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Missionarin der Nächstenliebe
Wir Novizinnen hatten viel über die Gemeinschaft
zu lernen. Binnen zwei Jahren würden wir unsere vier Gelübde der
Armut, der Keuschheit, des Gehorsams und des Dienstes an den
Ärmsten der Armen aus ganzem Herzen und ohne Gegenleistung
ablegen.
Als Mutter den Orden 1948 gründete, hatte sie eine
Satzung verfasst, welche die Ziele und Regeln der Gemeinschaft
festlegte, dazu gab es außerdem einen detaillierten Kommentar.
Nachdem sie diese Satzung zur Billigung nach Rom geschickt hatte,
genehmigte der Vatikan ihre Institution als neuen religiösen Orden
am 7. Oktober 1950, dem Gründungstag der Gemeinschaft.
Wir schrieben die Regeln und ihre Erläuterungen in
unsere Notizbücher und lernten Passagen daraus auswendig. Später
schrieb Mutter in Zusammenarbeit mit einer Gruppe älterer
Schwestern die Satzung um, um sie dem Geist des Zweiten
Vatikanischen Konzils anzugleichen; diese Satzung wurde von den
Delegierten der Schwestern auf einem Kapitel oder Vollversammlung
der Schwestern gebilligt. Das Dokument war nun länger und
detaillierter, aber das Leben, das es beschrieb und regulierte,
blieb dasselbe.
Einige Themen tauchten in Mutters Lehren immer
wieder
auf. Oftmals sagte sie, das Ziel ihrer Kongregation sei es, »den
unendlichen Durst von Jesus am Kreuz nach der Liebe der Seelen zu
löschen«. Ich hatte das Ziel der Gemeinschaft immer viel
pragmatischer gesehen: das Leid zu mildern, die Hungrigen zu
füttern und den Durstigen Wasser zu geben. Und deshalb sah ich
darin auch genau diesen Sinn, der von Mutter für uns Schwestern nur
in religiösere und bildhaftere Begriffe gefasst worden war.
Ein Kirchenlied, das wir lernten, »Ich dürste«,
entfaltete Mutters eher mystische Thematik: »Mein Kelch wird
gefüllt sein mit Liebe, Opfern, Dir dargebracht. Auf immer und ewig
werde ich Deinen Durst stillen, Herr …« Diese Gefühle teilte ich
nicht, aber ich glaubte damals, dass mich mit Mutter Teresa ein
gemeinsames Ideal verband.
Die Missionarinnen der Nächstenliebe sollten
Besinnliche im Herzen der Welt sein. Schwester Regina klärte uns
darüber auf, dass den Geist der Gemeinschaft »vollkommene Hingabe,
liebendes Vertrauen und Fröhlichkeit« ausmachten. Wir sollten
»unseren freien Willen, unsere Vernunft und unser ganzes Leben für
den reinen Glauben« aufgeben. Mutter unterwies uns immer wieder
darin, »mit einem Lächeln zu geben, was Er nimmt, und zu nehmen,
was Er gibt«.
Mutter Teresa stand unter dem massiven Einfluss des
heiligen Ignatius von Loyola, der Soldat gewesen war, ehe er den
Jesuitenorden gründete. Die Loreto-Schwestern, Mutters erste
Ordensgemeinschaft, hatten die Ideen von Ignatius’ blindem
militärischem Gehorsam sowie ein kodifiziertes, reglementiertes
System religiöser Praktiken übernommen. Mutters jesuitische
Beichtväter und geistige
Oberhäupter hatten ihre spirituelle Formung begleitet und sie
dahingehend beeinflusst, dass sie folgerichtig im Gehorsam die
Haupttugend und den Lackmustest wahrer Demut und Heiligkeit
sah.
Die Zeit, in der Mutter Teresa aufwuchs, war noch
geprägt von der Unterdrückung der sogenannten Modernen Häresie
durch die Kirche. Diese hatte die Kirche herausgefordert, ihre
Lehre auf rationalere und wissenschaftlichere Weise zu verbreiten.
Die Moderne Häresie lehrte, dass die Wahrheit nicht statisch oder
unveränderbar sei, sondern sich mit unserem sich verändernden
Verständnis entwickeln könne. Durch sie wurde die Lehrautorität der
Kirche und insbesondere die des Papstes infrage gestellt und in
Debatten und wissenschaftlichen Untersuchungen die göttliche
Offenbarung und päpstliche Unfehlbarkeit hinterfragt. 1907, drei
Jahre vor Mutters Geburt, bekämpfte Papst Pius X. diese
rationalistische und säkulare Bewegung, indem er die Lehre
aufstellte, die Katholiken müssten ihren Intellekt und ihren Willen
der Lehrautorität der Kirche beugen. Stolz, so schrieb er, sei die
Wurzel allen Übels, und der einzige Weg, gegen diesen anzukämpfen,
sei demütiger Gehorsam. Offensichtlich nahm Mutter Teresa als junge
Frau sich diese Lehre zu Herzen und sah den besten Weg, sich von
Gott leiten zu lassen, darin, den kirchlichen Autoritäten zu
gehorchen. »Gott braucht Menschen, die gehorsam sind«, sagte sie,
aber diejenigen, die ihren eigenen Weg gehen, sind zum Scheitern
verurteilt. Sie lehrte, dass »selbst Gott nicht füllen kann, was
bereits voll ist«. Unsere Aufgabe als Nonnen sei es, uns leer zu
machen, damit wir Kanäle der göttlichen Macht wurden.
Unser inneres Selbst musste sterben wie der Weizen, um eine Ernte
hervorzubringen.
Wir sollten Mutter Teresas Plan folgen: den Armen
in Liebe zu dienen und zu leben wie sie. Dabei wurde jedoch der
Unterwerfung größeres Gewicht beigemessen als kooperativer Liebe
und Gleichheit. In Mutters Worten: »Wenn es uns gelingt, prompt,
einfach, blind und fröhlich zu gehorchen, sollte es uns möglich
sein, die höchste Perfektion zu erlangen.«
Ich wusste, dass das nicht stimmte. Wenn dieser
Befehl nun falsch war? Wenn wir nur aus Angst gehorchten oder um
uns bei den Mächtigen einzuschmeicheln? War Unterwerfung nicht
unter Umständen ein Zeichen der Schwäche und nicht der Stärke?
Selbst damals waren für mich Gehorsam und Güte nicht dasselbe.
Konfliktsituationen wühlten mich auf, und ich hatte immer ein
feines Gespür dafür gehabt, wie Menschen miteinander umgingen, so
beispielsweise als Kind, wenn ich mich vor dem Haus mit meinen
Brüdern zusammenkauerte, während Mama und Papa sich im Haus
anschrien. Ich wusste, dass ein Feigling aus Angst gehorcht, also
konnte Gehorsam für sich genommen kein Anzeichen von Heiligkeit
sein. Manchmal fiel es mir schwerer, meine Meinung zu sagen, als zu
schweigen, was zu inneren Konflikten führte, denn das, was man mir
als gut und heilig beibrachte, empfand ich als falsch und
unterwürfig. Schwester Regina lehrte uns, alles, was unsere
Vorgesetzten von uns verlangten, als Gottes Willen zu akzeptieren.
Mitfühlender Dienst an den Armen war der Köder gewesen, der mich in
den Orden gelockt hatte, aber ehe ich mich versah, war ich der
Doktrin von Gehorsam und blinder Unterwerfung ins
Netz gegangen. Man musste im Orden mit Demütigung und Standpauken
rechnen, und man sah diese als Mittel, uns zu besseren Menschen zu
machen.
Ich sollte noch lernen, was Gehorsam bei den
Missionarinnen der Nächstenliebe bedeutete. Am frühen Montagmorgen
nach dem Pfingstsonntag 1973 wurden Schwester Annette und ich zur
Arbeit in der Gore Street 101 geschickt. Schwester Regina weilte
noch beim Kapitel in Kalkutta. Wir sollten die Professen für ein
paar Stunden entlasten, denn sie waren an Grippe erkrankt und
hatten sich nicht ausruhen können. Wir läuteten die Glocke des
Männerasyls neben dem massiven Eisentor, das auf Augenhöhe ein
Gitter hatte. Als Schwester Satya kam, um uns aufzuschließen, sah
sie nicht gut aus und fummelte herum, bis sie den richtigen
Schlüssel gefunden hatte. Sie lächelte müde. »Ach, diese Männer!
Ihr werdet heute Morgen alle Hände voll zu tun haben. Die spielen
verrückt.«
Schwester Benedict, die es gerade mal auf einen
Meter dreißig brachte, stand auf dem Betonvorhof und legte sich mit
einem Riesen von einem Mann an, der Grog hereingeschmuggelt hatte.
