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Missionarin der Nächstenliebe
Wir Novizinnen hatten viel über die Gemeinschaft zu lernen. Binnen zwei Jahren würden wir unsere vier Gelübde der Armut, der Keuschheit, des Gehorsams und des Dienstes an den Ärmsten der Armen aus ganzem Herzen und ohne Gegenleistung ablegen.
Als Mutter den Orden 1948 gründete, hatte sie eine Satzung verfasst, welche die Ziele und Regeln der Gemeinschaft festlegte, dazu gab es außerdem einen detaillierten Kommentar. Nachdem sie diese Satzung zur Billigung nach Rom geschickt hatte, genehmigte der Vatikan ihre Institution als neuen religiösen Orden am 7. Oktober 1950, dem Gründungstag der Gemeinschaft.
Wir schrieben die Regeln und ihre Erläuterungen in unsere Notizbücher und lernten Passagen daraus auswendig. Später schrieb Mutter in Zusammenarbeit mit einer Gruppe älterer Schwestern die Satzung um, um sie dem Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils anzugleichen; diese Satzung wurde von den Delegierten der Schwestern auf einem Kapitel oder Vollversammlung der Schwestern gebilligt. Das Dokument war nun länger und detaillierter, aber das Leben, das es beschrieb und regulierte, blieb dasselbe.
Einige Themen tauchten in Mutters Lehren immer wieder auf. Oftmals sagte sie, das Ziel ihrer Kongregation sei es, »den unendlichen Durst von Jesus am Kreuz nach der Liebe der Seelen zu löschen«. Ich hatte das Ziel der Gemeinschaft immer viel pragmatischer gesehen: das Leid zu mildern, die Hungrigen zu füttern und den Durstigen Wasser zu geben. Und deshalb sah ich darin auch genau diesen Sinn, der von Mutter für uns Schwestern nur in religiösere und bildhaftere Begriffe gefasst worden war.
Ein Kirchenlied, das wir lernten, »Ich dürste«, entfaltete Mutters eher mystische Thematik: »Mein Kelch wird gefüllt sein mit Liebe, Opfern, Dir dargebracht. Auf immer und ewig werde ich Deinen Durst stillen, Herr …« Diese Gefühle teilte ich nicht, aber ich glaubte damals, dass mich mit Mutter Teresa ein gemeinsames Ideal verband.
Die Missionarinnen der Nächstenliebe sollten Besinnliche im Herzen der Welt sein. Schwester Regina klärte uns darüber auf, dass den Geist der Gemeinschaft »vollkommene Hingabe, liebendes Vertrauen und Fröhlichkeit« ausmachten. Wir sollten »unseren freien Willen, unsere Vernunft und unser ganzes Leben für den reinen Glauben« aufgeben. Mutter unterwies uns immer wieder darin, »mit einem Lächeln zu geben, was Er nimmt, und zu nehmen, was Er gibt«.
Mutter Teresa stand unter dem massiven Einfluss des heiligen Ignatius von Loyola, der Soldat gewesen war, ehe er den Jesuitenorden gründete. Die Loreto-Schwestern, Mutters erste Ordensgemeinschaft, hatten die Ideen von Ignatius’ blindem militärischem Gehorsam sowie ein kodifiziertes, reglementiertes System religiöser Praktiken übernommen. Mutters jesuitische Beichtväter und geistige Oberhäupter hatten ihre spirituelle Formung begleitet und sie dahingehend beeinflusst, dass sie folgerichtig im Gehorsam die Haupttugend und den Lackmustest wahrer Demut und Heiligkeit sah.
Die Zeit, in der Mutter Teresa aufwuchs, war noch geprägt von der Unterdrückung der sogenannten Modernen Häresie durch die Kirche. Diese hatte die Kirche herausgefordert, ihre Lehre auf rationalere und wissenschaftlichere Weise zu verbreiten. Die Moderne Häresie lehrte, dass die Wahrheit nicht statisch oder unveränderbar sei, sondern sich mit unserem sich verändernden Verständnis entwickeln könne. Durch sie wurde die Lehrautorität der Kirche und insbesondere die des Papstes infrage gestellt und in Debatten und wissenschaftlichen Untersuchungen die göttliche Offenbarung und päpstliche Unfehlbarkeit hinterfragt. 1907, drei Jahre vor Mutters Geburt, bekämpfte Papst Pius X. diese rationalistische und säkulare Bewegung, indem er die Lehre aufstellte, die Katholiken müssten ihren Intellekt und ihren Willen der Lehrautorität der Kirche beugen. Stolz, so schrieb er, sei die Wurzel allen Übels, und der einzige Weg, gegen diesen anzukämpfen, sei demütiger Gehorsam. Offensichtlich nahm Mutter Teresa als junge Frau sich diese Lehre zu Herzen und sah den besten Weg, sich von Gott leiten zu lassen, darin, den kirchlichen Autoritäten zu gehorchen. »Gott braucht Menschen, die gehorsam sind«, sagte sie, aber diejenigen, die ihren eigenen Weg gehen, sind zum Scheitern verurteilt. Sie lehrte, dass »selbst Gott nicht füllen kann, was bereits voll ist«. Unsere Aufgabe als Nonnen sei es, uns leer zu machen, damit wir Kanäle der göttlichen Macht wurden. Unser inneres Selbst musste sterben wie der Weizen, um eine Ernte hervorzubringen.
Wir sollten Mutter Teresas Plan folgen: den Armen in Liebe zu dienen und zu leben wie sie. Dabei wurde jedoch der Unterwerfung größeres Gewicht beigemessen als kooperativer Liebe und Gleichheit. In Mutters Worten: »Wenn es uns gelingt, prompt, einfach, blind und fröhlich zu gehorchen, sollte es uns möglich sein, die höchste Perfektion zu erlangen.«
Ich wusste, dass das nicht stimmte. Wenn dieser Befehl nun falsch war? Wenn wir nur aus Angst gehorchten oder um uns bei den Mächtigen einzuschmeicheln? War Unterwerfung nicht unter Umständen ein Zeichen der Schwäche und nicht der Stärke? Selbst damals waren für mich Gehorsam und Güte nicht dasselbe. Konfliktsituationen wühlten mich auf, und ich hatte immer ein feines Gespür dafür gehabt, wie Menschen miteinander umgingen, so beispielsweise als Kind, wenn ich mich vor dem Haus mit meinen Brüdern zusammenkauerte, während Mama und Papa sich im Haus anschrien. Ich wusste, dass ein Feigling aus Angst gehorcht, also konnte Gehorsam für sich genommen kein Anzeichen von Heiligkeit sein. Manchmal fiel es mir schwerer, meine Meinung zu sagen, als zu schweigen, was zu inneren Konflikten führte, denn das, was man mir als gut und heilig beibrachte, empfand ich als falsch und unterwürfig. Schwester Regina lehrte uns, alles, was unsere Vorgesetzten von uns verlangten, als Gottes Willen zu akzeptieren. Mitfühlender Dienst an den Armen war der Köder gewesen, der mich in den Orden gelockt hatte, aber ehe ich mich versah, war ich der Doktrin von Gehorsam und blinder Unterwerfung ins Netz gegangen. Man musste im Orden mit Demütigung und Standpauken rechnen, und man sah diese als Mittel, uns zu besseren Menschen zu machen.
Ich sollte noch lernen, was Gehorsam bei den Missionarinnen der Nächstenliebe bedeutete. Am frühen Montagmorgen nach dem Pfingstsonntag 1973 wurden Schwester Annette und ich zur Arbeit in der Gore Street 101 geschickt. Schwester Regina weilte noch beim Kapitel in Kalkutta. Wir sollten die Professen für ein paar Stunden entlasten, denn sie waren an Grippe erkrankt und hatten sich nicht ausruhen können. Wir läuteten die Glocke des Männerasyls neben dem massiven Eisentor, das auf Augenhöhe ein Gitter hatte. Als Schwester Satya kam, um uns aufzuschließen, sah sie nicht gut aus und fummelte herum, bis sie den richtigen Schlüssel gefunden hatte. Sie lächelte müde. »Ach, diese Männer! Ihr werdet heute Morgen alle Hände voll zu tun haben. Die spielen verrückt.«
Schwester Benedict, die es gerade mal auf einen Meter dreißig brachte, stand auf dem Betonvorhof und legte sich mit einem Riesen von einem Mann an, der Grog hereingeschmuggelt hatte. »Die Schwestern versuchen, Ihnen zu helfen, und nun sehen Sie mal, was Sie machen. Sie sollten sich schämen«, schalt sie und drohte dem Mann mit dem Finger. Ihre Ermahnungen ratterten wie aus einem Schnellfeuergewehr. Dies und ihre Größe hatten ihr den Namen »Spitfire« eingebracht. Die Männer wussten, dass man sich mit ihr besser nicht anlegte.
