9. KAPITEL
Das Mondlicht fiel silbrig auf den Schnee und wies ihr den Weg durch die Bäume und Felsen. Äste zogen an ihrer Kleidung und prallten messerscharf in ihr Gesicht. Das Eis und die hervorstehenden Steine schnitten rücksichtslos in ihre Füße. Um sie herum heulte der Wind wie ein rachsüchtiger Geist.
Hannah rannte, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben gerannt war. Von Angst und Panik getrieben rannte sie in einem halsbrecherischen Tempo davon. Sie keuchte beinahe animalisch.
Er würde sie umbringen.
Das wusste sie so sicher, wie sie spürte, dass die lebenserhaltende Wärme aus ihrem Körper schwand. So sicher, wie sie die Lebenskraft des winzigen Wesens spürte, das in ihr wuchs. So sicher, wie Kälte und Erschöpfung ihr die letzten Energien raubten.
Hinter ihr schnitt das Licht der Scheinwerfer durch die Dunkelheit. Sie blickte über ihre Schulter und sah den Wagen keine drei Meter entfernt. Er kam immer weiter auf sie zu – wie ein erbarmungsloser Jäger auf Beutezug.
„Nein!“, schrie sie in die Finsternis.
Sie drehte sich um, um wegzulaufen, aber eine schwere Hand drückte gegen ihre Schulter. Ihr Schrei erstarb, als Finger ihre Kehle schlossen. Sie schlug mit Händen und Füßen um sich, aber er löste seinen tödlichen Griff nicht. Der Schlag, der folgte, schickte sie wie eine Flickenpuppe in den Schnee. Schmerz und Grauen explodierten in ihr. Sie rappelte sich auf, hörte das Rauschen der Luft, als er sie ergriff.
„Nein! Du wirst mich nicht …“
„Hannah. Ganz ruhig, Honey. Ich bin’s, John. Ich bin hier.“
Starke Hände pressten sie nieder. Hannah spürte immer noch den tödlichen Druck von Fingern an ihrem Hals. Panik tobte in ihr wie ein wütendes Tier. Sie trat wie besessen um sich. Einmal. Zweimal. Zufrieden merkte sie, dass ihre linke Ferse mit etwas Solidem zusammenstieß.
„Autsch! Verdammt! Hör auf damit.“
„Lass mich los!“
„Ich bin’s, Hannah! Hör auf, dich zu wehren.“
Der Klang der vertrauten Stimme ließ sie innehalten. Sanfte Hände berührten sie, beschwichtigten die Angst. Hannah öffnete die Augen. John beugte sich besorgt über sie. „Du hast geträumt“, sagte er.
„Oh Gott!“, schluchzte sie. „Er wollte mich umbringen.“
„Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit. Atme tief durch.“
Sie atmete zitternd ein und spürte, wie die Panik ein letztes Mal nach ihr griff. „Ich muss mich aufsetzen.“
Wortlos ließ er ihre Schultern los und setzte sich neben sie aufs Bett. Ohne den Blick von ihr zu wenden, rieb er sich mit der Hand übers Gesicht. „Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt.“
„Tut mir leid.“
„Ist schon okay.“ Er musterte sie einen Moment. „Geht es dir gut?“
„Nein. Ich meine, ja. Aber …“ Ihre Stimme brach. „Ich lebe noch. Manchmal kann ich nach diesen Träumen nicht glauben, dass ich noch lebe.“
„Du bist sehr lebendig und du bist in Sicherheit. Du musst dich nur beruhigen.“
Sie lachte gequält. „Ich habe mir geschworen, dass mich diese Flashbacks nicht mehr ängstigen werden. Ich wollte sie nutzen, um mich zu erinnern, aber dieser Traum war so real. Ich konnte nicht nachdenken. Es war, als wäre ich dort und wüsste, dass ich sterben würde.“
„Wo?“
„Ich weiß es nicht. Ich …“ Sie atmete langsam aus und sah sich im Zimmer um. Das Fenster war geschlossen. Gelbes Licht fiel aus dem Flur hinein. Nichts hatte sich verändert. Nichts lauerte in den Schatten.
Trotzdem erschauerte Hannah. „Es war so real. Ich meine, er war hier. Ich habe gefühlt, wie er mich berührt hat. Er …“ Sie stockte erneut. Sie spürte seine Hände noch immer an ihrer Kehle und berührte ihren Hals.
„Wer?
„Ich weiß es nicht. Der Mann, der … der mir wehgetan hat. Der Mann, den ich kenne. Er war hier“, sagte sie niedergeschlagen.
„Bleib, wo du bist.“
Ihr Herz raste wie wild in ihrer Brust, als John sich erhob und zum Fenster ging. Er schob die Vorhänge ein Stück auseinander, überprüfte das Schloss und drehte sich dann wieder zu ihr um. „Hier ist niemand, Rotschopf. Die Tür unten ist abgeschlossen, und Honeybear hätte sofort gebellt, wenn er etwas gehört hätte. Du hattest einen Albtraum.“
„Ich spüre immer noch seine Hände an meinem Hals.“
Etwas Dunkles, Unheilvolles flackerte in seinen Augen auf, und für einen Moment sah John richtig gefährlich aus. „Niemand wird dir wehtun, das verspreche ich dir. Du bist in Sicherheit.“
Ein erster Anflug von Verlegenheit breitete sich in ihr aus. Sie spürte den feuchten Schweißfilm auf ihrer Stirn und hörte den Hauch von Hysterie in ihrer Stimme. John dachte jetzt bestimmt, dass sie eine völlig verwirrte und hilflose Frau war – oder schlimmer noch, eine totale Irre. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht …“
„Du hast allen Grund dazu.“ Er stieß den angehaltenen Atem aus und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. „Ich habe dich schreien hören und bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“
Hannah bemerkte eine Bewegung an der Tür. Sie erkannte Honeybear, der sie aufmerksam beobachtete. Er hatte den Schwanz eingeklemmt und sah aus, als überlege er, ob er sich unter dem Bett verkriechen oder lieber in das andere Schlafzimmer laufen sollte.