»Die Schwestern versuchen, Ihnen zu helfen, und nun sehen Sie mal,
was Sie machen. Sie sollten sich schämen«, schalt sie und drohte
dem Mann mit dem Finger. Ihre Ermahnungen ratterten wie aus einem
Schnellfeuergewehr. Dies und ihre Größe hatten ihr den Namen
»Spitfire« eingebracht. Die Männer wussten, dass man sich mit ihr
besser nicht anlegte.
Die Professen gingen, um sich auszuruhen. Das Asyl
in der Gore Street befand sich in einem chaotischen Zustand, also
machten wir uns daran, es in Ordnung zu bringen.
Wir beorderten die nüchtern und körperlich unversehrten Männer in
die Küche. »Lassen Sie uns den Schwestern etwas zur Hand gehen. Sie
wissen doch, dass sie krank sind. Wir müssen zusehen, dass hier
wieder Normalität einkehrt«, sagte Schwester Annette mit so viel
Autorität, wie sie aufbringen konnte.
Jimmy mit dem Holzbein stimmte ihr zu. »Na los,
Jungs! Lasst den Quatsch jetzt. Wer hilft mir beim Abwasch und beim
Gemüse?« Ein paar Männer meldeten sich.
»Ja gut, ich warte nur aufs Startkommando«, sagte
Bevon, ein gelernter Maler. »Was soll ich denn tun?«
»Ich bin auch dabei«, meldete sich Fred und trat an
die Spüle.
Nachdem die Küche bemannt war, ging Schwester
Annette nach oben, und ich blieb im Erdgeschoss, um Betten zu
machen, Urinale zu leeren und den Gebrechlichen beim Duschen und
Rasieren zu helfen und allgemein Ordnung zu schaffen. Ein paar
Männer, die draußen rauchten, wurden »freiwillig« zum Wischen
eingeteilt. Wir waren entschlossen, die schwere Arbeit erledigt zu
haben, bis wir wieder gehen mussten. Unsere Bemühungen zahlten sich
aus - alles war tipptopp, als die Schwestern Satya und Benedict ein
paar Stunden später wiederkamen.
Als wir glücklich und zufrieden mit uns selbst den
Heimweg antraten, lief ein verwirrter weißbärtiger Mann vom oberen
Ende der Gore Street auf uns zu.
»Schwestern! Kommen Sie schnell! Es geht um Archie.
Ich glaube, er liegt tot oben in einem Verschlag an der Victoria
Parade.« Wir läuteten und baten Schwester Satya, die Polizei
anzurufen, aber sie wollte die Einzelheiten erst bestätigt
wissen. »Geht erst mal hoch und seht nach, was passiert ist«,
befahl sie.
Wir eilten die Gore Street hoch und fanden einen
jungen Mann, der auf dem Zementboden einer offenen Garage lag, die
zu einem leeren Haus gehörte. Er war von Methanolflaschen umgeben,
und seine Augen waren erstarrt. Ich hatte noch nie einen Toten
gesehen, und mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich es kurz
mit Wiederbelebung versuchte, wie ich es zu Hause im Schwimmverein
gelernt hatte. Doch sobald ich damit begonnen hatte, wusste ich,
dass es sinnlos war. Er war kalt und steif, und sein Brustbein
knackte, als ich es niederdrückte.
Wir suchten die nächstgelegene Arztpraxis auf,
damit der Arzt den Totenschein ausstellte, aber die
Sprechstundenhilfe meinte, das könne er nicht, und rief für uns die
Polizei an. Wir warteten zusammen mit Archies Freund, bis diese
eintraf, und kehrten dann zur Nummer 101 zurück, um Schwester Satya
Bericht zu erstatten.
»Es ist Archie, Schwester. Womöglich ist er heute
Nacht gestorben. Er war ausgekühlt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Er war erst letzte Woche
hier. Ich wollte ihn ins Krankenhaus bringen. Er sah nicht gut aus,
weigerte sich aber zu gehen. Was soll man da machen?«
Wir kamen spät nach Hause. Unsere damalige Oberin
war im vorderen Salon zusammen mit Jean, der Obersten der
Laienmitarbeiter.
»Wo seid ihr beide gewesen?«, wollte sie von uns
wissen.
»Ein Mann oben auf der Gore Street ist gestorben«,
begann Schwester Annette.
»Und was habt ihr damit zu tun?«, unterbrach sie
sie.
»Wir waren auf dem Heimweg, als sein Freund kam und
uns holte«, erklärte ich.
»Als wärt ihr die Einzigen, um ihn zu begleiten.
Ihr seid nur Novizinnen. Warum habt ihr nicht die Professen
gebeten, dorthin zu gehen?«
»Weil …«, setzte ich an.
Die Schwester fiel mir ins Wort. »Ihr hättet
rechtzeitig nach Hause kommen sollen. Eure Pflicht ist es, das zu
tun, was man euch anschafft. Nicht mehr, nicht weniger. Ihr scheint
die Absicht zu haben, zu tun, was euch beliebt und wann es euch
beliebt - immer müsst ihr euch unentbehrlich machen, und alles
nehmt ihr so wichtig.« Mein Gesicht brannte, es war mir peinlich,
vor Jean abgekanzelt zu werden.
»Ja, Schwester. Danke Schwester«, erwiderten
wir.
Als ich versuchte, mich ins Gebet zu versenken, sah
ich Archies eingefallenes Gesicht und seine starren Augen. Ich war
im Geiste ganz woanders, als ich Worte murmelte, die für mich keine
Bedeutung hatten.
»Gegrüßt seist du, Herrin der Erde,
Gegrüßt seist du, himmlische Königin,
Gegrüßt seist du, jungfräulichste Jungfrau, keusch
und heiter.«
Meine Gedanken rasten. Eine kurze Zeit lang
sieht ein toter Körper einem lebendigen sehr ähnlich, aber die
unsichtbare Essenz des Lebens fehlt. Ich fragte mich, warum er sich
so stark abhängig vom Methanol machte? Man hat uns beigebracht,
dass wir Menschen in Not helfen und ihnen unser Mitgefühl zeigen
sollten. Wir waren von der Professe gebeten
worden, dorthin zu gehen. Ich konnte nicht begreifen, dass ich
irgendetwas falsch gemacht hatte.
Ich machte Fehler beim Rezitieren des Gebets, das
von Vers zu Vers von der einen Seite der Kapelle zur anderen
wanderte. Ungeachtet meines inneren Aufruhrs verhielt ich mich beim
Abendessen so, als wäre nichts passiert, wie das von mir erwartet
wurde. Doch später, als ich über den Vorfall nachdachte, übertrug
ich mir Auszüge aus den Satzungen der Missionarinnen der
Nächstenliebe in mein Notizbuch: »Jede Schwester solle Jesus
Christus in der Person des Armen erkennen.« Es war ein Paradox: Da
lehrte man uns, den Bedürftigen mit Mitgefühl zu begegnen, wir aber
wurden, wenn wir es taten, zurechtgewiesen, weil eine solche
Handlung mit der Einhaltung des Zeitplans kollidierte. Rigider
Gehorsam erlaubte kein eigenes Ermessen im Umgang mit
Menschen.
Indem ich einem religiösen Ideal nachstrebte, hatte
ich mir das ganze Bündel aufgebürdet und mich dafür entschieden,
meine Freiheit aufzugeben, die grundlegendsten Dinge selbst zu
entscheiden: was ich tat, wohin ich ging, was ich aß, wann ich
schlafen ging und wach wurde und was ich las. Ich wurde Gottes
perfektes selbstloses Instrument, bereit, jede Arbeit zu
tun, egal wo und unter wem. Das Lächeln und Lachen, das den
Missionarinnen der Nächstenliebe immer so leicht über die Lippen zu
kommen schien, verbarg viel Kummer und innere Kämpfe.
Armut war ein anderer, von der Gemeinschaft hoch
geschätzter Wert. Gemäß den Evangelien ist die Weltordnung auf den
Kopf gestellt. Mutter argumentierte, dass Christus,
obwohl er Gott sei, sich selbst erniedrigt habe, um ein armer Mann
sowie ein Freund der Schwachen und Verachteten zu werden, also
sollten wir dasselbe tun und Anteil nehmen an der »Armut des
Kreuzes«, wie sie es nannte.
Also sollten auch wir ein einfaches Leben führen,
frei vom Ballast materiellen Besitzes. Wir stopften unsere Kleider,
flickten unsere Gummilatschen, und nichts wurde vergeudet. Wir
reinigten unser Geschirr und selbst unsere Zähne mit Asche. Wir
gingen zu Fuß, wann immer es möglich war. Es gab weder Fernsehen
noch Radio. Eine Schwester durfte keine persönlichen Geschenke
bekommen, alles, was sie bekam, gab sie an die Oberin weiter, die
dann beurteilte, ob es für den Allgemeingebrauch passend war.
