15. KAPITEL

Die Kletterei war anstrengender, als sie gedacht hatte, aber Hannah beschwerte sich nicht. Sie bemerkte die Müdigkeit kaum, die sich in ihren Knochen ausbreitete, und auch nicht den Anflug von Morgenübelkeit, der in ihrem Magen rumorte, oder die Kälte, die ihre Finger und Zehen betäubte. Die einzigen Gefühle, die in ihr tobten, waren Trauer und Schmerz sowie das Gefühl von Verlust.

Sie verdammte John Maitland und sein verdrehtes Ehrgefühl.

Sie wusste genau, was für ein Mann er war. Er war mutig und heldenhaft und ehrenhafter, als gut für ihn war. Das hatte er ihr in den letzten paar Tagen zu oft bewiesen. Und weil sie ihn durchschaute, wusste sie, dass er zu seinem Wort stand und sie verlassen würde, sobald das alles hier vorbei war.

Der Gedanke brach ihr das Herz.

Doch es gab nichts, was sie dagegen unternehmen konnte. Sie mochte wissen, was für ein Mann er war; John wusste es nicht. Bis er keinen Frieden mit seiner Vergangenheit schloss, gab es nichts, was sie tun oder sagen konnte, um seine Meinung zu ändern. Das hätte vielleicht nicht so wehgetan, wäre sie nicht bis über beide Ohren in ihn verliebt.

Nachdem sie eine Viertelstunde geklettert waren, erreichten sie den Hügelkamm. Schweigend schnappten sie nach Luft. Die Landschaft war rau und steil; knorrige windschiefe Kiefern standen weit verteilt. Hannah hatte erwartet, dass ihr die Gegend vertraut vorkam, doch das tat sie nicht.

John hob eine Hand und zeigte in die Ferne. „Die Schlucht, aus der wir dich gerettet haben, liegt ungefähr zwanzig Meter in die Richtung.“

Die Szene blitzte vor Hannahs innerem Auge auf. John, der sich vom Hubschrauber abseilte. Wind und Schnee. Seine Hände, die so sanft und tröstend waren. Seine Stimme, die das Grauen vertrieb. „Selbst wenn ich hundert Jahre alt werde, werde ich diesen Moment niemals vergessen.“ Sie blinzelte ihn vorsichtig an. „Ich werde nie vergessen, dass du mir das Leben gerettet hast.“

Er erwiderte ihren Blick mit Augen so blau wie der Himmel über den Bergen. „Ich habe nur meinen Job gemacht, Rotschopf.“

Sie fragte sich, wie er sie so ansehen konnte, wenn er doch wusste, dass er sie verlassen würde. Wieder stach das Gefühl des Verlustes eiskalt in ihr Herz. Ich werde ihn nicht erreichen, erkannte sie. Und obwohl er nur um Armesbreite von ihr entfernt stand, spürte sie, wie er ihr entglitt.

Die Gefühle, die sich ihrer bemächtigten, raubten ihr die Stimme. Also ging sie zum Rand der Straße und blieb dort stehen. Sie hörte das Rauschen des Windes in den Bäumen, das Rascheln des Espenlaubs und den Ruf eines Vogels von der Spitze einer uralten Kiefer.

„Der Aufstieg war ganz schön anstrengend“, sagte John nach einer Weile. „Geht es dir gut?“

„Ja.“

„Du bist blass. Warum setzt du dich nicht und ruhst dich ein paar Minuten aus, während ich mich mal umsehe?“

Sie wollte gerade ablehnen, als ein silbriges Glitzern im Schnee ihre Aufmerksamkeit erregte. Erinnerungen wirbelten auf. Hannah sah eine silberne Schnalle vor ihrem inneren Auge und weiches Leder. Ihr Herz klopfte aufgeregt. Wortlos ging sie auf die Stelle zu, erst langsam, dann immer schneller. Etwas Dunkles lag direkt unter dem Schnee. Hannah fiel davor auf die Knie, wischte den Schnee beiseite und griff nach dem Lederriemen.

„Hannah, warte.“

Sie ignorierte John und zog an dem Riemen. Eine kleine lederne Handtasche kam hervor. Sie war dunkelblau, nicht schwarz, praktisch und vertraut. „Oh, mein Gott!“

Hannah erstarrte, als ihr John sanft die Hand auf die Schulter legte. „Deine?“, fragte er.

„Ja.“

Er zog die Handschuhe aus und löste die Tasche aus Hannahs Griff. „Ganz ruhig, Rotschopf. Lass mich mal sehen.“

„Ich muss sehen, was dadrin ist.“

„Okay.“ Mit zitternden Fingern öffnete er den Reißverschluss und ließ den Inhalt der Tasche in den Schnee fallen.

Die Erinnerungen schnitten sich in ihr Gehirn wie eiskalte Messer. Noch bevor er nach dem Portemonnaie griff, wusste sie es.

„Mein Name ist Beth Montgomery“, sagte sie.

John schwieg. Sein Blick traf ihren. „Beth“, wiederholte er.

„Hannah ist eine Kundin. Die Nachricht, die du gefunden hast, war für sie.“ Sie drückte die Tasche an ihre Brust und ließ den Erinnerungen freien Lauf. „Mir gehört ein Antiquitätengeschäft in Boulder. Hannah hat nach einem Geschirr gesucht, um das Service ihrer Großmutter zu vervollständigen. Wir wollten uns bei mir im Laden treffen.“ Sie starrte auf die Tasche. „Das hier ist meine Handtasche. Ich habe sie in der Nacht fallen lassen, in der mein Exmann versucht hat, mich umzubringen.“

„Erinnerst du dich an seinen Namen?“

„Richard Montgomery. Er ist Police Officer in Boulder, ein Detective – und korrupt.“

„Das erklärt so einiges. Dieser Hurensohn.“

Beth starrte ihn an. Ihr Herz schlug einen wahnsinnigen Rhythmus in ihrer Brust. Tränen brannten in ihren Augen. Sie sah auf den Inhalt ihrer Tasche, der auf dem Schnee ausgebreitet lag. „Er hat in jener Nacht versucht, mich umzubringen“, sagte sie. „Ich bin weggelaufen, aber ich wusste, dass er mich einholen würde. Alles, woran ich denken konnte, war das Baby.“ Ihre Stimme brach. Beth presste eine Hand auf ihren Bauch. „Ich habe meine Tasche in den Schnee fallen lassen in der Hoffnung, dass irgendjemand sie findet. Richard war nicht bewaffnet, ich, ich hatte seine Pistole mitgenommen. Aber ich wusste, er würde seine bloßen Hände nutzen“, sie schluckte.

