7. KAPITEL

Wie erstarrt blickte Hannah zu dem SUV. Sie versuchte sich einzureden, dass es nicht dasselbe Fahrzeug sein konnte, das vor wenigen Stunden versucht hatte, sie und John von der Straße zu drängen. Aber sie wusste, dass sie sich irrte, immerhin erkannte sie die Felgen. Und sie wusste instinktiv, dass sie in Gefahr war. Sie spürte es wie das Knistern in der Atmosphäre – eine Sekunde, bevor ein tödlicher Blitz einschlug.

Knapp zehn Meter trennten sie von der Eingangstür zum Frauenhaus. Sie widerstand dem Drang, sofort loszulaufen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Vielleicht hatte sie der Fahrer noch nicht gesehen. Also blieb sie stocksteif stehen, während der SUV im Leerlauf am Bürgersteig parkte. Das Adrenalin brannte in ihren Adern, als das Beifahrerfenster heruntergelassen wurde. Angst wurde zu nackter Panik, als Hannah den glänzenden Lauf einer Waffe erkannte, die wie eine tödliche Schlange aus ihrem Erdloch kroch.

Panik und Ungläubigkeit rangen in ihrem Kopf miteinander. Es gab hier draußen nichts, wo sie sich verstecken konnte, also rannte sie nun doch aufs Haus zu. Sie war erst ein paar Schritte weit gekommen, als ein Schuss durch die Luft hallte. Etwas zischte so nah an ihrem Kopf vorbei, dass sie den heißen Luftzug spürte. Eine weitere Welle der Fassungslosigkeit überfiel sie, als sie erkannte, dass es sich um eine Kugel handelte.

Jemand schoss auf sie!

Hannah hörte einen weiteren Schuss und spürte ein leichtes Ziehen an ihrem Mantel wie von einem bedrohlichen Geist. Aus einem Instinkt heraus lief sie im Zickzack, rutschte aber auf einem glatten Stück aus und fiel auf Hände und Knie.

„Hilfe!“ Sie rappelte sich auf und stolperte die Treppen zum Eingang hinauf. Neben ihr zerbarst ein Fenster. Glas rieselte auf die Holzplanken der Veranda. „Bitte! Hilf mir doch jemand!“

Das Knurren eines hochgedrehten Motors durchbrach die gespenstische Situation. Ein Dutzend Gefühle tobten in ihrem Inneren, als sie sah, dass Johns Jeep den SUV so heftig rammte, dass dieser über den Bürgersteig in den Garten geschoben wurde. Das knirschende Geräusch von sich verbiegendem Metall gefolgt von einem durchdringenden Hupen zerriss die Luft.

John war zu ihr zurückgekommen!

Der Motor des SUV wurde abgewürgt, der Fahrer versuchte panisch, ihn erneut zu starten. Die Gangschaltung knirschte, als John den Rückwärtsgang einlegte, um den SUV noch einmal zu rammen.

Hannah konnte den Blick nicht von den beiden Autos wenden. Mit ausgestreckten Armen stolperte sie über die Veranda und schlug mit flachen Händen gegen die Holztür. „Hilfe!“

Hinter ihr jaulte der Motor des SUV auf. Schnee wurde hoch in die Luft gewirbelt, als er aus dem Garten und auf die Straße raste. Hannahs Herz hämmerte unkontrolliert in ihrer Brust, als der Jeep auf den Bürgersteig rutschte und nur wenige Meter von ihr entfernt zum Stehen kam. John öffnete die Tür, noch bevor der Wagen richtig stand, und lief auf sie zu. „Hannah!“

Sie ging auf wackligen Beinen auf ihn zu. „John. Oh, mein Gott!“

„Bist du verletzt?“

„Mir geht es gut.“ Ihr Puls raste. John sprintete zwei Stufen auf einmal nehmend auf die Veranda. Ohne das Adrenalin in ihrem Blut wäre sie jetzt in Ohnmacht gefallen, dessen war sich Hannah sicher. „W-was machst du hier?“

„Bist du verletzt? Hat der Scheißkerl …?“, sein Fluch verhallte. Reine Wut verdunkelte Johns Gesicht. Der intensive Blick aus seinen Augen brannte förmlich auf ihrer Haut, als er sie von oben bis unten musterte. „Ich muss es wissen, Honey. Bist du verletzt?“

„Nein, mir geht es gut“, hörte sie sich sagen.

Mit zwei Schritten war er bei ihr. „Das muss ich mit eigenen Augen sehen.“

Ohne auf ihre Zustimmung zu warten, streckte er die Hand aus und berührte ihre Schultern. John fluchte abermals. Hannah blickte zu ihrer rechten Schulter und sah ein ausgefranstes Loch im Stoff des Mantels. Langsam begriff sie, dass die Kugel den Stoff nur eine Handbreit oberhalb ihres Herzens durchlöchert hatte. Es hätte nicht viel gefehlt – und der Unbekannte hätte sie erschossen. Ihr wurde übel.