Völlige Abhängigkeit von der Oberin wurde ebenfalls
als Teil des Armutsgelübdes angesehen. Die Geschichten, die mein
Onkel Toby uns aus seiner Zeit als Franziskanernovize erzählt
hatte, waren nicht übertrieben - dass man nämlich fast betteln
musste, um eine neue Zahnbürste zu bekommen, und er ahmte damals
die Antwort des zuständigen Bruders nach: »Siehst du, es sind noch
immer fünf Borsten auf dieser wirklich guten Zahnbürste. Frag mich
nächsten Monat.« Was ich hier jedoch angetroffen hatte, bedeutete
noch größere Abhängigkeit.
Wenn eine Schwester etwas benötigte, schrieb sie
ihre Bitte ins Gewandbuch, ein schmales Notizbuch, das mit einem
Bindfaden an einem Nagel im Refektorium hing und wöchentlich von
der Oberin durchgesehen wurde. Zum Beispiel: »Dürfte ich bitte
einen Flicken für meinen Sari bekommen?« Die Oberin würde die Bitte
dann prüfen und nachdem sie die Schwester ermahnt hatte, doch
zu versuchen, ihren Sari nicht so häufig einzureißen, das Buch
abzeichnen und der »Gewand-Herrin« erlauben, das Gewünschte
auszugeben.
Um unser Armutsgelübde zu erfüllen, gehörte dazu
auch das wöchentliche »Betteln« um Nahrungsmittel auf den Victoria
Markets, einer Ansammlung langer, überdachter Stände, an denen die
Verkäufer alle möglichen frischen Produkte und Lebensmittel
verkauften. Einwandererfrauen in schwarzen Kopftüchern und
Stoffschürzen schauten uns fragend an, wenn wir uns mit unseren
Karren näherten und die Standbesitzer der Reihe nach fragten:
»Können Sie etwas für die Schwestern erübrigen?«
Einige Leute gaben uns gern etwas. Andere
versuchten, uns zu ignorieren, und taten so, als sähen oder hörten
sie uns nicht. Einen jungen australischen Arbeiter hörte ich
»Parasiten« murmeln, als wir vorbeigingen. Meine indische
Begleiterin verstand den Ausdruck nicht, aber mich traf er. Wenn
ich Feindseligkeit spürte, wollte ich so schnell wie möglich weg,
aber meine Begleiterin war älter als ich und traf die
Entscheidungen, also warteten wir ab, bis es für die Person fast
beschämend gewesen wäre, uns nichts zu geben. Die eine Woche
bekamen wir jede Menge überreifer Bananen, in der nächsten eine
Schwemme Kohl. Während wir uns den Hügel hoch nach Fitzroy
schleppten, ging ich im Geiste das Menü für die folgende Woche
durch: Kohlsuppe, gebratener Kohl, Kohl und Bohnen. Naomi mochte
überhaupt keine Bananen, weil ihr davon schlecht wurde, aber essen
musste sie sie.
Ein weiterer Aspekt der Armut war, dass wir Monat
für Monat unsere sogenannte »Allgemeine Erlaubnis« erneuern
mussten - die Erlaubnis, uns in dem Haus aufzuhalten und seine
Einrichtungen zu benutzen. Diese Formalität erforderte von der
Schwester, dass sie ihre spirituelle Armut, Schwäche und
Wertlosigkeit erkannte. Also kniete jede Schwester vor der Oberin
nieder, legte die Stirn auf den Fußboden und »sagte ihre Vergehen
auf«, wie etwa, ungeduldig gewesen zu sein, geschwatzt oder das
Schweigen gebrochen zu haben. Dann wurde sie gebeten, Platz zu
nehmen, und die Oberin unterhielt sich mit ihr über ihre
spirituelle Entwicklung oder wies sie wegen aller schlechten
Angewohnheiten zurecht, die ihr aufgefallen waren. Jedes Mal, wenn
Mutter ein Haus besuchte, mussten sämtliche Schwestern auf dieselbe
Weise über sich Bericht erstatten.
Mutter dehnte den Begriff der Armut noch weiter
aus, indem sie sagte, wir sollten »die Gelegenheit ergreifen«,
fälschlich angeklagt, beschuldigt oder verachtet zu werden, wie das
auch Christus widerfuhr. Das sollten wir schweigend über uns
ergehen lassen und uns nicht verteidigen, genauso wie er. Wir
sollten uns die niedrigsten und gewöhnlichsten Arbeiten suchen und
sie fröhlich verrichten. Außerdem sollten wir uns von jeglicher
Arbeit, die wir taten, distanzieren. Egal, wie viel Mühe wir in
etwas investiert hatten, wir sollten immer bereit sein, ohne Grund
und Ankündigung woanders weiterzumachen. Armut bedeutete, dass wir
keine Rechte hatten und nichts uns gehörte.
Das Gelübde der Keuschheit umfasste mehr, als nur
im Zölibat zu leben. Eine Schwester durfte keinen emotionalen Trost
suchen oder Freunde innerhalb oder außerhalb des Ordens haben.
Freundschaft war suspekt und ein Hindernis
für die Vereinigung mit Gott. Enge Beziehungen wurden als
»besondere Freundschaften« betitelt und waren verboten. Außer mit
der Oberin oder einem Priester bei der wöchentlichen Beichte waren
keine Privatgespräche erlaubt. Es war eine ganz einsame
Lebensweise. Es fiel mir sehr schwer, die Tagträume von
alternativen Lebensentwürfen unter Kontrolle zu halten, wie etwa
zur Universität zu gehen, ein normales Sozialleben zu führen und
Medizin zu studieren, aber ich sprach mit niemandem darüber oder
über sonst etwas, das sich in der Gemeinschaft abspielte.
Ich dachte sehr oft daran, die Missionarinnen der
Nächstenliebe zu verlassen. Das Gefühl, nicht dafür geschaffen zu
sein, und Selbstzweifel hatten sich in mir festgesetzt und wuchsen.
Der Orden bezeichnete absolut normale Gedanken als sündhaft und
lehrte uns, unsere Gedankenprozesse mit so viel Argwohn zu
betrachten, dass nur Unterwerfung und Gehorsam uns inneren Frieden
zu geben vermochten. Sich miteinander darüber auszutauschen, war
nicht nur verboten, sondern wurde sogar als »Werk des Teufels«
angesehen, denn es legte die Saat des Zweifels in unseren Geist.
Also kämpften wir allein mit unseren Unsicherheiten und mussten
zusehen, dass wir auf unsere Weise mit ihnen klarkamen. Deshalb gab
es auch keine Vorwarnung, wenn jemand uns verließ, die Schwester
verschwand einfach ohne Erklärung.
Weil die Satzungen uns nicht erlaubten, außerhalb
unseres Klosterrefektoriums zu essen oder zu trinken, stießen wir
oft die Leute vor den Kopf, die uns einluden. Selbst wenn
Mitglieder unserer Familie uns besuchten, durften wir normalerweise
nicht mit ihnen essen oder trinken. Viele der alten Damen, denen
wir halfen, lebten allein und hätten gern eine Tasse Tee mit uns
getrunken, sie konnten es nicht verstehen, warum wir es
ablehnten.
Die meisten religiösen Ordensgemeinschaften halten
sich an die drei Gelübde der Armut, der Keuschheit und des
Gehorsams, legen sie aber auf unterschiedliche Weise aus. Mutter
Teresa fügte noch ein viertes Gelübde hinzu, den Dienst an den
Ärmsten der Armen, aus ganzen Herzen und ohne eine Gegenleistung zu
erwarten - sich um Christus in all seinen erschreckenden
Verkleidungen zu kümmern. Je abstoßender oder widerlicher die
Arbeit oder der Mensch war, desto fröhlicher und hingebungsvoller
sollten wir sein, wie Mutter uns anwies. Und niemals durften wir
irgendeine Bezahlung für unseren Dienst annehmen.
Von außerhalb des Ordens wurden wir dafür
kritisiert, nicht die sozialen Probleme zu benennen, welche die
Menschen arm machten, aber Mutter Teresa wollte auf die
unmittelbare Not jedes Menschen reagieren, dem sie begegnete.
