Alkohol, aber für eine nicht ganz kleine Minderheit ist er ein ernsthaftes Problem. In Katherine gab es eine Gruppe von Streunern, die sich long grass nannten, viel tranken und im Freien lebten. Man konnte sie in den Parks sitzen sehen, wo sie tranken, grölten, alles verschandelten und die Stadtbevölkerung gegen sich aufbrachten. Ich behandelte einige Kinder wegen fötalen Alkoholsyndroms, magere Kinder, die Mühe hatten, in der Schule mitzukommen, wenn sie überhaupt hingingen. Schon vor der Geburt waren diese Kinder von sozialen Problemen geprägt worden, für die sie nicht verantwortlich waren - der Alkoholkonsum ihrer Mütter sorgte für eine mangelhafte Entwicklung ihrer Körper und ihrer Gehirne. Tragischerweise ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass auch sie betrunken auf dem Mittelstreifen von Katherine enden, missachtet vom Rest der Bevölkerung, mit eigenen Kindern, die auch wieder unterentwickelt sind.
Die Missionarinnen der Nächstenliebe kümmerten sich um zwanzig bis dreißig ältere Aboriginefrauen in Katherine, von denen einige blind oder verkrüppelt waren. Wenn ich keinen Dienst hatte, half ich ihnen am Sonntagmorgen beim Duschen, Saubermachen und Servieren des Mittagessens. Ich kannte Schwester Leena, die in Manila Novizin gewesen war, aber die anderen Schwestern aus Papua-Neuguinea, Australien, Indien und von den Philippinen waren mir unbekannt. Einige der Bewohnerinnen waren großartige Persönlichkeiten. Eine von ihnen, Doris, war Viehhirtin gewesen und hatte auf dem Pferderücken das Vieh zusammengetrieben, während sie ein Baby in einer kawala oder Rindentrage vor sich balancierte. Am Sonntagnachmittag kamen eine Zeit lang viele der long grass für eine Suppe und ein Sandwich zu den Schwestern, ich half beim Verteilen und kümmerte mich um ihre Wunden. Da die Lage wegen ihrer Trinkerei und ihrer Streitereien auf dem Hof jedoch unkontrollierbar wurde, hörten die Schwestern damit auf.
 
 
Im April 1997 starb Schwester Agnes, die als Erste Mutter Teresas Orden beigetreten war, an Krebs. Ihr Tod stimmte mich sehr traurig, da Schwester Agnes eine sanfte, stille Person gewesen war, die ich bewunderte, nachdem ich sie erst bei einem Besuch des Noviziats in Australien und später in Kalkutta kennengelernt hatte. Schwester Margaret, meine Vorgesetzte in Kerema, starb ebenfalls an Krebs. Auch bei einigen anderen Schwestern wurde Krebs festgestellt, und ich fragte mich, ob es womöglich eine Verbindung zwischen Krebs, Sanftheit und einem Leben als MN gab.
Auch Mutter Teresa starb, als ich in Katherine war - am 5. September 1997. Ich half den Schwestern, im Frauenheim einen Fernseher aufzustellen, damit sie ihr vom Militär eskortiertes Staatsbegräbnis und den Trauerzug durch die Straßen von Kalkutta verfolgen konnten. Mir kam es unpassend vor, dass eine bescheidene Frau, die den Friedensnobelpreis bekommen hatte, von Soldaten umrundet auf einer Lafette durch die Straßen getragen wurde. Aber ihr Leben war ein Paradox. Ich empfand ihr Hinscheiden als Verlust und wünschte, wir hätten einander besser verstehen können.
 
 
Während ich an der Central Coast lebte, hatte ich mich immer weiter von der katholischen Kirche entfernt, obwohl ich mit Mama gelegentlich noch zur Messe ging. In Katherine wurde ich wieder Teil der katholischen Kirche, schwankte aber weiterhin, weil die Gottesfrage für mich nicht geklärt war. Ich war mir unsicher, ob Gott existierte, fand aber, dass die Idee von Gott zumindest einen Funken Hoffnung barg. Ungeachtet der institutionellen Beschränkungen und des Verhaltens der Kirche zog mich der Geist der Gemeinde von Katherine wieder in ihren Schoß zurück.