„Ganz ruhig, Honey. Hat er versucht, dich umzubringen?“

„Ich habe gesehen …“ Ein eiskalter Schauer schüttelte sie. „Ich habe gesehen, wie er einen anderen Mann kaltblütig getötet hat.“

John fluchte und rieb sich übers Gesicht. „Erzähl mir alles.“

„Die interne Ermittlung hat Richard untersucht. Das ging schon eine ganze Weile so. Vor einigen Monaten war er in die Verhaftung eines hochrangigen Verbrechers involviert. Der Fall sollte vor Gericht, aber ein Teil der Beweismittel verschwand urplötzlich aus der Asservatenkammer der Polizei, darunter ein Aktenkoffer voller Bargeld und ein paar Kilo Kokain. Der Angeklagte Joseph Peretti sollte freikommen. Die internen Ermittlungen waren davon überzeugt, dass Peretti Richard dafür bezahlt hatte, die Beweise verschwinden zu lassen.“

„Und stimmt das?“

„Richard hat mit mir nie darüber gesprochen. Ich habe immer an seine Unschuld geglaubt. Ein paar Wochen nach der Scheidung bin ich in das Lagerhaus gefahren, in dem er einige seiner Sachen aufbewahrt hat. Ich suchte nach ein paar Fotos von meinen Eltern, die bei ihm gelandet waren, als wir uns getrennt haben. Als ich da war, kam Richard mit Joseph Peretti ins Lagerhaus. Bei ihnen war ein dritter Mann. Sie hatten ihn geschlagen, geknebelt und seine Hände hinter seinem Rücken gefesselt.“ Die Lebendigkeit der Bilder ließ sie erneut erschaudern. „Ich weiß nicht, warum ich so geistesgegenwärtig war, mich zu verstecken, aber ich huschte schnell hinter ein paar alte Möbel ungefähr drei Meter von ihnen entfernt.“ Die Bilder kehrten mit Angst einflößender Klarheit zurück. Beth hörte das Schlurfen der Schuhe wieder auf dem Betonboden, sie sah die Panik in den Augen des Mannes und hörte den bemitleidenswerten Ton seiner Stimme, als er hinter seinem Knebel aufschrie.

„An der Wand lehnte eine große Rolle Plastikfolie. Richard hat sie auf dem Boden ausgebreitet, und Peretti zwang den Mann, sich daraufzulegen.“ Ihr Magen zog sich zusammen, als sie daran dachte, was dann passierte. Sie würde dieses Bild nie vergessen und vermutlich mit ins Grab nehmen. „Der gefesselte Mann wimmerte und schrie hinter seinem Knebel. Ich habe mir die Ohren zugehalten, aber das half nichts, ich werde diese Schreie nie vergessen. Ich habe meine Augen geschlossen, trotzdem konnte ich nicht ausblenden, was dann passiert ist.“ Sie sah auf. „Peretti hat den Mann kaltblütig erschossen.“

Die Muskeln an Johns Kiefer zuckten. Gleichzeitig blitzte etwas Dunkles und Unvorhersehbares in seinen Augen auf. „Du bist Zeugin eines Mordes geworden.“

Weil sie nicht in der Lage war, zu sprechen, nickte sie nur.

„Oh, Honey!“

„Ich erinnere mich an alles“, schluchzte sie.

„Komm.“ John zog sie an sich, und Beth ließ es sich gefallen.

„Haben die Männer dich gesehen?“, fragte er nach einer Weile.

„Ich war so verstört, dass ich einen Karton umgestoßen habe. Peretti ist durchgedreht. Er wollte …“ Sie schafft es kaum, die Worte auszusprechen. „Er wollte mich dort an Ort und Stelle töten, doch Richard hat es ihm ausgeredet. Er sagte, er werde sich darum kümmern.“ Sie zog sich ein wenig zurück. „Ich dachte, Richard würde mich gehen lassen. Ich dachte, er sei vielleicht in einem verdeckten Einsatz oder so. Ich wollte nicht glauben, dass er so korrupt war, aber nachdem er mich ins Auto gebracht hatte, begann er, mich anzuschreien. Er warf mir vor, es sei alles meine Schuld. Ich sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, und wenn er mich nicht zum Schweigen bringe, würde Peretti ihn umbringen. Richard hatte mich in der Vergangenheit bereits geschlagen, daran ist unsere Ehe zerbrochen, aber ich habe nicht geglaubt, dass er mich töten würde. Als wir die Bergstraße erreichten, schluchzte er.“ Sie presste eine Hand auf ihren Bauch. „Ich habe versucht, mit ihm zu reden, aber er war hysterisch. Wir haben miteinander gerungen. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, aber ich habe ihm seine Waffe entwendet. Dann habe ich die Tür aufgestoßen. Er hat meinen Mantel gepackt, also habe ich mich aus ihm gewunden und bin losgelaufen. Irgendwann habe ich meine Schuhe verloren. Richard lief hinter mir her. Ich hörte ihn rennen und schreien. Ich wusste, dass er mich umbringen würde. Als ich die Klippe erreicht habe, bin ich gesprungen.“

John fluchte, und ein unbehagliches Schweigen machte sich breit.

„Alles wird gut.“ John hielt sie mit einem Arm und fingerte mit der anderen Hand sein Handy aus der Brusttasche.

„Wen rufst du an?“

„Buzz.“

Sie schloss die Augen und drückte ihren Kopf gegen seinen Schneeanzug. Einen Augenblick später klappte John das Handy zu und fluchte. Sie sah ihn fragend an. „Was ist?“

„Wir haben keinen Empfang.“ Eine Ader an seinem Hals zuckte. „Wir müssen zum Schneemobil zurückgehen. Schaffst du das?“

„Natürlich schaffe ich das.“

Er grinste sie an, doch Hannah wusste, er wollte sie nur beruhigen. Sie war nicht die Einzige, die Angst hatte.

„Das würdest du selbst dann noch sagen, wenn du in den Wehen liegst.“ Er nahm ihre Hand und steuerte den Rückweg an. „Wir müssen uns beeilen.“

John zuckte zusammen und blieb mitten im Gehen stehen. „Was zum …?“ Er stockte. Fluchend streckte er die Hand aus und umklammerte seinen rechten Oberschenkel. Einen Moment später zerriss ein Schuss die Stille. Beth sah Blut zwischen Johns Fingern hervorquellen. Panik erfasste sie.

„John! Oh, mein Gott! John!

Sie sah ihn wie in Zeitlupe fallen. Er stürzte auf die Knie und rollte sich dann auf die Seite. Für einen grauenhaften Moment dachte sie, er sei tot.

„Runter!“, rief er.

Beth ließ sich auf Hände und Knie nieder und krabbelte zu ihm. „Du bist angeschossen worden!“

„Verdammt!“ John verzog sein Gesicht schmerzerfüllt. Sie sah die Angst in seinen Augen, als er mit geübtem Blick die Umgebung abscannte. „Krabble unter die Felsen da“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wir sitzen hier wie auf dem Präsentierteller.“

„Nicht ohne dich!“

„Tu es, verdammt noch mal!“ Sein Bein umklammernd rollte er sich auf den Bauch. „Ich bin direkt hinter dir. Los!“

Eine weitere Kugel prallte keinen Meter von seinem Kopf entfernt von einem Felsen ab. Panisch robbte Beth auf die Felsen zu. John folgte dicht hinter ihr. Sein Gesicht war kreidebleich. Sie versuchte, nicht auf die Blutspur zu achten, die er im Schnee hinter sich herzog. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wer auf sie schoss und warum, obwohl sie es wusste. Wenn ihnen nicht schnell etwas einfiel, würde Richard Montgomery sie beide töten.