„Verdammt!“ Er legte einen Arm um ihre Schultern, zog sie an sich und klopfte mit der freien Hand gegen die Tür. „Aufmachen!“

„Ich bin okay, John. Wirklich. Mir fehlt nichts.“

„Zieh deinen Mantel aus.“ Mit zitternden Händen begann er, ihren Reißverschluss herunterzuziehen. „Lass mich dir helfen. Ich will dich ansehen.“

„Okay, aber ich bin …“

„Dieser Hurensohn.“

„Beruhige dich, John.“

Um Fassung ringend trat er einen Schritt zurück und blinzelte sie an. Dann atmete er tief durch. „Das war verdammt knapp.“

Ein beinahe hysterisches Lachen löste sich aus ihrer Kehle. „Habe ich dir schon zu deinem Timing gratuliert?“

„In letzter Zeit nicht.“

„Eine Minute später – und ich wäre …“ Hannah schluckte.

„Still, Rotschopf.“ Er spannte seinen Kiefer an und schob ihr den Mantel von den Schultern. Ihre Nerven zuckten, als seine Hände über ihre Arme und ihre Taille strichen. „Okay?“

Sie nickte.

Er drückte vorsichtig ihre Hände und legte seine Hände dann an ihr Gesicht. Eine interessante Mischung an Emotionen schimmerte wie blaue Diamanten in seinen Augen. „Bist du sicher, dass es dir gut geht? Manchmal muss der Schock erst etwas abebben, bevor man es ganz genau weiß.“

„Mir geht es gut.“ Die sanfte Berührung seiner Finger an ihrem Gesicht hatte ihr Herz in einen unruhigen Rhythmus versetzt. Hannah schnappte nach Luft.

„Deine Knie bluten.“

„Oh!“ Sie schaute an sich herunter. „Ich muss sie mir aufgeschlagen haben, als ich gefallen bin.“ Erneut lachte sie erstickt auf. „Ich denke, angesichts der Ereignisse sind meine Knie nicht so wichtig.“

Er knirschte mit den Zähnen und warf einen Blick über seine Schulter zur leeren Straße. „Ich habe mit dem Handy 911 gerufen, als ich den SUV gesehen habe, konnte den Anruf aber nicht beenden.“

Das Verandalicht flackerte auf. Hannah und John drehten sich zur Tür, als sie die Sicherheitsketten rasseln hörten. Einen Augenblick später schwang die Tür auf und eine hochgewachsene Afroamerikanerin mit einem Baseballschläger in der einen und einem Telefon in der anderen Hand funkelte John an. „Meine Güte! John Maitland, du hast einiges zu erklären“, sagte sie barsch. „Mich so zu Tode zu erschrecken.“

„Hey Schönheit! Deine Fragen beantworte ich dir später. Im Moment muss ich nur diese Dame hier hineinbringen und die Polizei anrufen.“

Die Frau schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Komm mir nicht mit ‚meine Schönheit‘!“ Ihr Blick glitt zu Hannah. „Sind Sie in Ordnung, Liebes?“

Ohne auf eine Einladung zu warten, trat John einen Schritt vor und küsste die Frau auf die Wange. „Es ist schön, dich zu sehen, Angela. Hast du die Polizei in der Leitung?“

„Sie sind auf dem Weg.“

„Gutes Mädchen.“ Er ergriff Hannahs Hand und zog sie daran ins Haus. „Das ist Hannah“, sagte er.

Angelas scharfer Blick landete auf Hannah und wurde sofort weich. „Sie sind die Patientin von Dr. Morgan“, sagte sie.

„Ja.“ Hannah warf einen Blick über ihre Schulter. „Das mit dem Fenster tut mir leid.“

„Fenster können ersetzt werden.“ Die Frau hielt ihr die Hand hin. „Herzlich willkommen in Angela Pearls Haus für misshandelte Frauen.“

Egal, wie sehr sie sich auch bemühte, Hannah konnte nicht aufhören, zu zittern. Ihr gesamter Körper bebte, als Angela Pearl sie in die Küche führte und sie auf einen Stuhl drückte. Sie versuchte immer noch zu begreifen, was gerade geschehen war, und ihre Gefühle in den Griff zu kriegen. Angela reichte ihr einen Becher mit heißem Tee.

„Das ist Kamille mit Himbeere und Minze, um Ihre Nerven zu beruhigen. Ich glaube, ein wenig Kava ist auch mit drin.“ Die große schwarze Frau durchquerte die Küche und lehnte ihren Baseballschläger gegen den Herd. „Davon habe ich in den letzten paar Jahren selber genügend getrunken.“

„Danke.“ Hannah umfasste den Becher mit beiden Händen und nippte daran.

„So viel Aufregung hatten wir hier nicht mehr, seit Lisa Price’ Ehemann ihr Auto letztes Jahr in Brand gesetzt hat.“

Hannah hätte sich beinahe an ihrem Tee verschluckt. „Ihr Ehemann? Warum hat er das getan?“

Angela Pearl schnaubte. „Weil sie zum Abendessen Koteletts gemacht hatte und dieser Mann keine Koteletts mag.“

„Das ergibt doch keinen Sinn.“

„Das tut es nie.“ John betrat die Küche, nachdem er zum vierten Mal die Eingangstür überprüft hatte. Er schaute grimmig drein. „Hast du irgendetwas Effektiveres als den Baseballschläger, um dich zu verteidigen, Angela?“

„Du weißt, dass ich keine Waffen im Haus dulde, John Maitland“, schalt sie.