Die Professen gingen, um sich auszuruhen. Das Asyl in der Gore Street befand sich in einem chaotischen Zustand, also machten wir uns daran, es in Ordnung zu bringen. Wir beorderten die nüchtern und körperlich unversehrten Männer in die Küche. »Lassen Sie uns den Schwestern etwas zur Hand gehen. Sie wissen doch, dass sie krank sind. Wir müssen zusehen, dass hier wieder Normalität einkehrt«, sagte Schwester Annette mit so viel Autorität, wie sie aufbringen konnte.
Jimmy mit dem Holzbein stimmte ihr zu. »Na los, Jungs! Lasst den Quatsch jetzt. Wer hilft mir beim Abwasch und beim Gemüse?« Ein paar Männer meldeten sich.
»Ja gut, ich warte nur aufs Startkommando«, sagte Bevon, ein gelernter Maler. »Was soll ich denn tun?«
»Ich bin auch dabei«, meldete sich Fred und trat an die Spüle.
Nachdem die Küche bemannt war, ging Schwester Annette nach oben, und ich blieb im Erdgeschoss, um Betten zu machen, Urinale zu leeren und den Gebrechlichen beim Duschen und Rasieren zu helfen und allgemein Ordnung zu schaffen. Ein paar Männer, die draußen rauchten, wurden »freiwillig« zum Wischen eingeteilt. Wir waren entschlossen, die schwere Arbeit erledigt zu haben, bis wir wieder gehen mussten. Unsere Bemühungen zahlten sich aus - alles war tipptopp, als die Schwestern Satya und Benedict ein paar Stunden später wiederkamen.
Als wir glücklich und zufrieden mit uns selbst den Heimweg antraten, lief ein verwirrter weißbärtiger Mann vom oberen Ende der Gore Street auf uns zu.
»Schwestern! Kommen Sie schnell! Es geht um Archie. Ich glaube, er liegt tot oben in einem Verschlag an der Victoria Parade.« Wir läuteten und baten Schwester Satya, die Polizei anzurufen, aber sie wollte die Einzelheiten erst bestätigt wissen. »Geht erst mal hoch und seht nach, was passiert ist«, befahl sie.
Wir eilten die Gore Street hoch und fanden einen jungen Mann, der auf dem Zementboden einer offenen Garage lag, die zu einem leeren Haus gehörte. Er war von Methanolflaschen umgeben, und seine Augen waren erstarrt. Ich hatte noch nie einen Toten gesehen, und mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich es kurz mit Wiederbelebung versuchte, wie ich es zu Hause im Schwimmverein gelernt hatte. Doch sobald ich damit begonnen hatte, wusste ich, dass es sinnlos war. Er war kalt und steif, und sein Brustbein knackte, als ich es niederdrückte.
Wir suchten die nächstgelegene Arztpraxis auf, damit der Arzt den Totenschein ausstellte, aber die Sprechstundenhilfe meinte, das könne er nicht, und rief für uns die Polizei an. Wir warteten zusammen mit Archies Freund, bis diese eintraf, und kehrten dann zur Nummer 101 zurück, um Schwester Satya Bericht zu erstatten.
»Es ist Archie, Schwester. Womöglich ist er heute Nacht gestorben. Er war ausgekühlt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Er war erst letzte Woche hier. Ich wollte ihn ins Krankenhaus bringen. Er sah nicht gut aus, weigerte sich aber zu gehen. Was soll man da machen?«
Wir kamen spät nach Hause. Unsere damalige Oberin war im vorderen Salon zusammen mit Jean, der Obersten der Laienmitarbeiter.
»Wo seid ihr beide gewesen?«, wollte sie von uns wissen.
»Ein Mann oben auf der Gore Street ist gestorben«, begann Schwester Annette.
»Und was habt ihr damit zu tun?«, unterbrach sie sie.
»Wir waren auf dem Heimweg, als sein Freund kam und uns holte«, erklärte ich.
»Als wärt ihr die Einzigen, um ihn zu begleiten. Ihr seid nur Novizinnen. Warum habt ihr nicht die Professen gebeten, dorthin zu gehen?«
»Weil …«, setzte ich an.
Die Schwester fiel mir ins Wort. »Ihr hättet rechtzeitig nach Hause kommen sollen. Eure Pflicht ist es, das zu tun, was man euch anschafft. Nicht mehr, nicht weniger. Ihr scheint die Absicht zu haben, zu tun, was euch beliebt und wann es euch beliebt - immer müsst ihr euch unentbehrlich machen, und alles nehmt ihr so wichtig.« Mein Gesicht brannte, es war mir peinlich, vor Jean abgekanzelt zu werden.
»Ja, Schwester. Danke Schwester«, erwiderten wir.
Als ich versuchte, mich ins Gebet zu versenken, sah ich Archies eingefallenes Gesicht und seine starren Augen. Ich war im Geiste ganz woanders, als ich Worte murmelte, die für mich keine Bedeutung hatten.
»Gegrüßt seist du, Herrin der Erde,
Gegrüßt seist du, himmlische Königin,
Gegrüßt seist du, jungfräulichste Jungfrau, keusch und heiter.«
Meine Gedanken rasten. Eine kurze Zeit lang sieht ein toter Körper einem lebendigen sehr ähnlich, aber die unsichtbare Essenz des Lebens fehlt. Ich fragte mich, warum er sich so stark abhängig vom Methanol machte? Man hat uns beigebracht, dass wir Menschen in Not helfen und ihnen unser Mitgefühl zeigen sollten. Wir waren von der Professe gebeten worden, dorthin zu gehen. Ich konnte nicht begreifen, dass ich irgendetwas falsch gemacht hatte.
Ich machte Fehler beim Rezitieren des Gebets, das von Vers zu Vers von der einen Seite der Kapelle zur anderen wanderte. Ungeachtet meines inneren Aufruhrs verhielt ich mich beim Abendessen so, als wäre nichts passiert, wie das von mir erwartet wurde. Doch später, als ich über den Vorfall nachdachte, übertrug ich mir Auszüge aus den Satzungen der Missionarinnen der Nächstenliebe in mein Notizbuch: »Jede Schwester solle Jesus Christus in der Person des Armen erkennen.« Es war ein Paradox: Da lehrte man uns, den Bedürftigen mit Mitgefühl zu begegnen, wir aber wurden, wenn wir es taten, zurechtgewiesen, weil eine solche Handlung mit der Einhaltung des Zeitplans kollidierte. Rigider Gehorsam erlaubte kein eigenes Ermessen im Umgang mit Menschen.
Indem ich einem religiösen Ideal nachstrebte, hatte ich mir das ganze Bündel aufgebürdet und mich dafür entschieden, meine Freiheit aufzugeben, die grundlegendsten Dinge selbst zu entscheiden: was ich tat, wohin ich ging, was ich aß, wann ich schlafen ging und wach wurde und was ich las. Ich wurde Gottes perfektes selbstloses Instrument, bereit, jede Arbeit zu tun, egal wo und unter wem. Das Lächeln und Lachen, das den Missionarinnen der Nächstenliebe immer so leicht über die Lippen zu kommen schien, verbarg viel Kummer und innere Kämpfe.
 
 
Armut war ein anderer, von der Gemeinschaft hoch geschätzter Wert. Gemäß den Evangelien ist die Weltordnung auf den Kopf gestellt. Mutter argumentierte, dass Christus, obwohl er Gott sei, sich selbst erniedrigt habe, um ein armer Mann sowie ein Freund der Schwachen und Verachteten zu werden, also sollten wir dasselbe tun und Anteil nehmen an der »Armut des Kreuzes«, wie sie es nannte.
Also sollten auch wir ein einfaches Leben führen, frei vom Ballast materiellen Besitzes. Wir stopften unsere Kleider, flickten unsere Gummilatschen, und nichts wurde vergeudet. Wir reinigten unser Geschirr und selbst unsere Zähne mit Asche. Wir gingen zu Fuß, wann immer es möglich war. Es gab weder Fernsehen noch Radio. Eine Schwester durfte keine persönlichen Geschenke bekommen, alles, was sie bekam, gab sie an die Oberin weiter, die dann beurteilte, ob es für den Allgemeingebrauch passend war.