»Unsere Leute werden sterben, wenn sie darauf warten, dass die Welt
sich ändert«, sagte sie, »aber jeder von uns kann ein wenig dazu
beitragen.« Auf den Vorwurf, sie gebe jemandem einen Fisch, anstatt
ihm beizubringen, wie man fischt, erwiderte sie: »Die Sterbenden
können nicht fischen.« Nichtsdestotrotz half Mutter einigen der
Menschen, die sie unterstützte, indem sie ihnen Fertigkeiten wie
Schreibmaschineschreiben und Weben beibrachte, wodurch sie
letztendlich selbstständiger wurden.
In Australien jedoch bekamen die Männer, denen wir
halfen, eine Rente, trugen damit aber nicht zu ihrer Verpflegung
und Unterkunft bei. Manche legten das Geld an, damit sie sich eine
eigene Wohnung mieten konnten, aber andere verwendeten die Mittel
dazu, am Zahltag nur noch ausgiebiger auf Sauftour zu gehen, weil
sie immer wieder zu uns zurückkommen und bei uns essen und wohnen
konnten, wenn das Geld aufgebraucht war. Ich fand nicht, dass man
ihnen damit einen guten Dienst erwies, aber es stand mir nicht zu,
dies zur Diskussion zu stellen. Wenn wir ihnen für ihre Unterkunft
ein wenig Geld abverlangt hätten, hätten wir dies für sie sparen
können, um ihnen später etwas Sinnvolles davon zu kaufen. Dies war
nicht möglich.
In der Gemeinschaft widmete man sich vorrangig dem
spirituellen Leben. Gebete nahmen täglich mehrere Stunden in
Beschlag: Morgengebet und Meditation, Messe, eine tägliche
halbstündige spirituelle Lektüre eines Erbauungsbuchs, die
einstündige Anbetung und Brevier am Abend oder am Nachmittag,
Mittags-, Abend- und Nachtgebet, Gewissenserforschung und
Rosenkranz. Mutter war der Ansicht, wir müssten »die Arbeit beten«,
als wären Routineaufgaben eine heilige Handlung. Wir sollten in der
Gegenwart leben und alles, was wir taten, sorgfältig und gut
machen. Sie lehrte uns, unsere Gedanken und unsere Zungen zu hüten
in der Hoffnung, inneres und äußeres Schweigen möge uns zu einem
tieferen Beten führen.
Für mich stellten die vielen gesungenen Gebete, die
wir täglich herunterratterten, ein Hemmnis für das dar, was ich als
wahres Gebet und inneres Schweigen empfand. Ich las Way of a
Pilgrim, das ich mir als spirituelle Lektüre aus den
Erbauungstexten der Novizitatsbibliothek ausgesucht hatte. Es war
die Geschichte eines unbekannten russischen
Bauern, der lernen wollte, wie man kontinuierlich betete. Mir
gefiel seine Methode, einen kurzen Satz zu wiederholen, um zu
innerer Ruhe zu finden. Es entsprach dem, was der Priester uns
während unserer Klausur vor unserer Aufnahme als Novizinnen aus
The Cloud of Unknowing gelehrt hatte.
Die Spiritualität des Kreuzes stand im Mittelpunkt
von Mutters Weltsicht. Sie hatte sich die Worte des heiligen Paulus
zu eigen gemacht: »Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch
nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.« (Galater 2,19-20) Wir
sollten jede Demütigung oder Schwierigkeit fröhlich als ein Mittel
annehmen, »mit Christus ans Kreuz genagelt« zu werden und Seinen
unendlichen Durst zu stillen. Mutter sprach von Abtötung -
freiwillig etwas aufgeben, um die Sünde zu sühnen - als Angelpunkt
ihrer Denkweise. Es war nicht einfach, sich bei Mutter über ein
erlittenes Unrecht zu beklagen, weil sie der Ansicht war, dass man
dieses annehmen solle: Bringe ein Opfer, packe die Chance, dich
selbst zu erniedrigen, und beklage dich nicht. Das war ihre
vorhersehbare Antwort auf jede Beschwerde.
Auch die Buße, eine Form der Selbstbestrafung für
Sünden, hatte ihren Platz in der Satzung, und es kamen dabei
verschiedene Praktiken zur Anwendung, wie sich auf die Schenkel
schlagen - als Disziplinierung bezeichnet -, während des
Morgengebets Ketten mit Stacheln um die Taille oder den Arm zu
tragen und das Beten mit ausgestreckten Armen neben dem Bett am
Abend. Dazu kam der Fastentag der Gemeinschaft am ersten Freitag im
Monat, es gab auch öffentliche Buße wie etwa um eine Mahlzeit zu
betteln, Mahlzeiten kniend einzunehmen oder die Füße der anderen
Schwestern zu küssen. War man etwa wütend geworden oder hatte etwas
zerbrochen, musste man seine Fehler eingestehen und sich bei der
Gemeinschaft entschuldigen. Diese Praktiken waren vor dem Zweiten
Vatikanischen Konzil bei vielen Orden üblich, seitdem aber fast
überall verworfen worden. Mutter hielt diese Praktiken jedoch für
wichtig und schrieb uns häufig, um uns zusätzliche Buße
aufzuerlegen.
Mir war nicht klar, dass die unerschrockene
Enthüllung meiner Gedanken, Wünsche und Motive während der Beichte
oder in Gesprächen mit Schwester Regina mich für Kritik und
Selbstzweifel noch verwundbarer machen würde. Es gab keinen Platz,
um sich zu verstecken. Einige der spirituellen Praktiken, die wir
gelehrt wurden, waren kontraproduktiv und führten dazu, uns stärker
auf uns zu konzentrieren, anstatt uns unser Selbstgefühl zu nehmen.
Man forderte uns auf, unsere Gedanken, Motive, Worte und Handlungen
zu hinterfragen. Sokrates sagte: »Ein unerforschtes Leben ist es
nicht wert, gelebt zu werden«, aber ich machte die Erfahrung, dass
man es auch übertreiben kann. Selbst der heilige Ignatius, der
dieses Muster der Selbsterforschung festgelegt hatte, war in einem
Punkt seines Lebens so sehr von Skrupeln heimgesucht, dass es ihn
fast in Verzweiflung stürzte. Diese Selbstbefragung ließ einen
seine Motivation mit einer sonst gar nicht vorhandenen Besorgnis
betrachten.
Die Isolation von Familie und Freunden, bissige
Zurechtweisung im Öffentlichen wie im Privaten und die strenge
Zensur von Lektüre schränkte mich in meinen Möglichkeiten
immer mehr ein. Mein Geist war eingesperrt in die
undurchdringliche Gruft des konservativen Katholizismus. Aber ein
anderer Lebensweg erschien mir nicht denkbar. Ich fühlte mich zum
mitfühlenden Dienst an den Armen hingezogen, aber um diesen Dienst
zu leisten, forderte die Gemeinschaft die totale Unterwerfung
meines Lebens an den Gehorsam. Doch ich lernte erst langsam,
zwischen Tat und Einstellung zu unterscheiden, und befand mich
beinahe ständig in innerem Aufruhr, weil ich unsere Aufgabe
verkannte. Schon früh in meinem Leben hatte ich erkannt, dass die
Welt voller Konflikte war, dass es Graubereiche und Situationen
gab, für die klare Antworten fehlten, aber bei den Missionarinnen
der Nächstenliebe gab es eine Fassade falscher Einfachheit, die man
als tugendhaft und »kindlich« hinstellte. Es war nicht notwendig,
sich mit einem Problem oder einer Situation auseinanderzusetzen,
ich brauchte nur zu gehorchen.
Eine Weile studierten wir am Assumption Institute
in Melbourne einen Tag in der Woche mit Novizinnen von anderen
religiösen Orden, die ganz eindeutig ein wesentlich liberaleres
Leben führten. Wir MNs blieben unter uns, aßen gemeinsam als Gruppe
und gingen dann in die Kapelle zum Mittagsgebet, während die
anderen Novizinnen sich erholten und miteinander plauderten.
Während ich die Bibel und Moraltheologie studierte, kamen mir viele
Fragen. Der Gott des Alten Testaments wurde als gewalttätig und
mörderisch dargestellt und hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Gott, an
den ich glaubte.
Ich fragte unseren Dozenten: »Vater, warum
beschreibt
die Bibel Gott als den Mörder der Erstgeborenen aller ägyptischen
Familien? Es heißt auch, er habe mit den Israeliten gegen die
Ägypter gekämpft, sodass deren Leichen das Ufer des Roten Meeres
säumten.«
»So verstanden die Juden die Ereignisse.«
»Aber das kann doch nur ein Missverständnis gewesen
sein«, fuhr ich fort. »›Gott ist Liebe‹, und er erteilte den
Befehl, nicht zu töten, und doch wird er als derjenige beschrieben,
der den Tod der Feinde Israels verursacht hat.«
»Du darfst nicht für Gott sprechen. Gott ist mit
unserem Verstand nicht zu erfassen.«
»Aber wenn die Bibel Gott als Mörder beschreibt,
gibt uns das nicht eine falsche Vorstellung davon, wer Er
ist?«
»Gott ist unfassbar. Du kannst nicht davon
ausgehen, Sein Wesen begreifen zu können. Ich hoffe, dein
Verständnis der Schriften ist besser als deine Theologie.« Damit
wurde ich zum Schweigen gebracht.