John erreichte den überhängenden Felsen nur wenige Sekunden nach Beth. Der Schmerz brannte wie Feuer in seinem Schenkel und betäubte sein Bein bis zu den Zehen. Ihm war übel, und er schwitzte unter seinem Schneeanzug. Er drehte sich auf den Rücken und schloss die Augen.

„Mein Gott, John, du blutest!“, sagte Beth. „Sag mir, was ich tun soll.“

John biss die Zähne zusammen und riskierte einen Blick zu dem Loch in seinem Schneeanzug. Er spürte, wie ihm die Galle hochkam. Die Wunde blutete stark, doch nicht so stark. Der Schütze hatte also keine wichtige Arterie getroffen. Trotzdem musste er die Blutung bald stillen, um keinen Schock zu riskieren. Das wäre für keinen von ihnen gut.

Er kämpfte sich aus dem Schneeanzug. „Zerreiß die Jeans“, sagte er. „Ich muss die Wunde sehen.“

Ohne den Blick von ihm zu wenden, legte Beth ihre Finger vorsichtig auf das Loch und zerriss den Stoff. Trotz seiner Schmerzen sah John, wie stark ihre Hände zitterten. Beths Gesicht war so weiß wie der Schnee. „Ganz ruhig. Das ist nur eine Fleischwunde, wir dürfen jetzt nur nicht panisch werden. Alles wird gut, okay?“

Sie lachte gequält. „Ich denke, das ist eigentlich eher mein Text, oder?“

Trotz der Schmerzen und der zunehmenden Angst spürte er, wie eine Welle der Zuneigung über ihn hinwegschwappte. Beth war so warmherzig und so mutig. Er hob eine Hand und berührte ihre Wange. „Du machst das prima“, sagte er.

„Das sieht schlimm aus, John.“

„Hey, ich bin der Sanitäter, weißt du noch? Das ist nichts.“ Trotzdem zog sich sein Magen zusammen, als er das Blut sah. John war nicht empfindlich. Er hatte schon alle möglichen schlimmen Verletzungen gesehen, von offenen Frakturen und schweren Kopfverletzungen bis hin zu schlimmen Schnittwunden nach Autounfällen, doch das eigene Blut in den Schnee sickern zu sehen, rief Schwindelgefühle wach.

Sein Oberschenkel war geprellt und bereits angeschwollen. Es gab keine Austrittswunde, also steckte die Kugel vermutlich noch irgendwo in der Nähe des Knochens. „Wer auch immer behauptet hat, dass Schusswunden nicht schmerzen, hat gelogen. Das verdammte Ding schmerzt höllisch.“

Hannah sah ihn besorgt an. „Kannst du laufen?“

„Zuerst müssen wir die Blutung stoppen“, stieß er durch seine zusammengebissenen Zähne aus. „Wir müssen direkten Druck ausüben.“

Sie runzelte die Stirn. „Sag mir, was ich tun soll.“

„Knüll deinen Schal zusammen und presse ihn mit beiden Händen fest auf die Wunde. Du darfst keine Angst haben, mir wehzutun, denn das tust du nicht.“

Sie wickelte ihren Schal ab, faltete ihn mehrere Male und drückte ihn auf die Wunde.

„Fester“, sagte er.

Sie schluckte und erhöhte den Druck, indem sie ihr gesamtes Körpergewicht darauflegte.

John schloss vor Schmerz die Augen. „Gutes Mädchen“, zischte er. „Du machst das super.“

„Werde mir jetzt ja nicht ohnmächtig, John Maitland.“

„Ich ruhe nur meine Augen ein bisschen aus.“

„Mach sie auf, verdammt noch mal! Wir haben noch einiges vor uns.“

Er spürte ihre Nähe – einen winzigen Augenblick, bevor er die sanfte Wärme ihrer Lippen auf seinem Mund fühlte. Sein Körper reagierte trotz der Schmerzen sofort. John genoss das Gefühl und erwiderte den Kuss. Er wollte mehr, also öffnete er seine Lippen, aber Beth zog sich zurück.

Abrupt öffnete John die Augen. „Das war gemein.“

„Es hat sein Ziel nicht verfehlt, oder?“

„Ich weiß nicht, ob ich es dir schon einmal gesagt habe, aber ich mag dich wirklich gern.“

„Zwischen all dem Unsinn, mit dem du dich als gewalttätigen Mann beschrieben hast, habe ich mir das irgendwie zusammengereimt.“

Er verzog das Gesicht und blickte sich auf der kleinen Lichtung um, auf der sie festsaßen. „Ich wünschte nur, ich hätte mich nicht von dir überreden lassen, hierherzukommen. Ich hätte das nicht tun dürfen. Es tut mir leid.“

„Es war meine Idee, vergiss das nicht. Versuch ja nicht, jetzt die Verantwortung dafür zu übernehmen, okay?“ Sie sah sich besorgt um. „Woher wusste er, wo er uns findet?“

„Ich habe Buzz angerufen, bevor wir losgefahren sind. Wenn Richard Montgomery in illegale Aktivitäten verwickelt ist, könnte es sein, dass er auch das Telefon in der RMSAR-Zentrale angezapft hat.“

Sie drückte den Schal weiterhin auf seine Wunde. „Was machen wir jetzt?“

Der Schwindel, der sich alle paar Sekunden über ihn legte, gefiel John gar nicht. Er glaubte nicht, dass er allzu viel Blut verloren hatte, aber seine Gedanken schweiften ab. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. „Er wird versuchen, zuerst mich auszuschalten, weil ich die größere Bedrohung bin.“ Er sah Beth eindringlich an. Sehnsucht und Bedauern vermischten sich in seinem Herzen. „Wir müssen uns trennen“, sagte er.

„Nein!“

„Du läufst zum Schneemobil, während ich ihn ablenke.“

„Ich lasse dich hier nicht zurück, John. Selbst wenn es das Klügste wäre, kann ich dich in deinem Zustand nicht allein lassen.“

„Beth, das hier ist nicht der Moment für dich, die Heldin zu spielen. Du musst an dein Baby denken.“

Sie zuckte zusammen und legte unbewusst eine Hand auf ihren Bauch. Die Geste verriet ihm, dass sie ihm recht gab. Der Schmerz in ihren Augen hätte ihn beinahe erweicht, aber John rief sich zur Ordnung. Er würde alles dafür tun, um sie in Sicherheit zu bringen, selbst wenn er sie dazu manipulieren müsste. „Wenn wir uns aufteilen und du es zum Schneemobil schaffst, haben wir eine Chance, das hier zu überleben.“

„Okay“, sagte sie unglücklich.