„Ich hab ja nur gefragt.“

Angela Pearl berührte Hannah sanft an der Schulter und seufzte. „Ich mache mal eben das Verandalicht für die Polizei an.“

John wollte mit ihr gehen, aber Angela hob eine Hand, um ihn aufzuhalten. „Du bleibst schön bei Hannah, mein Junge.“

„Angela!“

„Ich komme schon klar.“ Sie schob seine Besorgnis beiseite und verließ den Raum.

Er starrte ihr einen Moment lang nach, dann drehte er sich um und ging ruhelos in der Küche auf und ab. Hannahs Blick folgte ihm zur Hintertür, wo er aus dem Fenster schaute, den Türgriff prüfte und sich dann wieder zu ihr umdrehte. Da erst bemerkte sie, dass sie nicht die Einzige war, die zitterte. John war ebenso erschüttert wie sie.

Noch zwei Mal durchquerte er die Küche, wobei er seinen Parka auszog. Es war nicht der richtige Augenblick, um daran zu denken, aber seine abgetragene Jeans stand ihm wirklich gut. Der Mann war einfach unglaublich attraktiv. Hannah sagte sich, dass seine Anziehung nur darin bestand, dass er ihr gerade zum zweiten Mal in zwei Tagen das Leben gerettet hatte. Das hätte sie vielleicht sogar geglaubt, wenn ihr Puls nicht jedes Mal in die Höhe schießen würde, sobald John sie ansah.

„Wie geht es deinen Knien?“

Beim Klang seiner Stimme zuckt sie zusammen. „Denen geht es gut.“

„Ich schätze, deshalb bluten sie auch.“

Sie blickte an sich herunter. „Oh!“

„Ich sollte sie mir besser einmal ansehen?“

„Später, okay?“ Eine Windböe erfasste die Fliegengittertür, das Holz klapperte, und Hannah zuckte zusammen.

„Ganz ruhig.“ Er kam einen Schritt näher und kniete sich vor sie hin. „Er ist weg.“

Sie lachte nervös. „Ich schätze, ich bin ein wenig angespannt.“

„Ja. Das bin ich auch.“

Hannah zitterte. Sobald sie John nur ansah, kam ihr sein Kuss in den Sinn. Sie senkte den Blick zur Teetasse. „Und wie geht es dir, John? Du bist ziemlich hart mit dem SUV zusammengeprallt.“

„Sofern dein Schütze nicht angeschnallt war, wird er wesentlich stärkere Schmerzen haben.“

„Und was ist mit dem Jeep?“

„Ich habe vorn einen Bullenfänger dran. Der hat das meiste abbekommen.“

Seine Augen waren dunkelblau und von Wimpern umrahmt, die für einen Mann viel zu lang waren. Hannah musste alle Kraft aufwenden, um ihren Puls unter Kontrolle zu bekommen, aber Johns Anziehungskraft war stärker. Sie sah in seine Augen und fühlte sich wie gefangen. Sie sagte sich, dass ihre Reaktion lediglich eine Nachwirkung des Adrenalinschocks war, obwohl sie wusste, dass es nicht stimmte.

„Du lässt es dir langsam zur Gewohnheit werden, mein Leben zu retten“, sagte sie nach einer Weile. „Das ist nun schon das zweite Mal in zwei Tagen.“

„Vielleicht habe ich einfach ein gutes Timing, wenn es um dich geht.“

„Es ist mehr als nur gutes Timing. Wenn du nicht zurückgekommen wärst, hätte ich …“ Sie stockte.

„Nicht daran denken, Rotschopf.“

Er hatte recht. Allein der Gedanke daran, was hätte passieren können, wäre John nicht rechtzeitig aufgetaucht, erschütterte sie. „Wie auch immer, vielen Dank. Wieder einmal.“

„Ich bin kein Held.“ Ein Gefühl, das sie nicht ganz deuten konnte, flackerte in den Tiefen seiner Augen auf. „Du tust gut daran, das im Kopf zu behalten.“

Hannah wollte gerade widersprechen, als Angela Pearl in die Küche rauschte. Ihr wissender Blick glitt von John zu Hannah, und ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Ich wusste nicht, dass ihr beide befreundet seid.“

„Das sind wir auch nicht“, sagte Hannah und überlegte es sich dann anders. „Ich meine …“ Sie schluckte.

„Ich habe sie nur vom Lake County hergefahren“, beendete John ihren Satz.

