11. KAPITEL

Hannah brauchte keine zwei Minuten, um ihre spärlichen Habseligkeiten in die Tasche zu stecken. Als sie den Reißverschluss zuzog und sich den Trageriemen über die Schulter legte, zitterte sie. Es lag gewiss an ihrer Wut. Buzz Malone wusste gar nichts über sie, er hatte kein Recht, über sie zu urteilen. Aber sie wusste, dass das nicht der einzige Grund war, warum sie auf einmal den Drang verspürte, nach Denver zurückzukehren.

Die Anziehung zwischen ihr und John war zu einem ernsthaften Problem geworden. Hannah konnte es nicht länger ignorieren. Drei welterschütternde, schwindelig machende Küsse in weniger als vierundzwanzig Stunden deuteten darauf hin, dass die Situation in immer kürzer werdenden Abständen komplizierter wurde, als sie bereits war. Wie sollte sie mit sich klarkommen und weiterleben, wenn sie alles so weiterlaufen ließ, obwohl sie womöglich verheiratet oder anderweitig liiert war?

Schlimmer noch, ihre Anwesenheit hier war auch für John gefährlich. Sie wusste nicht, was für ein Mensch sie in der Vergangenheit gewesen und in was sie verwickelt war, aber sie wusste mit Sicherheit, dass John ein guter Mann mit einem gütigen Herzen war, und sie hatte nicht vor, ihn weiter in ihre Geschichte hineinzuziehen.

Sie atmete noch einmal durch und wandte sich zur Tür des Gästezimmers. Der Anblick von John, der auf der Schwelle stand, ließ sie erstarren.

„Ich werde dir nicht gestatten, nach Denver zurückzukehren, falls es das ist, was du willst“, sagte er ruhig.

„Ich hatte gehofft, dass du mich fährst.“

„Nach dem, was bei Angela Pearl passiert ist, halte ich es für keine gute Idee.“

„Dann bring mich zu einem anderen Frauenhaus. Ganz sicher gibt es mehrere davon in Denver oder Boulder.“

„Bestimmt“, sagte er vernünftig. „Ich hatte nur gehofft, du würdest hierbleiben.“

„Wir wissen beide, dass das unklug ist.“ Der Gedanke daran, in eine Welt hinauszugehen, in der es Irre in SUVs gab, die wahllos auf sie schossen, war zwar genauso verführerisch wie ein weiterer Sturz den Berg hinunter, dennoch glaubte Hannah, keine andere Wahl zu haben. „Ich möchte mich nicht zwischen dich und deinen Freund stellen.“

„Buzz und ich sind seit acht Jahren befreundet. Wir stimmen vielleicht nicht darin überein, wie ich diese Situation handhabe, aber das kann unserer Freundschaft nichts anhaben.“ John kniff seine Augen zusammen. „Das ist aber nicht der wahre Grund, weshalb du dir Sorgen machst, oder?“

Sie schob die Tasche höher auf ihre Schulter und nahm all ihren Mut zusammen. „Das mit uns wird langsam ziemlich kompliziert.“

„Wirklich?“

Sie starrte ihn ungläubig an. „Nur für den Fall, dass du es nicht mitbekommen hast, ich bin schwanger.“

„Das ist mir aufgefallen.“

„Nun, und das bin ich wohl kaum allein geworden.“

Um seinen Kiefer zuckten die Muskeln. „Immer raus damit.“

„Ich trage das Kind eines anderen Mannes in mir, John. Selbst wenn ich nicht verheiratet bin, muss ich in einer ernsthaften Beziehung stecken, sonst wäre ich doch wohl kaum schwanger. Ich erinnere mich zwar nicht, aber das brauche ich auch nicht, um zu wissen, dass ich so etwas nicht auf die leichte Schulter nehme.“

„Du weißt nichts davon mit Sicherheit. Du könntest auch geschieden sein. Immerhin trägst du keinen Ring.“

„Wie auch immer das Szenario aussieht, es kann nichts Gutes dabei herauskommen, wenn ich hier bei dir bleibe.“