 
 
1988 tobten dicht aufeinander zwei Zyklone um die Spitze von Nordaustralien, woraufhin der Katherine River anschwoll, am australischen Nationalfeiertag, dem 26. Januar 1998, einen Pegelstand von fünfzehn Metern erreichte und über die Ufer zu treten drohte. Der Pegelstand des Flusses schwankt während der Regenzeit immer stark, aber für gewöhnlich bewegt er sich bei sechs bis acht Metern. Um halb elf Uhr vormittags kam ich mit einigen der Aboriginefrauen aus dem Heim der MN zur Brücke zurück, weil sie das Hochwasser sehen wollten, und da hatte der Pegelstand bereits siebzehneinhalb Meter erreicht, ein gefährlich schnelles Anwachsen binnen weniger Stunden. Es war ein Feiertag, und da ich keinen Dienst hatte, hatte ich meinen Piepser nicht dabei. Um zu erfahren, was es Neues gab, rief ich Air Med an.
»Wo zum Teufel sind Sie?«, herrschte mein Chef mich an. »Wir suchen schon nach Ihnen.«
»Ich bin unten bei den ›Little Sisters‹« - wie die MNs genannt wurden.
»Gut, dann sagen Sie ihnen und ihren Leuten, dass sie sich zum Aufbruch fertig machen sollen. Holen Sie sich einen Wagen mit Allradantrieb vom Regierungshof und kommen Sie dann zur Unfallstation. Ich möchte, dass Sie mit den Patienten zur Tindal Air Force Base gehen. Wir evakuieren.«
Wir räumten das Krankenhaus mithilfe von Sanitätsfahrzeugen und Lastwagen des Luftwaffenstützpunkts. Der normalerweise friedliche Fluss stand kurz davor, über die Ufer zu treten, als wir durch die Stadt fuhren. East Katherine lag höher und wurde nicht überschwemmt, aber ansonsten war das Wasser überall. Die von der Überschwemmung betroffenen Bewohner zogen in Schulen, in die Häuser von Freunden, in Sportzentren auf der trockenen Seite der Stadt. Wir richteten uns mit dem Krankenhaus auf der Tindal Air Base ein. Kezia fog mit den Schwerkranken nach Darwin, erlebte aber ihre eigenen Dramen. In die Kabine des Flugzeugs war Rauch eingedrungen, und der Pilot musste bei schrecklichen Wetterverhältnissen eine Notlandung vornehmen. In dieser strapaziösen Woche erlitt einer unserer Patienten einen Herzanfall auf dem Rollfeld, ein anderes Flugzeug hatte Motorprobleme, und wir beluden ständig Flugzeuge bei strömendem Regen und schliefen kaum.
Das Zentrum der Gemeinde von Katherine wurde überschwemmt. Die Veranden im ersten Stock der Pubs wurden Anlegestellen. Woolworths, das Postamt und die ganze Mainstreet wurden von den Fluten überspült, die sich beidseits der Brücke kilometerweit ausdehnten. Die Katherine Gorge war keine Schlucht mehr, denn der Fluss stieg dort auf zwanzig Meter an. Die Hälfte der Häuser in der Stadt und fast alle Geschäfte wurden überschwemmt und Krokodile, von Kadavern angelockt, mitten in der Stadt gesichtet.
Rocky Ridge, ein hoch gelegenes Pflegeheim gegenüber dem Krankenhaus, war nicht evakuiert worden, da man dachte, es sei sicher vor dem steigenden Wasser, es war jedoch zu einer ungeschützten Insel geworden, und die Abwässer wurden über die Abfussrohre wieder nach oben gedrückt. Eine Rettungsmission wurde eingeleitet, und Hubschrauber kamen à la M.A.S.H einer nach dem anderen nach Tindal. Die Rotoren schwirrten im strömenden Regen, während wir halfen, die inkontinenten und verängstigten Patienten aus der Kabine zu holen und sie dann huckepack über das Rollfeld zu tragen.
Die MNs hatten nicht sofort reagiert, nachdem ich ihnen geraten hatte zu evakuieren, weil ihnen jemand von der Kirche gesagt hatte, es sei sicher und sie könnten bleiben. Offenbar waren sie von den zuständigen Behörden übersehen worden, da sonst alle Pflegeheime nach Tindal umgesiedelt worden waren, aber als das Wasser immer höher stieg, brachte die Polizei sie und ihre Mündel in einen Trakt eines Gymnasiums in East Katherine.