Ich fragte mehrere Lehrer, was es in der Praxis
bedeutete, seine Feinde zu lieben. Wie konnten wir jenen Gutes tun,
die uns hassten, oder darauf verzichten, unser Eigentum
zurückzufordern, wie dies das Evangelium lehrte, wenn jemand uns
beraubt hatte? Hatte dies zu bedeuten, dass wir uns nicht
verteidigten? Hieß das, Grausamkeit und Ungerechtigkeit hinnehmen,
um zum spirituellen Äquivalent eines Fußabstreifers zu werden? Ich
bekam keine zufriedenstellende Antwort.
Die Existenz der Hölle war ein weiterer
kontroverser Punkt für mich. Jene, die sich selbst von Gottes Liebe
lossagten, mochten vielleicht aufhören zu existieren, aber ich
konnte nicht glauben, dass sie ewig leiden würden, denn
wenn die Leute immer weiter litten, würde es nie eine perfekte
Welt geben. Wie in der Schule reagierten meine Lehrer gereizt auf
meine Fragen, und schließlich hörte ich auf, welche zu
stellen.
Ende 1973 wurde Evelyn, die Postulantin aus Sale,
Novizin, behielt aber ihr Haar gemäß der in Kalkutta getroffenen
Entscheidung. Naomi und ich waren die Letzten, denen man das Haar
so zeitig abrasiert hatte. Samantha, die andere Postulantin, kam zu
dem Schluss, dass dieses Leben nichts für sie sei, und kehrte nach
Port Keats zurück. Eine neue Gruppe von Praktikantinnen traf ein:
Lara von der Südküste, Anthea aus Sydney, Deidre aus dem ländlichen
Victoria und Leanne. Außerdem trafen zwei Novizinnen aus Indien
ein, die bei Schwester Evelyn bleiben sollten.
Die Schwestern begannen ein neues Projekt in den
Außenbezirken von Melbourne. Schwester Augustine, Professe und
Oberin sowie eine von Mutters früheren Schülerinnen, überwachte den
Bau eines neuen Zentrums mit dem Namen Corpus Christi, oder
Leib Christi, eines Orts der Klausur für Männer aus dem
Stadtgebiet, denen man dort half, vom Alkohol loszukommen. Außerdem
bot es Männern Unterkunft, die zu alt und zu gebrechlich für das
primitive Leben in den Parkanlagen und Nebenstraßen waren. Das
Zentrum würde von MN-Schwestern geführt werden. Wenn man nach
Corpus Christi kam, führte die Straße rechts zu dem
zweigeschossigen Klostergebäude der Schwestern mit den Unterkünften
oben und einer Kapelle unten. Als es fertig war, wohnten einige
Schwestern schon dort, um den Bau des Männerzentrums zu überwachen.
Links von der Einfahrt lag der Männertrakt. Küche, Speisesäle und
Krankenhaus befanden sich in einem lang gestreckten Gebäude vor dem
Zentrum, und davon gingen rechtwinkelig drei Wohnblöcke ab.
Von Anfang an arbeiteten Jesuitenpriester wie die
Väter Phil Kurts und Brian Stoney mit den Schwestern an dem
Projekt, waren Kapläne und Mentoren für die Männer und wohnten mit
ihnen in deren Quartieren.
Schwester Augustine hatte sich darum bemüht, das
Gebäude im Geist der MNs schlicht und funktional zu halten, aber
sie musste sich auch an die australischen Bauvorgaben und
Regulierungen halten. Im Männerzentrum gab es eine große
Wirtschaftsküche, einen Speisesaal, Badezimmer und eine Waschküche,
und jeder Mann hatte sein eigenes Zimmer. Viele der Männer erholten
sich dort. Sie kochten selbst, übernahmen Zimmermanns-, Garten- und
Holzarbeiten. Ein Mann, ein Konditor, der, als er noch in der Gore
Street 101 wohnte, beinahe auf einer Sauftour gestorben wäre,
überwachte nun im neuen Zentrum das Kochen.
Im Mai 1974 näherten wir uns der ersten Profess
unserer älteren Novizinnen, der Schwestern Annette, Karina und
Jocelyn. Wir anderen Novizinnen verbrachten zusammen mit ihnen
unsere jährliche siebentägige Schweige-Klausur. Zu vierzehnt fuhren
wir in drei Autos zu unserem Haus in Gordon, einer kleinen Stadt
auf dem Land westlich von Melbourne, in der Nähe von Ballarat, wo
auch ein Priester zu uns stieß. Am Nachmittag vor Beginn der
siebentägigen Schweigepause besuchten wir alle einen Bauernhof, der
das Zuhause einer unserer Mitnovizinnen war. Es war ein Picknicktag
vor der Klausur, und die Alltagsbeschränkungen wurden hier etwas
lockerer gehandhabt. Neben der Scheune stand ein Damenfahrrad, und
ich versuchte, Schwester Karina das Fahren beizubringen. Wir waren
ein lustiger Anblick in unseren Saris, als ich hinter ihr
herrannte, ihren Sitz festhielt und ihr zuschrie, sie müsse treten,
während sie kreischte, aus Angst, ich könnte sie loslassen.
Die Klausur begann am Donnerstagabend ohne
Priester, der wegen Überschwemmung erst einen Tag später eintraf.
Schwester Regina übernahm das Kochen für uns, damit wir nicht
abgelenkt wurden. Es war kalt, also hackte ich Holz, kümmerte mich
um den Ölofen, das euer im Wohnzimmer und den mit Holzspänen
betriebenen Warmwasserbereiter im Badezimmer, weil mir diese Dinge
von zu Hause vertraut waren. Außerdem konnte ich leichter klare
Gedanken fassen, wenn ich eine Beschäftigung hatte. Ich fand es
anstrengend, nur drinnen zu sitzen.
Am folgenden Freitag, als unsere Zeit des Gebets
und der Betrachtung vorbei war, kehrten wir nach Melbourne zurück,
schmückten das Refektorium mit Blättern und Zweigen, die wir vom
Land mitgebracht hatten, und begannen mit den Essensvorbereitungen
für die am nächsten Tag stattfindende Profess. Wir bastelten
Glückwunschkarten für die zukünftigen Professen. Ganze Autoladungen
mit Verwandten von Schwester Annette kamen zur Zeremonie aus Sydney
herunter.
Die Schwestern, die die Profess erhalten sollten,
kleideten sich in ihre neuen Saris mit den blauen Borten, und wir
marschierten alle gemeinsam zur Acht-Uhr-Messe. Die Zeremonie
begann mit dem Introitus an den Heiligen Geist,
wozu die Ministranten mit brennenden Kerzen, die drei zu weihenden
Professen, die Schwestern Regina und Augustine, acht mitfeiernde
Priester und Bischof Kelly in einer Prozession über den Gang Einzug
hielten. In der Kirche drängten sich Gemeindemitglieder und
Laienmitarbeiter, die dabei sein wollten, wenn junges Leben sich
einem alten Ideal verschrieb.
Nachdem die Schwestern sich gemeinsam niedergekniet
hatten, um vor den Schwestern Augustine und Regina ihr Gelübde
abzulegen, sangen sie das Loblied »All to Jesus I Surrender«. Dann
stimmten viele von Schwester Annettes Verwandten während der
Kollekte ein kroatisches Lied an, Schwester Karina und unsere
Gruppe mit Schwester Laboni hingegen sangen während der Kommunion
unter Zuhilfenahme eines Mikrofons ein Kirchenlied auf Hindi und
dann eins auf Malaiisch, sodass alle Sprachen der Professen in der
Messe vertreten waren.
Die Gemeinde und die Männer aus der Gore Street
feierten mit uns und bekamen ein Stück Kuchen. Später, nach dem
Festmahl der Gemeinschaft, durfte Schwester Annette mit ihrer
Familie ausgehen, und Schwester Regina und eine der
Laienmitarbeiterinnen nahmen Karina und Justine zu diesem
besonderen Anlass mit zum Hafen, um das russische Schiff zu
besichtigen, das damals zufällig bei uns vor Anker lag. Am Abend
führten wir ein Stück auf, das Schwester Naomi für die neuen
Professen geschrieben hatte, basierend auf der biblischen Gestalt
der Ruth, die ihre Familie verließ, um zu heiraten und Teil von
Gottes Auserwählten zu werden. Wir hatten das Stück heimlich in
einem der Schlafsäle geprobt. In einem so kleinen Haus
war es schwierig, etwas zu tun, ohne dass die älteren Novizinnen
es mitbekamen, aber wir überraschten sie. Nach der Profess wurde
Schwester Justine nach Bourke berufen und die Schwestern Annette
und Karina an das neue Männerzentrum von Corpus Christi. Dort war
erst der erste Flügel fertiggestellt, der von etwa zehn Männern
bewohnt wurde.