„Gutes Mädchen.“ Er griff nach seinem Handy und stöhnte, als der Schmerz scharf durch sein gesamtes Bein schoss. „Nimm das.“ Er reichte ihr das Telefon.

„Ich will dich nicht so ohne alles zurücklassen“, protestierte sie.

„Ich werde zur Schlucht laufen. Die Chancen stehen gut, dass er erst mir folgt. Solange du dich an der Baumreihe entlang des Weges hältst, kann er dich nicht durch sein Zielfernrohr orten. Sobald du das Schneemobil erreicht hast, setzt du dich rein und fährst los, ohne anzuhalten.“

„John, du hast Schmerzen, du blutest, wie um alles in der Welt willst du …?“ Sie stockte.

„Hey, ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, aus Hubschraubern zu springen, weißt du noch?“

Sie lachte bemüht. „Du würdest sowieso alles Mögliche sagen oder tun, um mich zu beruhigen und zu beschützen. Denn genau so ein Mann bist du.“

Er schob die Gefühle beiseite, die ihn nur ablenken würden, und drückte ihr das Handy in die Hand. „Sobald du in sicherer Entfernung bist, versuch noch mal die Kurzwahltaste. Ruf im Büro des Sheriffs an und bei der RMSAR. Sag ihnen, dass wir auf dem Elk Ridge sind.“

Mit Tränen in die Augen ließ sie das Handy in die Tasche gleiten. „Ich will dich nicht so zurücklassen.“

„Das ist unsere einzige Chance, Rotschopf. Komm schon. Ich zähle auf dich!“

Sie küsste ihn hart und fordernd auf den Mund. Trotz der Schmerzen in seinem Oberschenkel und seiner Schwindelanfälle erwiderte John den Kuss. Er reagierte nicht nur körperlich darauf, sondern auch emotional. Für einen Moment schmolzen Schmerz und Angst dahin, und es gab nur sie beide, Mund an Mund, Herz an Herz, Seele an Seele.

Beth löste sich als Erste. „Ich liebe dich“, sagte sie. „Und es ist mir egal, ob du das hören willst oder nicht.“

John starrte sie an. Er wollte die Worte so gerne aussprechen. Sie schmerzten auf seiner Zunge und in seiner Brust, aber er brachte sie nicht über die Lippen. Die nachfolgende Wucht der Gefühle brandete bis in seine Seele. Er wollte sie mit einem lockeren Spruch auf den Weg schicken, ihr sagen, dass sie vorsichtig sein sollte, und ihr Glück wünschen. Doch zum ersten Mal seit seiner Flucht aus Philadelphia brannten Tränen in seinen Augen. Er blinzelte ein paar Mal, um sie zurückzuhalten, und im nächsten Augenblick war Beth fort.

Zu spät, Heißsporn!

Er sah ihr einige quälend lange Sekunden nach, wie sie zwischen den Bäumen verschwand. Der Schmerz in seiner Brust war so mächtig, dass er sich nicht bewegen konnte.

Ich liebe dich.

Rücksichtslos zwang er die Worte aus seinem Kopf. Er musste sich zusammenreißen. Er ertrug den Gedanken nicht, dass ihr etwas passieren, dass er sie verlieren könnte. Es machte ihn schier verrückt.

John stand vorsichtig auf und blickte zu dem Kamm über sich, zu den Bäumen und zu den zerklüfteten Felsen. Er musste einen Weg finden, um Richard Montgomery abzulenken und ihn lange genug von Beth fernzuhalten, damit sie das Schneemobil erreichte.

Er betrachtete den blutroten Schnee unter sich und spürte, wie etwas Warmes, Zähflüssiges an seinem Unterschenkel hinunterrann. Verdammt, er war nicht gerade in bester Verfassung! Der Schmerz war einem Taubheitsgefühl gewichen, was gut war. Auch nahm die Blutung langsam ab. Wenn alles gut lief, hatte er noch zwanzig Minuten, bevor er in Ohnmacht fiel.

Er band den Schal fest um seinen Oberschenkel, lehnte sich gegen den Felsen und wartete, bis er seinen Kopf klar bekam. Sobald er in Richtung Schlucht lief, war er wie eine Zielscheibe. Es wäre ein Leichtes für Montgomery, erneut auf ihn schießen. Er musste sich darauf vorbereiten und sich schnell und zackig bewegen.

John nahm an, dass er so bereit war, wie er nur sein konnte.

Er trat hinter dem Felsen hervor, hob die Arme und winkte. „Komm schon, Montgomery! Hier bin ich! Komm und hol mich, du feiger Hundesohn!“

Sein Jäger antwortete mit einem Schuss aus einem Gewehr. John biss die Zähne zusammen und lief humpelnd in Richtung Schlucht, in der er Beth gefunden hatte. Montgomery hatte den Köder geschluckt und John Beth einen hoffentlich sicheren Vorsprung verschafft. Jetzt musste er sich nur noch etwas einfallen lassen, um selbst zu überleben.

Beth rannte so schnell, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben gerannt war. Die Panik packte sie immer fester. Sie versuchte, nicht an John zu denken, der blutend und von Schmerzen geplagt allein am Rande der Schlucht saß. Sie versuchte, nicht über seinen verrückten Plan nachzudenken – und nicht daran, dass er sogar heldenhaft genug war, ihn durchzuziehen.

Aber ihr war nicht entgangen, wie viel Blut er verloren hatte. Und auch sein glasiger Blick bereitete ihr Sorgen. Sie hatte bemerkt, wie sehr er die Zähne gegen den Schmerz zusammenbiss, als er das Handy aus seiner Tasche zog. Wie wollte er gut fünfundzwanzig Meter weit laufen und auf dem ganzen Weg Gewehrkugeln ausweichen, wenn er kaum die Kraft hatte, zu stehen?

Ihr einziger Trost war die Deckung, die ihm die Schlucht bot. Es war dieselbe Schlucht, in der sie in jener Nacht, in der Richard versucht hatte, sie zu töten, Schutz gesucht und gefunden hatte. Wenn John es bis dorthin schaffte, würde Richard ihm nichts antun können. Doch zuvor musste er die offene Landschaft durchqueren, wo er ein perfektes Ziel abgab.

Sie hatte gerade die Hälfte des Weges hinter sich gebracht, als das Heulen eines Motors die Stille durchbrach. Aus dem Augenwinkel sah sie eine Bewegung, einen Farbblitz. Einen Moment später brach ein Mann auf einem Schneemobil zwischen den Bäumen hervor und kam direkt auf sie zu.

Es war Richard.

Mit hämmerndem Herzen rannte sie schneller und änderte im Laufen immer wieder die Richtung. Der Motor hinter ihr jaulte auf, Richard war ihr so nahe, dass sie die Abgase des Gefährts riechen konnte. Sie hörte, wie die Kufen über hervorstehende Steine kratzten. Einen Moment später krachte ein Körper in sie hinein. Sie sah den dunklen Umriss seines Gewehrs und erhaschte einen Blick auf aschblonde Haare. Dann schlangen sich starke Arme um sie und stießen sie von den Füßen. Beth schrie auf und spürte, wie sich ihre Beine miteinander verhakten, als ihr Ex sie mit seinem gesamten Körpergewicht zu Boden drückte. Sie rollte unter der Wucht des Aufpralls zur Seite, aber er rollte mit und überwältigte sie. Beth wusste mit schrecklicher Gewissheit, dass er sie töten würde, wenn ihr nicht schnell etwas einfiel.