Völlige Abhängigkeit von der Oberin wurde ebenfalls als Teil des Armutsgelübdes angesehen. Die Geschichten, die mein Onkel Toby uns aus seiner Zeit als Franziskanernovize erzählt hatte, waren nicht übertrieben - dass man nämlich fast betteln musste, um eine neue Zahnbürste zu bekommen, und er ahmte damals die Antwort des zuständigen Bruders nach: »Siehst du, es sind noch immer fünf Borsten auf dieser wirklich guten Zahnbürste. Frag mich nächsten Monat.« Was ich hier jedoch angetroffen hatte, bedeutete noch größere Abhängigkeit.
Wenn eine Schwester etwas benötigte, schrieb sie ihre Bitte ins Gewandbuch, ein schmales Notizbuch, das mit einem Bindfaden an einem Nagel im Refektorium hing und wöchentlich von der Oberin durchgesehen wurde. Zum Beispiel: »Dürfte ich bitte einen Flicken für meinen Sari bekommen?« Die Oberin würde die Bitte dann prüfen und nachdem sie die Schwester ermahnt hatte, doch zu versuchen, ihren Sari nicht so häufig einzureißen, das Buch abzeichnen und der »Gewand-Herrin« erlauben, das Gewünschte auszugeben.
Um unser Armutsgelübde zu erfüllen, gehörte dazu auch das wöchentliche »Betteln« um Nahrungsmittel auf den Victoria Markets, einer Ansammlung langer, überdachter Stände, an denen die Verkäufer alle möglichen frischen Produkte und Lebensmittel verkauften. Einwandererfrauen in schwarzen Kopftüchern und Stoffschürzen schauten uns fragend an, wenn wir uns mit unseren Karren näherten und die Standbesitzer der Reihe nach fragten: »Können Sie etwas für die Schwestern erübrigen?«
Einige Leute gaben uns gern etwas. Andere versuchten, uns zu ignorieren, und taten so, als sähen oder hörten sie uns nicht. Einen jungen australischen Arbeiter hörte ich »Parasiten« murmeln, als wir vorbeigingen. Meine indische Begleiterin verstand den Ausdruck nicht, aber mich traf er. Wenn ich Feindseligkeit spürte, wollte ich so schnell wie möglich weg, aber meine Begleiterin war älter als ich und traf die Entscheidungen, also warteten wir ab, bis es für die Person fast beschämend gewesen wäre, uns nichts zu geben. Die eine Woche bekamen wir jede Menge überreifer Bananen, in der nächsten eine Schwemme Kohl. Während wir uns den Hügel hoch nach Fitzroy schleppten, ging ich im Geiste das Menü für die folgende Woche durch: Kohlsuppe, gebratener Kohl, Kohl und Bohnen. Naomi mochte überhaupt keine Bananen, weil ihr davon schlecht wurde, aber essen musste sie sie.
Ein weiterer Aspekt der Armut war, dass wir Monat für Monat unsere sogenannte »Allgemeine Erlaubnis« erneuern mussten - die Erlaubnis, uns in dem Haus aufzuhalten und seine Einrichtungen zu benutzen. Diese Formalität erforderte von der Schwester, dass sie ihre spirituelle Armut, Schwäche und Wertlosigkeit erkannte. Also kniete jede Schwester vor der Oberin nieder, legte die Stirn auf den Fußboden und »sagte ihre Vergehen auf«, wie etwa, ungeduldig gewesen zu sein, geschwatzt oder das Schweigen gebrochen zu haben. Dann wurde sie gebeten, Platz zu nehmen, und die Oberin unterhielt sich mit ihr über ihre spirituelle Entwicklung oder wies sie wegen aller schlechten Angewohnheiten zurecht, die ihr aufgefallen waren. Jedes Mal, wenn Mutter ein Haus besuchte, mussten sämtliche Schwestern auf dieselbe Weise über sich Bericht erstatten.
Mutter dehnte den Begriff der Armut noch weiter aus, indem sie sagte, wir sollten »die Gelegenheit ergreifen«, fälschlich angeklagt, beschuldigt oder verachtet zu werden, wie das auch Christus widerfuhr. Das sollten wir schweigend über uns ergehen lassen und uns nicht verteidigen, genauso wie er. Wir sollten uns die niedrigsten und gewöhnlichsten Arbeiten suchen und sie fröhlich verrichten. Außerdem sollten wir uns von jeglicher Arbeit, die wir taten, distanzieren. Egal, wie viel Mühe wir in etwas investiert hatten, wir sollten immer bereit sein, ohne Grund und Ankündigung woanders weiterzumachen. Armut bedeutete, dass wir keine Rechte hatten und nichts uns gehörte.
 
 
Das Gelübde der Keuschheit umfasste mehr, als nur im Zölibat zu leben. Eine Schwester durfte keinen emotionalen Trost suchen oder Freunde innerhalb oder außerhalb des Ordens haben. Freundschaft war suspekt und ein Hindernis für die Vereinigung mit Gott. Enge Beziehungen wurden als »besondere Freundschaften« betitelt und waren verboten. Außer mit der Oberin oder einem Priester bei der wöchentlichen Beichte waren keine Privatgespräche erlaubt. Es war eine ganz einsame Lebensweise. Es fiel mir sehr schwer, die Tagträume von alternativen Lebensentwürfen unter Kontrolle zu halten, wie etwa zur Universität zu gehen, ein normales Sozialleben zu führen und Medizin zu studieren, aber ich sprach mit niemandem darüber oder über sonst etwas, das sich in der Gemeinschaft abspielte.
Ich dachte sehr oft daran, die Missionarinnen der Nächstenliebe zu verlassen. Das Gefühl, nicht dafür geschaffen zu sein, und Selbstzweifel hatten sich in mir festgesetzt und wuchsen. Der Orden bezeichnete absolut normale Gedanken als sündhaft und lehrte uns, unsere Gedankenprozesse mit so viel Argwohn zu betrachten, dass nur Unterwerfung und Gehorsam uns inneren Frieden zu geben vermochten. Sich miteinander darüber auszutauschen, war nicht nur verboten, sondern wurde sogar als »Werk des Teufels« angesehen, denn es legte die Saat des Zweifels in unseren Geist. Also kämpften wir allein mit unseren Unsicherheiten und mussten zusehen, dass wir auf unsere Weise mit ihnen klarkamen. Deshalb gab es auch keine Vorwarnung, wenn jemand uns verließ, die Schwester verschwand einfach ohne Erklärung.
 
 
Weil die Satzungen uns nicht erlaubten, außerhalb unseres Klosterrefektoriums zu essen oder zu trinken, stießen wir oft die Leute vor den Kopf, die uns einluden. Selbst wenn Mitglieder unserer Familie uns besuchten, durften wir normalerweise nicht mit ihnen essen oder trinken. Viele der alten Damen, denen wir halfen, lebten allein und hätten gern eine Tasse Tee mit uns getrunken, sie konnten es nicht verstehen, warum wir es ablehnten.
Die meisten religiösen Ordensgemeinschaften halten sich an die drei Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams, legen sie aber auf unterschiedliche Weise aus. Mutter Teresa fügte noch ein viertes Gelübde hinzu, den Dienst an den Ärmsten der Armen, aus ganzen Herzen und ohne eine Gegenleistung zu erwarten - sich um Christus in all seinen erschreckenden Verkleidungen zu kümmern. Je abstoßender oder widerlicher die Arbeit oder der Mensch war, desto fröhlicher und hingebungsvoller sollten wir sein, wie Mutter uns anwies. Und niemals durften wir irgendeine Bezahlung für unseren Dienst annehmen.
Von außerhalb des Ordens wurden wir dafür kritisiert, nicht die sozialen Probleme zu benennen, welche die Menschen arm machten, aber Mutter Teresa wollte auf die unmittelbare Not jedes Menschen reagieren, dem sie begegnete. »Unsere Leute werden sterben, wenn sie darauf warten, dass die Welt sich ändert«, sagte sie, »aber jeder von uns kann ein wenig dazu beitragen.« Auf den Vorwurf, sie gebe jemandem einen Fisch, anstatt ihm beizubringen, wie man fischt, erwiderte sie: »Die Sterbenden können nicht fischen.« Nichtsdestotrotz half Mutter einigen der Menschen, die sie unterstützte, indem sie ihnen Fertigkeiten wie Schreibmaschineschreiben und Weben beibrachte, wodurch sie letztendlich selbstständiger wurden.