Zu diesem Zeitpunkt wurden Naomi, Elina, Laboni und
ich Senior-Novizinnen und warteten begierig auf den Tag, da auch
unsere Ausbildung zu Ende wäre und man uns unsere Mission zuteilte.
Auch in dieser zweiten Stufe entsprachen unsere Stundenpläne in
etwa denen der Vorjahre. Wir gingen am Morgen aus dem Haus, machten
Hausbesuche und gaben in Staatsschulen Religionsunterricht oder
arbeiteten im Asyl in der Gore Street. Am Nachmittag unterrichtete
Schwester Regina uns weiterhin in der Satzung, den Heiligen
Schriften, Theologie und Kirchengeschichte. Mittwochs und sonntags
gingen wir nach Corpus Christi, um dort die Professen abzulösen,
die ihren Ruhetag hatten, und beim Putzen, Kochen und Servieren zu
helfen.
Die Schwestern Lara, Anthea, Deidre und Leanne
wurden mit den üblichen Feierlichkeiten Novizinnen im ersten Jahr,
und für zwei junge Professen begann das Tertianum, die Vorbereitung
auf ihr endgültiges Gelübde, das sie in Melbourne und nicht in
Kalkutta ablegen würden. Ihr Leben glich dem unsrigen, auch sie
arbeiteten einen halben Tag und füllten den Rest des Tages mit
Studium und Gebet. Die Schwestern Regina, Monica und einige
Jesuitenväter unterrichteten sie, aber sie lebten getrennt von uns
im Professenhaus.
Um diese Zeit besuchten mich Rell, Bren und Kim,
meine Freundinnen von der Highschool. Sie musterten mich eingehend.
»Hübscher Stoff, Clot!«, sagte Bren und sprach mich mit meinem
Spitznamen an. Wir unterhielten uns über unsere alte Schule, die
Universität, die Krankenpflege und meine Gesangsstunden. Letzteres
fanden sie sehr lustig, weil sie wussten, dass ich keine einzige
Note singen konnte.
Liz, meine Schulfreundin, die wie ich in Moss Vale
gewohnt hatte, kam ebenfalls auf Besuch. Sie war entsetzt, als sie
erfuhr, dass ich an den Ständen des Victoria Markets gebettelt
hatte, war aber höflich wie immer. Später erfuhr ich, dass sie
wütend auf mich und die Kirche war, weil ich mich ihrer Ansicht
nach in jemanden verwandelt hatte, der ich gar nicht war, mit
indischem Akzent sprach, indische Kleider trug und, wie sie es sah,
die Chance wegwarf, zu studieren und meinen Kopf zu benutzen.
Schwester Dolores wurde Oberin unserer Region, doch
Schwester Regina war noch immer für die Novizinnen verantwortlich.
Wir wurden Schwester Dolores’ hohen Ansprüchen oftmals nicht
gerecht, und sie bombardierte uns mit Kritik, wobei sie beim
Sprechen ihren gelben Wollschal über die Schulter warf und uns mit
schmalen Augen finster durch ihre Brille fixierte.
Schwester Dolores kochte gern, oder besser,
überwachte gern die, die kochten, und wir konnten sie nur selten
zufriedenstellen. Wenn sie beschloss, ein besonderes Curry oder
Gebäck für einen Festtag zu machen, kam das ganze Haus zum
Stillstand, und alle Arbeit ruhte. Wurde der Teig nicht richtig
ausgerollt oder das Gemüse falsch geschnitten,
klopfte sie manchmal mit dem gekrümmten Zeigefinger den Schwestern
auf den Kopf, die sich schuldig gemacht hatten.
»Also wirklich! Ich weiß nicht, was ich mit euch
machen soll? Könnt ihr nicht mal irgendwas anständig machen? Wer
hat diesen Unsinn zu verantworten?«
Sie sorgte für Angst und Verwirrung. Ich fand, dass
keine Mahlzeit all diese Angst rechtfertigte.
Am Vorabend eines Festtags verkündete Schwester
Dolores, wir könnten nicht wie geplant unsere üblichen Besuche
machen.
»Ihr werdet hier gebraucht, um in der Küche bei den
singaras und paratas zu helfen«, sagte sie. Dazu
musste viel Teig ausgerollt, dann gefüllt und zu Taschen
zusammengerollt werden. Ich hatte einem Gemeindemitglied, einer
Frau, die allein in einem Haus in der Gertrude Street wohnte,
versprochen, mit ihr auf ein Amt zu gehen. »Schwester, ich habe
einer Dame versprochen, sie zu einem Termin beim Wohnungsamt zu
begleiten. Ihr Englisch ist nicht gut. Dürfen wir nicht für kurze
Zeit weg?«
»Die Welt wird es überleben, Tobit, wenn du mal
einen Tag nicht hinausgehst. Wie willst du ihr außerdem helfen? Du
sprichst doch gar kein Slowakisch.«
»Wir können aber ihre Situation schildern und die
Probleme, die sie mit den Treppen hat.«
»Nein, Tobit, du gehst nicht.«
»Darf ich dann wenigstens zu ihr runterlaufen,
damit sie weiß, dass wir nicht kommen?« Ich wusste, dass ich den
Bogen überspannte.
»Geh in die Küche, Tobit!«, zischte sie und warf
ihren
Schal. »Tu, was man dir sagt. Sie wird es auch ohne dich schaffen.
So wichtig bist du auch nicht.«
Die Frau erzählte uns später, sie habe den ganzen
Nachmittag auf uns gewartet und geglaubt, wir hätten sie
vergessen.
Anfang 1975 beschloss der Gemeinderat von Fitzroy,
die Lizenz für das Männerheim in der Gore Street 101 nicht mehr zu
erneuern, da Nachbarn sich beklagten, das Asyl ziehe die
Trunkenbolde an. Wir schlossen die Einrichtung und arbeiteten dann
daran, das Gebäude zum Noviziat umzubauen. Einige der Männer zogen
um nach Corpus Christi, andere hingegen bezogen ein anderes Asyl in
der Nähe. Wir säuberten und schrubbten das Haus, und einige der
Männer von Corpus Christi führten Reparaturen durch und sorgten für
einen neuen Anstrich. Eine Weile lebten die Professen und die
Tertianerinnen dort, denn um unsere spirituelle Vorbereitung nicht
zu stören, wollte Schwester Regina das Noviziat erst nach unsere
Profess im Mai verlagern.
In der Fastenzeit, eine Zeit der Buße, verzichteten
wir auf einige Freuden, wozu das Opfer gehörte, unsere Post erst
mit einwöchiger Verspätung zu erhalten. Mitte Februar rief Mama
mich sehr aufgeregt an, und Schwester Regina erlaubte mir, den
Anruf entgegenzunehmen. Es musste etwas Schlimmes passiert
sein.
»Hast du meinen Brief nicht bekommen?«, fragte
Mutter weinend.
»Nein. Was ist denn los?«
»Ich habe ihn letzte Woche abgeschickt. Er sollte
längst da sein«, erwiderte sie.
»Ich werde Schwester Regina fragen. Vielleicht ist
er irgendwo hängen geblieben. Was ist denn passiert?«
»Rod wäre beinahe gestorben. Er ist noch immer sehr
krank. Er hatte eine Lungenentzündung, und beide Lungenfügel sind
kollabiert.«
Ich wollte sofort bei ihr sein. Panik erfasste
mich, und weil ich Angst hatte, er könnte sterben, glaubte ich,
sofort nach Hause zu müssen.