Trotz der Angst und Verwirrung, die ihr Gehirn benebelten, hörte sich Hannah lachen. „Offenbar habe ich nicht nur dir Angst eingejagt.“ Nach einem weiteren Atemzug fühlte sie sich wieder etwas sicherer. Sie sah John an. „Normalerweise sind meine Träume nicht so real. Ich muss wie eine Verrückte geklungen haben. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was du jetzt von mir denkst.“
„Ich denke, du leidest an einem ernsthaften körperlichen und emotionalen Trauma.“ Er streckte den Arm aus und legte seine Hand sanft auf ihre Schulter. „Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste.“
Ihr Herzschlag hätte sich beruhigen sollen, doch das tat er nicht. Hannah war nicht so naiv zu glauben, dass ihr erhöhter Puls Folge des Albtraums war. Es lag vielmehr an Johns Anwesenheit und der Art, wie er sie ansah.
Da erst bemerkte sie, dass er mit nichts als seinen Boxershorts neben ihr auf dem Bett saß. Sie wusste, sie sollte wegsehen, aber ihre Augen weigerten sich, ihrem Verstand zu gehorchen. Sie musterten den atemberaubend durchtrainierten Körper. Ein Mann, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, sich aus Hubschraubern abzuseilen, um andere zu retten, musste natürlich fit und in Form sein, aber einen solchen Anblick hatte Hannah nicht erwartet. Johns Schultern waren ebenso breit und muskulös wie seine von einem leichten Flaum bedeckte Brust. Die Haare liefen über seinem Waschbrettbauch zusammen und verschwanden in einer dünnen Linie im Bund seiner Boxershorts.
Hannah wandte den Blick verstört ab. Vergeblich wünschte sie sich, nichts bemerkt zu haben. Es gab genug, worüber sie sich Sorgen machen musste, da wollte sie nicht auch noch ständig an den umwerfenden Körper ihres Retters denken.
John hatte seinen linken Arm schützend um Hannahs Schultern gelegt. Er war ihr so nah, dass sie seine Wärme durch ihr T-Shirt spürte. Sie mochte den Duft seines Aftershaves, wenn es nur nicht so betörend gewesen wäre. Unbemerkt hatte er seine Finger mit ihren verschränkt. Sie versuchte, die Wärme seines Oberschenkels an ihrem zu ignorieren – und dass sie sich zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit sicher fühlte.
„Geht es dir jetzt wieder gut?“, fragte er leise.
„Besser.“ Sie lächelte gezwungen. Innerlich zitterte sie immer noch, obwohl sie sich jetzt fragte, wie viel davon dem Albtraum zuzuschreiben war und wie viel dem neben ihr sitzenden Mann.
„Willst du über den Traum reden?“
Das wollte sie nicht wirklich, weil er sie immer noch verstörte, aber ihr Verstand sagte ihr, dass es ihr sicher helfen könne, sich von den schrecklichen Erinnerungen zu befreien, die ihr Kopf weggesperrt hatte.
Sie löste ihre Hand aus seiner und schob sich die Haare aus dem Gesicht. Sie atmete tief durch. „Es war das Gleiche wie in den Flashbacks. Ich renne. Da ist Schnee und es ist kalt, und ich habe Angst. Nur war er dieses Mal näher.“
„Wer?“
„Ich weiß es nicht, ein Mann.“
„Woher weißt du, dass diese Person ein Mann ist?“
„Ich habe seine Silhouette im Auto gesehen.“
„Was für ein Auto?“
Ihr Herz schlug schneller, als sie erkannte, dass sie sich jetzt an mehr erinnerte. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zurückzuversetzen. „Ich weiß es nicht genau. Das Auto ist dunkel, schwarz oder blau vielleicht, auf jeden Fall ist es groß. Ich kann es nicht genau sagen. Ich sehe nur die Scheinwerfer.“
„Vielleicht ein SUV?“
„Könnte sein.“
„Was ist mit dem Mann?“
„Ich habe Angst vor ihm, Todesangst, denn ich weiß, wozu er fähig ist.“ Sie hörte sich kaum selber sprechen, weil ihr Herz so heftig klopfte. „Ich kenne ihn. Ich kenne ihn gut.“
„Wie heißt er?“
„Das weiß ich nicht.“ Sie lachte nervös auf. „Das ergibt nicht viel Sinn, oder?“
„Es ist egal, ob es Sinn ergibt oder nicht, sprich einfach weiter. Lass es raus, solange es in deinem Kopf noch frisch ist. Wir finden später heraus, was es zu bedeuten hat.“
Hannah schloss die Augen und kehrte gedanklich zu dem Traum zurück. Sie spürte immer noch die Spitzen der Panik. Die Schmerzen, die die Finger dieses Mannes verursachten, als sie sich in ihren Hals gruben. Den Schock des Schlags.
„Er hat mich geschlagen.“
Johns Miene verfinsterte sich, seine Kiefermuskeln zuckten.