In Australien jedoch bekamen die Männer, denen wir halfen, eine Rente, trugen damit aber nicht zu ihrer Verpflegung und Unterkunft bei. Manche legten das Geld an, damit sie sich eine eigene Wohnung mieten konnten, aber andere verwendeten die Mittel dazu, am Zahltag nur noch ausgiebiger auf Sauftour zu gehen, weil sie immer wieder zu uns zurückkommen und bei uns essen und wohnen konnten, wenn das Geld aufgebraucht war. Ich fand nicht, dass man ihnen damit einen guten Dienst erwies, aber es stand mir nicht zu, dies zur Diskussion zu stellen. Wenn wir ihnen für ihre Unterkunft ein wenig Geld abverlangt hätten, hätten wir dies für sie sparen können, um ihnen später etwas Sinnvolles davon zu kaufen. Dies war nicht möglich.
In der Gemeinschaft widmete man sich vorrangig dem spirituellen Leben. Gebete nahmen täglich mehrere Stunden in Beschlag: Morgengebet und Meditation, Messe, eine tägliche halbstündige spirituelle Lektüre eines Erbauungsbuchs, die einstündige Anbetung und Brevier am Abend oder am Nachmittag, Mittags-, Abend- und Nachtgebet, Gewissenserforschung und Rosenkranz. Mutter war der Ansicht, wir müssten »die Arbeit beten«, als wären Routineaufgaben eine heilige Handlung. Wir sollten in der Gegenwart leben und alles, was wir taten, sorgfältig und gut machen. Sie lehrte uns, unsere Gedanken und unsere Zungen zu hüten in der Hoffnung, inneres und äußeres Schweigen möge uns zu einem tieferen Beten führen.
Für mich stellten die vielen gesungenen Gebete, die wir täglich herunterratterten, ein Hemmnis für das dar, was ich als wahres Gebet und inneres Schweigen empfand. Ich las Way of a Pilgrim, das ich mir als spirituelle Lektüre aus den Erbauungstexten der Novizitatsbibliothek ausgesucht hatte. Es war die Geschichte eines unbekannten russischen Bauern, der lernen wollte, wie man kontinuierlich betete. Mir gefiel seine Methode, einen kurzen Satz zu wiederholen, um zu innerer Ruhe zu finden. Es entsprach dem, was der Priester uns während unserer Klausur vor unserer Aufnahme als Novizinnen aus The Cloud of Unknowing gelehrt hatte.
Die Spiritualität des Kreuzes stand im Mittelpunkt von Mutters Weltsicht. Sie hatte sich die Worte des heiligen Paulus zu eigen gemacht: »Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.« (Galater 2,19-20) Wir sollten jede Demütigung oder Schwierigkeit fröhlich als ein Mittel annehmen, »mit Christus ans Kreuz genagelt« zu werden und Seinen unendlichen Durst zu stillen. Mutter sprach von Abtötung - freiwillig etwas aufgeben, um die Sünde zu sühnen - als Angelpunkt ihrer Denkweise. Es war nicht einfach, sich bei Mutter über ein erlittenes Unrecht zu beklagen, weil sie der Ansicht war, dass man dieses annehmen solle: Bringe ein Opfer, packe die Chance, dich selbst zu erniedrigen, und beklage dich nicht. Das war ihre vorhersehbare Antwort auf jede Beschwerde.
Auch die Buße, eine Form der Selbstbestrafung für Sünden, hatte ihren Platz in der Satzung, und es kamen dabei verschiedene Praktiken zur Anwendung, wie sich auf die Schenkel schlagen - als Disziplinierung bezeichnet -, während des Morgengebets Ketten mit Stacheln um die Taille oder den Arm zu tragen und das Beten mit ausgestreckten Armen neben dem Bett am Abend. Dazu kam der Fastentag der Gemeinschaft am ersten Freitag im Monat, es gab auch öffentliche Buße wie etwa um eine Mahlzeit zu betteln, Mahlzeiten kniend einzunehmen oder die Füße der anderen Schwestern zu küssen. War man etwa wütend geworden oder hatte etwas zerbrochen, musste man seine Fehler eingestehen und sich bei der Gemeinschaft entschuldigen. Diese Praktiken waren vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil bei vielen Orden üblich, seitdem aber fast überall verworfen worden. Mutter hielt diese Praktiken jedoch für wichtig und schrieb uns häufig, um uns zusätzliche Buße aufzuerlegen.
Mir war nicht klar, dass die unerschrockene Enthüllung meiner Gedanken, Wünsche und Motive während der Beichte oder in Gesprächen mit Schwester Regina mich für Kritik und Selbstzweifel noch verwundbarer machen würde. Es gab keinen Platz, um sich zu verstecken. Einige der spirituellen Praktiken, die wir gelehrt wurden, waren kontraproduktiv und führten dazu, uns stärker auf uns zu konzentrieren, anstatt uns unser Selbstgefühl zu nehmen. Man forderte uns auf, unsere Gedanken, Motive, Worte und Handlungen zu hinterfragen. Sokrates sagte: »Ein unerforschtes Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden«, aber ich machte die Erfahrung, dass man es auch übertreiben kann. Selbst der heilige Ignatius, der dieses Muster der Selbsterforschung festgelegt hatte, war in einem Punkt seines Lebens so sehr von Skrupeln heimgesucht, dass es ihn fast in Verzweiflung stürzte. Diese Selbstbefragung ließ einen seine Motivation mit einer sonst gar nicht vorhandenen Besorgnis betrachten.
Die Isolation von Familie und Freunden, bissige Zurechtweisung im Öffentlichen wie im Privaten und die strenge Zensur von Lektüre schränkte mich in meinen Möglichkeiten immer mehr ein. Mein Geist war eingesperrt in die undurchdringliche Gruft des konservativen Katholizismus. Aber ein anderer Lebensweg erschien mir nicht denkbar. Ich fühlte mich zum mitfühlenden Dienst an den Armen hingezogen, aber um diesen Dienst zu leisten, forderte die Gemeinschaft die totale Unterwerfung meines Lebens an den Gehorsam. Doch ich lernte erst langsam, zwischen Tat und Einstellung zu unterscheiden, und befand mich beinahe ständig in innerem Aufruhr, weil ich unsere Aufgabe verkannte. Schon früh in meinem Leben hatte ich erkannt, dass die Welt voller Konflikte war, dass es Graubereiche und Situationen gab, für die klare Antworten fehlten, aber bei den Missionarinnen der Nächstenliebe gab es eine Fassade falscher Einfachheit, die man als tugendhaft und »kindlich« hinstellte. Es war nicht notwendig, sich mit einem Problem oder einer Situation auseinanderzusetzen, ich brauchte nur zu gehorchen.
 
 
Eine Weile studierten wir am Assumption Institute in Melbourne einen Tag in der Woche mit Novizinnen von anderen religiösen Orden, die ganz eindeutig ein wesentlich liberaleres Leben führten. Wir MNs blieben unter uns, aßen gemeinsam als Gruppe und gingen dann in die Kapelle zum Mittagsgebet, während die anderen Novizinnen sich erholten und miteinander plauderten. Während ich die Bibel und Moraltheologie studierte, kamen mir viele Fragen. Der Gott des Alten Testaments wurde als gewalttätig und mörderisch dargestellt und hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Gott, an den ich glaubte.
Ich fragte unseren Dozenten: »Vater, warum beschreibt die Bibel Gott als den Mörder der Erstgeborenen aller ägyptischen Familien? Es heißt auch, er habe mit den Israeliten gegen die Ägypter gekämpft, sodass deren Leichen das Ufer des Roten Meeres säumten.«
»So verstanden die Juden die Ereignisse.«
»Aber das kann doch nur ein Missverständnis gewesen sein«, fuhr ich fort. »›Gott ist Liebe‹, und er erteilte den Befehl, nicht zu töten, und doch wird er als derjenige beschrieben, der den Tod der Feinde Israels verursacht hat.«
»Du darfst nicht für Gott sprechen. Gott ist mit unserem Verstand nicht zu erfassen.«
»Aber wenn die Bibel Gott als Mörder beschreibt, gibt uns das nicht eine falsche Vorstellung davon, wer Er ist?«
»Gott ist unfassbar. Du kannst nicht davon ausgehen, Sein Wesen begreifen zu können. Ich hoffe, dein Verständnis der Schriften ist besser als deine Theologie.« Damit wurde ich zum Schweigen gebracht.