„Es sei denn, dein Ehemann oder Partner hat dir die Verletzungen zugefügt.“

Die Worte trafen sie wie ein Faustschlag ins Gesicht. Einen Moment lang fehlten ihr die Worte. Der Trageriemen glitt von ihrer Schulter, und ihre Tasche landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden. „Das wissen wir nicht.“

„Ich würde es aber nicht ausschließen.“

Auch Hannah hatte über diese Möglichkeit bereits nachgedacht. Aber die Vorstellung, dass der Mann, den sie liebte, ihr wehtat, während sie sein Kind unter ihrem Herzen trug, war zu hässlich, um sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen. „Das erklärt nicht den SUV oder warum jemand versucht hat, mich zu erschießen. Das klingt nicht nach einem gewalttätigen Ehemann.“

„Vielleicht nicht. Was ich aber damit sagen möchte, ist, dass ich nicht möchte, dass dir etwas zustößt, Hannah. Ich bin in der Lage, dir zu helfen. Warum lässt du mich nicht?“

Sie hatte sich geschworen, sich von seinen Worten nicht berühren zu lassen. Er sollte sie nicht in ihrer Entscheidung beeinflussen, denn sie wusste, was zu tun war, dennoch berührten seine Worte sie zutiefst. Ihr Herz zog sich zusammen. „Ich kann nicht hierbleiben.“

„Wenn du dir Sorgen darüber machst, was gerade in der Küche passiert ist …“

„Und bei Angela Pearl und letzte Nacht und jedes Mal, wenn wir einander ansehen.“

Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. „Gut, wir waren unvernünftig, aber wir sind erwachsen. Wir können damit umgehen.“

„Ich nicht.“ Trotz aller Anstrengungen zitterte ihre Stimme. „Du bist ein guter Mann, John, und ich danke dir für alles, was du für mich getan hast, aber ich kann nicht hierbleiben. Falls ich verheiratet oder in einer festen Beziehung bin, könnte ich nicht mehr mit mir leben, sollte etwas zwischen uns passieren. Ich kann mich nicht auf dich einlassen. So ein Mensch bin ich nicht.“

„Ich weiß, dass du das nicht bist. Was passiert ist, war meine Schuld.“

„Ich wusste, was ich tue.“

„Du warst verwirrt.“

„Ich werde meine Meinung nicht ändern, John. Es tut mir leid, wenn du das nicht verstehst, aber falls du mich nicht in die Stadt fährst, finde ich einen anderen Weg.“

Das plötzliche Piepen seines Pagers ließ sie beide zusammenzucken. John las die Nummer und fluchte. „Es ist ein Notruf.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich muss los.“ Er sah Hannah bittend an. „Versprich mir, dass du noch hier bist, wenn ich zurückkomme.“

Hannah wusste, es wäre leichter, ein Taxi zu rufen und einen klaren Schlussstrich zu ziehen, solange John weg war. Sie wusste, dass John ihr das Geld geben würde, wenn sie ihn darum bat, aber das wollte nicht. Und eigentlich wollte sie auch nicht einfach so gehen. Nicht nach allem, was er für sie getan hatte. „Fährst du mich dann später zurück?“, fragte sie.

„Das mache ich, auch wenn ich weiterhin versuchen werde, es dir auszureden.“ Als sie protestieren wollte, hob er eine Hand. „Ich bringe dich dahin, wo immer du hinwillst. Versprich mir nur, dass du nichts unternimmst, bis ich zurück bin. Kannst du das für mich tun?“

Hannah brachte es nicht über sich, ihm seinen Wunsch abzuschlagen. „Ich werde warten, auch wenn ich meine Meinung nicht ändere.“

Er hob die Hand, als wolle er Hannah berühren, ließ sie dann aber fallen, als sie zurücktrat. „Ich werde so schnell zurück sein, wie ich kann“, sagte er. „Wenn du mich brauchst, ruf in der Zentrale an.“ Dann drehte er sich um und ging, ohne noch einmal zurückzuschauen.

Er lauerte in den Schatten.

