8. KAPITEL

Hannah wusste, dass ihn ihre Regeln nervten. Aber so wie sie es sah, hatte sie nicht wirklich eine Wahl, erst recht nicht nach dem Kuss vor Angela Pearls Haus. Nicht allein ihre Amnesie und die Tatsache, dass ein Wahnsinniger Jagd auf sie machte, machten sie verwundbar, sondern auch Johns wahnwitzige Anziehungskraft. Dabei konnte sie sich diese Ablenkung gar nicht leisten, wo ihr ganzes Leben doch schon ein einziges Chaos war.

Und John Maitland lenkte sie definitiv ab.

Seit dem Moment, in dem er vom Helikopter aus zu ihr hinuntergeschwebt war und sie in die Arme genommen hatte, spukte er durch ihren Kopf. Selbst in den bedrohlichsten Momenten fühlte sie sich bei ihm sicher, und das, obwohl sie wusste, wie gefährlich er auf eine andere Art und Weise für sie war. Es wäre fatal, sich in seine arktisch blauen Augen und das schiefe Grinsen zu verlieben. Egal, wie chaotisch und schwierig die Umstände auch waren und wie stark Johns Anziehungskraft war, Fakt blieb, dass sie das Kind eines anderen Mannes unter ihrem Herzen trug.

Es war verrückt, an John und seinen Kuss zu denken, wo sie doch offensichtlich mit einem anderen Mann liiert war. Nur weil sie sich nicht an den Namen ihres Geliebten erinnerte, hieß es noch lange nicht, dass sie ihn nicht liebte.

„Da sind wir schon.“

Hannah war so in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkt hatte, wie der Jeep immer langsamer wurde. Sie blickte auf und sah einen schmalen Weg, auf dem die Scheinwerfer über hundert Jahre alte Kiefern und Espen von der Farbe alter Knochen glitten.

„Nette Nachbarschaft“, sagte sie.

„Solange sich die Nachbarn von meinem Müll fernhalten.“

Sie sah ihn fragend an.

Er grinste. „Bären.“

„Oh! Ich hoffe, es sind freundliche Bären.“

„Ach, als Nachbarn sind sie eigentlich ganz erträglich. Sie beschweren sich nur ganz selten über zu laute Musik.“

Hannah verdrehte die Augen. „Oder leihen sich Werkzeug aus und vergessen, es zurückzubringen.“

„Ganz genau.“ Er parkte vor einer Garage und schaltete den Motor aus. „An dem Haus war einiges zu tun, als ich es gekauft habe, aber das Grundstück und der Blick waren zu schön, um sich davon abschrecken zu lassen.“

Vor ihr und zu ihrer Linken konnte sie die Umrisse einer kleinen Hütte ausmachen, die sich in den schattigen Wald zu schmiegen schien. Obwohl kein Vollmond war, reflektierte der Schnee ausreichend Licht, um die gezimmerte umlaufende Veranda und den Kamin aus Felssteinen erkennen zu lassen.

Sie erschrak, als John die Autotür öffnete. „Ich schätze, wir sind heute beide ein wenig schreckhaft“, sagte er.

„Das liegt an den Geschichten über die Bären.“

„Bleib, wo du bist“, sagte er. „Der Weg ist glatt. Ich habe es bisher noch nicht geschafft, Schnee zu schippen.“

Hannah öffnete ihre Tür, aber bevor sie aussteigen konnte, war er schon um den Jeep herumgelaufen und griff nach ihr. Mit seinen Händen glitt er unter ihre Arme und dann hob er sie sanft auf den Boden.

„Danke.“

Die Nacht war unglaublich kalt und so still, dass sie den Wind in den Baumwipfeln flüstern hörte.

„Es ist so ruhig hier“, sagte sie.

„Und es gibt hier unglaublich viele Tiere. Maultierhirsche, Waschbären. Letzte Woche habe ich sogar eine kleine Gruppe Rotwild gesehen.“

Das Eis knirschte unter ihren Füßen, als sie durch den Schnee zur Haustür stapften. Hannah fragte sich, warum sie so angespannt war. Sie sagte sich, dass es an ihrer Amnesie und an den Schüssen vor Angela Pearls Haustür lag, aber als John die Tür zu seiner Hütte öffnete, wusste sie, dass ihre kribbelnden Nerven wenig mit den Ereignissen der letzten Tage, sondern vielmehr mit John Maitland zu tun hatten.