»Liegt er im Bowral Hospital?«
»Nein. Sie haben ihn nach Lewisham verlegt. Ich bin
jeden Tag nach Sydney gefahren. Er wurde operiert und muss
vielleicht noch mal operiert werden. Ich war beim Gericht, um in
Erfahrung zu bringen, wo sich sein Vater aufhält. Sie wollten es
mir nicht sagen, also sagte ich: ›Ich dachte, es interessiert ihn
vielleicht, dass sein Sohn im Sterben liegt.‹«
»Und, hast du Kontakt zu ihm bekommen?«
»Das Gericht hat ihn benachrichtigt. Er kam einmal
ins Krankenhaus und hat dort mehr oder weniger die Leitung
übernommen. ›Mach dir keine Sorgen, ich werde ihn morgen besuchen‹,
sagte er. ›Du kannst mal eine Pause machen und brauchst nicht von
Moss Vale hochzukommen.‹ Aber er tauchte nicht auf. Rod war den
ganzen Tag allein, sein Vater kam nicht mehr wieder.«
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also tröstete
ich sie am Telefon, so gut ich konnte, und flehte dann Schwester
Regina an, mich nach Hause fahren zu lassen, damit ich meinem
Bruder und meiner Mutter helfen konnte.
»Nein, Tobit. Du legst in zwei Monaten deine ersten
Gelübde ab, und während des Noviziats ist kein Urlaub erlaubt.
Wenn du dich Gott hingibst, wird er sich um alle jene kümmern, die
du liebst.«
Tagelang beschäftigte mich dies und lenkte mich ab,
und ich war hin- und hergerissen zwischen dem von mir gewählten
Lebensweg und meiner Familie. Ich hatte das Gefühl, meine Mutter
und auch den Rest meiner Familie im Stich zu lassen, indem ich
nicht bei ihnen war. Schwester Regina schickte Rod und Mama eine
kleine Notiz mit Genesungswünschen und versicherte ihnen, Gott
liebe ihn und Mama dennoch. »Je mehr Gott dich liebt, umso mehr
stellt er dich auf die Probe«, schrieb sie. Alle acht Schwestern,
die mit mir im Noviziat waren, unterschrieben eine Mitteilung mit
dem Versprechen, für eine rasche Genesung zu beten. Nach ein paar
Wochen erhielt ich einen Brief, in dem stand, dass Rod wieder zu
Hause sei, mit zwei »Narben wie von einem Haifischbiss« auf dem
Rücken.
Als meine erste Profess immer näher rückte,
versuchte ich, mir darüber Klarheit zu verschaffen, ob es mir
möglich wäre, mich wie beabsichtigt ein Leben lang Gott und dem
Orden zu verpflichten. Dass ich mit Schwierigkeiten rechnen musste,
stand fest, aber ich war dennoch entschlossen, mein Leben in den
Dienst an den Armen zu stellen. Dieses Ziel gab mir Kraft; ich
glaubte, dies sei mein ganzer Lebenssinn. Der Gedanke, erst einen
Abschluss zu machen und dann eine Weile bei einer
Freiwilligen-Organisation wie Australian Volunteers im Ausland zu
arbeiten, kam mir gar nicht. Mutter Teresa inspirierte mich noch
immer. Ich wollte mit ihr zu denjenigen, die sich vor den Toren
unserer Gesellschaft befanden. Und das, obwohl ich als eine
MN-Schwester wie ein unmündiges Kind behandelt wurde.
Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass Gott mich für seine
Zwecke benutzen würde, wenn ich ihm alles gab, was ich besaß, und
mir Kraft gäbe, die Probleme und Widersprüche in der Gemeinschaft
zu bewältigen. Perfekt sei es nirgendwo, redete ich mir ein.
Am 22. März 1975 erhielt ich einen
handgeschriebenen Brief von Mutter Teresa, in dem sie mir
bestätigte, dass ich zu meinen ersten Gelübden im Mai dieses Jahres
zugelassen sei, und mich ermahnte, im Gebet und im Schweigen zu
wachsen und zu lernen, die anderen so zu lieben, wie Christus mich
liebte. Ich war aufgeregt und hatte nur noch einen Gedanken, dass
ich nämlich bald das Ausbildungshaus verlassen und die Arbeit
beginnen würde, deretwegen ich in den Orden eingetreten war. In der
Freizeit unterhielten wir uns darüber, wohin man uns wohl schicken
würde. Ich hoffte, nach Afrika oder nach Asien zu kommen.
Anfang Mai kamen neue Postulantinnen zu uns,
darunter Doreen aus Neuseeland, Lacy aus Australien und drei Frauen
aus Singapur - Hua, Jun und Mei-ling. Doreen war erst vor Kurzem
zum Katholizismus konvertiert, und die Schwestern aus Singapur
machten einen sehr verlorenen Eindruck in diesem neuen Land mit
seinem völlig anderen Lebensstil. Die Aussicht, dass Mutter Teresa
bald kommen und sie formal in der Gemeinschaft willkommen heißen
würde, begeisterte sie jedoch.
Mutter kam rechtzeitig nach Australien, um mit uns
die Klausur vor der Profess zu machen, die der Zisterzienserabt von
Tarrawarra, Dom Kevin O’Farrell, im Kloster von Corpus Christi
leiten würde. Ehe die Klausur begann, verbrachte
Mutter ein paar Tage bei uns und berichtete uns Neuigkeiten von
den Schwestern weltweit.
»Die Arbeit in Afrika wächst und gedeiht«, sagte
sie. »Gott meint es gut mit uns Schwestern. Es gibt bereits dreißig
afrikanische Postulantinnen in Addis Abeba und dazu noch über
hundert äthiopische Aspirantinnen. Ich werde ein Noviziat in
Äthiopien aufbauen müssen, um sie alle zu unterrichten. Gott sorgt
für uns. Es ist wunderbar!
Im Nahen Osten ist die Lage sehr unsicher«, fuhr
sie fort. »In Amman konnten unsere Schwestern vor dem Erschießen
gerettet werden, weil Schwester Damian und ich vor einiger Zeit
einen Mann von der Straße aufgelesen hatten, der an einem Gangrän
litt. Wir sorgten dafür, dass er medizinisch versorgt wurde, und
die Schwestern kümmerten sich um ihn, bis er wieder gesund war.
Dieser Mann wurde Kommandant der Guerillakämpfer. Er tauchte an dem
Ort auf, wo die Schwestern gefangen gehalten wurden. Er erkannte in
Schwester Damian eine der Frauen, die ihm geholfen hatten. ›Lasst
diese Frauen gehen!‹, befahl er. ›Sie tun Gottes Werk.‹
Es gibt so viele andere Geschichten, die ich euch
erzählen könnte, Schwestern.« Sie schnitt in ihren Gesprächen mit
uns viele Themen an. »Gebete sind mächtig. In Gaza war die Armee
auf dem Vormarsch und zerstörte alles - brannte Häuser nieder und
tötete Menschen. Unsere Schwestern und ein Orden arabisch
sprechender Nonnen begannen eine Novena - ein neuntägiges Gebet -,
während der sie Tag und Nacht den Rosenkranz beteten. Am neunten
Tag kam die Armee nur eine Straße entfernt von unserem Kloster zum
Stillstand.«
Sie besprach mit uns die Lektionen, die wir aus
diesem Beispiel ziehen sollten. »Denkt immer daran, Schwestern:
›Bittet und ihr werdet bekommen.‹ Bald werden einige von euch ihre
ersten Gelübde ablegen. Wenn ihr wirklich voll und ganz zu Gott
gehören wollt, müsst ihr Ihm zur Verfügung stehen, damit Er über
euch gebieten kann, wie es Ihm gefällt. Beschäftigt euch nicht zu
sehr damit und habt keine Sorge. Gott ist da. Er wird euch helfen.
Die Schwestern in Gaza waren sehr angespannt und besorgt: ›Sollen
wir nicht weggehen, Mutter?‹, fragten sie mich. ›Viele Leute werden
getötet.‹
›Nein, Schwestern‹, sagte ich ihnen. ›Lasst es mich
nur wissen, wenn ihr tot seid!‹«
Diese offensichtliche Missachtung der Sicherheit
unserer Schwestern erschütterte mich, aber Mutter lachte und
erklärte: »Ich wusste, Gott würde sie beschützen. Von dem Moment
an, als die Schwestern das akzeptierten, waren sie friedlich und
glücklich, trotz aller Widerwärtigkeiten. Gott wird euch nie
vergessen, Schwestern. Er ist immer da. Er liebt jeden von uns
individuell und persönlich. Er hat euch in die Innenseite Seiner
Hand eingeschnitzt. Kein Spatz fällt zu Boden, ohne dass unser
Vater es weiß, seid also ohne Sorge!«
Mutter beschrieb sich und ihre Schwestern als die
»Gemahlinnen des Gekreuzigten«. Mit unserer Weihe wurde von uns
erwartet, unseren Gelübden gemäß zu leben und alles Leid, jedes
Opfer und selbst den Tod zu akzeptieren, falls dieser uns ereilen
sollte. Unsere Gelübde, so erklärte sie uns, waren wie ein
Eheversprechen; wir verpflichteten uns damit jedoch nicht einem
Menschen, sondern dem
Gekreuzigten. Ich weigerte mich, mich eingehender mit dieser
Ehe-Thematik zu befassen, weil sie mir nicht weiterhalf und ich sie
merkwürdig fand. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit Jesus
verheiratet zu sein.