Am Dienstag bat mich Schwester Leena um Hilfe. Sie brauchten saubere Laken und Kleider zum Wechseln für die weiblichen Patienten. Ich war seit der Evakuierung am Montag nicht mehr in Katherine gewesen, beschloss aber, es zu versuchen, da einige Fahrzeuge nach East Katherine durchkamen. Die Schwestern hatten nur die Kleider, die sie am Leib trugen, und sehr wenige Leintücher für ihre Schutzbefohlenen. In der ersten Nacht hatten sie gar nicht geschlafen, da sie sich um dreiundzwanzig gebrechliche alte Frauen kümmern mussten, die die ganze Nacht schrien. Im Gymnasium waren Hunderte von Leuten untergebracht, und einige davon waren böse auf die Schwestern, weil deren Patientinnen so viel Lärm machten. Außerdem hatten die Schwestern Probleme, die Gebrechlichen zur Toilette zu führen. Am Mittwochabend kam ich mit ein paar Laken, die ich am Stützpunkt angefordert hatte, zu ihnen. Am Donnerstag brachten wir sie nach Tindal, und sie wurden zum Haus der MNs nach Darwin evakuiert.
Am Freitag war es wieder möglich, die Stadt zu betreten, doch ich fand nur Schlamm und verwüstete Häuser vor. Der Gestank war bestialisch, aber die Menschen verloren ihren Humor nicht. Jemand hatte ein Schild mit einem Pelikan mit Schlapphut in der Hauptstraße aufgestellt, der ein Plakat mit der Aufschrift trug: »Katherine, die sauberste Stadt des Northern Territory.« Ein anderer stellte ein Schild auf einen Stapel ruinierter Bücher: »Pulp fiction, einige ohne Umschlag, kein Umtausch oder Geldrückgabe.«
Mein Apartment war feucht und modrig und der Großteil meiner Bücher und Habseligkeiten zerstört. Über eine meiner Schallplatten kroch eine kleine Schildkröte. Mein Pick-up war zum Teil überschwemmt worden, und ich musste ein paar Wochen lang auf ihn verzichten, bis ein Mechaniker ihn wieder zum Laufen brachte. Ich hatte Fußbrand, weil ich ständig nasse Schuhe trug. Alle standen Schlange, um Lebensmittel zugeteilt zu bekommen, oder aßen die von der Feuerwehr angebotenen Gerichte. Ab dem 31. Januar waren die Piloten und die Flugzeuge von Air Med vorübergehend in Darwin stationiert, und für eine Weile stand das Personal von Air Med in Katherine nicht für Notfälle zur Verfügung, sodass wir uns um die betroffenen Kliniken und unsere eigenen Probleme kümmern konnten. Ich kam für eine Woche im Pilotenhaus unter, bis das Krankenhaus mir ein anderes Apartment zur Verfügung stellen konnte.
Am Samstag war ich die Erste, die das Haus der Schwestern betrat, da sie mit den Frauen aus dem Heim noch alle in Darwin waren. Alles war von einem dicken, übel riechenden Schlamm überzogen. Betten und Schränke waren umgefallen, Essen lag verfault im Gefrierschrank des Heims, und die Zäune waren niedergerissen worden. Dies alles wieder herzurichten, war eine gewaltige Aufgabe.