Die Tür schwang auf. Hannah bemerkte sofort den Duft von verbrannten Kiefern von einem früheren Feuer im großen Kamin, vermischt mit dem Aroma des morgendlichen Kaffees und einem Hauch Aftershave. John betätigte den Lichtschalter neben der Tür, und eine einzelne Lampe erhellte ein kleines Wohnzimmer. Roh behauene Balken und eine dunkle Vertäfelung schufen ein rustikales Ambiente. Ein braunes Ledersofa mit einer bunt gemusterten Decke stand an der Wand zu ihrer Linken. Ein nicht dazu passender Sessel und ein geflochtener Teppich verströmten einen maskulinen Charme. Der aus Felssteinen erbaute Kamin dominierte die Mitte des Raumes und schwang sich zu den Balken hinauf. Ein Blick auf die nicht zusammenpassenden Kissen auf dem Boden davor und den Thriller, der aufgeschlagen daneben lag, verrieten Hannah, dass John den Kamin offenbar oft nutzte und genoss.

„Ein schönes Haus.“ In der Stille klang Hannahs Stimme hoch und angespannt.

„Es passt zu mir.“ Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn an den Haken hinter der Tür. „Ich kann deinen Mantel auch gerne aufhängen, wenn du magst.“

„Ich mach das schon.“ Sie ließ den Mantel von ihren Schultern gleiten und hängte ihn neben seinen.

„Hast du Hunger?“ Er ging in Richtung Küche.

„Nein danke.“

Sie wusste, dass sie nicht beobachten sollte, wie er den Raum durchquerte, aber ihre Augen schienen ein Eigenleben zu entwickeln, denn sie musterten ihn von Kopf bis Fuß. Der Mann wusste, wie man eine Jeans ausfüllte, so viel war sicher. Und auch das Flanellhemd wirkte an ihm sexy. Ehrlich gesagt schien er den ganzen Raum ganz gut auszufüllen.

„Dann mache ich dir nur etwas zu trinken. Ich habe Milch und Saft oder auch eine heiße Schokolade, wenn du die lieber magst.“

Sie dachte an das Baby in ihrem Bauch und wollte sich gerade für Milch entscheiden, als sie eine Bewegung in der Küche in Schockstarre versetzte. Etwas Großes und Dunkles kam auf sie zu. Guter Gott, war das ein Grizzlybär? In der Hütte? Sollten die um diese Jahreszeit nicht Winterschlaf halten?

Der Schrei erstarb in ihrer Kehle, als sie erkannte, dass der Bär kein Bär, sondern ein monströser Hund mit dichtem schwarzem Fell, einem massigen Kopf und einer heraushängenden rosafarbenen Zunge war.

Der Hund galoppierte aus der Küche auf John zu.

„Stopp, mach Platz.“ John hob seine Hand, aber der Hund gehorchte nicht. Er sprang seinen Herren mit riesigen Pfoten an. Hannah hörte ein Stöhnen, dann taumelte John rückwärts, er stolperte und fiel zu Boden, während das gigantische Biest stolz auf seiner Brust stand.

„Runter von mir, du Riesenköter.“

Als Hannah registrierte, dass sie nicht in Gefahr waren, legte sie eine Hand auf ihre Brust und lachte lauthals los. „Ich glaube, er hat dich vermisst.“

John drehte den Kopf, um der übereifrigen Zunge des Hundes auszuweichen. „Ich habe ganz vergessen, dich vor meinem Wachhund zu warnen.“

„Was macht er denn so? Einbrecher zu Tode lecken?“

„Äh, er ist noch in der Ausbildung. Ein abrupter Karrierewechsel.“

„Das ist hart.“

Der Hund setzte sich und schlug mit dem Schwanz auf den Boden. John rappelte sich auf und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes die Wange ab. „Er war heute noch nicht draußen.“