Mutter erzählte uns von Bruder Andrew, einem
Australier, der Jesuitenpriester gewesen war, ehe er sich mit
Mutter zusammentat und 1963 den Männerorden der Missionare der
Nächstenliebe gründete, deren Oberster Diener er war. Andrew hatte
alle Brüder, die mit ihm in Vietnam gearbeitet hatten, zurück ins
sichere Indien geschickt, weil er den Fall Saigons befürchtete,
aber er blieb, um bei den Leuten zu sein, um die sie sich gekümmert
hatten. Ein Bruder in der Ausbildung weigerte sich zu gehen.
»Selbst wenn du mich aus der Bruderschaft ausstößt, werde ich dich
und die Leute nicht verlassen«, erklärte er Bruder Andrew. Mutter
sagte, wir sollten für sie beten, denn wenn die Truppen
durchbrächen, würden sie womöglich beide erschossen. Diese
Geschichten machten einen tiefen Eindruck auf mich.
Zu unserer siebentägigen Schweigeklausur gingen wir
mit Mutter hinaus nach Corpus Christi. Ich spürte, dass ihr der Ort
nicht gefiel, weil sie ihn für die Arbeit der MNs als zu groß und
zu modern empfand. Dort hörten wir jeden Tag eine Lesung des Abts
und noch eine von Mutter und verbrachten dann den Rest der Zeit im
Gebet. Wir sahen Mutter auch zu einem privaten Gespräch und legten
bei Dom Kevin die Beichte ab.
Während dieser Tage beschäftigte mich die Frage,
warum Mutter sich so sicher war, dass die Schwestern im Nahen Osten
nicht in Gefahr waren, während sie sich um Bruder
Andrew und seinen Gefährten in Vietnam Sorgen machte, die doch
einer wie der andere unter der Fürsorge desselben Gottes standen.
Ich musste auch an die Menschen denken, die vor dem neunten Tag der
Novena gestorben waren. Sie waren Gott doch gewiss so wertvoll wie
die Schwestern und starben doch nicht nur, weil ein paar Gebete
gefehlt hatten.
Am 14. Mai 1975 im Alter von einundzwanzig Jahren
kniete ich zusammen mit meinen Mitschwestern Naomi, Laboni und
Elina vor Mutter Teresa in der All Saints Church Fitzroy und
verpflichtete mich Gott und dem Orden. Mama kam zu meiner Profess
zusammen mit Großmama, Tony, Rod und Judy von Moss Vale herunter.
Ich war so froh, Rod wieder kräftig und gesund zu sehen. Toby und
mein Freund Paul, der ein Franziskanermönch in brauner Kutte
geworden war, nahmen ebenfalls daran teil, und auch Naomis Familie.
Wir Novizinnen trugen zum ersten Mal unseren neuen Sari mit Blau,
der die Professen auszeichnete, und gingen dann zur Kirche, wo sich
alle versammelt hatten. Mutter überreichte jeder von uns ein Kreuz,
das wir küssten und uns an den Strick hefteten, den wir um die
Taille trugen. Gemeinsam mit den anderen legte ich meine ersten
Gelübde gemäß der vorgeschriebenen Formulierung ab.
»Zur Ehre und zum Ruhm Gottes … weihe ich mich Ihm
ganz in vollkommener Hingabe, liebendem Vertrauen und mit
Fröhlichkeit … in Anwesenheit von Mutter Teresa MN gelobe ich,
Schwester Tobit Livermore MN, für ein Jahr Keuschheit, Armut,
Gehorsam und den Dienst an den
Ärmsten der Armen aus ganzem Herzen und ohne dafür eine
Gegenleistung zu verlangen, gemäß den Satzungen der Missionarinnen
der Nächstenliebe …«
Danach saß ich mit meiner Familie zusammen, und
wir plauderten auf dem vorderen Hof in der Gore Street, wo der
Morgentee eingenommen wurde, und ich bekam Karten und Telegramme
von meinen Freundinnen, Onkeln, Tanten und Cousins. Großmama und
die Jungs hatte ich kaum gesehen, seit ich von zu Hause weggegangen
war. Wir gingen nicht aus, weil Großmama nicht weit laufen konnte
und das Auto zu klein für sechs Leute war, und so bekam meine
Familie, während wir innerhalb der Gemeinschaft unser Festmahl
einnahmen, ihr Essen im Salon serviert.
Kurz bevor wir uns zum Mittagessen niederließen,
nahm Schwester Regina uns beiseite, um uns zu sagen, dass Mutter
nun verkünden werde, wo wir eingesetzt würden. Nachdem wir uns
versammelt und vor dem Essen das Tischgebet gesprochen hatten,
verkündete Mutter alle Versetzungen, beginnend mit den neuen
Professen. Jede Ankündigung wurde mit Rufen und Klatschen begrüßt.
»Schwester Naomi, du wirst nach Katherine ins Northern Territory
gehen. Schwester Elina, du bist für Bourke vorgesehen. Schwester
Laboni, du kommst nach Port Moresby, und Schwester Tobit, du wirst
hier im Noviziat bleiben, um Schwester Regina zu helfen.« Ich war
wie vor den Kopf gestoßen. Als ich es Mama erzählte, war sie
glücklich, dass ich in relativer Nähe blieb, aber ich war am Boden
zerstört. Ich sagte nichts, hatte aber das Gefühl, noch immer
darauf zu warten,
dass mein wahres Leben als MN endlich seinen Anfang nahm. Ich
wollte verhindern, dass Menschen hungers starben, und jenen helfen,
die auf der Straße lebten, und nicht in einem Noviziat
wohnen.
Nach dem Mittagessen brachen unsere Familien auf,
weil zwei MN-Schwestern ihre endgültigen Gelübde in der Saint
Patrick’s Cathedral ablegten und wir neuen Professen daran
teilnehmen sollten. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit meinen
Leuten verbringen können, die immerhin eine Reise von siebenhundert
Kilometern von Moss Vale auf sich genommen hatten.
Im Unterschied zu unserer Zeremonie in der
Gemeindekirche wirkte die endgültige Profess in der Kathedrale viel
unpersönlicher. Mutter und unsere Schwestern waren ganz weit weg
oben vor dem Altar, und von meinem Platz aus versperrte mir eine
Säule die Sicht. Die Orgel spielte, und die Gemeinde sang, und als
die Schwestern nach Hause kamen, bildeten wir eine Ehrengarde für
sie und streuten Blütenblätter über sie.
Abends wurden Stücke aufgeführt, Lieder gesungen
und getanzt. Die Novizinnen führten ein Drama über die heilige
Klara auf, das weibliche Äquivalent des heiligen Franziskus, und
dann noch ein lustiges Puppenspiel, das uns alle furchtbar zum
Lachen brachte. Mutter sprach ein paar Worte und betonte die
Notwendigkeit, einander zu lieben, ehe sie uns zum letzten Mal
segnete. Die drei anderen brachen noch am Abend mit Mutter auf, um
nach Corpus Christi zu gehen.
Traurig und niedergeschlagen blieb ich im
Ausbildungshaus zurück. Mutter war gegangen, meine Familie gekommen
und wieder abgereist, doch ich blieb, obwohl ich mein Ziel
erreicht und meine Gelübde abgelegt hatte, im Noviziat. Nach all
der Aufbauarbeit hatte sich für mich nicht viel verändert. Ich saß
im hinteren Teil der Kapelle auf dem Fußboden und versuchte, meiner
Enttäuschung Herr zu werden. »Offensichtlich, Herr, ist es dein
Wille, dass ich dem städtischen Melbourne und dem Noviziat nicht
entkomme.«
Am nächsten Morgen um vier Uhr brach Schwester
Elina nach Bourke auf, Schwester Naomi ging ein paar Tage später
nach Katherine, und Schwester Laboni musste noch zwei Wochen auf
ihren Flug nach Port Moresby in Papua-Neuguinea warten. Schwester
Regina, Schwester Benedict und ich liehen uns den alten verbeulten
Ford Cortina des Gemeindepriesters aus, um sie zum Flughafen zu
bringen. Kurz bevor sie im Terminal verschwand, wünschte ich ihr
alles Gute und sprach die Hoffnung aus, eines Tages zu ihr zu
kommen. Auf dem Heimweg blieb Vaters Wagen liegen. Schwester Laboni
war vermutlich bereits in Moresby, ehe ich im Noviziat ankam, um
meine neuen Aufgaben zu übernehmen.