Stundenlang arbeitete ich daran, die wenigen Dinge, die den Schwestern gehörten, sowie die Bücher zu retten, und breitete sie dann auf den metallenen Bettgestellen zum Trocknen aus. Die Saris der Schwestern, die sie im Haus auf Leinen im Schlafsaal zurückgelassen hatten, waren nun braun vom Schlamm. Ich nahm sie zum Waschen in meine Übergangsbehausung mit und füllte deren Hof mit Wäsche und trocknenden Büchern und Papieren. Obwohl sie sich in Darwin befanden und sich nicht um das Haus kümmern konnten, hörte ich später, dass die Schwestern sich beschwert hatten, weil ich mich eingemischt hatte. Offenbar ist es mir nicht möglich, bei den MNs irgendwas richtig zu machen. Zu einer anderen Gelegenheit schaute ich nach den alten Damen in ihrem Heim und lieh ihnen meinen Pick-up, damit sie, obwohl ihr Lieferwagen kaputt war, dennoch ihr Picknick abhalten konnten. Als sie zurückkamen, erzählte mir eine der Schwestern, die Oberin sei aufgebracht, weil ich mein Mobiltelefon »ohne Erlaubnis« an der Steckdose in der Küche der alten Leute aufgeladen hatte. Ich hatte Bereitschaftsdienst bei Air Med. Bei beiden Anlässen hätte ich nur zu gern die Schwestern zur Rede gestellt, die Probleme mit mir hatten, aber meine Informantinnen baten mich, es nicht zu tun. Noch immer wurden bei den MNs unwichtige Dinge aufgebauscht und auf Umwegen Beschwerden in Umlauf gebracht, sodass sie nicht mehr direkt zurückverfolgt werden konnten. Da ich meine eigene Arbeit und selbst eine feuchte Wohnung hatte, verbrachte ich nicht allzu viel Zeit damit, über die Beschwerden nachzugrübeln, und war froh, nicht mehr dieser Art von Gemeinschaft anzugehören. Nach der Flut waren alle zum Umfallen müde. Von den Dingen, die mir gehörten, warf ich fast alles auf den Rasen vor meiner Wohnung. Die Armee half mit Planierraupen und Mülllastern und lud alles auf. In der zweiten Woche nach der Flut war der Pegelstand des Flusses wieder auf friedliche sechs Meter zurückgegangen. Unsere Gemeinden hatten schon vor der Flut genügend Probleme gehabt, jetzt wurde alles noch schwieriger. Die Kliniken in Beswick, Mataranka und Jilkmingan waren alle von der Überschwemmung betroffen. Kezia und ich versuchten dort, die Krankenakten und Medikamente zu retten und kaputte Arzneien und Akten in Säcke zu verpacken. Gesundheitsstationen, die nicht überflutet worden waren, waren ebenfalls betroffen, da ihr ärztlicher Dienst, die Post und die Lieferungen sich verzögerten. Wir hatten jede Menge nachzuholen.
 
 
Ein Jahr nach der Flut hörte ich bei Air Med auf und fing im Wurli-Wurlingjang Aboriginal Health Service in Katherine an. Von meinem Temperament her war ich eher für den Gesundheitsdienst als für Notfälle geeignet, eine Arbeit, die ich zu stressig fand. Mir sagte die präventive und allgemeinmedizinische Seite des Arztberufs mehr zu. Dort waren wir drei Ärztinnen in der Belegschaft, alles Frauen.
Ich arbeitete mit Doreen, einer jungen Neuseeländerin, die sich intensiv mit spirituellen Fragen auseinandersetzte. Sie war Buddhistin, und wir unterhielten uns über viele Dinge, wenn wir zu den wunderschönen Wasserlöchern und Kaskaden rund um die Katherine Gorge und die Edith Falls wanderten.
»Es kommt nicht darauf an, was du glaubst, solange es dir hilft, ein gutes Leben zu führen«, meinte Deidre, als sie mit ihrer Tochter Rosemary huckepack auf ihrem Rucksack durch den Busch streifte.
»Mir kommt es aber darauf an«, konterte ich. »Man kann nicht an etwas festhalten, nur weil es einem hilft. Man muss auch von seinem Wahrheitsgehalt überzeugt sein.«
»Woher soll man denn wissen, was wahr ist? Deine Wahrheit und meine Wahrheit sind verschieden. Aber bedeutet das, dass die eine weniger wert ist als die andere?«
»Wenn alles gleichermaßen wahr ist, bedeutet dies vielleicht, dass jeder Glaube gleichermaßen erfunden ist«, erwiderte ich. »Erfüllt nun eine persönliche Präsenz, nenne sie Gott oder wie auch immer, das Universum oder nicht? Entweder ist Gott in Jesus Fleisch geworden oder nicht. Entweder gibt es ein Leben nach dem Tod, oder wir hören auf zu existieren. Die Wahrheit ist nicht relativ.«
»Ich glaube einfach, wir können nicht mit Sicherheit wissen, was wahr ist. Wir können nur unser Leben bestmöglich führen. Wenn irgendwelche Lehren uns dabei helfen, gut zu leben, ist das schön«, betonte Doreen.