Selbst von dort, wo sie stand, spürte sie seine Wut. Sie lauerte wie ein lebendiges Monster in ihm, das aus dem Nichts auftauchte, so dunkel und unvorhersehbar wie ein Tornado, der über die Landschaft raste.

So hatte sie ihm nicht davon erzählen wollen, nicht in ihren schlimmsten Träumen. Der heutige Abend hätte einer der glücklichsten ihres Lebens sein sollen.

Er hatte ihn in einen Albtraum verwandelt.

Der erste Schlag hatte sie sprachlos gemacht. Schmerz schoss über ihren rechten Wangenknochen. Tränen brannten in ihren Augen. Aber der körperliche Schmerz war nichts im Vergleich mit dem Zorn, der in ihrem Herzen explodierte.

Hannah schrak zitternd hoch. Sie war desorientiert, und ihr Herz raste. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, wo sie sich befand und dass sie allein war. Sie hob ihre Hand und berührte ihre Wange. Beinahe erwartete sie, den Schmerz zu fühlen. Sie sagte sich, dass es nur ein Traum gewesen war, auch wenn sie wusste, dass das nicht stimmte. Ihre Erinnerungen kamen zurück, und keine davon war gut.

Ein Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims verriet ihr, dass sie beinahe eine Stunde geschlafen hatte, dabei kam es ihr so vor, als seien erst ein bis zwei Minuten vergangen, seitdem sie sich aufs Sofa gelegt hatte, um auf John zu warten.

Das Wohnzimmer um sie herum war dunkel. Die Scheite im Kamin glühten rot und golden. Mondlicht fiel durch das vordere Fenster und sprenkelte silberne Tropfen auf den gewebten Teppich. Es warf Schatten, die wie dunkle Gestalten über die Wände tanzten. Hannah setzte sich auf und ließ ihren Augen einen Moment Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ihr nächster Gedanke traf sie wie ein Schlag.

Sie hatte die Lampe doch brennen lassen, oder nicht? Wieso war es dann im ganzen Haus dunkel?

Hannah spürte einen Adrenalinkick. Sie setzte sich aufrechter und lauschte in die drückende Stille. Sie hörte das Zischen des Feuers und das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Auf der anderen Seite des Raumes knurrte Honeybear leise.

„Honeybear?“, flüsterte sie. „Komm her, mein Junge.“

Zum ersten Mal trottete der Hund nicht zu ihr und bedeckte sie mit schlabbrigen Küssen. Stattdessen hörte Hannah seine Krallen auf dem Boden, als er in die Küche wanderte.

Ein ganz leises Geräusch vom vorderen Fenster ließ sie erstarren. Hannah erhob sich und tapste leise zum Fenster, um vorsichtig hinauszuschauen. Silbernes Mondlicht schimmerte auf dem Schnee und erhellte die Äste der Konifere, die neben der Hütte wuchs. Ein eisbedeckter Zweig kratzte wie ein Fingernagel über das Glas. Nirgendwo war ein Waffen schwingender Irrer in einem SUV in Sicht.

Mit einem erleichterten Seufzer drückte sie auf den Lichtschalter. Erste Spuren der Angst schwappten über sie hinweg, als es im Zimmer dunkel blieb. „Okay“, sagte sie leise. „Vermutlich ist nur eine Sicherung durchgebrannt.“

Sie dachte an die Karte mit der Nummer der Rocky-Mountain-Search-and-Rescue-Zentrale, die John ihr beim Abschied gegeben hatte, und sah sich um. Ihre Tasche stand neben dem Wohnzimmertisch auf dem Boden. Sie nahm die Karte heraus. Vermutlich würde John sie Schritt für Schritt anleiten müssen, bis sie die Sicherung gewechselt hatte. Dann nahm sie das Telefon zur Hand. Die Leitung war tot.

Angst überrollte sie, ihr Magen zog sich krampfhaft zusammen. Hannah kämpfte dagegen an. Sie sagte sich, dass niemand wissen konnte, wo sie war. Oder vielleicht doch?

Das Geräusch von brechendem Glas ließ sie erstarren. Zitternd drehte sie sich zur Küche herum. Mit pochendem Herzen hörte sie Honeybear bellen. Und sie wusste es.