Ich fragte mehrere Lehrer, was es in der Praxis bedeutete, seine Feinde zu lieben. Wie konnten wir jenen Gutes tun, die uns hassten, oder darauf verzichten, unser Eigentum zurückzufordern, wie dies das Evangelium lehrte, wenn jemand uns beraubt hatte? Hatte dies zu bedeuten, dass wir uns nicht verteidigten? Hieß das, Grausamkeit und Ungerechtigkeit hinnehmen, um zum spirituellen Äquivalent eines Fußabstreifers zu werden? Ich bekam keine zufriedenstellende Antwort.
Die Existenz der Hölle war ein weiterer kontroverser Punkt für mich. Jene, die sich selbst von Gottes Liebe lossagten, mochten vielleicht aufhören zu existieren, aber ich konnte nicht glauben, dass sie ewig leiden würden, denn wenn die Leute immer weiter litten, würde es nie eine perfekte Welt geben. Wie in der Schule reagierten meine Lehrer gereizt auf meine Fragen, und schließlich hörte ich auf, welche zu stellen.
 
 
Ende 1973 wurde Evelyn, die Postulantin aus Sale, Novizin, behielt aber ihr Haar gemäß der in Kalkutta getroffenen Entscheidung. Naomi und ich waren die Letzten, denen man das Haar so zeitig abrasiert hatte. Samantha, die andere Postulantin, kam zu dem Schluss, dass dieses Leben nichts für sie sei, und kehrte nach Port Keats zurück. Eine neue Gruppe von Praktikantinnen traf ein: Lara von der Südküste, Anthea aus Sydney, Deidre aus dem ländlichen Victoria und Leanne. Außerdem trafen zwei Novizinnen aus Indien ein, die bei Schwester Evelyn bleiben sollten.
Die Schwestern begannen ein neues Projekt in den Außenbezirken von Melbourne. Schwester Augustine, Professe und Oberin sowie eine von Mutters früheren Schülerinnen, überwachte den Bau eines neuen Zentrums mit dem Namen Corpus Christi, oder Leib Christi, eines Orts der Klausur für Männer aus dem Stadtgebiet, denen man dort half, vom Alkohol loszukommen. Außerdem bot es Männern Unterkunft, die zu alt und zu gebrechlich für das primitive Leben in den Parkanlagen und Nebenstraßen waren. Das Zentrum würde von MN-Schwestern geführt werden. Wenn man nach Corpus Christi kam, führte die Straße rechts zu dem zweigeschossigen Klostergebäude der Schwestern mit den Unterkünften oben und einer Kapelle unten. Als es fertig war, wohnten einige Schwestern schon dort, um den Bau des Männerzentrums zu überwachen. Links von der Einfahrt lag der Männertrakt. Küche, Speisesäle und Krankenhaus befanden sich in einem lang gestreckten Gebäude vor dem Zentrum, und davon gingen rechtwinkelig drei Wohnblöcke ab.
Von Anfang an arbeiteten Jesuitenpriester wie die Väter Phil Kurts und Brian Stoney mit den Schwestern an dem Projekt, waren Kapläne und Mentoren für die Männer und wohnten mit ihnen in deren Quartieren.
Schwester Augustine hatte sich darum bemüht, das Gebäude im Geist der MNs schlicht und funktional zu halten, aber sie musste sich auch an die australischen Bauvorgaben und Regulierungen halten. Im Männerzentrum gab es eine große Wirtschaftsküche, einen Speisesaal, Badezimmer und eine Waschküche, und jeder Mann hatte sein eigenes Zimmer. Viele der Männer erholten sich dort. Sie kochten selbst, übernahmen Zimmermanns-, Garten- und Holzarbeiten. Ein Mann, ein Konditor, der, als er noch in der Gore Street 101 wohnte, beinahe auf einer Sauftour gestorben wäre, überwachte nun im neuen Zentrum das Kochen.
Im Mai 1974 näherten wir uns der ersten Profess unserer älteren Novizinnen, der Schwestern Annette, Karina und Jocelyn. Wir anderen Novizinnen verbrachten zusammen mit ihnen unsere jährliche siebentägige Schweige-Klausur. Zu vierzehnt fuhren wir in drei Autos zu unserem Haus in Gordon, einer kleinen Stadt auf dem Land westlich von Melbourne, in der Nähe von Ballarat, wo auch ein Priester zu uns stieß. Am Nachmittag vor Beginn der siebentägigen Schweigepause besuchten wir alle einen Bauernhof, der das Zuhause einer unserer Mitnovizinnen war. Es war ein Picknicktag vor der Klausur, und die Alltagsbeschränkungen wurden hier etwas lockerer gehandhabt. Neben der Scheune stand ein Damenfahrrad, und ich versuchte, Schwester Karina das Fahren beizubringen. Wir waren ein lustiger Anblick in unseren Saris, als ich hinter ihr herrannte, ihren Sitz festhielt und ihr zuschrie, sie müsse treten, während sie kreischte, aus Angst, ich könnte sie loslassen.
Die Klausur begann am Donnerstagabend ohne Priester, der wegen Überschwemmung erst einen Tag später eintraf. Schwester Regina übernahm das Kochen für uns, damit wir nicht abgelenkt wurden. Es war kalt, also hackte ich Holz, kümmerte mich um den Ölofen, das euer im Wohnzimmer und den mit Holzspänen betriebenen Warmwasserbereiter im Badezimmer, weil mir diese Dinge von zu Hause vertraut waren. Außerdem konnte ich leichter klare Gedanken fassen, wenn ich eine Beschäftigung hatte. Ich fand es anstrengend, nur drinnen zu sitzen.
Am folgenden Freitag, als unsere Zeit des Gebets und der Betrachtung vorbei war, kehrten wir nach Melbourne zurück, schmückten das Refektorium mit Blättern und Zweigen, die wir vom Land mitgebracht hatten, und begannen mit den Essensvorbereitungen für die am nächsten Tag stattfindende Profess. Wir bastelten Glückwunschkarten für die zukünftigen Professen. Ganze Autoladungen mit Verwandten von Schwester Annette kamen zur Zeremonie aus Sydney herunter.
Die Schwestern, die die Profess erhalten sollten, kleideten sich in ihre neuen Saris mit den blauen Borten, und wir marschierten alle gemeinsam zur Acht-Uhr-Messe. Die Zeremonie begann mit dem Introitus an den Heiligen Geist, wozu die Ministranten mit brennenden Kerzen, die drei zu weihenden Professen, die Schwestern Regina und Augustine, acht mitfeiernde Priester und Bischof Kelly in einer Prozession über den Gang Einzug hielten. In der Kirche drängten sich Gemeindemitglieder und Laienmitarbeiter, die dabei sein wollten, wenn junges Leben sich einem alten Ideal verschrieb.
Nachdem die Schwestern sich gemeinsam niedergekniet hatten, um vor den Schwestern Augustine und Regina ihr Gelübde abzulegen, sangen sie das Loblied »All to Jesus I Surrender«. Dann stimmten viele von Schwester Annettes Verwandten während der Kollekte ein kroatisches Lied an, Schwester Karina und unsere Gruppe mit Schwester Laboni hingegen sangen während der Kommunion unter Zuhilfenahme eines Mikrofons ein Kirchenlied auf Hindi und dann eins auf Malaiisch, sodass alle Sprachen der Professen in der Messe vertreten waren.
Die Gemeinde und die Männer aus der Gore Street feierten mit uns und bekamen ein Stück Kuchen. Später, nach dem Festmahl der Gemeinschaft, durfte Schwester Annette mit ihrer Familie ausgehen, und Schwester Regina und eine der Laienmitarbeiterinnen nahmen Karina und Justine zu diesem besonderen Anlass mit zum Hafen, um das russische Schiff zu besichtigen, das damals zufällig bei uns vor Anker lag. Am Abend führten wir ein Stück auf, das Schwester Naomi für die neuen Professen geschrieben hatte, basierend auf der biblischen Gestalt der Ruth, die ihre Familie verließ, um zu heiraten und Teil von Gottes Auserwählten zu werden. Wir hatten das Stück heimlich in einem der Schlafsäle geprobt. In einem so kleinen Haus war es schwierig, etwas zu tun, ohne dass die älteren Novizinnen es mitbekamen, aber wir überraschten sie. Nach der Profess wurde Schwester Justine nach Bourke berufen und die Schwestern Annette und Karina an das neue Männerzentrum von Corpus Christi. Dort war erst der erste Flügel fertiggestellt, der von etwa zehn Männern bewohnt wurde.