Wieder einmal befand ich mich in Aufruhr. Viele Jahre lang hatte ich den Gedanken unterdrückt, dass Er, der Yahweh, das bedeutet »ICH BIN«, genannt wurde, tatsächlich gar nicht existierte. Ich schrieb in mein Tagebuch:
 
 
»Wenn es keinen Gott gibt, bin ich allein; es gibt keine Kraft, die meinen Mangel an Kraft beseitigt; es gibt keinen Grund, das nicht Liebenswerte zu lieben oder das Unverzeihliche zu verzeihen, kein Heilmittel gegen das Gift von Hass und Bitterkeit, keine Hoffnung für jene, deren Leben in Schmerz beginnt und endet. Wenn es keine Wahrheit gibt, beten wir die Leere an. Ich bin verloren, wenn es Dich nicht gibt.«
 
 
Im September 1999 fühlte man sich in Australien wie im Krieg. Jagdbomber vom Typ F-111 düsten schrill über den Himmel, und Hercules-Transportflugzeuge rumpelten über einen hinweg. Osttimor hatte am 30. August 1999 für seine staatliche Unabhängigkeit von Indonesien gestimmt, das 1975 ins Land einmarschiert war und es besetzt hatte, nachdem die Kolonialherren, die Portugiesen, sich zurückgezogen hatten. Als das Ergebnis der geheimen Abstimmung verkündet wurde, brach im Land ein Taumel aus Zerstörung und Gewalt los. Die Jakarta-freundlichen Milizen im Land, die von der indonesischen Armee unterstützt wurden, begannen zu randalieren und benutzten Kerosin-Tankwagen, um Schulen, Krankenhäuser und selbst Kirchen abzufackeln, in denen sich Schutzsuchende drängten. Ich hörte Radioberichte über Massenhinrichtungen. Dili, die Hauptstadt, stand in Flammen, und überall auf den Straßen lagen Leichen.
Die Timorer hatten vierhundert Jahre lang die Kolonialherrschaft der Portugiesen, 1975 einen Bürgerkrieg und daran anschließend fünfundzwanzig Jahre indonesische Herrschaft erduldet. Mit dem Gewaltausbruch, der dem Referendum gefolgt war, waren Tausende gezwungen, nach Westtimor zu flüchten. Familien wurden auseinandergerissen. Einige blieben in Dili, während andere in der Hoffnung, wenigstens ein Teil möge überleben, über die Grenze fohen.
Katherine ist ein Luftwaffenstützpunkt, und deshalb war die Angst hier groß. Würde es zu einem Krieg mit Indonesien kommen, wenn unsere Truppen im Rahmen internationaler Hilfe dort landeten? Wie sich herausstellte, gab es wenig Widerstand. Die Indonesier zogen sich hinter die Grenze von Westtimor zurück, und das australische Kommando unternahm keinen Versuch, die indonesischen Truppen zu umzingeln oder ihnen den Rückzug in ihr Heimatgebiet abzuschneiden. Hunderte von Flüchtlingen waren mit dem Flugzeug zu Lagern in Darwin gebracht worden. Die Menschen in Katherine sammelten Lebensmittel und schickten sie nach Osttimor und zu den Timorern in den Flüchtlingslagern von Darwin.
Anfang 2000 erhielt ich eine E-Mail von einem praktischen Arzt aus Darwin, der um freiwillige Ärzte warb, die bereit waren, in Osttimor zu arbeiten. Seine Frau Robyn war Verwaltungsbeamtin bei einer portugiesischen Nichtregierungsorganisation mit dem Namen OIKOS, die in Dili ihren Sitz hatte. Da ich in Wurli-Wurlijang noch unter Vertrag stand, sagte ich ihm erst für Juni zu. Als der Zeitpunkt näher rückte, zog ich aus meinem Haus aus und wohnte bei einer Freundin, bei der ich auch einige meiner Sachen lagern konnte.
Im Mai kam Bruder Andrew nach Katherine, um die Schwestern zu besuchen, und er sah bei diesem seinem letzten Besuch, während dem er in der Kirche einen Vortrag hielt und mit den Aborigines scherzte, noch ausgemergelter aus. Seine Einstellung hatte sich nicht geändert. Er misstraute den Mächtigen und denjenigen, die sich für gerecht hielten. Weil er sich den Sündigen und Schwachen verschrieben hatte, lebte er mit ihnen am Rande der Gesellschaft. Er war erst vor Kurzem aus Indien zurückgekehrt, wo er eine Messe am Grab von Mutter Teresa zum zweiten Todestag im Mutterhaus zelebriert hatte. Seine zwei Monate in Kalkutta, wo er sich mit Ruhr, dem feuchten Klima und der Enge herumschlagen musste, hatten an seinen Kräften gezehrt.