„Es war nicht das erste Mal.“ Sie spürte, dass sie zurückzuckte – wie ein Insekt, das sich zusammenrollt, wenn es von einem bösartigen Kind mit einem spitzen Stock gepikt wird. Die Scham blühte in ihr auf. „Ich hatte eine Beziehung mit ihm. Das ist noch nicht allzu lange her. Aber ich bin gegangen. Es war vorbei.“
„Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest.“ Er legte ihr einen Finger unter das Kinn und zwang sie, ihn anzuschauen. „Es tut mir leid, dass er dir wehgetan hat.“
Hannah fiel es schwer, seinem Blick standzuhalten.
„Was auch immer passiert ist, es war nicht dein Fehler“, sagte er.
„Ich weiß.“
Er nahm ihre Hand. „Woran erinnerst du dich noch?“
„An die Nacht im Wald. Er wollte mich umbringen. Wenn es mir nicht gelungen wäre, zu fliehen, hätte er …“, sie schluckte schwer, „… hätte er nicht nur mich getötet, sondern auch mein Baby.“ Ihre eigenen Worte erschütterten sie so sehr, dass sie einen Moment lang nicht sprechen konnte.
John fluchte leise. „Weißt du, warum, Hannah?“
„Nein.“ Sie schluckte erneut und spürte, wie sich ihr Herzschlag weiter beschleunigte, Panik schwoll an, als sie sich an neue Fragmente des Traums erinnerte.
„Was noch?“
„Ich bin gerannt, bis ich nicht mehr konnte. Ich hatte panische Angst. Ich wollte nicht, dass mein Baby stirbt. Als ich die Klippen erreicht hatte …“ Sie stockte. Ihr Verstand rebellierte gegen die Erinnerung. Er wollte nicht sehen, was als Nächstes geschah. „Ich bin nicht gefallen, John.“
„Er hat dich geschubst?“
Die Erinnerungen ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren. „Nein.“
Er drehte sich ein wenig auf dem Bett und berührte sanft ihr Gesicht. „Erzähl mir, was passiert ist, Hannah.“
„Ich, ich bin gesprungen.“
John kniff die Augen zusammen. „Um ihm zu entkommen?“
Hannah hatte Mühe, es auszusprechen. „Ich nahm an, meine Überlebenschancen wären größer, wenn ich springe.“
„Guter Gott!“ Erneut rieb sich John über das Gesicht, dann sah er Hannah über seine Fingerspitzen hinweg an. In den Tiefen seiner Augen sah sie leise Wut brodeln. Und zum ersten Mal sah sie auch, dass er ihr glaubte. Aus irgendeinem Grund trieb ihr diese Erkenntnis Tränen in die Augen.
„Alles wird wieder gut“, sagte er.
„Das würde ich so gerne glauben, aber ich bin mir nicht so sicher.“
Er wischte ihr eine Träne von der Wange. „Ah, du wirst doch jetzt nicht anfangen zu weinen, oder, Rotschopf?“
„Vielleicht“, sagte sie. „In passenden Momenten kann ich wahre Sturzbäche weinen, weißt du!“
„Du weißt wirklich, wie man einem Mann Angst einjagt.“
Sie lachte schal. „Ich fahre immer gleich die ganz großen Geschütze auf.“
„Ich habe zwar keine Taschentücher bei mir, aber meine Schulter ist stark.“ Er lächelte schief. „Reicht das?“
Sie lehnte sich ein wenig zurück und blickte ihn durch ihre Tränen hindurch an.
„Komm her“, sagte er.
„Bist du dir sicher?“
„Ja.“ Er griff nach ihr und zog sie näher.
Hannah schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an seine breite Schulter.
„Ich weiß, wie schwer das für dich sein muss, aber du machst das gut.“
„Ich hasse es, Angst zu haben. Ich bin kein Feigling.“
„Das weiß ich.“
Sie seufzte, als er seine Arme um sie schloss. Sie kuschelte sich enger an ihn und sagte sich, dass es nur eine tröstende Umarmung zwischen zwei Freunden war, die eine schicksalhafte Situation gemeistert hatten. Wenn sie das nur auch glauben könnte!
„Du hast dich heute Nacht an ein paar wichtige Dinge erinnert“, sagte er. „Wenn die Träume und Flashbacks Erinnerungen sind, die an die Oberfläche kommen, ist das nur gut.“
„Ich wünschte nur, sie wären nicht so Angst einflößend. Ich wünschte, ich könnte mich erinnern, ohne das alles noch einmal durchleben zu müssen.“
„Falls es dich tröstet, ich bin immer für dich da.“
Seine süßen Worte lösten eine neue Tränenflut aus. „Jetzt bringst du mich wirklich zum Weinen.“
„Du darfst gerne noch ein paar Tage bleiben, wenn du meinst, dass dir das guttut.“
„Ich weiß nicht, John. Ich habe ziemlich viel, worüber ich nachdenken muss.“ Ganz zu schweigen von dem Problem, dass er sie so wahnsinnig anzog.
„Wenn du dir Sorgen wegen des Kusses machst …“
„Unter anderem.“ Sie zog sich ein wenig zurück und sah ihn an. „Ich habe vorher nicht daran gedacht, aber meine Anwesenheit hier könnte dich in Gefahr bringen.“
Sein Lächeln wärmte sie. „Ich fühle mich geschmeichelt, dass du dich um mich sorgst, aber ich bin schon ein großer Junge. Ich kann auf mich aufpassen – und auch auf dich. Niemand wird irgendeinem von uns etwas antun.“
Sie nickte, auch wenn sie ihm kaum glaubte.
„Fühlst du dich jetzt besser?“, fragte er.