„Kein Wunder, dass er dich überfallen hat.“ Sie sah den Hund an und verliebte sich sofort in seine großen Augen und die wackelnden Lefzen. „Was ist das für eine Rasse?“

„Ein Neufundländer.“

„Und wie heißt er?“

„Honeybear.“ Er ließ ein schiefes Grinsen aufblitzen. „Ich habe ihm den Namen nicht gegeben.“

Hannah lachte erneut. „Natürlich nicht.“ Sie strich dem Hund über den Kopf. „Er ist wunderschön. Woher kommt er?“

„Er war Such- und Rettungshund für eine Einheit oben in Vail. Während einer Mission hat er sich die Hüfte gebrochen. Er konnte nicht mehr arbeiten, und da ihn niemand aus dem Team aufnehmen konnte, hat mein Kumpel mich gefragt.“ Er kraulte dem Hund liebevoll die Ohren. „Ein Blick in diese Augen genügte und ich war verloren.“

Hannah grinste, unsicher, ob sie mehr von dem Hund oder von dem Mann eingenommen war. „Er hatte Glück.“

John bedachte sie mit einem langen Blick. „Ich bringe ihn nur eben raus. Mach es dir derweil gemütlich. Das Gästezimmer ist den Flur hinunter. Ich trage dir deine Tasche gleich hinein, wenn ich zurück bin.“ Sein Blick glitt über ihre Beine. „Ich muss mir auch noch die aufgeschürften Knie ansehen.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, packte er den Hund am Halsband und ließ sich von ihm in Richtung Küche ziehen, wo sich, wie Hannah annahm, die Hintertür befand.

Die Hütte war von innen so, wie es sich Hannah von außen vorgestellt hatte. Praktisch und bequem, mit einer typisch männlichen Unordnung, ohne chaotisch zu sein. Sie war sauber, wenn auch nicht makellos rein. Hannah sah sich im Wohnzimmer nach Bildern oder anderen Erinnerungsstücken um, fand aber nichts. Entweder hatte John keine Familie, oder er wollte nicht an sie erinnert werden.

Sie nahm ihre Tasche und ging den Flur hinunter ins Gästezimmer. Im Badezimmer lag ein dunkelblaues Handtuch auf dem Boden. In dem Zimmer auf der anderen Flurseite sah sie ein paar Hanteln neben einem Tisch und einem Ledersessel. Das größere Schlafzimmer war ebenso männlich – mit dunklen Wänden, einer Überdecke mit geometrischem Muster in Blau- und Cremetönen und einem Bücherregal, in dem sich alles vom neuesten Thriller bis zu allen möglichen Sachbüchern aus dem Bereich Such- und Rettungsdienst befand.

„Der Erste-Hilfe-Kasten ist in der Küche.“

Beim Klang seiner Stimme drehte sich Hannah abrupt um. John stand in der Tür, den Arm gegen den Rahmen gestützt, und sah sie an.

Sein Anblick raubte ihr den Atem. Der Gedanke, dass er gleich ihre Knie ansehen und seine Hände auf ihre Beine legen würde, ließ sie erzittern. Auf einmal schien das Zimmer für sie beide zu klein zu sein. „Das ist nicht nötig.“

Er zeigte auf ihre Knie. „Ich sage es nicht gerne, Rotschopf, aber deine Knie sind aufgeschlagen.“

Sie sah an sich herab und merkte erst da, dass sie ihren Sturz vollkommen vergessen hatte. „Oh!“

„Ich ertrage keine unbehandelten Wunden.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging in die Küche zurück. „Komm, ich säubere das schnell.“

Nach einem tiefen, stärkenden Atemzug folgte ihm Hannah.

Die Küche war so praktisch wie der Rest der Hütte. Kiefernschränke säumten die Wände, ein Teller und ein einzelner Becher trockneten neben der Spüle und im Messerblock steckten ein paar große Messer. Ein dunkelblaues Geschirrhandtuch hing locker neben der Arbeitsplatte und in einer Ecke stand ein fünfundzwanzig Kilo Sack mit hochwertigem Hundefutter.