»Ich habe einen bohrenden Schmerz in meiner Magengrube«, sagte er. »Der will nicht weggehen.« Er brach am folgenden Tag auf, sodass ich keine ärztliche Untersuchung für ihn in die Wege leiten konnte, aber er versprach mir, in Melbourne einen Arzt aufzusuchen. Er ließ sich Zeit, diesem Versprechen nachzukommen, aber als er es dann tat, lautete die Diagnose Magenkrebs.
Ich hörte zwei Wochen vor meiner Abreise nach Osttimor auf zu arbeiten und fuhr hinunter nach Yuendemu, in die Wüste westlich von Alice Springs. Ich wollte die Kleinen Schwestern Jesu besuchen, die ich in Papua-Neuguinea und in Sydney kennengelernt hatte und die unter dem Volk der Walpiri lebten.
Eine der Schwestern in Yuendemu, eine Mathematikerin und Dichterin, arbeitete an der örtlichen Vorschule.
»Ich weiß nicht, ob es hier genauso ist«, sagte ich, als ich mit ihr zur Arbeit ging, »aber ich frage mich, wie man der Gewalt und der Verzweifung in einigen dieser Gemeinden begegnen kann. Ich fühle mich sehr machtlos.«
»Die Menschen sind noch viel machtloser«, erwiderte sie. »Wir versuchen hier, Brücken der Freundschaft aufzubauen, aber was das große Ganze angeht - es ist schwierig.«
»Einige Gemeinden haben ihre eigenen Lösungen, erfahren aber keine Unterstützung«, fuhr ich fort. »Viele der Frauen verfügen über große Fähigkeiten, haben aber nur wenig Rückhalt. Nicht einmal in einer großen Stadt wie Katherine gibt es ein Rehabilitationszentrum für Alkoholkranke. Oftmals sind es die alten Leute, welche die Familien zusammenhalten.«
»Ja, das ist hier genauso«, stimmte sie mir zu. »Häufig ziehen die Großeltern die Kinder auf. Viele der mittleren Generation kommen von ihrer Abhängigkeit nicht los.«
Auf dem Heimweg besuchte ich die MNs in Tennant Creek, und sie baten mich, die Nacht über bei ihnen zu bleiben. Die vor mir liegende Strecke nach Katherine war noch lang, und ich nahm das Angebot dankbar an. Ich konnte die Schwestern im Refektorium lachen und scherzen hören, während ich allein im Salon aß. Nach der Morgenmesse luden sie mich ein, mit ihnen zu frühstücken. Es war das erste Mal, seitdem ich den Orden vor siebzehn Jahren verlassen hatte, dass ich wieder mit den Schwestern aß. Eine von ihnen fragte mich: »Schwester, warum hast du uns verlassen? Selbst jetzt versuchst du, eine ähnliche Arbeit zu tun. Warum willst du nicht zurückkommen?«
Ich erzählte ihr kurz, wie ich die Sache sah, obwohl es mir schwerfiel, es in so knappen Worten zu schildern. Ihre Antwort überraschte mich.
»Mir ist etwas Ähnliches passiert, und das hat mich sehr aufgewühlt. Man hat mir nicht erlaubt, einen Mann aufzunehmen, der an Tuberkulose litt. Daraufhin bat ich darum, ihm Medizin und zusätzlich Essen für zu Hause mitgeben zu dürfen, aber die Oberin sagte wieder »Nein«, und ich konnte nicht verstehen, warum. Sie sagte, ich solle für ihn beten, und meinte, ich sei nicht die Einzige, derer Gott sich bedienen könne, um ihm zu helfen.«
Dann erzählten einige der anderen Schwestern ähnliche Geschichten. Ich war erleichtert, dass sie mir glaubten und meine Worte bestätigten, auch wenn sie sich weiterhin in der Lage sahen, im Orden zu verbleiben. Jeder findet seinen eigenen Weg auf der Suche nach dem Sinn und den für ihn besten Lebensweg. Es ist ein fortschreitender Prozess - wir können immer nur das Beste mit den zurzeit jeweils gültigen Einsichten tun.
Ich zog wieder einmal um, diesmal von Katherine nach Osttimor, wo der Hass das Leben in einem Teil der Welt wieder unmöglich gemacht hatte. Der Drang, einander und die Welt um uns herum zu zerstören, scheint unüberwindlich zu sein. Auch unsere großen Religionen sind offenbar machtlos dagegen. Mein Leben war immer noch mehr Frage als Antwort.