Jemand kam durch die Hintertür herein.

Sie vergaß alle Gedanken daran, sich zu verstecken, und rannte zur Haustür. Hektisch schob sie den Riegel zur Seite und riss die Tür auf. Eisige Luft schlug ihr ins Gesicht, dennoch blieb Hannah nicht stehen. Sie lief über die Veranda und floh die Treppe hinunter, wobei sie auf der untersten Stufe auf einem Stück Eis ausrutschte. Hinter sich hörte sie den Hund frenetisch bellen. Die Sorge um das Tier ließ sie abrupt anhalten.

„Honeybear!“, rief sie. „Komm her, mein Junge!“

Aber es war nicht der Hund, der in der Tür auftauchte. Nur wenige Meter von ihr entfernt trat ein Mann auf die Veranda. Er war groß und kräftig gebaut, und in seiner Hand erblickte Hannah die unverkennbare Silhouette eine Pistole.

Hannah starrte ihn an. Panik schoss durch ihre Adern. Sie konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, aber sie wusste, dass er sie gesehen hatte. Ihr Gehirn schrie, dass sie laufen sollte, aber sie konnte ihren Blick nicht losreißen. Die Vertrautheit seiner Bewegungen überraschte sie und zerrte an ihren Erinnerungen. Ich kenne ihn, dachte sie. Sie wusste, dass sie in Gefahr war, dass er ihr wehtun würde, wenn sie es ihm erlaubte. Er würde sie und ihr ungeborenes Kind töten, sobald er die Chance dazu bekäme.

Sie wirbelte herum und rannte über den Garten zur Straße. Ihre Füße versanken im Schnee, ihr Atem hing in weißen Wolken vor ihrem Gesicht. Kälte sickerte durch ihre Socken und Verbände und betäubte ihre Füße.

Der erste Schuss klang wie ein Feuerwerkskörper. Aber Hannah kannte das Geräusch. Panisch blickte sie sich nach einem sicheren Versteck um. Oh, bitte lieber Gott, lass nicht zu, dass er meinem Baby etwas antut! Hannah konnte keine Nachbarn entdecken, keine Lichter, die ihr den Weg wiesen. Sie sah nur Bäume und Schnee und spürte nur ihre eigene Angst.

Zwei weitere Schüsse erklangen. Hannah lief mit ausgestreckten Armen weiter. So schnell es ging rannte sie über die Straße und in den Straßengraben. „Hilfe!“, schrie sie.

Hoffnung explodierte in ihrer Brust, als Scheinwerfer die Dunkelheit durchbrachen. „Hilfe! Bitte helfen Sie mir!“ Ohne Rücksicht auf die Gefahr lief sie blindlings auf die Scheinwerfer zu. Der Fahrer des Jeeps vollzog eine Vollbremsung. Der Wagen kam schlitternd zum Stehen, und die Fahrertür wurde aufgerissen. „Was zum Teufel ist hier los?“

„John!“ Überrascht und erleichtert stolperte sie auf ihn zu. Sie rutschte auf der glatten Straße aus und fiel hin. „Er hat eine Waffe!“, schrie sie.

„Was? Wer? Wer hat eine Waffe? Was ist hier los?“

„Er ist da! In der Hütte! Er hat eine Pistole!“

Sie spürte seine starken Hände an ihren Schultern, als sie sich wieder aufrappelte. „Ganz ruhig. Beruhige dich bitte, mir zuliebe?“

„Er war in der Hütte! Er ist bewaffnet. Er wird uns beide umbringen!“

„Steig in den Jeep.“ Er riss die Tür auf und schob sie förmlich hinein. Dann nahm er sein Handy von der Mittelkonsole und drückte es ihr in die Hand. „Ruf das Sheriff’s Department von Lake County an. Kurzwahl zwei. Ich sehe mich mal um.“

Sie nahm das Handy und wählte die Nummer. „Er ist bewaffnet, John. Er wird dich umbringen.“ Mit dem Telefon am Ohr wollte sie wieder aus dem Jeep auszusteigen, aber John versperrte ihr den Weg.