Zu diesem Zeitpunkt wurden Naomi, Elina, Laboni und ich Senior-Novizinnen und warteten begierig auf den Tag, da auch unsere Ausbildung zu Ende wäre und man uns unsere Mission zuteilte. Auch in dieser zweiten Stufe entsprachen unsere Stundenpläne in etwa denen der Vorjahre. Wir gingen am Morgen aus dem Haus, machten Hausbesuche und gaben in Staatsschulen Religionsunterricht oder arbeiteten im Asyl in der Gore Street. Am Nachmittag unterrichtete Schwester Regina uns weiterhin in der Satzung, den Heiligen Schriften, Theologie und Kirchengeschichte. Mittwochs und sonntags gingen wir nach Corpus Christi, um dort die Professen abzulösen, die ihren Ruhetag hatten, und beim Putzen, Kochen und Servieren zu helfen.
Die Schwestern Lara, Anthea, Deidre und Leanne wurden mit den üblichen Feierlichkeiten Novizinnen im ersten Jahr, und für zwei junge Professen begann das Tertianum, die Vorbereitung auf ihr endgültiges Gelübde, das sie in Melbourne und nicht in Kalkutta ablegen würden. Ihr Leben glich dem unsrigen, auch sie arbeiteten einen halben Tag und füllten den Rest des Tages mit Studium und Gebet. Die Schwestern Regina, Monica und einige Jesuitenväter unterrichteten sie, aber sie lebten getrennt von uns im Professenhaus.
Um diese Zeit besuchten mich Rell, Bren und Kim, meine Freundinnen von der Highschool. Sie musterten mich eingehend. »Hübscher Stoff, Clot!«, sagte Bren und sprach mich mit meinem Spitznamen an. Wir unterhielten uns über unsere alte Schule, die Universität, die Krankenpflege und meine Gesangsstunden. Letzteres fanden sie sehr lustig, weil sie wussten, dass ich keine einzige Note singen konnte.
Liz, meine Schulfreundin, die wie ich in Moss Vale gewohnt hatte, kam ebenfalls auf Besuch. Sie war entsetzt, als sie erfuhr, dass ich an den Ständen des Victoria Markets gebettelt hatte, war aber höflich wie immer. Später erfuhr ich, dass sie wütend auf mich und die Kirche war, weil ich mich ihrer Ansicht nach in jemanden verwandelt hatte, der ich gar nicht war, mit indischem Akzent sprach, indische Kleider trug und, wie sie es sah, die Chance wegwarf, zu studieren und meinen Kopf zu benutzen.
Schwester Dolores wurde Oberin unserer Region, doch Schwester Regina war noch immer für die Novizinnen verantwortlich. Wir wurden Schwester Dolores’ hohen Ansprüchen oftmals nicht gerecht, und sie bombardierte uns mit Kritik, wobei sie beim Sprechen ihren gelben Wollschal über die Schulter warf und uns mit schmalen Augen finster durch ihre Brille fixierte.
Schwester Dolores kochte gern, oder besser, überwachte gern die, die kochten, und wir konnten sie nur selten zufriedenstellen. Wenn sie beschloss, ein besonderes Curry oder Gebäck für einen Festtag zu machen, kam das ganze Haus zum Stillstand, und alle Arbeit ruhte. Wurde der Teig nicht richtig ausgerollt oder das Gemüse falsch geschnitten, klopfte sie manchmal mit dem gekrümmten Zeigefinger den Schwestern auf den Kopf, die sich schuldig gemacht hatten.
»Also wirklich! Ich weiß nicht, was ich mit euch machen soll? Könnt ihr nicht mal irgendwas anständig machen? Wer hat diesen Unsinn zu verantworten?«
Sie sorgte für Angst und Verwirrung. Ich fand, dass keine Mahlzeit all diese Angst rechtfertigte.
Am Vorabend eines Festtags verkündete Schwester Dolores, wir könnten nicht wie geplant unsere üblichen Besuche machen.
»Ihr werdet hier gebraucht, um in der Küche bei den singaras und paratas zu helfen«, sagte sie. Dazu musste viel Teig ausgerollt, dann gefüllt und zu Taschen zusammengerollt werden. Ich hatte einem Gemeindemitglied, einer Frau, die allein in einem Haus in der Gertrude Street wohnte, versprochen, mit ihr auf ein Amt zu gehen. »Schwester, ich habe einer Dame versprochen, sie zu einem Termin beim Wohnungsamt zu begleiten. Ihr Englisch ist nicht gut. Dürfen wir nicht für kurze Zeit weg?«
»Die Welt wird es überleben, Tobit, wenn du mal einen Tag nicht hinausgehst. Wie willst du ihr außerdem helfen? Du sprichst doch gar kein Slowakisch.«
»Wir können aber ihre Situation schildern und die Probleme, die sie mit den Treppen hat.«
»Nein, Tobit, du gehst nicht.«
»Darf ich dann wenigstens zu ihr runterlaufen, damit sie weiß, dass wir nicht kommen?« Ich wusste, dass ich den Bogen überspannte.
»Geh in die Küche, Tobit!«, zischte sie und warf ihren Schal. »Tu, was man dir sagt. Sie wird es auch ohne dich schaffen. So wichtig bist du auch nicht.«
Die Frau erzählte uns später, sie habe den ganzen Nachmittag auf uns gewartet und geglaubt, wir hätten sie vergessen.
 
 
Anfang 1975 beschloss der Gemeinderat von Fitzroy, die Lizenz für das Männerheim in der Gore Street 101 nicht mehr zu erneuern, da Nachbarn sich beklagten, das Asyl ziehe die Trunkenbolde an. Wir schlossen die Einrichtung und arbeiteten dann daran, das Gebäude zum Noviziat umzubauen. Einige der Männer zogen um nach Corpus Christi, andere hingegen bezogen ein anderes Asyl in der Nähe. Wir säuberten und schrubbten das Haus, und einige der Männer von Corpus Christi führten Reparaturen durch und sorgten für einen neuen Anstrich. Eine Weile lebten die Professen und die Tertianerinnen dort, denn um unsere spirituelle Vorbereitung nicht zu stören, wollte Schwester Regina das Noviziat erst nach unsere Profess im Mai verlagern.
In der Fastenzeit, eine Zeit der Buße, verzichteten wir auf einige Freuden, wozu das Opfer gehörte, unsere Post erst mit einwöchiger Verspätung zu erhalten. Mitte Februar rief Mama mich sehr aufgeregt an, und Schwester Regina erlaubte mir, den Anruf entgegenzunehmen. Es musste etwas Schlimmes passiert sein.
»Hast du meinen Brief nicht bekommen?«, fragte Mutter weinend.
»Nein. Was ist denn los?«
»Ich habe ihn letzte Woche abgeschickt. Er sollte längst da sein«, erwiderte sie.
»Ich werde Schwester Regina fragen. Vielleicht ist er irgendwo hängen geblieben. Was ist denn passiert?«
»Rod wäre beinahe gestorben. Er ist noch immer sehr krank. Er hatte eine Lungenentzündung, und beide Lungenfügel sind kollabiert.«
Ich wollte sofort bei ihr sein. Panik erfasste mich, und weil ich Angst hatte, er könnte sterben, glaubte ich, sofort nach Hause zu müssen.
