3. KAPITEL
John hätte wissen sollen, dass es keine gute Idee war, ins Krankenhaus zu fahren. In den sechs Jahren, die er als Rettungssanitäter arbeitete, hatte er noch nie die Grenze zwischen professioneller Pflicht und persönlichem Engagement überschritten. Und ganz sicher hatte er noch nie einen Patienten besucht, abgesehen von dem einen Mal, als er und sein Team eine Frau transportiert hatten, die auf ihrem Campingtrip von vorzeitigen Wehen überrascht worden war. Noch während des Flugs in die Notaufnahme hatte sie ihr Baby zur Welt gebracht. Doch selbst damals hatte er nicht wirklich mit der Frau gesprochen, sondern sich nur bei den Krankenschwestern erkundigt, ob es dem fünf Pfund schweren kleinen Mädchen gut ging.
Warum also hatte er es dieses Mal nicht genauso handhaben können?
Er redete sich ein, er sei nur deshalb vorbeigekommen, um ihr die Nachricht zu bringen, die sie in ihrer Jeans gefunden hatten. Irgendeiner aus dem Team musste es ja schließlich tun, also warum nicht er? Er hatte ja nicht vorgehabt, zu bleiben oder sich in ihre Geschichte hineinziehen zu lassen. Nur weil ihm die Prellungen an ihrem Hals und das dunkle Geheimnis um ihre Rettung nicht gefielen, hieß es nicht, dass er sich in etwas verwickeln oder in die weichen Tiefen ihrer unglaublichen Augen verlieren würde.
Er sollte ihr einfach nur viel Glück wünschen und gehen. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass er den leichten Weg nahm. John Maitland hatte das Weggehen zu einer Kunst erhoben und war sehr gut darin. Noch besser verstand er sich darin, sich auf niemanden einzulassen. Er hatte vor langer Zeit gelernt, welchen Preis persönliche Verwicklungen forderten, und diesen Preis wollte er nicht noch einmal zahlen.
Er wünschte nur, die nervige kleine Stimme in seinem Hinterkopf würde aufhören, ihm einzureden, dass dieses Mal alles anders sei.
Wem wollte er hier etwas vormachen? Er war wesentlich interessierter an dieser Frau, als er zugeben wollte – und als klug war. Er wusste um die Dynamik von Adrenalin und Gefahr. Wie so viele andere Männer seines Schlages lebte er für diesen Rausch. Rettungen konnten gleichzeitig aufregend und gefährlich sein. In der Vergangenheit hatte er danach nie viel mehr verspürt als den Wunsch, sich kurz auszuruhen. Ein paar Biere mit seinen Teamkollegen oder eine Stunde im Fitnessstudio reichten ihm meist. Aber dieses Mal war es anders. Irgendetwas war oben auf dem Berg zwischen ihm und dieser Frau passiert. Etwas, das nichts mit Adrenalinschüben, unverhohlenem Ego oder gar damit zu tun hatte, dass er sich körperlich zu ihr hingezogen fühlte. So unglaublich es auch klang, aber er hatte sich ihr auf eine Weise verbunden gefühlt, die alles infrage stellte, woran er je geglaubt hatte. Die Erkenntnis, dass er diesem wohlgeformten Körper und den bodenlosen braunen Augen ausgeliefert sein könnte, verstörte ihn beinahe genauso sehr wie die Worte, die sie gerade ausgesprochen hatte.
Als er sie ansah, merkte er, dass er nicht den ganzen Weg von Conifer ins Lake County Hospital bei zehn Zentimeter Neuschnee gefahren war, nur um sich nach ihrer körperlichen Verfassung zu erkundigen.
„Warum sollte jemand Sie umbringen wollen?“ Er dachte an die Pistole, die sie ihm vors Gesicht gehalten hatte, und fragte sich, ob sie sich daran wohl noch erinnerte. Oder ob das etwas mit dem zu tun hatte, was ihr zugestoßen war.