„Bleib, wo du bist, verdammt noch mal!“

Jetzt erst fiel ihr auf, dass Honeybear nicht aus der Hütte gekommen war. „Honeybear ist noch dadrin“, sagte sie.

„Ich hole ihn“, sagte er. „Du bleibst hier. Lake County soll sofort jemanden schicken.“ Ohne auf ihre Antwort zu warten, lief er auf die Hütte zu.

Johns Herz pumpte das Adrenalin durch seine Adern, als er über die Veranda joggte und die Haustür aufstieß. Er wusste, dass man niemals ohne Rückendeckung in eine solche Situation hineinlief, aber der Gedanke an einen bewaffneten Eindringling in seinem Haus, der Hannah bedrohte oder ein harmloses Tier wie Honeybear verletzte, ließ sein Temperament überkochen.

Das Wohnzimmer lag still und dunkel da. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, schlüpfte er hinein und lauschte. Alle seine Sinne waren auf die Umgebung gerichtet. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte. Die Holzscheite im Kamin zischten wie Schlangen. Ganz leise durchquerte er das Wohnzimmer und schaute in den Flur, doch der war verlassen. Auf dem Küchenboden glitzerten Glasscherben wie eisige Kristalle. Johns Wut flammte auf, als er das zerbrochene Fenster sah. Er fühlte sich persönlich angegriffen.

Dieser Scheißkerl war in seinem Haus gewesen.

Ein Geräusch aus dem Flur ließ ihn herumwirbeln. Bereit, jeden, der das hier getan hatte, mit bloßen Händen zu zerreißen, trat er in den Flur hinaus. Die Badezimmertür war geschlossen. Auf der anderen Seite bewegte sich etwas. Ohne an seine Sicherheit zu denken, trat er die Tür ein.

Honeybear raste jaulend und mit eingezogenem Schwanz heraus. John fluchte still. Besorgt folgte er dem Tier in die Küche. Dort kniete er sich mit pochendem Herzen hin. „Lass dich mal anschauen, Großer.“

Der Hund leckte seine Hand. John zuckte zusammen, als er das Blut auf der samtigen Nase sah. Bei dem Gedanken, dass irgendein hirnloser Idiot so einem zutraulichen Hund wehgetan hatte, flammte Wut in John auf.

„Geht es ihm gut?“

Als er Hannahs Stimme hörte, zuckte er zusammen. „Er ist verletzt, aber nicht schlimm.“

John spürte den unbändigen Drang, zu Hannah zu gehen und seine Arme um ihre zitternden Schultern zu legen. Er rührte unzweifelhaft daher, dass sie seinen Trost gerade dringend brauchte. Aber er wusste, dass er sich selbst belog. Er wollte einfach nur ihre Weichheit und stille Stärke spüren, und dieses Bedürfnis tobte zusätzlich zur Wut, zur Angst und zur Fassungslosigkeit in ihm. Wie konnte es nur jemand wagen, in sein Heiligtum einzudringen?

„Geht es dir gut?“, fragte er.

„Ich muss mich erst einmal setzen.“

Er schob alle Vorsicht beiseite und ging zu ihr. „Was ist los? Bist du verletzt?“

„Mir ist nur ein wenig übel.“

Er legte einen Arm um ihre Taille, führte sie zum Sofa und drückte sie dort ganz sanft auf das Polster. „Setz dich.“

„Als wenn ich darüber mit dir streiten würde.“

„Tja, das würde mich nicht überraschen.“ Er berührte ihre Schulter. „Beug dich vor, und steck deinen Kopf zwischen die Knie.“

„John, ich bin …“

„Tu es einfach für mich.“

Sie tat, wie ihr befohlen.

John sah sich im Wohnzimmer um. Trotz des Halbdunklen machte er eine kleine Bestandsaufnahme. Kalte Luft wehte durch die offene Haustür. Abgesehen von der zerbrochenen Scheibe in der Küche schien alles noch an seinem Platz zu sein. In der Ferne durchbrach eine Sirene die Stille des Abends.