John baumelte am Ende des Seils und lauschte auf die plötzliche durchdringende Stille um sich herum. Neue Panik machte sich breit. Richard Montgomery hatte das Undenkbare getan. Als er erkannte, dass er John nicht erwischen würde, hatte er das Schneemobil gewendet, um Beth zu verfolgen.

John schwitzte unter seinem Schneeanzug. Sobald er die Schlucht erreicht hatte, hatte er das Sicherheitsseil um seine Taille ausgerollt und es genutzt, um sich daran abzuseilen. Das Seil hatte sein Leben gerettet, aber es war nicht lang genug, und so hing er nun auf halber Höhe. Er musste die Pistole erreichen, die Beth bei ihrer Rettung aus der Hand geglitten war, und mit ihr wieder hinaufklettern, um Beth zu retten.

Der Schmerz der Schusswunde durchschnitt seinen Körper wie ein scharfes Messer. Doch das war nichts gegen die panische Angst in seinem Herzen. Er sorgte sich um Beth.

Sie hatte es nicht verdient, ihr Leben unter den Händen eines gewalttätigen Mannes wie Richard Montgomery auszuhauchen. Keine Frau hatte das, aber dank Beth war die Welt ein besserer Ort. Sie erfüllte Johns Leben mit Güte, sein Herz mit Liebe und seine Seele mit Hoffnung auf ein Morgen. Während er an dem Seil baumelte, dachte John nur daran, dass er nicht den Mut gehabt hatte, ihr zu sagen, wie sehr er sie liebte. Und Gott wusste, das tat er. Er liebte sie von ganzem Herzen und mit ganzer Seele. Er tat es, seit er sie das erste Mal gesehen hatte, genau hier an dieser Stelle. Aber er war so mit seiner Vergangenheit beschäftigt gewesen, dass er sich etwas Kostbares hatte entgleiten lassen.

Und jetzt würde ein Verrückter sie umbringen.

Das durfte er nicht zulassen. Richard Montgomery durfte der Frau nichts antun, die John mehr liebte als sein Leben. „Halte durch“, flehte er still. „Halte durch, meine Süße. Ich komme.“

Er begutachtete die Felsen und das Gestrüpp fünf Meter unter ihm. Er hing noch ziemlich hoch, aber die Büsche würden seinen Sturz abfedern. Hoffentlich brach er sich dabei nicht auch noch ein Bein. John betete, dass es ihm gelang, den Grund der Schlucht zu erreichen, die Pistole zu bergen und wieder hochzuklettern, bevor Richard Montgomery seinen Plan umsetzen und Beth wehtun konnte.

Mit einem stummen Gebet auf den Lippen ließ er das Seil los.

Beth kämpfte mit aller Kraft gegen ihn an. Sie kämpfte für das Kind, das in ihr wuchs, und für den sanften und liebevollen Mann, der sein Leben riskierte hatte, um sie zu beschützen. Sie kämpfte, weil sie nicht wollte, dass Richard Montgomery gewann. Nicht dieses Mal.

Aber ihre Kraft richtete nichts gegen ihn aus. Binnen Sekunden hatte Richard Beth unter sich gefangen und drückte ihre Arme über ihrem Kopf auf den Boden. Einige schreckliche Sekunden lang starrten sie einander an. Beth atmete keuchend. Kleine weiße Wölkchen waberten durch die eiskalte Luft zwischen ihnen.

„Kämpf nicht gegen mich, Beth. Du kannst nicht gewinnen“, sagte er.

„Lass mich los!“ Als sie in seine Augen sah, zog sich die Angst wie eine Schlinge um ihren Hals. Sie sah den Tod in seinen Augen und wusste, dass sein Herz kalt und schwarz genug war, um ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes auszulöschen.

Beth tat das Einzige, was sie tun konnte, und schrie.

„Hier oben hört dich niemand“, sagte er, „wie schon beim letzten Mal. Du erinnerst dich doch noch daran, oder?“

„Ich erinnere mich an gar nichts“, log sie. „Ich weiß nicht, wer Sie sind.“

Er schnalzte mit der Zunge. „Du warst noch nie eine gute Lügnerin, Beth, und du bist es auch jetzt nicht.“ Er zog seinen Handschuh aus und berührte ihr Gesicht sanft mit der Rückseite seiner Finger. „Ich spüre doch, wie du unter mir zitterst. Ich sehe die Wahrheit in deinen Augen. Ich weiß, wie viel Angst du hast. Du weißt genau, wer ich bin, oder?“

Sie drehte den Kopf zur Seite, doch er setzte sich noch fester auf sie und fuhr fort, ihre Wange zu liebkosen. „Ich wollte nicht, dass es so weit kommt.“

„Treib es nicht noch weiter“, sagte sie.

„Ich weiß, du wirst mir nicht glauben, aber ich hasse es, dass ich dir wehtun muss.“

„Dann tu es nicht und lass mich gehen.“

„Das kann ich nicht – nicht, nach dem, was du gesehen hast.“ Er fluchte. „Wärst du an dem Tag doch bloß nicht im Lager gewesen, um diese dummen Fotos zu suchen! Aber du hattest schon immer das Talent, zur falschen Zeit am falschen Ort aufzutauchen.“

„Ich erinnere mich nicht daran, was ich gesehen habe.“

„Engel, es geht nicht darum, was du gesehen hast. Es geht um den Menschen, der bei mir war und der dich gesehen hat.“ Etwas Unheilvolles funkelte in seinen Augen. „Joseph Peretti ist kein Mann, der Zeugen seiner Morde toleriert. Vor allem nicht, wenn die Zeugin die Exfrau eines Polizisten ist.“

Joseph Peretti, der Name flößte Beth Angst ein. Sie hatte ihn schon so oft in den Zeitungen gelesen, dass sie wusste, wozu der Mann fähig war. Organisiertes Verbrechen. Erpressung. Auftragsmorde. „Ich habe sein Gesicht nicht gesehen“, wimmerte sie.

„Ich wünschte, das würde einen Unterschied machen.“ Einen Moment lang schlich sich ein Bedauern in sein Gesicht. „Wirklich.“

Beths Herz pumpte pure Panik durch ihre Adern. Die Angst war so intensiv, dass ihr schwindelig wurde. Oh Gott, wo war John? Was konnte sie tun? Sie wusste, sie musste kämpfen und dieses Mal gewinnen. Aber wie sollte sie einen Mann besiegen, der hundert Pfund schwerer war als sie?