„Aha.“ Angela Pearl lachte leise. „Wie auch immer, John Maitland. Ich bin froh, dass du hier warst, um zu helfen.“ Sie schraubte das Keksglas auf und arrangierte ein paar Kekse auf einen grünen Teller. „Officer Rodriguez und Officer Miller lieben meine Ingwerkekse. Manchmal denke ich, sie sind der wahre Grund, warum sie immer so schnell kommen, sobald ich sie anrufe.“

Wenn sie es nicht mit eigenen Augen sehen würde, hätte Hannah nicht geglaubt, dass diese Frau so locker damit umging, dass jemand ihr Fenster zerschossen hatte. „Das klingt, als würden Sie die Polizei ziemlich oft rufen.“

„Unglücklicherweise ja, Liebes. Als Leiterin eines Hauses für misshandelte Frauen hat man so seine Tage.“

„Angela?“

Hannah blickte auf und sah eine dünne Frau vor der Küchentür stehen. Ihre blasse Hand ruhte auf dem Türknauf, ihr Gesicht war hinter ihrem dünnen blonden Haar verborgen. Sie trug einen abgetragenen grünen Bademantel und grüne Hausschuhe. Erst als die Frau eine Hand hob und die Haarsträhnen beiseiteschob, erkannte Hannah das blaue Auge und die geschwollene Wange.

„Hey, Lori.“ Angela entschuldigte sich lächelnd und ging zu der Frau. „Das mit dem Krach draußen tut mir leid, aber wir hatten ein wenig Ärger. Wie geht es dir?“

„Besser.“ Ihr Blick glitt von John zu Hannah, dann trat sie in den Schatten des Flurs zurück. „Ich dachte, vielleicht wäre Kerry zurückgekommen“, sagte sie leise.

„Nein, Mädchen, er kommt nicht zurück. Ich habe mich vorhin nett mit ihm unterhalten. Er hat versprochen, sich an die einstweilige Verfügung zu halten. Komm, ich bringe dich nach oben. Der Arzt hat gesagt, du sollst dich ausruhen.“

Beim Anblick des gehetzten Ausdrucks in den Augen der Frau zog sich Hannahs Brust zusammen. Lori stand der Schmerz wie ins Gesicht gemeißelt. Er zeugte von den körperlichen Misshandlungen eines Mannes, den sie so gut kannte, dass sie ihn beim Vornamen nannte.

Hannah fühlte sich erschüttert und traurig. Das Gefühl war so mächtig, dass sie die Tränen zurückhalten musste. Sie warf John einen Blick zu. Das Lächeln und die großspurige Haltung waren verschwunden. Sein Gesicht war so blass und hart wie Granit. Als er eine Hand hob, um sich die Schläfe zu massieren, zitterte sie. Hannah hatte ihn noch nie so unruhig erlebt. Das war nicht der John Maitland mit dem schiefen Grinsen und dem schnellen Witz.

„Geht es dir gut?“, fragte sie.

Er zuckte zusammen. „Ich hasse es, so etwas zu sehen“, sagte er.

„Ich auch. Es ist so traurig.“

„Es macht mich wütend“, knurrte er.

Hannah hielt seinem Blick stand. Er musste die Frage in ihren Augen gesehen haben, denn er fügte hinzu: „Ich habe ein paar Jahre in Denver als Sanitäter gearbeitet. Da wurde ich oft zu häuslichen Streitigkeiten gerufen. Ich habe in jenen Jahren viel gesehen, aber dadurch wird es nicht einfacher, es zu ertragen.“

Für einen Moment schwiegen beide. Nur der tropfende Wasserhahn durchbrach die Stille. Hannah wollte John gerne fragen, warum seine Hände so zitterten, warum er so blass war und seine Augen so kalt blitzten wie Eis, aber sie tat es nicht. Welche Dämonen auch immer ihn quälten, seit er das zerschundene Gesicht der Frau gesehen hatte, er wollte offensichtlich nicht darüber reden.

„Warum bleiben die Frauen?“, fragte sie nach einer Weile.

„Das habe ich eine von ihnen auch mal gefragt.“ Er schaute so lange auf seine Stiefel, dass Hannah glaubte, er würde nicht weiterreden. Als er ihr endlich in die Augen sah, wirkten seine so gequält, dass sie instinktiv wusste, dass er nicht nur ein Sanitäter war, der eine Kriegsgeschichte erzählte, sondern ein Mann, der sich an einen Vorfall erinnerte, der sein Leben für immer verändert hatte. „Sie war eine hübsche Fünfunddreißigjährige, die mal Cheerleaderin gewesen war. Eine Frau mit zwei Kindern und dem Traum, Inneneinrichterin zu werden. An ihrem zehnten Hochzeitstag hat ihr Ehemann ihr den Kiefer und das Handgelenk gebrochen.“

„Mein Gott!“ Die hässlichen Worte schnürten Hannahs Herz zusammen. „Warum ist sie bei ihm geblieben?“

„Sie sagte, sie könne ihn nicht verlassen, weil sie ihn liebte. Sie liebte den Mann, der ihr Bett teilte und sie so hart geschlagen hat, dass ihre Knochen brachen.“

„Das ist keine Liebe.“

„Vielleicht nicht, aber was auch immer die Gründe sein mögen, in neun von zehn Fällen bleiben die Frauen.“ John schüttelte den Kopf. „Einige kennen niemanden, zu dem sie gehen können. Die Glücklichen durchbrechen den Kreislauf. Die Unglücklichen landen im Krankenhaus oder schlimmer.“

Hannah wusste nicht, warum sie seine Worte so verstörten. Sie dachte an ihr eigenes Leben und an die Blutergüsse an ihrem Hals. Hatte sie vielleicht das gleiche Schicksal erlitten?