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte sie. „Ich meine, ich habe keine klare Erinnerung daran, nur vage Eindrücke.“
„Woran erinnern Sie sich?“
„Ich erinnere mich daran, Angst gehabt zu haben“, erwiderte sie. „Ich erinnere mich, dass ich durch Dunkelheit und Kälte gerannt bin. Ich glaube, jemand hat mich verfolgt.“
„Hören Sie, ich will nicht kleinreden, was Sie mir da erzählen, aber ich habe im Laufe der Jahre viele Gehirnerschütterungen gesehen und noch mehr Fälle von Unterkühlung. Beides kann zu mentaler Verwirrung führen.“
„Ich irre mich nicht, was das angeht.“
„Selbst eine moderate Unterkühlung kann schon Halluzinationen hervorrufen“, sagte er.
„Ich habe nicht halluziniert.“
„Haben Sie denn halluziniert, als Sie mir die Pistole vors Gesicht gehalten haben?“
Ihr Blick flog zu ihm, und sie sah ihn erschrocken an.
„Wie ich sehe, erinnern Sie sich an diesen Teil noch ganz gut“, sagte er trocken. „Sie hätten mir den Kopf wegpusten können.“
„Oh, mein Gott!“ Sie presste ihre bandagierte Hand gegen ihren Mund. „Ich hätte Ihnen niemals etwas angetan.“
„Tja, das wirkte auf mich ganz anders. Diese 38er, die Sie da gehalten haben, sah ziemlich tödlich aus.“
„Es tut mir leid“, sagte sie.
„Wem gehörte die Waffe?“
„Ich weiß es nicht.“
„Warum hatten Sie sie?“
„Ich erinnere mich nicht.“
John musterte sie. Es ärgerte ihn, dass er nicht wusste, ob sie die Wahrheit sagte oder log, und dass er scheinbar nur Augen dafür hatte, wie weich das unauffällige Krankenhaushemd über ihre Kurven fiel, die wiederum alles andere als unauffällig waren. Es waren Kurven, die er als Mediziner gar nicht bemerken sollte – und noch weniger als Mann mit seiner Vergangenheit. Wenn er nur über einen Funken gesunden Menschenverstand verfügen würde, würde er zusehen, dass er von hier wegkam. Aber John wusste nur zu genau, dass sich sein Interesse an ihr aus dem rationalen Bereich in den Bereich verschoben hatte, der ihm so fremd war wie das Phänomen der Amnesie.
„Stecke ich in Schwierigkeiten?“, fragte sie. „Ich meine, mit der Polizei?“
Er senkte den Kopf, massierte sich den Nasenrücken und seufzte. „Wenn es nach meinem Teamleiter geht, wären Sie im Moment auf dem Weg ins Gefängnis.“
Ein Schauer überlief sie. „Und warum bin ich das nicht?“
„Hoffentlich nicht, weil ich ein Idiot bin.“ John konnte ihr natürlich nicht die Wahrheit sagen. Er konnte ihr nicht erzählen, dass sie ihm seit ihrer Einlieferung ins Krankenhaus nicht mehr aus dem Kopf ging. Dass er nicht aufhören konnte, darüber nachzudenken, wie sie auf ihn reagiert hatte, als sie so fest aneinandergedrückt unter dem Helikopter hingen und sich ihr rotes Haar wie ein Meer aus duftender Seide über seine Brust gelegt hatte. Noch Stunden später hatte ihr Duft so süß und verführerisch an ihm gehaftet wie ein erster Kuss.
Er schob die Erinnerung beiseite und seufzte. „Buzz hat bei der Polizei einen Bericht eingereicht, aber die Pistole nicht erwähnt.“ Er warf ihr einen scharfen Blick zu. „Ich habe ihn davon überzeugt, es nicht zu tun.“
John sah die Frage in ihren Augen. Sie wollte wissen, warum er sie deckte, sprach es aber nicht aus. Es erleichterte ihn, weil er nicht wusste, was er darauf antworten sollte.
„Sie glauben doch nicht, dass ich eine Kriminelle bin, oder?“
„Ich glaube, Sie haben einiges zu erklären.“
„Ich weiß nicht, wie ich etwas erklären soll, an das ich mich nicht erinnere.“
„Deshalb werden wir im Büro des Sheriffs anrufen.“
Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Es ging so schnell, dass er fürchtete, sie würde ohnmächtig. „Keine Polizei“, flüsterte sie.