„Ja. Danke.“
Abermals stieg ihr der Duft seines Aftershaves in die Nase und betörte sie.
Als sie ihren Blick hob, wusste sie, dass keiner von ihnen noch an den Albtraum dachte. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sich etwas verändert, und dieses Etwas führte sie beide auf ein gefährliches Terrain. Ein falscher Schritt genügte.
John war ihr so nahe, dass sie die Bartstoppeln in seinem Gesicht zählen konnte. Plötzlich verspürte sie den Drang, mit ihren Fingerkuppen darüber hinwegzustreichen, doch sie tat es nicht. Wenn sie sein Gesicht berührte, würde er die Berührung erwidern, und dann würden die Dinge wieder so außer Kontrolle geraten, wie zuvor bei Angela Pearl.
Hannah wusste, dass der Moment nicht ewig anhalten könnte. Es bedurfte nicht viel, damit sie mit diesem Mann einen weiteren Fehler beging. Sie spielten ein gefährliches Spiel, indem sie einander so nahe kamen. Er war lieb und geduldig und gerade dreist genug, um sie auf Trab zu halten. Sie fühlte sich grenzenlos zu ihm hingezogen. Ihr gesunder Menschenverstand hatte vollkommen ausgesetzt. Diese Kombination war gefährlich, ja geradezu explosiv, wenn sie ehrlich war.
Aber die Versuchung zerrte so sehr an ihrer Willenskraft, bis sie schließlich unter der Macht von Johns Blick nachgab. Sie vergaß alle guten Vorsätze, beugte sich vor und presste ihre Lippen auf seine.
Der Kuss hätte keusch sein sollen, doch das war er nicht. John nahm ihren Mund an, kostete ihre Hitze und den bitteren Geschmack seiner eigenen Frustration. Er ertrug den Kontakt mit stoischer Passivität. Seine Arme blieben an seiner Seite, doch sein Herz schlug wie ein gefangenes Tier gegen die Gitterstäbe seines Brustkorbs.
Er musste alle Willenskraft aufbringen, um sich davon abzuhalten, den Kuss zu vertiefen. Sein Verstand kämpfte in ihm, und sein Blut rauschte. Wieder warnten ihn die Alarmglocken in seinem Kopf, dass er dabei war, eine Dummheit zu begehen. Und er wusste, wenn sie sich nicht innerhalb der nächsten zwei Sekunden zurückzog, wäre seine Disziplin dahin – und er würde definitiv etwas Dummes tun.
Sie zog sich nicht zurück.
John konnte sich nicht erinnern, die Hände nach ihr ausgestreckt zu haben. Hannah war so unglaublich schmal und schlank, aber wohlproportioniert. Ihre Kurven wurden nur durch das übergroße T-Shirt verdeckt. Vom Verstand her wusste er, dass er es nicht bemerken sollte, aber sein Körper reagierte darauf so intensiv, dass John um Fassung rang. Er brauchte dringend eine kalte Dusche.
Ihre Lippen waren so weich und verlockend unter seinen. Ihr Duft waberte um sein Gehirn wie ein bezaubernder Nebel, der ihn trunken machte. Ihre Haare strichen über seine Wange, und er fragte sich, wie es wohl wäre, sich in ihnen zu verlieren. Es kribbelte in seinen Fingern, ihre Haare beiseitezuschieben, um ihren zarten Hals zu liebkosen. Er wollte seine Arme um Hannah schlingen und sie auf die Matratze drücken. Er wollte sie unter sich spüren, sie küssen, bis keiner von ihnen mehr wusste, wie ihm geschah. Er wollte in sie eindringen und sich in ihrer feuchten Hitze verlieren.
Die Lust breitete sich heiß in seinem Bauch aus, das Verlangen drückte schmerzhaft in seinem Unterleib. John wurde von einer stechenden Ungeduld gepackt, und die Macht dieser Gefühle schockierte ihn. Sie schien ihn geradezu in den Wahnsinn zu treiben.
Das ist nur Lust, sagte er sich verwirrt. Mit purer Lust wusste er umzugehen, da er ihre Dynamik verstand und sie als Teil des Mannseins akzeptierte. Doch da tobten noch ganz andere Gefühle durch seinen Körper, die ihm Sorgen bereiteten.
John verlor die Kontrolle, als Hannah ihre Zunge zwischen seine Lippen gleiten ließ. Er hob beide Hände an ihr Gesicht und drückte ihren Kopf sanft nach hinten, um es ihr gleichzutun. Mit seiner Zunge kostete er die Süße ihres Mundes. Hannah keuchte auf, aber John verschluckte das Geräusch, indem er mit seiner Zunge tiefer in ihren Mund eindrang und jeden Millimeter genauestens untersuchte. Wie aus weiter Ferne bemerkte er, wie Hannah ihre Arme um seinen Hals legte. Sie drängte ihren Körper gegen seinen. Er beugte sich über sie. Ohne ihn loszulassen, streckte sie sich unter ihm auf ihrem Rücken aus, und John legte sich auf sie. Alles um ihn herum schien sich zu drehen, als Hannah ihm ihre Beine öffnete. Die Lust, in sie einzudringen, traf ihn mit einer solchen Wucht, dass ihm schwindelig wurde.
Was zum Teufel tat er hier?
Mit einem dumpfen Schlag kehrte er in die Realität zurück. John löste seinen Mund von Hannahs, rollte sich zur Seite und stand mit zitternden Beinen auf. Hannah setzte sich schnell auf. Einen Moment lang starrten sie einander überrascht und ungläubig an, während sie angestrengt atmeten.