John öffnete den Schrank über der Spüle und holte den Erste-Hilfe-Kasten heraus. Er stellte ihn auf den Küchentisch und zog einen Stuhl vor. „Setz dich.“

„Das ist wirklich nicht nötig.“

„Ich bin der Sanitäter, das ist mein Job. Tu mir den Gefallen, ja?“

Da sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte, ließ sie sich auf den Stuhl sinken.

„Das Glas Milch dort ist für dich.“

Sie nahm es und trank einen Schluck. „Danke.“

Er kniete vor ihr nieder und zog die viel zu große Sandale von ihrem Fuß. „Wir müssen dir demnächst ein paar passende Schuhe kaufen.“

„Ich habe im Krankenhaus Turnschuhe anprobiert, aber meine Füße sind noch zu geschwollen.“

„Die Entzündung sollte in ein bis zwei Tagen abschwellen. Vielleicht sogar schon morgen.“

Hannah wusste, dass sie etwa sagen sollte, aber ihr Sprachvermögen verließ sie in dem Moment, als er ihren Fuß auf seinen Oberschenkel setzte und begann, ihr Hosenbein hochzukrempeln. „Wie, wie lange bist du schon Sanitäter?“, fragte sie und versuchte, nicht darauf zu achten, wie sanft seine Knöchel immer wieder gegen ihre Wade stießen.

„Ich bin seit sechs Jahren bei der Rocky Mountain Search and Rescue.“

„Magst du die Arbeit? Ich meine, es muss anstrengend sein, aus Helikoptern zu springen.“

Er grinste. „Ich bin ein Adrenalinjunkie, also strengt es mich auch nicht an. Ich liebe es, aber es sind auch nicht alle Einsätze so aufregend. Wir werden auch für Bienenstiche gerufen und um entlaufene Hunde zu suchen. Letzten Sommer sind wir losgeflogen, nur um zu entdecken, dass ein Wanderer hingefallen war und sich den kleinen Finger gebrochen hat.“

„Ups.“

„Buzz hätte ihm am liebsten auch noch den anderen gebrochen, aber wir konnten es ihm gerade noch ausreden.“

„Ist dein Boss immer so grimmig?“

„Seit seiner Scheidung hat dieser Mann die Persönlichkeit eines tollwütigen Wolfs.“

Hannah wusste aus eigener Erfahrung, wie schneidend der ältere Mann sein konnte. „Wolltest du schon immer zum Suchund Rettungstrupp?“

„Als Kind wollte ich Polizist werden“, sagte er.

„Wieso hast du dich dagegen entschieden?“

Der Schatten huschte so schnell über Johns Gesicht, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn überhaupt gesehen hatte. Aber das Zittern in seiner Hand entging ihr nicht, als er den Saum ihrer Hose über das Knie schob.

„Ich wollte dich nicht aufregen.“

„Das hast du nicht.“ Er schaute auf und zog eine Grimasse, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf ihr Knie. „Tut es weh?“

„Nicht sonderlich.“

„Lügnerin. Du hast eine starke Abschürfung und eine ziemliche Prellung. Die tun weh.“

„Ich schätze, ich sollte mich nicht auf einen vereisten Gehweg fallen lassen, wenn mir das nächste Mal Kugeln um den Kopf sausen.“

„Wir sollten einfach froh sein, dass es nicht schlimmer gekommen ist.“ Er spannte den Kiefer an. „Ich werde die Wunde reinigen und ein wenig antibiotische Salbe auftragen. In einem oder zwei Tagen sollte alles wieder wie neu sein.“

Sie beobachtete, wie er einen Wattebausch aus dem Erste-Hilfe-Kasten nahm und ihn mit einer antiseptischen Lösung tränkte. Dann hielt er ihre Wade mit seinen Arzthänden und drückte den Wattebausch auf die Wunde. Es brannte höllisch.