Gleichzeitig lauerte noch etwas anderes am Rande ihres Bewusstseins. Etwas Dunkles, Bedrohliches, das wie eine schwere Gewitterwolke kurz vor dem ersten Donnerschlag über ihr hing.

Einen Moment später verließen sie ihre Sinne, und die Welt um sie herum verschwand in tiefer Finsternis. Sie sah Schnee und Dunkelheit und helle Scheinwerfer. Sie spürte die Kälte, den Schmerz von Verletzungen, die Übelkeit erregende Erkenntnis von Gewalt und den bitteren Geschmack von Verrat.

Das Aufblitzen der Erinnerung schockierte sie. Panisch schnappte sie nach Luft. Dunkle Vorahnungen tobten so wild in ihr, dass sie schluchzte. Sie versuchte, die Erinnerung festzuhalten, doch sie verschwand wieder in einem grauen Nebel. „Ganz ruhig, Rotschopf. Ganz ruhig.“

Sie hörte John wie aus der Ferne, und die Sorge in seiner Stimme holte sie zurück. Sie atmete flach und schnell und spürte die Wärme seiner Finger an ihrem Oberarm. Angst lag in der Luft.

„Mir geht es gut“, hörte sie sich selbst sagen, dabei ging es ihr gar nicht gut. Es war, als hätten ihre Sinne die Gegenwart abgeschaltet und sie an einen Ort zurückgebracht, an dem sie nicht sein wollte. Der kurze Moment reichte aus, um sie in Panik zu versetzen, doch er war zu kurz, um alles zu verstehen.

„Was ist los? Hannah? Bist du bei mir? Sprich mit mir.“

Der Nebel lichtete sich. Langsam verebbte ihre Verwirrung, und die Welt um sie herum wurde wieder klar. Hannah stand abrupt auf, und der Stuhl kratzte über die Fliesen. Sie sah John, der sie eindringlich musterte. In seiner Miene spiegelte sich eine Mischung aus Verwirrung und Besorgnis.

„Du warst wieder weg“, sagte er. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja, ja, mir geht es gut.“ Sie schüttelte die Angst ab und ging auf unsicheren Beinen in Richtung Hintertür. Ein fürchterliches Gefühl der Verletzlichkeit legte sich auf sie, als sie aus dem Fenster auf die schneebedeckte Landschaft dahinter blickte.

„Du siehst aber nicht so aus, als ginge es dir gut“, sagte er.

„Ich habe keine andere Wahl.“

Sie erschrak, als sie seine Hand auf ihrer Schulter spürte. „Du zitterst. Komm, setz dich wieder.“

„Ich muss einen Moment stehen.“ Hannah brauchte einen Augenblick, um sich zusammenzureißen. John sollte nicht sehen, wie sie zusammenbrach. Seine starken Arme waren einfach zu einladend, und der Trost, den sie versprachen, viel zu mächtig, um ihnen zu widerstehen.

„Hattest du einen weiteren Flashback?“, fragte er.

„Es war mehr wie ein Déjà-vu.“ Sie erkannte, dass es keinen Sinn ergab, und seufzte auf. „Es ist, als sähe ich etwas, was ich mal getan habe.“ Langsam drehte sie sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. „Ich glaube, meine Erinnerungen suchen sich einen Weg zurück, aber noch sind es nur kleine, unzusammenhängende Teile.“

„Doc Morgan hat gesagt, dass das so kommen kann.“ Er musterte sie weiter. „Was siehst du, wenn du dich erinnerst?“

„Immer das Gleiche wie vorhin in Buzz’ Büro. Ich renne durch den Schnee. Es ist kalt und dunkel, und jemand ist hinter mir. Ich habe Angst vor ihm, aber ich weiß nicht, warum. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass er mir wehtun will.“ Indem sie den Albtraum aussprach, wurde er noch realer und Furcht einflößender. Ein Schauer schüttelte sie. „Das klingt doch total verrückt, oder?“

Sie hatte die Frage leichthin gestellt, um die Spannung zu lösen, die sich über sie gelegt hatte, doch John lächelte nicht. „Es klingt so, als ob dir dieser Mann nicht das erste Mal wehgetan hätte.“

Sie schloss die Augen. Der Gedanke machte sie krank, und sie betete, dass es nicht stimmte. „Ich könnte mich irren.“

„Ja, aber wir müssen es im Hinterkopf behalten. Häusliche Gewalt hat in unserer Gesellschaft unvorstellbare Ausmaße angenommen. Sie macht keinen Unterschied zwischen Rassen oder Einkommensklassen oder sozialem Status. Sie ist ein gleichberechtigtes Übel und eskaliert eigentlich so lange, bis jemand Hilfe bekommt.“

Bei dem Gedanken daran zog sich Hannahs Herz unerwartet heftig zusammen. Häusliche Gewalt. Traurigkeit übermannte sie. Sie dachte an ihr ungeborenes Kind und ballte vor Wut die Fäuste. „Ich ertrage dieses Nichtwissen nicht mehr, John. Ich muss herausfinden, was mit mir passiert ist. Ich muss wissen, wer ich bin. Ich muss herausfinden, wer …“ Sie rang um Fassung, um den Satz zu Ende zu bringen, aber ihre Stimme versagte.