Das Misstrauen erhob sich wie ein großer flatternder Vogel in seinem Magen. Er hatte es nicht glauben wollen, aber offensichtlich verheimlichte sie etwas. Enttäuscht strich er sich mit der Hand über den Kiefer. Großartig. Sein Instinkt riet ihm etwas, wovor ihn sein Bauch warnte. Und dem männlichen Teil in ihm war beides egal.
„Warum nicht?“, fragte er.
„Ich weiß nicht. Ich, ich brauche einfach nur ein wenig Zeit, um mir über einiges klar zu werden. Bitte.“
Er seufzte erneut. Er wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Wie er mit ihr umgehen sollte oder was er gegen seine Reaktionen auf sie unternehmen konnte.
„Woran erinnern Sie sich noch?“, drängte er.
„An nicht viel mehr, als ich Ihnen bereits erzählt habe. Ich erinnere mich daran, gerannt zu sein. Ich hatte wahnsinnige Angst. Ich erinnere mich an Kälte, an Schnee. Es war dunkel, und ich konnte nichts sehen.“ Ihr Blick fiel auf ihre bandagierten Hände. Sie streckte sie aus, sie zitterten. „Wie kann es sein, dass ich mich nicht erinnere, aber trotzdem Angst habe? Ich weiß nicht mal, wovor! Ich weiß ja nicht mal meinen eigenen Namen. Das ist verrückt.“
„Das mit dem Namen stört sie gewaltig, oder?“
Sie lachte bekümmert. „Ich weiß, es klingt seltsam, aber meinen Namen nicht zu kennen und nicht zu wissen, wer ich bin, vermittelt mir das Gefühl, nie existiert zu haben.“
„Was ist mit dem Namen auf der Nachricht?“
„Hannah? Was soll damit sein?“
„Nun, er gefällt mir wesentlich besser als ‚Name unbekannt‘!“
„Hannah.“ Ein zögerliches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Ja. Der gefällt mir. Ich meine, wenigstens für den Moment.“
„Selbst wenn es nicht Ihr Name ist, stehen die Chancen gut, dass er Ihnen wenigstens vertraut war.“
„Wenn ich ihn oft genug höre, löst er vielleicht eine Erinnerung aus und hilft meinem Gedächtnis auf die Sprünge.“
„So will ich Sie hören.“
Er verspürte ein warmes Gefühl in seiner Brust, als sie lächelte. Es war ein ungewohntes Gefühl, vor dem er normalerweise zurückgeschreckte, dieses Mal aber nicht. Solange ich die Kontrolle über die Situation behalte, wird alles gut gehen, versicherte er sich. Sobald das Gleichgewicht ins Wanken geriet, würde er wissen, wann er zu gehen hatte. John hatte einen sechsten Sinn dafür zu wissen, wann es Zeit war, zu gehen. Dieser sechste Sinn hatte ihn noch nie im Stich gelassen und würde es auch jetzt nicht tun.
Aber dieses Wissen tröstete ihn kaum angesichts der unglaublichen Augen, die ihn jedes Mal beinahe umwarfen, wenn er sie ansah.
„Ich weiß, es klingt bestimmt verrückt, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich da oben auf dem Berg in ernsten Schwierigkeiten gesteckt habe“, sagte sie. „Da irre ich mich nicht. Jemand hat versucht, mir wehzutun.“
Das gefiel ihm gar nicht. Weder ihr Gedächtnisverlust noch die Möglichkeit, dass ihr womöglich jemand etwas antun wollte. Doch das würde die Pistole erklären und die blauen Flecken an ihren Armen und ihrem Hals. Der Rest ihres Körpers war von dem Sturz so geprellt, dass sie nicht zu sagen vermochten, ob diese Verletzungen verdächtig waren oder nicht.
John versuchte, seinen Zorn zu unterdrücken. Der Gedanke, dass ihr jemand wehtun wollte, machte ihn rasend. Nichts gab einem Mann das Recht, eine Frau zu verletzen. Er wusste nur zu gut, was diese Form der Gewalt im Leben eines anderen Menschen anrichten konnte. Er hatte dem vor dreizehn Jahren den Rücken gekehrt, nur um danach festzustellen, dass man nicht vor seinen Wurzeln davonlaufen konnte.
Warum zum Teufel saß er dann also hier und versuchte, ihr dabei zu helfen, sich zu erinnern, wenn er sich doch in nichts hineinziehen lassen wollte?