„Au.“

„Tut mir leid.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Was hast du gemacht, bevor du Rettungssanitäter geworden bist?“

„Ich war Sanitäter in Denver.“

„Hast du dort auch Angela Pearl kennengelernt?“

„Ja. Sie war meine erste Patientin.“

„Was ist passiert?“

Nachdem er den Wattebausch entfernt hatte, öffnete John eine Salbentube. „Mein Partner und ich waren zu einem Ehestreit gerufen worden. Sie war in schlechter Verfassung, als wir dort ankamen. Sie hatte eine gebrochene Nase und ein paar gebrochene Rippen.“

„Ihr Ehemann?“

„Ja. Dieser rückgradlose Wurm hat die ganze Zeit wie ein Baby geweint, als ihn die Polizei verhaftete.“

„Das ist sehr traurig.“

„Ich habe kein Mitleid mit Männern, die Frauen schlagen. Die Polizei war schon ein Dutzend Mal zu ihrer Wohnung gerufen worden. Alle Warnzeichen waren da, aber niemand hat etwas unternommen.“ Etwa Dunkles, Wütendes blitzte in den blauen Tiefen seiner Augen auf. „In jener ersten Nacht dachten wir, wir würden sie verlieren.“

Hannah hatte auf einmal einen Kloß in der Kehle. „Aber für Angela hat sich alles zum Guten gewendet.“

„Sie war klug und sie hatte sehr viel Glück. Wir sind in Kontakt geblieben. Sie ist danach so eine Art Anwältin für misshandelte Frauen geworden. Ich sehe sie ab und zu im Krankenhaus. Sie hat ein paar Kurse in Sozialarbeit am örtlichen Community College belegt und sich dann eine Lizenz von der Stadt besorgt, um ihr Frauenhaus zu eröffnen.“

„Sie hilft diesen Frauen.“

„Ja, sie hat ihre Berufung gefunden und ist unglaublich engagiert. Ich bewundere sie.“ Er sah sie vielsagend an. „Es braucht sehr viel Mut, um so eine Situation zu überstehen.“

Die Bemerkung ließ sie an ihre eigenen Verletzungen und das dunkle Geheimnis denken, das sie umgab. Der Gedanke, in einer gewalttätigen Beziehung gefangen zu sein, missfiel ihr. Sie wollte nicht glauben, dass sie sich das antun würde. Ganz sicher nicht, während sie ein unschuldiges Kind unterm Herzen trug.

Nachdem er die Salbe mit einem Wattestäbchen aufgetragen hatte, nahm John einen Gazeverband aus dem Erste-Hilfe-Kasten und legte ihn auf Hannahs Wunde.

Hannah staunte, wie geschickt seine Hände über ihre Haut wanderten, und war fasziniert von der ruhigen Effizienz, mit der er arbeitete.

„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, sagte sie nach einer Weile.

„Ach ja?“ Er sah von seiner Arbeit auf. „Welche Frage war das?“

„Du hast gesagt, du wolltest Polizist werden. Ich glaube, du wärst sehr gut gewesen. Wieso hast du dich dagegen entschieden?“

Johns Hand zitterte leicht, als er den Gazeverband festklebte. Es war lange her, dass er sich darüber Gedanken gemacht hatte. Und noch länger her, dass er mit jemandem darüber gesprochen hatte. Das Thema bereitete ihm noch immer Magenschmerzen. „Sagen wir einfach, ich bin ein besserer Sanitäter als Polizist, und belassen es dabei“, sagte er.

„Ein heikles Thema?“

„Ein verbotenes Thema.“

„Oh!“ Sie rieb über einen Fleck auf ihrer OP-Hose. „Tut mir leid.“

Er wusste, dass ihre Neugier nicht befriedigt war, aber er würde das trotzdem nicht weiter ausführen. Er wollte nicht über das größte Versagen seines Lebens sprechen. Er würde nicht lügen, aber ganz sicher würde er das Thema auch nicht bei Milch und Keksen analysieren. Das Letzte, was er mit dieser Frau diskutieren wollte, waren die Geheimnisse, die er in Philadelphia zurückgelassen hatte. Und das eine, das ihn vor fünf Jahren direkt hier in Colorado die Erinnerungen daran zurückgebracht hatte.