„Peretti wollte dich schon an jenem Tag im Lager töten“, fuhr er unbeirrt fort. „Aber das habe ich ihm ausgeredet. Ich bin nicht sicher, warum ich dich in jener Nacht hierher gebracht habe, denn ich wusste ja, was ich zu tun hatte, aber ich habe dich immer gemocht, Beth. Selbst wenn ich dich nicht geliebt hätte, würde es mir schwerfallen, dich zu töten.“ Er seufzte schwer. „Ich wollte nicht, dass es so weit kommt, aber Peretti hat damit gedroht, mich umzubringen, wenn ich dich nicht loswerde. Ich will aber nicht sterben, nur weil du zur falschen Zeit am falschen Ort warst.“

Er drückte sich von ihr ab und stand auf. Dann schob er das Gewehr beiseite und bot ihr seine Hand, um ihr auf die Beine zu helfen. Einen Moment lang überlegte sie loszulaufen, aber sie wusste, dass er sie schnell wieder einfangen würde. Sie musste Zeit gewinnen, um sich einen Plan auszudenken.

Darum bemüht, ruhig zu bleiben, nahm sie seine Hand und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen. „Du könntest behaupten, dass ich tot bin, und ich verschwinde einfach.“

„Das habe ich auch schon überlegt, bis ich dich mit deinem jungen Liebhaber gesehen habe.“ Seine Augen nahmen einen eiskalten Glanz an. „Dich mit ihm zusammen zu sehen hat alles verändert.“

Eifersucht, dachte sie, und das Grauen zuckte wie ein gleißender Blitz durch ihren Magen. John. Ihre Knie wurden weich. Oh Gott, er würde John auch noch umbringen! Das konnte sie nicht zulassen.

„Ich wette, du glaubst, du hast dir einen echten Helden geangelt, oder? Einen Mann, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, Pfadfinder und kleine scheckige Welpen zu retten. Ich wette, du glaubst, er ist ein Superheld, nicht wahr, Engel?“

„Ich kenne ihn kaum.“

„Mach dir gar nicht erst die Mühe, es zu leugnen. Ich habe euch zusammen gesehen. Ich habe gesehen, wie er dich berührt hat. Wie du ihn angesehen hast. Und wie er dich ansieht.“ Die Muskeln um seinen Kiefer spannten sich an. „Du weißt, was das mit einem Mann anstellt, oder, Engel? Zu sehen, wie ein anderer Mann seine Hände an die eigene Frau legt? Du trägst mein Kind in dir. Mein Samen hat es da hineingepflanzt. Aber das ist dir egal, oder?“

Übelkeit wallte in ihr auf. „Lass mich gehen, Richard.“

Er fletschte die Zähne. „Ein kleiner Cop ist dir nicht gut genug, daran liegt es doch, oder? Ich war nie gut genug.“

„Hör auf!“

„Ich verrate dir ein Geheimnis über deinen Liebhaber, mein Engel. Dein Held hat eine Vorstrafe wegen häuslicher Gewalt. Er hat es nicht einmal auf die Polizeiakademie geschafft.“ Ein grausames Lächeln verzerrte seinen Mund. „Du neigst dazu, dich in die Verlierer zu verlieben, nicht wahr?“

„Er hat nichts mit dir gemeinsam“, sagte sie.

Noch bevor er sich bewegte, wusste sie, dass er zuschlagen würde. Die alte Angst sprang in ihr hoch, aber sie zuckte nicht zurück. Stattdessen trat sie einen Schritt beiseite und hörte das Rauschen der Luft, als seine Faust ihre Schläfe um knapp einen Zentimeter verfehlte.

„Schlampe!“ Montgomerys Augen verdunkelten sich. „Es wird dir noch leidtun, jemals einen Blick auf ihn geworfen zu haben. Und dann wird er dafür zahlen, dass er dich berührt hat.“

Beth hob die Hände und trat zurück, um etwas Abstand zwischen sich und ihn zu legen. „Hör auf.“

„Die Scheidung liegt erst wenige Wochen zurück. Du hast nicht einmal abgewartet, bis die Tinte auf den Dokumenten getrocknet ist, bevor du mit einem anderen Mann ins Bett gehüpft bist, oder?“ Er zog die Lippen zurück und holte aus, um sie erneut zu schlagen.

Ein Schuss durchriss die Luft.

„Was zum Teufel …?“, fluchte Richard Montgomery und wirbelte herum.

Beth zuckte zusammen. Als sie aufblickte, erkannte sie John, der mit einer Pistole auf die Brust ihres Exmanns zielte. „Wenn Sie sie anrühren, sind Sie tot“, zischte er.

Ihr Herz machte einen Sprung. Beth fühlte sich unendlich erleichtert und glücklich. Doch gleich flackerte neue Angst in ihr auf. „John.“

„Geht es dir gut?“, fragte er, ohne den Blick von Richard zu wenden.

Die Gefühle, die in ihr tobten, raubten ihr die Sprache.

„Treten Sie zurück!“

Bevor sich Beth versah, packte Richard sie so brutal, dass sie beinahe umfiel. Sie schrie auf, als er seine Hand wie einen Schraubstock um ihren Oberarm schloss und er sie wie einen Schild vor sich zog.

„Was machst du jetzt, Loverboy?“, spottete er. „Ich habe, was du willst, oder?“

Beth wusste sofort, dass John nicht in der Lage war, zu kämpfen. Er blutete immer noch stark, seine Jeans war bis hinab zu seinem Stiefel rot durchtränkt. Sein Gesicht war beinahe so weiß wie der Schnee, und die Pistole zitterte in seiner Hand. Doch seine Augen blitzten so kalt und gefährlich wie die Waffe, die er umklammerte. „Lassen Sie sie gehen“, sagte er.

Beth wusste, dass sie schnell und entschlossen handeln musste, wollten sie beide hier lebend herauskommen.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Richard seinen Griff um das Gewehr verstärkte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als er es ruckhaft anhob. Johns Blick konzentrierte sich auf den Mann. „Machen Sie keine Dummheiten, Montgomery. Ich werde schießen.“

„Und dabei riskieren, sie zu treffen?“ Er lachte. „Das glaube ich nicht.“

Beths Herz schlug wie wild gegen ihre Rippen. Ihre Hände waren frei, und der Gewehrlauf nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. Sie sah bereits, wie sie ihn Richard aus der Hand wand, um ihn wie einen Baseballschläger zu schwingen.

„Lassen Sie die Waffe fallen, Montgomery, oder ich tätowiere Ihre Schienbeine so schön, dass Sie nie wieder aufrecht gehen können“, rief John.

„Das ist mein Revolver.“ Richard starrte die Waffe ungläubig an.