»Liegt er im Bowral Hospital?«
»Nein. Sie haben ihn nach Lewisham verlegt. Ich bin jeden Tag nach Sydney gefahren. Er wurde operiert und muss vielleicht noch mal operiert werden. Ich war beim Gericht, um in Erfahrung zu bringen, wo sich sein Vater aufhält. Sie wollten es mir nicht sagen, also sagte ich: ›Ich dachte, es interessiert ihn vielleicht, dass sein Sohn im Sterben liegt.‹«
»Und, hast du Kontakt zu ihm bekommen?«
»Das Gericht hat ihn benachrichtigt. Er kam einmal ins Krankenhaus und hat dort mehr oder weniger die Leitung übernommen. ›Mach dir keine Sorgen, ich werde ihn morgen besuchen‹, sagte er. ›Du kannst mal eine Pause machen und brauchst nicht von Moss Vale hochzukommen.‹ Aber er tauchte nicht auf. Rod war den ganzen Tag allein, sein Vater kam nicht mehr wieder.«
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also tröstete ich sie am Telefon, so gut ich konnte, und flehte dann Schwester Regina an, mich nach Hause fahren zu lassen, damit ich meinem Bruder und meiner Mutter helfen konnte.
»Nein, Tobit. Du legst in zwei Monaten deine ersten Gelübde ab, und während des Noviziats ist kein Urlaub erlaubt. Wenn du dich Gott hingibst, wird er sich um alle jene kümmern, die du liebst.«
Tagelang beschäftigte mich dies und lenkte mich ab, und ich war hin- und hergerissen zwischen dem von mir gewählten Lebensweg und meiner Familie. Ich hatte das Gefühl, meine Mutter und auch den Rest meiner Familie im Stich zu lassen, indem ich nicht bei ihnen war. Schwester Regina schickte Rod und Mama eine kleine Notiz mit Genesungswünschen und versicherte ihnen, Gott liebe ihn und Mama dennoch. »Je mehr Gott dich liebt, umso mehr stellt er dich auf die Probe«, schrieb sie. Alle acht Schwestern, die mit mir im Noviziat waren, unterschrieben eine Mitteilung mit dem Versprechen, für eine rasche Genesung zu beten. Nach ein paar Wochen erhielt ich einen Brief, in dem stand, dass Rod wieder zu Hause sei, mit zwei »Narben wie von einem Haifischbiss« auf dem Rücken.
Als meine erste Profess immer näher rückte, versuchte ich, mir darüber Klarheit zu verschaffen, ob es mir möglich wäre, mich wie beabsichtigt ein Leben lang Gott und dem Orden zu verpflichten. Dass ich mit Schwierigkeiten rechnen musste, stand fest, aber ich war dennoch entschlossen, mein Leben in den Dienst an den Armen zu stellen. Dieses Ziel gab mir Kraft; ich glaubte, dies sei mein ganzer Lebenssinn. Der Gedanke, erst einen Abschluss zu machen und dann eine Weile bei einer Freiwilligen-Organisation wie Australian Volunteers im Ausland zu arbeiten, kam mir gar nicht. Mutter Teresa inspirierte mich noch immer. Ich wollte mit ihr zu denjenigen, die sich vor den Toren unserer Gesellschaft befanden. Und das, obwohl ich als eine MN-Schwester wie ein unmündiges Kind behandelt wurde. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass Gott mich für seine Zwecke benutzen würde, wenn ich ihm alles gab, was ich besaß, und mir Kraft gäbe, die Probleme und Widersprüche in der Gemeinschaft zu bewältigen. Perfekt sei es nirgendwo, redete ich mir ein.
Am 22. März 1975 erhielt ich einen handgeschriebenen Brief von Mutter Teresa, in dem sie mir bestätigte, dass ich zu meinen ersten Gelübden im Mai dieses Jahres zugelassen sei, und mich ermahnte, im Gebet und im Schweigen zu wachsen und zu lernen, die anderen so zu lieben, wie Christus mich liebte. Ich war aufgeregt und hatte nur noch einen Gedanken, dass ich nämlich bald das Ausbildungshaus verlassen und die Arbeit beginnen würde, deretwegen ich in den Orden eingetreten war. In der Freizeit unterhielten wir uns darüber, wohin man uns wohl schicken würde. Ich hoffte, nach Afrika oder nach Asien zu kommen.
 
 
Anfang Mai kamen neue Postulantinnen zu uns, darunter Doreen aus Neuseeland, Lacy aus Australien und drei Frauen aus Singapur - Hua, Jun und Mei-ling. Doreen war erst vor Kurzem zum Katholizismus konvertiert, und die Schwestern aus Singapur machten einen sehr verlorenen Eindruck in diesem neuen Land mit seinem völlig anderen Lebensstil. Die Aussicht, dass Mutter Teresa bald kommen und sie formal in der Gemeinschaft willkommen heißen würde, begeisterte sie jedoch.
Mutter kam rechtzeitig nach Australien, um mit uns die Klausur vor der Profess zu machen, die der Zisterzienserabt von Tarrawarra, Dom Kevin O’Farrell, im Kloster von Corpus Christi leiten würde. Ehe die Klausur begann, verbrachte Mutter ein paar Tage bei uns und berichtete uns Neuigkeiten von den Schwestern weltweit.
»Die Arbeit in Afrika wächst und gedeiht«, sagte sie. »Gott meint es gut mit uns Schwestern. Es gibt bereits dreißig afrikanische Postulantinnen in Addis Abeba und dazu noch über hundert äthiopische Aspirantinnen. Ich werde ein Noviziat in Äthiopien aufbauen müssen, um sie alle zu unterrichten. Gott sorgt für uns. Es ist wunderbar!
Im Nahen Osten ist die Lage sehr unsicher«, fuhr sie fort. »In Amman konnten unsere Schwestern vor dem Erschießen gerettet werden, weil Schwester Damian und ich vor einiger Zeit einen Mann von der Straße aufgelesen hatten, der an einem Gangrän litt. Wir sorgten dafür, dass er medizinisch versorgt wurde, und die Schwestern kümmerten sich um ihn, bis er wieder gesund war. Dieser Mann wurde Kommandant der Guerillakämpfer. Er tauchte an dem Ort auf, wo die Schwestern gefangen gehalten wurden. Er erkannte in Schwester Damian eine der Frauen, die ihm geholfen hatten. ›Lasst diese Frauen gehen!‹, befahl er. ›Sie tun Gottes Werk.‹
Es gibt so viele andere Geschichten, die ich euch erzählen könnte, Schwestern.« Sie schnitt in ihren Gesprächen mit uns viele Themen an. »Gebete sind mächtig. In Gaza war die Armee auf dem Vormarsch und zerstörte alles - brannte Häuser nieder und tötete Menschen. Unsere Schwestern und ein Orden arabisch sprechender Nonnen begannen eine Novena - ein neuntägiges Gebet -, während der sie Tag und Nacht den Rosenkranz beteten. Am neunten Tag kam die Armee nur eine Straße entfernt von unserem Kloster zum Stillstand.«
Sie besprach mit uns die Lektionen, die wir aus diesem Beispiel ziehen sollten. »Denkt immer daran, Schwestern: ›Bittet und ihr werdet bekommen.‹ Bald werden einige von euch ihre ersten Gelübde ablegen. Wenn ihr wirklich voll und ganz zu Gott gehören wollt, müsst ihr Ihm zur Verfügung stehen, damit Er über euch gebieten kann, wie es Ihm gefällt. Beschäftigt euch nicht zu sehr damit und habt keine Sorge. Gott ist da. Er wird euch helfen. Die Schwestern in Gaza waren sehr angespannt und besorgt: ›Sollen wir nicht weggehen, Mutter?‹, fragten sie mich. ›Viele Leute werden getötet.‹
›Nein, Schwestern‹, sagte ich ihnen. ›Lasst es mich nur wissen, wenn ihr tot seid!‹«
Diese offensichtliche Missachtung der Sicherheit unserer Schwestern erschütterte mich, aber Mutter lachte und erklärte: »Ich wusste, Gott würde sie beschützen. Von dem Moment an, als die Schwestern das akzeptierten, waren sie friedlich und glücklich, trotz aller Widerwärtigkeiten. Gott wird euch nie vergessen, Schwestern. Er ist immer da. Er liebt jeden von uns individuell und persönlich. Er hat euch in die Innenseite Seiner Hand eingeschnitzt. Kein Spatz fällt zu Boden, ohne dass unser Vater es weiß, seid also ohne Sorge!«
Mutter beschrieb sich und ihre Schwestern als die »Gemahlinnen des Gekreuzigten«. Mit unserer Weihe wurde von uns erwartet, unseren Gelübden gemäß zu leben und alles Leid, jedes Opfer und selbst den Tod zu akzeptieren, falls dieser uns ereilen sollte. Unsere Gelübde, so erklärte sie uns, waren wie ein Eheversprechen; wir verpflichteten uns damit jedoch nicht einem Menschen, sondern dem Gekreuzigten. Ich weigerte mich, mich eingehender mit dieser Ehe-Thematik zu befassen, weil sie mir nicht weiterhalf und ich sie merkwürdig fand. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit Jesus verheiratet zu sein.