„Das wollte ich nicht“, sagte Hannah schließlich.
„Der Kuss war keine gute Idee“, hörte er sich erwidern.
„Ich war nur …“
„Ja, ich auch“, sagte er rau. „Es ist nichts passiert.“
„Wir sind immer noch komplett bekleidet.“
Verlegenheit übermannte John, als er begriff, dass er nur in seinen Boxershorts und in einem Zustand vor Hannah stand, über den er nicht nachdenken wollte. Er drehte sich schnell weg und ging zur Tür.
„Es tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt habe, John.“
Er fühlte sich beklommen, weil er eine schwangere Frau begehrte, die offensichtlich viel durchgemacht hatte. Wenn ihn sein gesunder Menschenverstand nicht zur Vernunft gebracht hätte, hätte er womöglich … John verbat sich jeden weiteren Gedanken. Er unterbrach Hannah barsch. „Ich überprüfe noch mal alle Türen, bevor ich mich wieder hinlege.“
„John!“
„Schlaf ein wenig.“ Dann verließ er das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Hannah wurde von den Sonnenstrahlen geweckt, die durch das Fenster in ihr Zimmer fielen. Dürre schneebedeckte Äste einer Konifere kratzten gegen das Fensterglas wie ein frierender kleiner Vogel. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Sie bewegte sich vorsichtig und unter dem Protest ihrer müden Muskeln. Doch dann erinnerte sich Hannah wieder an die Umstände, die sie hergebracht hatten, und an den Mann, der sie in seinem Haus willkommen geheißen hatte.
Sie kuschelte sich tiefer in die Decken und blickte sich im Zimmer um. Die Balkendecke, die getäfelten Wände und der glänzende Kiefernboden sprachen von Männlichkeit und einer unterschwelligen Stabilität, von der sie sich beschützt fühlte. An der Wand gegenüber von ihrem Bett stand eine Kommode, das Kopfteil des Bettes war aus leicht angelaufenem Messing und die Bettwäsche roch nach Aftershave und Mann.
Hannah seufzte, als ihr der leidenschaftliche Kuss der vergangenen Nacht in Erinnerung kam, und sofort schien in ihrem Bauch ein Schwarm Schmetterlinge zu flattern. Das war nicht das Baby, das erkannte Hannah sofort, sondern ein weitaus gefährlicheres Gefühl. Es verstörte sie. Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit John oder seiner Wirkung auf sie umgehen sollte. Sie wollte glauben, dass sie lediglich der Albtraum der letzten Nacht aufgewühlt und dass John sie getröstet hatte, aber so einfach war es nicht. Und der Kuss war alles andere als brav und tröstend gewesen. Wieso fühlte sie sich so dermaßen zu einem Mann hingezogen, obwohl sie doch das Kind eines anderen Mannes erwartete? Eines Mannes, mit dem sie durchaus glücklich verheiratet sein konnte?
Oder etwa nicht?
Die Frage jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Die ganze Nacht über hatten sie wirre Träume geplagt, die Furcht einflößend oder einfach nur wirr waren. Hannah hatte geträumt, in der Dunkelheit durch eiskalten Schnee zu laufen, sie hatte von einem unsichtbaren Verfolger geträumt und davon, einen dunklen Abgrund hinabzustürzen, um einem noch düstereren Schicksal zu entgehen.
Doch diese Albträume waren von weicheren Träumen gemildert worden, die ihr aus ganz anderen Gründen den Atem raubten und sie verstörten. Denn in diesen Träumen stieg ein schwarzhaariger, blauäugiger Mann vom Himmel herab und nahm sie tröstend in seine Arme. Der Mann sprach mit sanfter Stimme und lächelte vertrauenerweckend, und seine Umarmung jagte kleine Elektroschocks durch ihren gesamten Körper.
Aber jetzt war nicht der Moment, um an Funken zu denken, die die Berührung eines Mannes in ihr entzündeten, den sie zweifelsohne nie wiedersehen würde, sobald das hier alles vorbei war. John Maitland war zweifellos attraktiv, aber Hannah durfte sich nicht von seinem männlichen Charme einwickeln lassen.
Als sie etwas von der anderen Seite der Tür hörte, drehte sich Hannah um und sah sich treuen braunen Augen und einer großen schwarzen Schnauze gegenüber. „Honeybear“, sagte sie.
Der große Hund hatte die Tür zu ihrem Zimmer aufgestoßen und stand jetzt neben ihrem Bett. Schwanzwedelnd legte er das Kinn auf die Matratze. „Sag mir nicht, dass du ein Frühaufsteher bist.“ Beim Klang ihrer Stimme wedelte er noch heftiger mit dem Schwanz. Sie streckte ihre Hand aus und kraulte den Hund hinter dem Ohr. „Für so einen großen Kerl bist du ziemlich süß.“
Honeybear hechelte trotz der Kühle in der Hütte und tapste zur Tür. „Okay, okay, ich komme ja schon.“ Sie zog ihre OP-Hose über und fuhr mit den Fingern durch die Haare. Als sie begriff, dass dies sinnlos war, ging sie durch die Tür auf den Flur hinaus. Der Geruch von Kaffee und gebratenem Bacon hätte ihr eigentlich Appetit machen sollen, aber ein flaues Gefühl im Magen riet ihr, davon abzusehen. Hoffentlich hatte John auch ein paar Cracker in seiner Speisekammer.