Er schob die Gedanken an seine Vergangenheit beiseite, klebte den letzten Streifen Heftpflaster fest und packte die Rolle in den Erste-Hilfe-Kasten zurück. Er hatte sich so darauf konzentriert, sie zu verbinden, dass ihm gar nicht aufgefallen war, wie weich sich ihre Haut unter seinen Fingerspitzen anfühlte. John schluckte schwer.

Ihre Haut fühlte sich an seiner Handfläche so seidig an, der Muskel gerundet und fest. Er war nicht sicher, warum ihm in einem Moment wie diesem so etwas überhaupt auffiel. Er hatte im Laufe der Jahre schon Hunderte von Armen und Beinen verbunden, aber jetzt spürte er das Blut, das sich in einem Teil seines Körpers sammelte, über den er nicht nachdenken wollte. John konnte nicht leugnen, dass diese Patientin die unglaublichsten Beine besaß, die er je gesehen hatte.

„Das sollte helfen, damit es sich nicht entzündet. Morgen können wir den Verband wieder abnehmen.“ Er räusperte sich, um seine belegte Stimme zu klären, und zog den Saum ihrer Hose dann wieder herunter. Als er ihr Bein zur Seite legte, betete er, dass ihr nicht auffiel, wie erregt er war. Oh ja, es würde eine lange Nacht werden!

Als er aufstand, bemerkte er, wie aufmerksam sie ihn musterte. Unter der Macht ihrer wunderschönen Augen setzte sein Verstand aus. Der Raum zwischen ihnen schien zu schrumpfen, Hannas Nähe und ihr Duft wischten alle Bedenken sofort weg. Er wusste, er sollte gehen, sich etwas Platz zum Atmen verschaffen, aber seine Beine verweigerten den Gehorsam.

„Ich habe mich gefragt“, setzte sie an, „warum du heute Abend zurückgekommen bist? Ich meine, nachdem du mich am Frauenhaus abgesetzt hast?“

Die Wahrheit lag ihm auf der Zunge, aber John schluckte sie herunter. Es täte keinem von ihnen gut zuzugeben, was er nicht länger leugnen konnte, und das war, dass da oben auf dem Berg etwas zwischen ihnen geschehen war und dass er nicht aufhören konnte, an sie zu denken. Dass sie in Gefahr schwebte und er den Gedanken nicht ertrug, dass dieser Bastard sie in die Hände bekam. Oder dass jedes Mal, wenn er an den Kuss dachte, eine Flut an hitzigen Gefühlen über ihn hereinbrach und er an nichts anderes denken konnte, als noch einmal die Süße ihres Mundes zu kosten.

„Mir hat die Vorstellung nicht gefallen, dass du die Nacht in einem Frauenhaus verbringen musst. Nicht nach dem Vorfall mit dem SUV auf dem Highway.“ Das war immerhin die halbe Wahrheit, und die musste für den Moment genügen.

Hannah biss auf ihre Unterlippe. „Was hältst du von alldem?“

„Ich bin mir noch nicht sicher.“

„Glaubst du, der Vorfall mit dem SUV hat etwas mit dem Unfall auf dem Berg und der Attacke auf mich vor Angela Pearls Haus zu tun?“

„Ich glaube, das sollten wir derzeit nicht ausschließen.“ John sah, wie sie ihre Hand schützend auf ihren Bauch legte, und sein Beschützerinstinkt wallte erneut auf. „Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendetwas zustößt“, sagte er.

Das hatte er nicht sagen wollen. Das Letzte, was er wollte, war, die Rolle des Beschützers einzunehmen. Er wusste nicht, ob er dafür qualifiziert war. Nicht nach Philadelphia – und nicht nach dem, was mit Rhonda geschehen war.

Ihre Blicke trafen sich, und in den Tiefen ihrer Augen erkannte er die ersten Anzeichen eines zerbrechlichen Vertrauens, das er nicht verdiente.

„Danke.“ Sie zuckte mitten im Wort zusammen, als ein kratzendes Geräusch an der Hintertür erklang.