Sie schien seine Gedanken zu lesen und blickte besorgt auf. „Da ist noch etwas, oder?“
John erwiderte den Blick und sagte sich, dass es nicht in seiner Verantwortung lag, ihr von den Würgemalen an ihrem Hals zu erzählen oder der sehr wahrscheinlichen Möglichkeit, dass ihr tatsächlich jemand ernsthaft schaden wollte.
„Ich schaue mal, wo die Ärztin bleibt“, sagte er und stand auf.
„Hören Sie, was immer Sie mir auch verheimlichen, ich kann damit umgehen. Ich werde schon nicht zusammenbrechen. Ich möchte nur wissen, was mit mir passiert ist.“
Der Klang ihrer Stimme hielt ihn zurück. Er versuchte, nicht auf die violett verfärbten Stellen an ihrem Hals zu schauen und sich seine Wut nicht anmerken zu lassen. Dann sah er ihr in die Augen. „Sie haben ein paar verdächtige Prellungen.“
„Was meinen Sie mit ‚verdächtig‘?“
„Blaue Flecken an Ihrem Hals und Ihren Armen, die vermutlich nicht von Ihrem Sturz stammen.“
„Sie meinen, als hätte jemand …“, ihre Stimme bebte. Das letzte bisschen Farbe wich aus ihren Wangen. Sie starrte ihn verängstigt an.
Trotz der Verbände konnte John sehen, wie ihre Hände zitterten. Er hätte wissen müssen, dass sie ihn nicht so einfach gehen lassen konnte, ohne Fragen zu stellen, die er nicht beantworten wollte. Er wollte nicht derjenige sein, der ihr sagte, dass sie vermutlich Opfer eines Verbrechens geworden war. Er mochte gut darin sein wegzulaufen, aber er war auch nie jemand gewesen, der sich scheute, die Wahrheit auszusprechen, ganz egal wie hässlich sie auch war. Und daran würde sich jetzt auch nichts ändern.
„Ich wollte Sie nicht aufregen“, sagte er. „Ich dachte nur, dass Sie es wissen sollten.“
Sie strich sich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und sah ihn geradeheraus an. „Ist schon okay, ich musste es wissen. Ich komme schon damit klar.“
Sie sah nicht gerade danach aus, als könnte sie im Moment überhaupt mit irgendetwas klarkommen. Ihr Gesicht war blass, ihr Blick verstört und sie wirkte so verletzlich, dass er seine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen musste, um ihr nicht zu sagen, dass sie nicht allein war. John mochte ein sehr passabler Rettungssanitäter sein, der es verstand, sich mühelos hundert Fuß aus einem Helikopter abzuseilen, aber im Umgang mit den Patienten fehlte ihm doch ein wenig Feingefühl. Vor allem in Momenten wie diesem, wo er lieber den Mund halten und das Reden den Ärzten überlassen sollte.
Sie drehte den Kopf zum Fenster. Eine kleine Warnglocke klingelte in seinem Kopf, als er sah, dass die Fremde ein paar Mal schnell blinzelte. Diese Warnglocke wurde zur schrillenden Sirene, als er die erste Träne über ihre Wange rollen sah. Er hatte noch nie gewusst, wie er mit weinenden Frauen umgehen sollte. Meist ging er solchen Situationen erfolgreich aus dem Weg. Und auch jetzt wollte er sich nicht damit belasten. Doch diese unergründlichen braunen Augen und das fließende rote Haar schwächten seinen Entschluss, zur Tür hinauszugehen, entschieden. Es war schwer zu sagen, was mit seiner Entschlossenheit geschah, wenn er diese Frau das erste Mal berührte.
John sah den Wasserkrug auf dem Nachttisch neben dem Bett und schenkte ihr ein Glas ein. „Hier.“
Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und nippte daran. Dann ließ sie sich ins Kissen zurücksinken. „Danke.“
Eine Welle der Lust flammte in ihm auf, als sich ihr Haar unter ihr ausbreitete und ihr Gesicht wie einen Rahmen aus glänzender Seide umfing. Einen verrückten Moment lang war er versucht, sich vorzubeugen und es mit seinen Fingern zu berühren, nur um zu prüfen, ob es sich so weich anfühlte, wie es aussah.