Sie war schon halb den Flur hinunter, als die Badezimmertür aufging und John breit grinsend mit nichts als einem Handtuch um die Hüften bekleidet heraustrat. Hannahs Herz schlug einmal heftig und sackte ihr prompt in die Hose. Ihn noch feucht von der Dusche und nach Kiefernholz und Seife riechend vor sich zu sehen, warf sie aus der Bahn.
„Guten Morgen!“ Sein Bizeps spannte sich an, als sich John mit einem zweiten Handtuch die Haare trocken rubbelte. „Wie geht es dir?“
Hannah wusste nicht, wer von ihnen beiden überraschter war, aber sie wusste, wem die Situation unangenehmer war, und das war nicht John. Er wirkte vollkommen selbstsicher, wie er da so halb nackt mit feuchter Haut und breiter Brust vor ihr stand.
„Das mit dem Handtuch tut mir leid.“
Hannah errötete, da das fragliche Handtuch wirklich sehr tief auf Johns Hüften saß. Ihr erster Instinkt war, wegzuschauen, doch sie hielt stand. John sollte nicht erfahren, wie sehr er sie verunsicherte. „Kein Problem.“
„Hast du dich wieder an etwas erinnert?“
„Nein.“
„Ich habe Kaffee gemacht, für dich einen ohne Koffein.“
„Super.“ Hannah hätte nur zu gern Johns stattlichen Körper gemustert, doch das verbat sie sich, immerhin wusste sie bereits von letzter Nacht, dass John Maitland einen der schönsten männlichen Körper hatte, den sie je gesehen hatte.
„Das Frühstück ist fertig“, sagte er.
„Ich, ich rieche es.“ Sie brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass ihr allein schon der Geruch von Essen Übelkeit bereitete.
„Ich dachte, du könntest etwas vertragen.“ Er zeigte unbeholfen auf Hannahs Bauch. „Für zwei essen und so.“
Wenn er doch nur nicht so verdammt gut aussehen würde, wie er da in seinem Handtuch vor ihr stand! Sonst hätte Hannah ihm gesagt, dass sie eigentlich nur ein paar Cracker knabbern wollte. Vorsichtig ausgedrückt war ihr Magen heute Morgen etwas temperamentvoll, aber Hannah war zu verlegen, um es John ansatzweise intelligent zu erklären.
„Ich ziehe mich nur schnell an“, räusperte er sich.
„Gute Idee. Ich gehe schon mal in die Küche.“ Hannah ging um John herum und dann direkt in die Küche.
John hatte nicht zu viel versprochen. Mit dem, was er zum Frühstück zubereitet hatte, könnte er das gesamte Rocky-Mountain-Search-and-Rescue-Team verpflegen. Der Mann kannte sich am Herd definitiv gut aus. Ein Teller mit Pfannkuchen stand zum Warmhalten im Backofen. Perfekt gebratene Streifen Bacon trockneten auf einem Stück Haushaltspapier neben einer Schale mit frischem Obst. Ausgedrückte Schalen mehrerer Orangen lagen neben einer elektrischen Saftpresse, deren Glaskrug mit frischem Orangensaft gefüllt war. Unglücklicherweise war Hannahs Magen von diesem Anblick nicht so begeistert, wie er es hätte sein sollen.
Hannah durchsuchte die Küchenschränke und fand ein Glas, das sie mit Leitungswasser füllte. Sie trank vorsichtig einen Schluck, um zu testen, ob ihr Magen mitspielte, und stellte das Glas auf der Arbeitsplatte ab. Als sie zur Speisekammer ging, fiel ihr Blick auf ein Blatt Papier, das neben dem Saftkrug lag. Sie las die Überschrift: „Schwangerschaft: das erste Trimester.“ Aufgrund des Datums ganz unten auf der Seite musste John den Artikel bereits früh am Morgen aus dem Internet ausgedruckt haben.
„Ich wusste nicht, ob du lieber Milch oder Saft willst, deshalb habe ich beides besorgt.“
Beim Klang seiner Stimme erstarrte Hannah.
„Ein paar Meilen die Straße hinunter gibt es einen Supermarkt“, sagte er. „Du hast geschlafen, also habe ich schnell ein paar Sachen besorgt.“
John hatte sich eine ausgeblichene Jeans, ein graues Flanellhemd und Wanderstiefel angezogen. Das Cap, das er jetzt trug, war schwarz. Vorn auf dem Schild schillerte das Logo der Rocky Mountain Search and Rescue. John trat in die Küche und ging direkt zum Kühlschrank, um einen Karton Milch herauszuholen, den er zu dem kleinen Tisch trug.
„Ehrlich gesagt ist mir gerade eher nach ein paar Crackern oder etwas trockenem Toast zumute“, sagte sie.
„Das habe ich auch. Ich hoffe, Vollkornweizen ist okay?“
„Ja.“
Er ging zum Toaster und drückte den Knopf herunter. „Ich habe auch Bioeier, wenn du magst. Ein Käseomelett wäre eine gute Protein- und Kalziumquelle.“
Beim Gedanken an Eier zog sich Hannahs Magen weiter zusammen. „John, ich weiß das alles zu schätzen“, sie versuchte, nicht auf die Eier zu sehen, die er gerade in eine Edelstahlschüssel schlug, „aber ich habe heute Morgen wirklich keinen Hunger.“
„Du musst bei Kräften bleiben.“
„Nein, wirklich, ich …“ Sie stockte.
John zerschlug noch ein Ei und verquirlte alles mit einem Rührbesen. „Ich kann auch ein paar Champignons oder Tomaten dazugeben, wenn du magst.“
Beim Blick auf die schleimige Masse in der Schüssel verlor Hannah den Kampf mit ihrem Magen. Sie schlug ihre Hand vor den Mund und rannte ins Badezimmer.