„Wer versucht, dich zu töten?“ John stand nur einen Schritt von ihr entfernt. Sein Blick war eindringlich und suchend, und seine Augen waren so blau, dass sie darin versinken können hätte.

„Ja“, flüsterte sie.

„Was hat dir der Flashback noch verraten?“

Sie schluckte, entschlossen, sich von seiner vorletzten Frage nicht aus der Bahn werfen zu lassen. „Ich bin ziemlich sicher, dass ich die Person kenne, die mir das angetan hat.“

Ein dunkles Gefühl, das sie nicht benennen konnte, flammte in seinen Augen auf. „Der Mann im SUV?“

„Vielleicht. Ich bin mir nicht sicher. Aber ich habe ein …“

„Bauchgefühl?“, bot er an.

Sie lächelte. „Ja.“

„Weißt du seinen Namen?“

Der dunkle gefährliche Ton seiner Stimme überraschte sie, und sie fragte sich, wie persönlich er das alles nahm. „Nein. Ich meine, bestimmt weiß ich ihn, aber ich erinnere mich nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mir nicht fremd ist. Ich glaube, er ist jemand, den ich kenne oder in der Vergangenheit gekannt habe.“

„Jemand, mit dem du zusammen warst?“

Die Worte erschreckten sie. Nicht nur, weil sie sie überraschten, sondern auch, weil sie ihr seltsamerweise wehtaten. Sie wollte nicht glauben, dass jemand, an dem ihr etwas lag, das heilige Bündnis der Liebe mit Gewalt zerbrochen hatte. Dass vielleicht sogar der Vater ihres ungeborenen Kindes sie zum Sterben in den Bergen zurückgelassen hatte. „Vielleicht. Ich weiß es nicht.“

„Das ist das zweite Mal innerhalb weniger Stunden, dass er versucht hat, dich zu erwischen.“

Ein eiskalter Schauer lief Hannahs Rücken hinab. „Das wissen wir nicht mit Sicherheit, John. Ich könnte mich irren.“

„Du könntest aber auch recht haben.“

Sie schwiegen betreten. Hannah hasste es, Angst zu haben. Und sie hasste es, nicht zu wissen, wer sie war.

„Wenn du recht hast und diesen Mann kennst, dann weiß er offensichtlich auch, dass du hier bist.“ Er sah sie streng an. „Dann darfst du nicht hierbleiben.“

Ich weiß aber nicht, wo ich sonst hin soll. Die unausgesprochenen Worte hingen zwischen ihnen in der Luft wie ein unangenehmer Geruch. Aber Hannah brachte es nicht über sich, sie auszusprechen. „Und woher wusste er, dass ich hier bin?“

„Vielleicht ist er uns vom Krankenhaus aus gefolgt.“ John fluchte leise. „Mir kam der Vorfall auf dem Highway schon verdächtig vor, aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass uns dieser Wahnsinnige hierher folgt.“

„Es gibt auch andere Frauenhäuser, John.“

„Frauenhäuser sind keine Hochsicherheitstrakte.“

Angela Pearl kehrte in die Küche zurück. Sie hatte den letzten Satz offensichtlich mitbekommen und schnaubte. „Ich setze meine Mädchen nicht wegen so ein bisschen Ärger auf die Straße, John Maitland. Das solltest du eigentlich wissen.“

Hannah blickte auf und sah, wie Angela zum Herd ging und einen Kessel Wasser aufsetzte.

John sah Angela finster an. „Eine Schießerei aus einem vorbeifahrenden Wagen ist mehr als nur ein bisschen Ärger, Angela.“

„Angela Pearl kümmert sich um die Ihren.“

„Sie ist aber auch klug genug zu wissen, wann sie ihre Türen geschlossen halten muss, um die anderen Frauen nicht zu gefährden.“

Hannah hatte nicht daran gedacht, dass ihr Aufenthalt hier auch die anderen Frauen gefährden könnte. Entschlossen straffte sie die Schultern und trat vor. „Er hat recht, Angela. Ich will keine Gefahr für die anderen sein.“

„Und ich werde Sie nicht auf die Straße setzen.“ Sie stemmte die Hände in ihre breiten Hüften und forderte John mit gehobener Augenbraue heraus. „Es sei denn, unser Superheld hier hat eine bessere Idee.“

John hielt ihrem Blick stand. „Sie kann bei mir bleiben.“

Die Worte rollten mit der Feinfühligkeit eines Panzers über Hannah hinweg. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“

„Und warum nicht?“

Hannah sah aus dem Augenwinkel, wie interessiert Angela Pearl den Kopf neigte.

„Weil das unangemessen wäre“, sagte Hannah.