Mutter erzählte uns von Bruder Andrew, einem Australier, der Jesuitenpriester gewesen war, ehe er sich mit Mutter zusammentat und 1963 den Männerorden der Missionare der Nächstenliebe gründete, deren Oberster Diener er war. Andrew hatte alle Brüder, die mit ihm in Vietnam gearbeitet hatten, zurück ins sichere Indien geschickt, weil er den Fall Saigons befürchtete, aber er blieb, um bei den Leuten zu sein, um die sie sich gekümmert hatten. Ein Bruder in der Ausbildung weigerte sich zu gehen. »Selbst wenn du mich aus der Bruderschaft ausstößt, werde ich dich und die Leute nicht verlassen«, erklärte er Bruder Andrew. Mutter sagte, wir sollten für sie beten, denn wenn die Truppen durchbrächen, würden sie womöglich beide erschossen. Diese Geschichten machten einen tiefen Eindruck auf mich.
Zu unserer siebentägigen Schweigeklausur gingen wir mit Mutter hinaus nach Corpus Christi. Ich spürte, dass ihr der Ort nicht gefiel, weil sie ihn für die Arbeit der MNs als zu groß und zu modern empfand. Dort hörten wir jeden Tag eine Lesung des Abts und noch eine von Mutter und verbrachten dann den Rest der Zeit im Gebet. Wir sahen Mutter auch zu einem privaten Gespräch und legten bei Dom Kevin die Beichte ab.
Während dieser Tage beschäftigte mich die Frage, warum Mutter sich so sicher war, dass die Schwestern im Nahen Osten nicht in Gefahr waren, während sie sich um Bruder Andrew und seinen Gefährten in Vietnam Sorgen machte, die doch einer wie der andere unter der Fürsorge desselben Gottes standen. Ich musste auch an die Menschen denken, die vor dem neunten Tag der Novena gestorben waren. Sie waren Gott doch gewiss so wertvoll wie die Schwestern und starben doch nicht nur, weil ein paar Gebete gefehlt hatten.
 
 
Am 14. Mai 1975 im Alter von einundzwanzig Jahren kniete ich zusammen mit meinen Mitschwestern Naomi, Laboni und Elina vor Mutter Teresa in der All Saints Church Fitzroy und verpflichtete mich Gott und dem Orden. Mama kam zu meiner Profess zusammen mit Großmama, Tony, Rod und Judy von Moss Vale herunter. Ich war so froh, Rod wieder kräftig und gesund zu sehen. Toby und mein Freund Paul, der ein Franziskanermönch in brauner Kutte geworden war, nahmen ebenfalls daran teil, und auch Naomis Familie. Wir Novizinnen trugen zum ersten Mal unseren neuen Sari mit Blau, der die Professen auszeichnete, und gingen dann zur Kirche, wo sich alle versammelt hatten. Mutter überreichte jeder von uns ein Kreuz, das wir küssten und uns an den Strick hefteten, den wir um die Taille trugen. Gemeinsam mit den anderen legte ich meine ersten Gelübde gemäß der vorgeschriebenen Formulierung ab.
 
 
»Zur Ehre und zum Ruhm Gottes … weihe ich mich Ihm ganz in vollkommener Hingabe, liebendem Vertrauen und mit Fröhlichkeit … in Anwesenheit von Mutter Teresa MN gelobe ich, Schwester Tobit Livermore MN, für ein Jahr Keuschheit, Armut, Gehorsam und den Dienst an den Ärmsten der Armen aus ganzem Herzen und ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen, gemäß den Satzungen der Missionarinnen der Nächstenliebe …«
 
 
Danach saß ich mit meiner Familie zusammen, und wir plauderten auf dem vorderen Hof in der Gore Street, wo der Morgentee eingenommen wurde, und ich bekam Karten und Telegramme von meinen Freundinnen, Onkeln, Tanten und Cousins. Großmama und die Jungs hatte ich kaum gesehen, seit ich von zu Hause weggegangen war. Wir gingen nicht aus, weil Großmama nicht weit laufen konnte und das Auto zu klein für sechs Leute war, und so bekam meine Familie, während wir innerhalb der Gemeinschaft unser Festmahl einnahmen, ihr Essen im Salon serviert.
Kurz bevor wir uns zum Mittagessen niederließen, nahm Schwester Regina uns beiseite, um uns zu sagen, dass Mutter nun verkünden werde, wo wir eingesetzt würden. Nachdem wir uns versammelt und vor dem Essen das Tischgebet gesprochen hatten, verkündete Mutter alle Versetzungen, beginnend mit den neuen Professen. Jede Ankündigung wurde mit Rufen und Klatschen begrüßt. »Schwester Naomi, du wirst nach Katherine ins Northern Territory gehen. Schwester Elina, du bist für Bourke vorgesehen. Schwester Laboni, du kommst nach Port Moresby, und Schwester Tobit, du wirst hier im Noviziat bleiben, um Schwester Regina zu helfen.« Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Als ich es Mama erzählte, war sie glücklich, dass ich in relativer Nähe blieb, aber ich war am Boden zerstört. Ich sagte nichts, hatte aber das Gefühl, noch immer darauf zu warten, dass mein wahres Leben als MN endlich seinen Anfang nahm. Ich wollte verhindern, dass Menschen hungers starben, und jenen helfen, die auf der Straße lebten, und nicht in einem Noviziat wohnen.
Nach dem Mittagessen brachen unsere Familien auf, weil zwei MN-Schwestern ihre endgültigen Gelübde in der Saint Patrick’s Cathedral ablegten und wir neuen Professen daran teilnehmen sollten. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit meinen Leuten verbringen können, die immerhin eine Reise von siebenhundert Kilometern von Moss Vale auf sich genommen hatten.
Im Unterschied zu unserer Zeremonie in der Gemeindekirche wirkte die endgültige Profess in der Kathedrale viel unpersönlicher. Mutter und unsere Schwestern waren ganz weit weg oben vor dem Altar, und von meinem Platz aus versperrte mir eine Säule die Sicht. Die Orgel spielte, und die Gemeinde sang, und als die Schwestern nach Hause kamen, bildeten wir eine Ehrengarde für sie und streuten Blütenblätter über sie.
Abends wurden Stücke aufgeführt, Lieder gesungen und getanzt. Die Novizinnen führten ein Drama über die heilige Klara auf, das weibliche Äquivalent des heiligen Franziskus, und dann noch ein lustiges Puppenspiel, das uns alle furchtbar zum Lachen brachte. Mutter sprach ein paar Worte und betonte die Notwendigkeit, einander zu lieben, ehe sie uns zum letzten Mal segnete. Die drei anderen brachen noch am Abend mit Mutter auf, um nach Corpus Christi zu gehen.
Traurig und niedergeschlagen blieb ich im Ausbildungshaus zurück. Mutter war gegangen, meine Familie gekommen und wieder abgereist, doch ich blieb, obwohl ich mein Ziel erreicht und meine Gelübde abgelegt hatte, im Noviziat. Nach all der Aufbauarbeit hatte sich für mich nicht viel verändert. Ich saß im hinteren Teil der Kapelle auf dem Fußboden und versuchte, meiner Enttäuschung Herr zu werden. »Offensichtlich, Herr, ist es dein Wille, dass ich dem städtischen Melbourne und dem Noviziat nicht entkomme.«
Am nächsten Morgen um vier Uhr brach Schwester Elina nach Bourke auf, Schwester Naomi ging ein paar Tage später nach Katherine, und Schwester Laboni musste noch zwei Wochen auf ihren Flug nach Port Moresby in Papua-Neuguinea warten. Schwester Regina, Schwester Benedict und ich liehen uns den alten verbeulten Ford Cortina des Gemeindepriesters aus, um sie zum Flughafen zu bringen. Kurz bevor sie im Terminal verschwand, wünschte ich ihr alles Gute und sprach die Hoffnung aus, eines Tages zu ihr zu kommen. Auf dem Heimweg blieb Vaters Wagen liegen. Schwester Laboni war vermutlich bereits in Moresby, ehe ich im Noviziat ankam, um meine neuen Aufgaben zu übernehmen.