John stand mit dem Rührbesen in der Hand an der Arbeitsfläche und starrte Hannah eine volle Minute hinterher, bevor er begriff, was passiert war. Warum war ihm nur nicht aufgefallen, dass Hannah ein wenig grün im Gesicht aussah. Er hatte gedacht, sie sei so blass, weil sie nicht genug gegessen hatte, und nicht, weil ihr übel war. Er hatte nicht mal ihre Pupillen überprüft, um zu sehen, ob die Übelkeit vielleicht von ihrer Gehirnerschütterung stammte.
Das hätte ihm nicht passieren dürfen, nicht John Maitland, dem Sanitäter. Aber er wusste auch, dass es nicht der Sanitäter war, der es vermasselt hatte. John wusste verdammt gut, warum er Hannah heute nicht zu nahe kommen wollte. Es lag an dem Kuss, an den beiden Küssen streng genommen. Jedes Mal, wenn sie sich nahe kamen, beging einer von ihnen einen Fehler und zog den anderen mit hinein.
Er schalt sich, weil er so unaufmerksam gewesen war, verließ die Küche und ging zum Badezimmer. Vor der Tür blieb er stehen und klopfte leise an. „Hannah? Alles okay?“
„Geh weg.“
Die Toilettenspülung rauschte. John verspürte tiefes Mitgefühl. Er hasste es, dass er ihr nicht helfen konnte. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich wusste nicht, dass dir übel ist.“
„Willkommen in der Schwangerschaft.“ Die Toilettenspülung rauschte erneut.
„Kann ich irgendetwas tun?“
„Schmeiß die Eier weg.“
Obwohl er sich schlecht fühlte, musste John lächeln. „Okay.“
Er hörte, wie der Wasserhahn lief. Eine Sekunde später öffnete Hannah die Tür. Ihr Gesicht war nass vom Wasser, zwei Schattierungen zu blass und von feuchten Strähnen umrahmt. Normalerweise sahen Frauen in Momenten wie diesen alles andere als sexy aus, Hannah aber war selbst jetzt sexy.
„Sprich bitte nicht mehr von Essen“, bat sie.
„Werde ich nicht.“
„Vor allem nicht von Eiern.“
„Kein Problem.“ Er schob die Hände in die Taschen. „Noch was?“
„Meinst du, du hättest ein paar trockene Cracker für mich?“
Beim Anblick ihrer porzellanartigen Züge, die von den roten Haaren umrahmt wurden, wurde ihm ganz warm ums Herz. Ihre rote Mähne war zwar ungekämmt, aber er wollte dennoch mit seinen Fingern hindurchfahren. „Du bist blass“, sagte er.
„Mir geht es gut, solange du kein Wort mehr über Eier und Bacon verlierst!“
Er lächelte. Verdammt, er mochte diese Frau sogar, wenn sie schlecht gelaunt war! „Wie wäre es mit einem Glas Eiswasser zu den Crackern?“
„Einverstanden.“
Er vergaß seine selbst auferlegte Regel, Hannah nicht zu berühren, und nahm ihr Gesicht in seine Hände.
Hannah erstarrte. „W-w-was tust du da?“
„Ich schaue nur nach, ob deine Pupillen erweitert sind. Ist das okay?“
„Oh!“ Er spürte, wie sie sich entspannte. „Und? Sind sie erweitert?“
„Nein.“ Er ließ seine Hände sinken. „Das ist gut.“
„Also fühle ich mich nur aufgrund der Schwangerschaft wie der Tod auf Latschen und nicht, weil ich einen Berg hinuntergefallen bin. Das klingt unglaublich.“
Er grinste. „Sorry, aber so scheint es zu sein.“
„Wie lange dauert diese Morgenübelkeit an?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Du bist doch hier der Sanitäter“, erwiderte sie. „Und ich habe deine Lektüre auf dem Küchentresen gesehen.“
Lektüre? John zuckte zusammen. Offenbar hatte er den Artikel, den er ausgedruckt hatte, in der Küche vergessen, als er begann, das Frühstück zuzubereiten.
„Du weißt schon, den Artikel über die Schwangerschaft im ersten Trimester. Ich mag ein wenig vorschnell sein, aber ich hatte den Eindruck, darin ging es um Schwangerschaften.“
„Oh, den meinst du!“ John fühlte sich ertappt, und es war ihm peinlich, obwohl es dafür eigentlich gar keinen Grund gab. Er nahm Hannah bei der Hand und führte sie ins Wohnzimmer. „Setz dich, ich bringe dir die Cracker.“
Wenig später kam er mit einem Teller voller Cracker, ein paar Orangenschnitzen und einem Glas Eiswasser zurück. Er stellte das Glas neben sie auf den Beistelltisch. Für seinen Geschmack war Hannah immer noch zu blass, aber wenigstens sah sie nicht mehr so krank aus.
„Das könnte dich interessieren.“ Er legte den Artikel auf den Couchtisch. „Ich weiß nicht viel über Schwangerschaften, also bin ich auf eine Gesundheitsseite gegangen und habe das hier ausgedruckt.“
„Danke.“ Sie griff nach den Seiten.
„Erst die Cracker, Rotschopf.“ Er nahm einen vom Teller und reichte ihn ihr zusammen mit dem Wasserglas. „Du kannst lesen, nachdem du gegessen hast.“
Sie verdrehte die Augen. „Um Himmels willen!“
„Du hattest gestern kein Abendbrot. Du musst was essen.“
Sie biss von dem Cracker ab. „Als mir heute Morgen schlecht war …“ Sie stockte und dachte nach. „Die Übelkeit kam mir irgendwie vertraut vor.“
„Dann war dir wohl schon vorher übel“, sagte er.