„Sie sind gut darin, wissen Sie das?“, fragte sie.
„Worin?“
Sie schaute ihn unter ihren dichten Wimpern an. „Vor ein paar Minuten hat mein Herz noch panisch gerast, und ich stand kurz davor, zusammenzubrechen. Danke, dass Sie mich auf andere Gedanken gebracht haben.“
Der Gedanke, wie interessant es wäre, ihr Herz auf andere Weise zum Rasen zu bringen, blitzte in seinem Hinterkopf auf, doch John unterdrückte ihn schnell wieder. Er wusste, dass er diese Grenze nie überschreiten würde, egal, wie sexy die Unbekannte vor ihm auch war. „Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen schon gesagt habe, dass ich verdammt gut in dem bin, was ich tue, Rotschopf.“
„Ja, ich glaube, Sie erwähnten es bereits. Zwei Mal sogar.“
Johns IQ sank um mehrere Punkte, als sie ihn anlächelte. Er hätte wissen müssen, dass ihr Lächeln umwerfend war. Er versuchte, nicht auf das Grübchen in ihrer Wange zu achten und zu ignorieren, wie sich ihre Augenwinkel leicht hoben. Er würde sich nicht von ihr einwickeln lassen. Aber er hatte in seinem Leben schon genügend persönliche Schlachten geschlagen, um zu wissen, dass er gerade dabei war, diese hier zu verlieren.
„Flirten Sie eigentlich mit all Ihren Patientinnen?“, fragte sie.
„Schamlos.“ Er grinste. „Aber für jemanden mit einer Schädelverletzung schlagen Sie sich auch nicht schlecht.“
Sie errötete. John beschloss, das Grübchen zu mögen, auch wenn er keiner war, der auf „niedliche“ Frauen stand. Solange sein Interesse an ihr nicht über einen harmlosen Flirt hinausging, blieb sicher alles in bester Ordnung.
Eine Bewegung an der Tür erregte seine Aufmerksamkeit. Er drehte sich um und sah, wie Dr. Anna Morgan ins Zimmer kam. Sie ging direkt auf ihre Patientin zu. Dr. Morgan war eine zierliche Frau mit grau melierten Haaren und einer Strass besetzten Brille, die auf der Spitze ihrer Nase saß. „Flirten Sie etwa mit meiner Patientin, Maitland?“, fragte sie und nahm die Patientenakte vom Halter am Fußende des Bettes, um etwas einzutragen.
John kannte fast das gesamte Personal vom Lake County. Im Laufe der Jahre hatte er Dutzende Menschen in die Notaufnahme gebracht. Er war unter der erfahrenen Führung von Dr. Anna Morgan ausgebildet worden, als sie noch die Leitung der Notaufnahme innehatte. Obwohl sie alt genug war, um seine Mutter zu sein, hatte sich zwischen ihnen eine Beziehung entwickelt, die sich angenehm zwischen professionellem Respekt und persönlicher Freundschaft bewegte.
Er erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich brauchte nur eine Entschuldigung, um Sie zu sehen, Doc.“
Die Ärztin schnaubte gutmütig und schüttelte ihm die Hand. Dann sah sie die Frau an, die im Bett lag, und verdrehte die Augen. „Lassen Sie sich nicht vom Charme dieses Mannes einwickeln. Denn der ist tödlich, und ich habe noch kein Gegenmittel gefunden.“
John hatte gehofft, dass dieser kleine Schlagabtausch Hannahs Anspannung lösen würde, doch ein Blick auf sie verriet ihm, dass er dafür mehr als allen Humor der Welt benötigen würde. Er konnte es ihr kaum vorwerfen, immerhin hatte auch er sich einst sein Leben komplett neu aufbauen müssen. Auch wenn er sich oft wünschte, er könne die Vergangenheit vergessen, beneidete er Hannah doch nicht um die vor ihr liegende Aufgabe.