„Sie hat Ihnen die Waffe in der Nacht entwendet, als Sie versucht haben, sie zu töten.“

„Ich bin zurückgekommen“, sagte er. „Ich habe überall nach ihr gesucht.“

„Aber nicht in der Schlucht.“ Johns Kiefermuskel zuckte. „Die Schlucht, in die Beth gesprungen ist, um Ihnen zu entkommen.“ Er zog mit dem Daumen den Hammer zurück. „Werfen Sie das Gewehr hierher.“

„Einen Scheiß werde ich tun. Du hast mit meiner Frau geschlafen, du Mistkerl.“

„Exfrau“, korrigierte John. „Und keine andere Frau wird sich je wieder Gedanken über Ihr aufbrausendes Temperament machen müssen. Jetzt werfen Sie das Gewehr hier herüber, oder ich sorge dafür, dass Sie für den Rest Ihres lausigen Lebens humpeln.“ John verzog das Gesicht und wollte das Gewicht auf sein unverletztes Bein verlagern, doch dabei stolperte er und fiel auf ein Knie.

Beth wusste, dass das ihre einzige Chance war. Sie drückte sich mit aller Kraft von Richard ab und ergriff das Gewehr. Sie spürte den kalten Stahl des Laufs an ihren Handflächen und hörte Richard obszön fluchen. Seine Augen funkelten mörderisch, als er sich zu ihr umdrehte.

Aber Beth hatte ihn überrascht. Sie entriss ihm das Gewehr, stolperte ein paar Schritte zurück und holte mit der Waffe so hart sie nur konnte aus. Sie hörte das Rauschen in der Luft und sah Richards schockierten Blick, als sie den hölzernen Schaft voller Wucht gegen Richards Knie schwang und traf.

Ihr Ex fiel vornüber in den Schnee und heulte vor Schmerz auf. „Dafür wirst du bezahlen“, zischte er.

Sie wusste, dass er seine Drohung wahr machen würde, aber sie wollte ihm nicht gestatten, dass er ihr oder ihrem ungeborenen Kind jemals wieder etwas antat. Also trat sie noch einen Schritt zurück, zielte mit dem Gewehr auf den Boden neben seinem Fuß und drückte ab.

Die Wucht des Schusses ließ sie zurücktaumeln. Richard rappelte sich auf und tanzte von der Stelle weg, an der die Kugel in die Erde eingeschlagen war.

„Fordere mich nicht heraus!“, rief sie. „Oder ich bringe dich um.“

Angst schimmerte in seinen Augen, als er zu seinem Schneemobil stolperte und auf den Sitz glitt. „Damit kommst du nicht durch“, knurrte er und startete den Motor. „Ich kriege dich, und wenn es das Letzte ist, was ich tue, aber dafür wirst du zahlen.“

Wütend riss Beth das Gewehr herum. Sie zielte auf die Motorabdeckung des Schneemobils und feuerte zwei Mal kurz hintereinander. Der Motor stotterte und erstarb. Zwei münzgroße Löcher klafften in der Abdeckung. Der Motor qualmte wie der Lauf einer kürzlich abgefeuerten Waffe.

Richard schnappte kurz nach Luft, dann schlug er mit der Faust auf den Lenker seines Gefährts. „Du Schlampe!“

Eine weitere Welle der Wut erfasste Beth. Sie richtete das Gewehr wieder auf ihn. „Ich bringe dich um, wenn du mich noch einmal anfasst“, sagte sie.

Er hob die Hände. Die Angst war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, als er abstieg. „Ich komme zurück, das verspreche ich.“ Er stützte sich auf sein unverletztes Knie und humpelte den Pfad hinunter.

Beth hielt das Gewehr auf ihn gerichtet. Ihr Finger krümmte sich um den Abzug. Das Gewehr zitterte in ihren Händen. Sie blinzelte die Tränen zurück.

„Lass ihn laufen.“

Johns Stimme holte sie ins Hier und Jetzt zurück. Sie beschwichtigte ihre Wut und erstickte ihre Angst.

„Er entkommt“, flüsterte sie.

„Er wird nicht weit kommen. In wenigen Minuten wird es hier nur so vor wütenden Such- und Rettungsjungs wimmeln.“ Er legte seine starken Hände auf ihre Schultern und drückte tröstend zu. „Ganz ruhig, Honey, es ist vorbei.“

„Dessen können wir uns nicht sicher sein.“ Beths Herz blieb stehen, als Johns Knie unter ihm nachgaben und er zu Boden sackte. „John!“ Beth vergaß alles um sich herum, nur nicht den Mann, den sie liebte. Sie ließ das Gewehr in den Schnee fallen und kniete sich zu ihm nieder. Mit zitternden Händen drehte sie ihn auf den Rücken.

John sah Beth grinsend an. „Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt, die Polizei zu rufen.“

Sie holte das Handy aus ihrer Manteltasche und drückte mit zitternden Fingern auf die Kurzwahltaste. Sie atmete erleichtert auf, als die Vermittlung im Büro des Sheriffs sich meldete. „Das ist ein Notfall“, sagte sie. „Ich bin hier mit John Maitland von der Rocky Mountain Search and Rescue. Er ist angeschossen worden. Wir sind oben am Elk Ridge und brauchen sofort einen Krankenwagen und die Polizei. Buzz Malone weiß, wo Sie uns finden.“

Sie legte auf und blickte zu John, der mit geschlossenen Augen vor ihr lag. „John?“ Die Angst lähmte sie. „Bleib bei mir, John Maitland. Werde mir jetzt nicht ohnmächtig.“

„Ich bin … nur … müde.“

„Sag mir, was ich tun kann.“

„Hör einfach nicht auf, mich zu berühren.“ Ein schwaches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ich liebe es, wenn du mich berührst. Ich liebe es, wenn du dich um mich sorgst und mich küsst.“

Beth lachte erstickt. „Wie kannst du in solch einem Moment Witze machen?“

„Wer macht hier Witze?“

„Du bist ernsthaft verletzt.“

„Ich mache mir keine Sorgen. Die Männer von der Rocky Mountain Search and Rescue sind die Besten der Besten, Beth. Sie werden einen Verbrecher wie Montgomery nicht davonkommen lassen. Und sie werden einen der Ihren ganz sicher nicht hier oben sterben lassen.“

Ein Rascheln zu ihrer Rechten ließ sie zusammenzucken. Gerade als sie sicher war, dass Richard zurückgekehrt war, um sein Gewehr zu holen, erblickte sie einen Mann, der auf einem Pferd den kleinen Abhang hinaufritt und ein paar Meter neben ihnen anhielt. Beth erkannte ihn sofort. Es war Jake Madigan, den sie bei ihrem ersten Besuch in der Zentrale kennengelernt hatte.

Jake hob die Hand und winkte John zu. „Wie schwer bist du verletzt, Maitland?“, fragte er.