„Ich bitte dich nicht bei mir einzuziehen, Rotschopf. Ich biete dir nur mein Gästezimmer an, bis wir herausgefunden haben, was hier los ist“, sagte er. „Morgen früh bringe ich dich gleich als Erstes aufs Polizeirevier. Wir lassen deine Fingerabdrücke nehmen und überprüfen die Vermisstenfälle.“

Angela Pearl verschränkte ihre Arme vor ihrem üppigen Busen. „Falls Sie sich sorgen sollten, weil sie die Nacht mit einem fremden Mann verbringen, Süße, kann ich für John Maitland bürgen. Ich kenne ihn schon seit einigen Jahren. Er ist ein absoluter Gentleman.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Auch wenn er sich meistens nicht so verhält.“

Das Angebot war verlockend. Hannah war erschöpft und ausgelaugt und sie hatte wesentlich mehr Angst, als sie zugeben wollte. Sie wusste, dass der Mann in dem SUV eine ernste Bedrohung war und jederzeit zurückkehren konnte. Das Letzte, was sie wollte, war, Angela Pearl oder die anderen Frauen in Gefahr zu bringen. Ihr Verstand riet ihr, das Angebot anzunehmen, doch eine stille Stimme warnte sie, dass sie sich damit in eine andere Gefahr begab, eine, die nicht so offensichtlich war.

„Du bist todmüde“, sagte John. „Wenn du ein wenig geschlafen hast, wirst du dich besser fühlen. Vielleicht kehren bis dahin sogar deine Erinnerungen zurück.“

Hannah sah Angela Pearl an, die ihr kurz zunickte. Die Bedeutung verstand sie sofort, sie konnte John trauen, sagte die stumme Botschaft.

Natürlich war das nicht ihr größtes Problem. Es war der verdammte Kuss, der ihr immer noch Sorgen bereitete. Dieser unvergessliche, schwindelig machende, total unangemessene Kuss. Trotzdem würde sie eher draußen auf dem eisigen Bürgersteig schlafen, als zuzugeben, dass sie sich zu John hingezogen fühlte. Wie konnte sie bei ihm übernachten, wenn ihr Herz doch dem Vater ihres Kindes gehören könnte?

Solange ich ihn nicht noch einmal küsse, sagte sie sich, wird alles gut. Wenn sie Johns Angebot annahm, musste sie ein paar Regeln aufstellen. Er musste wissen, dass sie nur an einem sicheren Ort interessiert war, an dem sie die Nacht verbringen konnte, bis sie eine Alternative gefunden hatte. Mehr nicht.

„Vielleicht für eine Nacht“, hörte sie sich sagen.

Angela Pearl lächelte. „Ich gebe Ihnen ein wenig von meinem Himbeertee und ein paar Ingwerkekse mit.“

Johns Blick ruhte auf ihr. Hannah war sich nicht sicher, aber sie glaubte so etwas wie Triumph in den Tiefen seiner Augen zu lesen. „Ich mach mich dann mal besser daran, das Fenster zu reparieren“, sagte er.

Sie kann bei mir bleiben.

John nahm an, dass er seine Worte noch bereuen würde. Sie hallten in seinem Kopf nach wie die ersten Anzeichen einer Migräne. Das Gefühl hatte sich verfestigt und verstärkt, als die beiden Polizisten aus Denver ihren Bericht geschrieben und ein Dutzend oder mehr von Angela Pearls Ingwerkeksen gegessen hatten. Als die Polizisten alle Informationen zusammenhatten, die sie benötigten, und wieder gegangen waren, wusste John, dass es eine schlechte Idee gewesen war, Hannah anzubieten, bei ihm zu bleiben. Als beide in seinem Jeep auf den Highway 285 in Richtung Westen bogen, spürte er diese Gewissheit bis in die Knochen.

Was zum Teufel hatte er sich nur dabei gedacht?

Das genau war das Problem, denn er hatte gar nicht gedacht. Seine Hütte einer Frau anzubieten, von der er die Finger nicht lassen konnte, war keine seiner klügsten Entscheidungen. Und doch befand er sich jetzt weit nach Mitternacht auf dem Weg, um die Nacht mit einer kurvigen Rothaarigen zu verbringen, die ihm noch vor wenigen Stunden mit einem innigen Kuss beinahe den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Ja, ein sehr cleverer Schachzug, Maitland, fluchte er still.

„Wir müssen darüber reden, was passiert ist“, sagte Hannah vorsichtig.

John sah sie an. Er versuchte zu ignorieren, dass sie sich eng an die Beifahrertür drückte. „Du meinst den Kerl in dem SUV?“

„Ich meine, du weißt schon, also, den …“ Sie haspelte.

„Den Kuss“, beendete er ihren Satz.

„Nun ja, wenn man das überhaupt so nennen kann.“

Im Licht des Armaturenbretts erkannte er den störrischen Zug um ihren Mund und ihre wunderbaren roten Haare. John spürte, wie die Lust abermals in ihm aufflackerte. Es war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt zu erkennen, dass er auf Rothaarige stand. Vor allem auf eine, die aus zu vielen Gründen vollkommen außer Frage stand.