Hannahs Blick glitt zu Dr. Morgan. „Ich erinnere mich nicht daran, was vor meiner Rettung passiert ist“, platzte es aus ihr heraus. „Ich erinnere mich nicht, wie ich auf den Berg gekommen bin, nicht an den Sturz, ich erinnere mich an gar nichts.“
„Eine Gehirnerschütterung wird durch eine Kopfverletzung ausgelöst“, erklärte die Ärztin. „In Ihrem Fall konnten wir zwar keine Gehirnblutungen feststellen, aber wir haben eine leichte Schwellung entdeckt. Das ist nicht ungewöhnlich, kann aber das Kurzzeitgedächtnis und die geistige Klarheit beeinträchtigen.“
„Ich würde mir nicht halb so viele Sorgen machen, wenn mir nur wenige Facetten fehlten, aber mein gesamtes Leben ist einfach … weg.“
„Ehrlich gesagt erinnern Sie sich an mehr, als Sie glauben“, erwiderte die Ärztin. „Ich habe letzten Winter einen jungen Mann behandelt, der sich bei einem Skiunfall eine schwere Kopfverletzung zugezogen hat. Er musste wieder ganz neu lernen, zu laufen, zu essen und sogar zu sprechen.“ Sie erneuerte die Verbände und trat dann mit verschränkten Armen zurück. „Gedächtnisverlust – oder Amnesie – ist extrem selten, kommt aber bei Kopfverletzungen immer wieder einmal vor.“
„Wie lange wird es dauern, bis ich beginne, mich wieder zu erinnern?“
Dr. Morgan zuckte mit den Schultern. „Ich bin keine Expertin, aber nach allem, was ich über Amnesie gelesen habe, kehren die Erinnerungen bei den meisten Patienten wenige Minuten oder Stunden nach der Verletzung zurück. Es kann sein, dass Sie sich plötzlich an alles auf einmal erinnern. Oder dass Ihnen im Laufe der Zeit immer mehr Dinge einfallen. Sie könnten morgen aufwachen und ihr komplettes Gedächtnis zurückhaben. Oder es könnte Tage, Wochen oder sogar Monate dauern, fürchte ich.“
Hannah sah darüber nicht gerade glücklich aus, John konnte es nur zu gut verstehen. Ihm gefiel dieses Gefühl der Hilflosigkeit auch nicht, das daher rührte, dass er ihr nicht helfen konnte. Er war von Natur aus Retter. Er reparierte Sachen, barg Menschen aus der Not und schätzte es dabei, die Kontrolle zu behalten, was ihm in seiner Kindheit und Jugend verwehrt geblieben war. Aber ohne einen einzigen Hinweis konnte er nicht viel tun.
Dr. Morgan nahm die Stablampe aus ihrer Kitteltasche und überprüfte Hannahs Augen. „Ihre Pupillen reagieren gut.“ Erneut griff sie zum Patientenblatt am Fuße des Bettes und machte noch eine Notiz. „Wie geht es Ihnen körperlich?“
„So als wäre ich in eine Schlucht gestürzt und hätte auf dem Weg nach unten jeden Stein und Felsen mitgenommen.“
Dr. Morgan lächelte. „Kopfschmerzen?“
„Als stünde ein Mann mit einem Presslufthammer hinter meinem rechten Auge.“
„Ich werde Ihnen ein wenig Paracetamol verschreiben. Das müssen Sie die nächsten paar Tage nehmen. Sie sind ziemlich mitgenommen.“ Mit der linken Hand strich die Ärztin die Decke glatt. „Leiden Sie unter Übelkeit?“
„Ein wenig. Kommt das auch von der Gehirnerschütterung?“
John entging nicht, dass sich die Muskeln an Dr. Morgans Hals einen Moment anspannten. „Haben Sie eine Ahnung, was Sie da oben auf dem Berg gemacht haben?“, fragte sie beiläufig. „Oder wer bei Ihnen war?“
„Nein.“
„Waren Sie allein?“, fragte die Ärztin.
Hannahs Blick glitt zu John. Er sah von ihr zu Dr. Morgan und erkannte zu spät, dass der Ärztin die schweigende Kommunikation zwischen ihnen nicht entgangen war. „Könnten Sie bitte das Zimmer für einen Moment verlassen, John?“, fragte sie.
Sofort klingelten in seinem Kopf alle Alarmglocken. Er dachte an die Würgemale an Hannahs Hals, doch er erhob sich und versuchte, nicht daran zu denken, wie sie da vielleicht hingekommen waren.