Ihre Blicke trafen sich. In den braunen Tiefen ihrer Augen sah John einen Anflug von Hoffnung. „Ja, ich erinnere mich daran.“
„Das ist toll. Ich meine nicht, dass dir schlecht ist, aber dass du dich daran erinnerst. Das ist großartig.“
„Ich glaube, das ist mir während der Schwangerschaft häufiger passiert.“
„Hast du dich noch an etwas anderes erinnert?“, fragte er vorsichtig.
„Nicht wirklich. Nur an das, was ich von dem Traum letzte Nacht noch weiß.“
John entging die Gänsehaut nicht, die sie bei der Erwähnung des Albtraums überlief. Im Laufe seiner Karriere hatte er schon viele Menschen schreien hören. Sie hatten vor Schmerzen geschrien, vor Überraschung, vor Angst und vor Wut, aber er würde niemals mehr vergessen, wie ihn Hannahs Schrei aus tiefem Schlaf gerissen hatte. In ihm klang nicht nur Furcht mit, sondern bloße Todesangst.
Sie aß den ersten Cracker auf, und John reichte ihr eine Orangenspalte.
„Weißt du“, setzte sie an, „ich war so mit mir beschäftigt, dass mir erst jetzt auffällt, wie wenig ich von dir weiß.“
Er konnte ihr nicht sagen, dass das gewollt war. Er sprach nicht über seine Vergangenheit. Der John Maitland, der er in Philadelphia gewesen war, existierte nicht mehr.
„Was willst du wissen?“, fragte er.
„Woher kommst du?“
„Aus Philadelphia.“
Sie lächelte. „Ich wusste, dass es irgendwo im Nordosten sein musste.“
„Wieso?“
„Aufgrund deines Akzents.“
„Akzent?“, schnaubte er. „Ich habe keinen Akzent.“
„Bei dir klingen Wörter, die auf ‚a‘ enden, wie ‚er‘. Und du sprichst etwas abgehackt.“
„Ich spreche überhaupt nicht abgehackt.“
„Doch. Und du nennst mich Hanner.“
„Hannah“, sagte er.
Sie lachte. „Da war es schon wieder.“
John tat, als wäre er genervt, und verdrehte die Augen. „Gar nicht.“
„Okay, John aus Philadelphier.“
„Du machst dich über meine Aussprache lustig.“ Er grinste. „Ich kann es nicht fassen.“
„Also, was hat dich aus Philadelphia hierher nach Colorado verschlagen?“
Obwohl er vorbereitet war, erwischte ihn die Frage eiskalt. Er sagte sich, dass es natürlich nur eine ganz normale Frage war, ein unschuldiger Small Talk. Er hatte die Frage schon hundert Mal gehört und sie hundert Mal mit der gleichen Lüge beantwortet. Aber egal, wie oft er diese Lüge auch erzählte, es wurde nie leichter.
„Der Job.“ Er hasste es, dass er ihrem Blick nicht standhalten konnte. Doch er konnte nicht in diese arglosen braunen Augen sehen und an Philadelphia denken. „Und die Berge“, fügte er als Halbwahrheit hinzu. „Ich habe als Kind mal die Rocky Mountains gesehen. Sie haben mich so berührt, dass ich wusste, eines Tages würde ich hier leben.“
Was sie wohl sagen würde, wenn sie die Wahrheit erfuhr über das Dunkle in seinem Herzen und wessen Blut durch seine Adern floss. Doch so weit würde ihre Beziehung nie gehen, immerhin ging John Maitland, der Unberührbare, keine engen Bindungen zu anderen Menschen ein. Er sagte ihnen nur, was sie unbedingt wissen mussten, und den meisten Menschen reichte das auch.
Der Pager an seinem Gürtel piepte. Er blickte darauf, sah die Nummer und verspürte den vertrauten Adrenalinrausch.
„Was ist?“, fragte Hannah.
„Wir sind gerufen worden.“
„Gerufen worden?“
John ergriff seine Segeltuchtasche, die neben der Tür stand. „Alle Mitglieder der Rocky Mountain Search and Rescue tragen Pager. Wenn in der Zentrale ein Notruf eingeht, werden wir angepiept. Ich muss für ein paar Stunden weg.“
„Oh! Okay.“
„In den höheren Lagen hat es gestern geschneit. Vermutlich hat es einen Unfall gegeben.“ Sosehr sich John auch freute, den bohrenden Fragen damit zu entgehen, so ungern ließ er Hannah allein zurück. Auch wenn er wusste, dass es ihr hier gut gehen würde, gefiel ihm die Vorstellung nicht, dass er sich vielleicht irren könnte.
„Du bist hier sicher“, sagte er und nahm seinen Parka vom Haken.
„Natürlich.“ Sie nickte enthusiastisch, aber John war das unsichere Aufblitzen in ihren Augen nicht entgangen. Er konnte ihr nicht vorwerfen, dass sie sich unbehaglich fühlte.
„Niemand ist uns gefolgt. Niemand weiß, dass du hier bist.“
„Wirklich, ich komme schon klar. Immerhin ist Honeybear ja da, um mich zu beschützen, oder?“
John grinste. Er fing wirklich an, sie zu mögen. „Genau. Vergiss das nicht. Und fühl dich bitte wie zu Hause. Ich muss los, bin aber in ein paar Stunden zurück.“