Hannah musterte ihn mit ebenso weichen wie entschlossenen Augen. Ihr voller Mund war so ernst, dass John ihn nicht hätte sexy nennen dürfen, zumal diese Ernsthaftigkeit ihm galt. Aber Hannahs Mund war einfach sexy. Verdammt sexy sogar! Ganz zu schweigen davon, dass Hannah es damit verstand, einen Mann bis zur Besinnungslosigkeit zu küssen. Ein paar rote Strähnen waren über ihre Augen gefallen. John fragte sich, wie es wohl wäre, die Hand auszustrecken und den Zopf zu lösen, sodass die ganze Pracht über die Schultern fiel.

„Da gibt es nichts dran zu deuteln, Rotschopf. Das war definitiv ein Kuss.“

„Nenne es, wie du willst, aber es war auf jeden Fall unangemessen.“

„Adrenalinüberschuss“, sagte er schlicht.

„Adrenalinüberschuss?“

„Ganz genau.“

„Ich kann dir nicht folgen.“

„Die Nachwirkungen von höchst stressigen Situationen, die Gefühle sind aufgewühlt, und Adrenalin pumpt durch den Körper. Der Blutdruck ist erhöht, und alle Sinne befinden sich in höchster Alarmbereitschaft. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Menschen in solchen Situationen dazu neigen, sehr stark zu reagieren.“ Eine bessere Erklärung fiel ihm auf der Stelle nicht ein.

„Ich dachte, du machst so etwas häufiger.“

„Tja, normalerweise bin ich mit einem Haufen von Kerlen zusammen. Aber mit dir, nun ja, wie soll ich es sagen, mit dir ist es nicht das Gleiche.“

Sie lachte. Es klang so kernig, das es in der Enge des Wagens viel zu sexy klang. Verdammt, an dieser Frau war scheinbar alles sexy!

John lächelte sie an und spürte einen Stich in seiner Brust, als Hannah sein Lächeln erwiderte. Sie besaß einfach das unwiderstehlichste Lächeln, das er je gesehen hatte. Und dieses Grübchen. John erstarrte. Es sah überhaupt nicht gut für ihn aus.

„Ich dachte, es wäre vielleicht besser, wenn wir für unsere gemeinsame Zeit ein paar Regeln aufstellen“, sagte sie.

„Hör mal, ich hatte das genauso wenig geplant wie du.“

„Ich weiß.“

„Es ist nur, dass es ein verdammt guter Kuss war. Wir beide müssten lügen, wenn wir behaupteten, wir hätten es nicht genossen.“

Sie wollte etwas sagen, doch sie bekam kein Wort heraus. John wandte den Blick ab und konzentrierte sich schweigend auf die Straße. Er wünschte, er hätte den Mund gehalten.

Hannah drehte sich ein wenig in ihrem Sitz. „Ich denke, wir wissen beide, dass es gut sein kann, dass ich in einer ernsthaften Beziehung stecke.“ Gedankenverloren legte sie eine Hand auf ihren Bauch. „Ich meine, es könnte sein, dass ich verheiratet bin.“

„Ich weiß“, erwiderte er knapp. Die Aussicht nervte ihn.

„Das darf nicht noch einmal passieren“, sagte sie.

John seufzte schwer. „Ja.“

„Und ich glaube, es wäre gut, wenn wir einander“, sie räusperte sich, „nicht mehr berühren würden.“

Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie ihre Lippen zusammenpresste und krampfhaft versuchte, seinem Blick auszuweichen. Natürlich hatte sie recht. Es war nicht gut, wenn sie sich berührten. Schon der kleinste Fingerzeig genügte, um seine Lust auf mehr zu wecken, und dieses Mehr war alles andere als unschuldig. „Okay“, sagte er. „Darauf kann ich mich einlassen.“

„Ich denke, dass es die Sache für uns beide leichter macht.“

„Falls es dir ein Trost ist, ich hatte nicht vorgehabt, dich zu küssen. Was vorhin passiert ist, war ganz spontan. So etwas kommt vor, wenn zwei Menschen eine gefährliche Situation erleben.“

„Ich bin sicher, dass nicht mehr dahintersteckte.“

Er fragte sich, ob sie das wirklich glaubte. Er tat es definitiv nicht, und das bereitete ihm große Sorgen.

Hannah atmete tief durch und sah John herausfordernd an. „Ich will nur sichergehen, dass du verstanden hast. Ich möchte nicht, dass du dich mir gegenüber verantwortlich fühlst“, sagte sie. „Ich habe noch andere Möglichkeiten.“

„Nun trau mir mal ein bisschen was zu, okay?“, knurrte er. Dass sie glaubte, er würde sich von ihr abwenden und sie ohne ein Obdach zurücklassen, ärgerte ihn fast genauso sehr wie die verdammten Regeln, die sie aufstellte. „Als ob ich dich auf der Straße sitzen lassen würde.“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Dann sei versichert, dass ich das niemals tun würde, okay?“

„Ich wollte dich nicht verärgern.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte aus dem Fenster.

Er hob seinen rechten Arm, um Hannah zu berühren, doch dann erinnerte er sich an Regel Nummer zwei und ließ ihn wieder sinken.

Es würde eine lange Nacht werden.