John hob den Kopf und blinzelte. „Jake?“

„Alles okay, Partner?“

„Oberschenkelwunde, glatter Schuss. Keine arteriellen Blutungen, aber ich habe ordentlich was verloren.“

„Er hat sehr viel Blut verloren“, ergänzte Beth. „Bitte schicken Sie jemanden, der uns hilft.“

Ohne zu zögern, zog der Mann ein Funkgerät aus seiner Satteltasche. „Hier ist Kojote null fünf drei. Ich habe einen Code Red. Teammitglied verletzt. Ich wiederhole, Teammitglied verletzt. Code Red.“

Eine Stimme kam knackend aus dem Funkgerät. Jake war zu weit weg, als dass Beth die Einzelheiten verstanden hätte, aber dann sprach er wieder. „Elk Ridge. Raues Terrain. Ihr werdet mit dem Heli kommen müssen. Weibliche Begleitung unverletzt. Bitte bestätigen, Eagle zwei neun.“

Eine Sekunde später steckte er das Funkgerät wieder weg. Dann zog er eine Leuchtfackel aus der Satteltasche, drehte den Deckel ab, rieb die Fackel einmal daran und warf sie dann auf den Boden. Roter Rauch erhob sich in die stille Luft. „Der Heli wird in zwei Minuten hier sein. Haltet durch, ihr beiden.“ Er drehte das Pferd und sah sie über die Schulter hinweg noch einmal an. „In welche Richtung ist der Kerl verschwunden?“

John kämpfte sich in eine sitzende Position. „Er ist zu Fuß, Jake. In südlicher Richtung auf dem Weg zu unserem Schneemobil.“

Jake grinste. „Ich schätze, ich fange ihn mal wieder ein.“ Das Pferd warf seinen Kopf so ungeduldig zurück, dass die Trense klirrte. Jake berührte den Rand seines schwarzen Stetsons. „Ma’am.“ Dann ritt er in die Richtung, in der Richard Montgomery verschwunden war.

Beth sah John fragend an. „Er war schnell hier.“

„Tja, wir sind schnell, aber so schnell nun auch wieder nicht. Vermutlich hat Buzz ihn gebeten, mal nach dem Rechten zu sehen. Jake war wohl in der Gegend.“

„Ich erinnere mich daran, ihn getroffen zu haben.“

„Er ist ein guter Kerl.“

Besorgt begutachtete sie wieder sein Bein. „Wie geht es dir?“

„Ich bin schwach. Ich glaube, ich brauche eine kleine Mund-zu-Mund-Beatmung, was meinst du?“

Beth verdrehte die Augen. Wie konnte es nur sein, das er sie selbst jetzt zum Lachen brachte, wo sie vor Angst um ihn beinahe starb? „Du bist unmöglich.“

„Ich bin einfach nur verrückt nach dir.“

Sie rutschte näher zu ihm, beugte sich vor und presste ihre Lippen auf seine. „Besser?“

„Ich lass es dich wissen. Ein wenig mehr Druck wäre gut.“

In dem Moment zerriss das Rattern des Hubschraubers die Stille. Als er sich näherte, zitterten die Äste der Bäume im Wind. John lehnte sich ein wenig zurück und blickte auf seine Uhr. „Sechs Minuten“, sagte er. „Sie werden nachlässig.“

„Ich bin sicher, das liegt nur daran, dass du nicht da warst, um sie anzutreiben.“

„Vermutlich.“ Er grinste. „Ich weiß nicht, ob ich es dir schon einmal gesagt habe, aber ich bin ziemlich gut in dem, was ich tue.“

„Das hast du und sogar mehr als einmal. Aber du hast recht, du bist verdammt gut in dem, was du tust. Ganz zu schweigen davon, wie du küsst.“

„Ich laufe mich gerade erst warm, Honey.“

„Das schieb besser auf, oder hast du vergessen, dass du gerade erst angeschossen wurdest?“

„Ein unwichtiges Detail. Dank dir hat die Blutung schon aufgehört.“ Er legte seine Hände auf ihre und drückte sie sanft. „Du hast mein Leben gerettet.“

Sie lachte auf. „Das ist doch das Mindeste, was ich tun konnte.“

„Das wäre alles vielleicht anders gekommen, wenn du nicht …“ Seine Stimme erstarb.

Ein Funke in seinen Augen verriet ihr, dass er genau wusste, wie nah sie beide dem Tod heute gekommen waren. Tränen brannten in ihren Augen, aber das war ihr egal.

Bevor sie etwas sagen konnte, schnitt er ihr mit einem Kuss das Wort ab. Sie schloss die Augen und genoss die Freude, die in ihr aufwallte. Beth war glücklich, dass John lebte, in Sicherheit und ihr so nah war, dass sie das stete Klopfen seines Herzens an ihrem hören konnte. Sie ließ sich gegen ihn sinken. „Ich hätte ihn niemals erschießen können“, sagte sie. „Selbst nach allem nicht, was er uns angetan hat.“

„Das ist auch gut so. Du bist keine Mörderin, Honey, aber du bist sehr, sehr mutig.“

„Ich hatte Angst, dich niemals wiederzusehen.“

„Das konnte ich doch nicht zulassen.“ Er hob seine Hand und drückte sie sanft gegen ihre Wange. „Nicht, ohne dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe.“

Die Worte trafen sie wie ein Schlag. Tiefe Freude erhellte ihre Seele. „Ich glaube nicht, dass ich dich das jemals habe sagen hören.“

„Ich sage es jetzt, und ich meine es auch so.“ Er blinzelte, um wieder klar zu sehen. „Ich liebe dich und ich liebe das Kind, das in dir heranwächst.“

Sie starrte ihn an. Ihr Puls schlug in rasantem Tempo. „Ich liebe dich auch.“

„Ich habe noch nie zuvor jemanden geliebt“, gestand er.

„Ich werde dafür sorgen, dass du ausreichend üben kannst.“

Über ihnen schwebte der Hubschrauber in der Luft und wirbelte Schnee und kleine Steine auf. John hob den Kopf und sah, dass Buzz dabei war, auszusteigen. Mit etwas Glück blieb ihm noch eine Minute, bevor es hier unten voll würde. Doch zuvor wollte er noch ein paar Dinge loswerden.

„Du hast mir gezeigt, wie ich meinem Herzen vertrauen kann, Beth. Du hast mich gelehrt, mir selbst zu vertrauen.“ Er wischte ihr eine Träne von der Wange. „Ich habe mich gefragt, ob du es wohl mit mir wagen willst.“

Tränen rannen über ihre Wangen, dennoch gelang es ihr, zu lächeln. „Meinst du, du könntest das etwas genauer ausdrücken?“

„Willst du mich heiraten?“ Er drückte seine Hand flach auf ihren Bauch. „Lässt du mich der Vater deines Kindes werden?“

Er hatte nicht erwartet, dass seine Stimme brach, doch das tat sie. Er spürte Tränen auf seinen Wangen, und es machte ihm nichts aus. „Ich will den Rest meines Lebens damit verbringen, euch beide zu lieben.“

„Ja.“ Beth küsste sanft seine Wange. „Ja, mein Held.“

Ein ungekanntes Glücksgefühl erfasste ihn, das so weich und warm war wie ein Sommermorgen in den Bergen. John begriff, dass er etwas Kostbares und Seltenes gefunden hatte, das man nur einmal im Leben fand. Während der Hubschrauber über ihnen schwebte, senkte er seinen Mund auf Beths und besiegelte das Versprechen für ihre gemeinsame Ewigkeit mit einem Kuss.

– ENDE –