John lachte laut auf. „Sorry, das ist Honeybears Art, mich wissen zu lassen, dass er wieder hereinkommen will.“

Er stand auf, ging zur Tür und schaltete das hintere Verandalicht an. Honeybear saß schwanzwedelnd auf der Treppe und sah zugleich glücklich und ungeduldig aus. Normalerweise hätte John die Tür geöffnet und den Hund ohne einen weiteren Gedanken ins Haus gelassen. Heute jedoch ließ er seinen Blick über die Schatten des Waldes auf dem Grundstück gleiten. Er hatte sich hier nie unwohl gefühlt, meilenweit vom nächsten Nachbarn entfernt, aber heute Nacht verursachte der Gedanke daran ein leichtes Kribbeln in seinem Nacken.

Er hasste den Gedanken, dass Hannah in Schwierigkeiten steckte. Sie war so ehrlich und warmherzig und viel lebendiger als alle Frauen, die er kannte. Sie bewies Mut im Angesicht der Gefahr und Hoffnung im Angesicht miserabler Chancen. Und dann waren da noch ihre schönen Augen und ihre roten Haare. Die Kombination warf ihn einfach um.

Irgendwie hatte sie es geschafft, die Mauer einzureißen, die er so sorgfältig um sich herum errichtet hatte. Sie war auf Gebiet vorgedrungen, das er normalerweise streng unter Verschluss hielt. Und trotz all seiner Bemühungen, sie auf Distanz zu halten, war es ihr gelungen, ihn zu berühren. Die einzige Frage, die blieb, war, was er gedachte, dagegen zu unternehmen.

Ohne es zu wollen, war er in die Rolle des Beschützers geschlüpft, die Ironie hinterließ einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge. Er fragte sich, wie Hannah reagieren würde, wenn sie von Philadelphia erfuhr. Wenn sie erfuhr, dass er nicht besser war als der Mann, der ihr die Blutergüsse zugefügt hatte.

Seufzend öffnete er die Tür. Honeybear tobte in einer Wolke aus kalter Luft und Schnee ins Haus. John drehte sich um und sah, dass Hannah ihn hinter seinen Schlappohren kraulte.

„Ich glaube, er mag mich“, sagte sie.

„Er benutzt dich nur, um sich verwöhnen zu lassen.“

Sie lachte. Es klang so musikalisch, dass sein Herz zu stottern begann. Selbst mit dem blauen Fleck auf der Wange und in dem übergroßen Sweatshirt und der formlosen OP-Hose war sie zweifellos die attraktivste Frau, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Dass sie in seiner Küche stand und lachend mit seinem Hund spielte, machte John bewusst, dass er trotz all seiner Bemühungen nicht sonderlich erfolgreich darin war, niemanden mehr an sich heranzulassen.

„Heute Abend“, sagte sie, „als wir in Angela Pearls Küche saßen und die Frau mit dem blauen Auge herunterkam, hast du so traurig gewirkt.“

In seinem Kopf schrillte eine Alarmglocke. Er war einfach so schrecklich durchschaubar. Da sie seinen wunden Punkt so leicht getroffen hatte, verschloss er sich erneut. „Was hast du erwartet? Die Frau war gerade von irgendeinem Mistkerl zusammengeschlagen worden. So etwas macht mich wütend.“

„Oh, ich dachte nur, dass du sie vielleicht kennst oder …“ Er fiel ihr barsch ins Wort.

„Nein, tue ich nicht.“

Sie warf ihm einen überraschten Blick zu. „Ich wollte dich nicht verärgern.“

„Du hast mich nicht verärgert.“ Er knirschte leise mit den Zähnen, wissend, dass er aggressiver reagiert hatte, als nötig war. Und dass es ihr aufgefallen war. „Hör mal, ich muss morgen früh raus.“

„Natürlich.“ Sie straffte die Schultern.

Er hatte nicht so barsch klingen wollen, andererseits wollte er aber auch nicht, dass sie einen falschen Eindruck von ihm bekam. Er war kein Held, im Grunde war er noch nicht einmal ein netter Kerl. Je eher sie das begriff, desto besser. Vermutlich bliebe ihnen beiden auf lange Sicht viel Leid erspart, wenn er dem, was auch immer zwischen ihnen passierte, einen Riegel vorschob, bevor es sich zu einem ernsthaften Problem auswachsen konnte.