Er ermahnte sich, dass ihn das alles hier nichts anging. Er ging grundsätzlich keine tieferen Beziehungen ein, er ließ ja noch nicht einmal seine Teamkollegen von der Rocky Mountain Search and Rescue an sich heran. Also warum fiel es ihm dann so schwer, jetzt das Zimmer zu verlassen?
„Ich muss zurück in die Zentrale“, sagte er.
„Können Sie nicht noch bleiben?“, fragte Hannah abrupt. „Bitte. Ich meine, nur wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
Überrascht sah er sie an. Ein dumpfes Grummeln meldete sich aus seinem Magen. Beim Anblick ihrer roten Haare verspürte er das vertraute Ziehen in seiner Brust. Er wusste, er sollte das Richtige tun und gehen. Sie brauchte ihn nicht. Von allen Menschen auf der Welt war er der Letzte, den sie brauchte.
Aber er brachte es nicht übers Herz, sie zu verlassen. Sie hatte ihn gebeten, zu bleiben, und sah ihn nun an, als sei er ihr einziger Freund auf der Welt. Das erweichte selbst John Maitland, den Unberührbaren.
Er schob die Hände in die Taschen, grinste und hoffte insgeheim, sie würde sein Unbehagen nicht bemerken. „Klar, kein Problem, Rotschopf.“
Hannah hatte nicht vorgehabt, ihn zum Bleiben aufzufordern, aber sie hatte so große Angst und sie fühlte sich allein. Die Worte waren einfach aus ihr herausgeplatzt, bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnte. Sie wusste, ihre Bitte war unvernünftig, immerhin war John Maitland ihr völlig fremd. Vermutlich wollte er auch gar nicht bleiben. Aber ob unvernünftig oder nicht, der Gedanke daran, dass er durch diese Tür ging und sie ihn womöglich niemals wiedersah, erfüllte sie mit einer solchen Einsamkeit, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie Dr. Morgan zum Fenster ging und die Jalousien hochzog. Graues Licht fiel aus dem bedeckten Himmel ins Zimmer. Dr. Morgan senkte ihr Klemmbrett und sah Hannah an. „Ich bin sicher, Sie wissen, dass die Blutergüsse an Ihrem Hals und an Ihren Armen nicht von dem Sturz herrühren.“
Hannahs gesamter Körper verspannte sich. Obwohl sie mit diesen Worten gerechnet hatte, traf sie das, was dahinterstand, schwer.
„Erinnern Sie sich an einen Streit?“, fragte die Ärztin leise. „Oder daran, dass jemand Ihnen in der Vergangenheit wehgetan hat?“
Sie suchte verzweifelt nach Antworten, doch ihre Vergangenheit blieb schwarz. „Ich erinnere mich nicht“, sagte sie nach einem Moment.
„Ich kenne den Leiter der psychiatrischen Abteilung des Lutheran Hospital in Denver“, sagte Dr. Morgan. „Dr. Wu hat verschiedene Studien über Amnesie durchgeführt. Ich kann ihn gerne anrufen, wenn Sie das möchten.“
Amnesie. Da war wieder dieses Wort. Es hallte in Hannahs Kopf nach wie das Echo eines tödlichen Schusses. „Ich würde ihn gerne so schnell wie möglich treffen. Ich muss wissen, wer ich bin. Ich muss wissen, was mit mir passiert ist.“
„Ich werde ihn über Ihren Fall informieren.“ Die Ärztin hielt inne und sah sie über den Rand ihrer Brille hinweg an. „Da ist noch eine Sache.“
Ihr Tonfall ließ Hannah den Kopf heben. Ein Blick in das Gesicht der Frau – und Hannah wusste, dass diese neue Enthüllung nichts Gutes bedeutete. Als wenn sie in der letzten Stunde nicht schon genügend schlechte Nachrichten erhalten hätte!
„Ich habe einige Bluttests durchgeführt, seitdem Sie eingeliefert wurden“, sagte Dr. Morgan.
„Bluttests?“ Hannah atmete tief durch und wappnete sich gegen die tausend Szenarien, die durch ihren Kopf schossen. „Nur zu, sagen Sie es mir geradeheraus. Ich komme damit klar. Was habe ich? Krebs? Einen Gehirntumor?“
„Nein, nichts in der Art.“ Dr. Morgan lachte leise. „Sie sind schwanger.“