„Das ist alles meine Schuld.“

John drehte sich um und sah, dass sich Hannah wieder aufgesetzt hatte und sich nun gegen die Sofalehne sinken ließ. Im Mondlicht wirkte ihr Gesicht aschfahl, und dennoch war sie wunderschön mit ihren dunklen Augen, dem zitternden Mund und den Haaren, die ihr über die Schultern fielen. Ihre Schönheit traf ihn wie ein Schlag.

„Das ist nicht deine Schuld“, knurrte er.

„Er will mich, nicht dich.“

„Wer?“

Sie seufzte. „Ich weiß es nicht.“

„Als wenn ich dich ihm ausliefern würde.“ Hannah starrte John zweifelnd an. „Für die nächsten Tage bleiben wir zusammen, okay? Wenn er dich will, muss er mich nehmen“, fügte John hinzu.

„Hör mal, bevor du vorhin weggefahren bist, waren wir uns einig, dass …“

„Ich habe zugestimmt, mit dir darüber zu reden.“ Er musterte sie streng. „Aber ich habe meine Meinung geändert.“

„John, ich bin der Grund, warum das hier passiert ist.“

„Und ich bin der Grund, warum er dich nicht in die Hände kriegt“, erwiderte er angespannt.

„Er war bewaffnet. Er hätte dich …“ Weiter kam Hannah nicht.

„Hat er aber nicht.“

Sie musterte ihre verschränkten Finger, die in ihrem Schoß lagen. „Ich habe dein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Das wollte ich nicht.“

„Ich beschwere mich nicht. Verdammt, ich bin in die Sache involviert, weil ich es sein will!“ John erwähnte nicht, dass er es nicht ertragen würde, sollte ihr etwas zustoßen. Außerdem spürte er noch immer die rasiermesserscharfe Angst, die durch seinen Magen schnitt. Er würde niemals die Panik in Hannahs Blick vergessen, als sie durch das Dunkel auf seinen Jeep zugelaufen war. Und nicht den Kälteschock in seinem Herzen bei dem Gedanken daran, dass eine Kugel ihr Ziel finden könnte.

Verstört blickte er sie an. Hannah zitterte am ganzen Körper. Ihr Gesicht war so blass, dass sie im Mondlicht, das durch das Fenster fiel, wie ein Gespenst aussah. „Fühlst du dich stabil genug, um mir zu erzählen, was passiert ist?“

Sie nickte. „Ich bin auf dem Sofa eingeschlafen. Als ich wieder aufgewacht bin, waren alle Lichter aus. Ich dachte, eine Sicherung wäre durchgebrannt, also habe ich versucht, dich anzurufen. Aber als ich den Hörer abnahm, war die Leitung tot. Ich hörte, wie Honeybear knurrte, und dann splitterte schon das Glas.“

Der Drang, zu beschützen, was ihm gehörte, und das waren diese Frau, sein Hund und sein Zuhause, ließ ihn vor Zorn erbeben. „Dieser Mistkerl!“

„Das hier hat nichts mit dir zu tun, John.“

„Doch, jetzt schon.“

„Er wird sich von dir nicht aufhalten lassen.“ Tränen glitzerten in Hannahs Augen. „Er wird nicht zulassen, dass du dich ihm in den Weg stellst.“

Die Tatsache, dass sie es wusste, ließ ihn aufhorchen. „Woher weißt du das?“

Sie riss ihre Augen auf. „Ich, ich bin mir nicht sicher.“

„Hat der Überfall heute Abend neue Erinnerungen geweckt?“

„Ich kenne ihn“, flüsterte sie.

Johns Nackenhaare richteten sich auf. „Wer ist er?“

„Ich weiß nicht, wie er heißt, aber er ist mir vertraut.“

„Wie vertraut?“

„Auch das weiß ich nicht so genau.“

„Weißt du, warum er hinter dir her ist?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Woran erinnerst du dich noch?“

„Es ist derselbe Mann wie in meinen Albträumen.“

„Hast du sein Gesicht gesehen?“

„Ich habe nur seine Silhouette gesehen.“ Sie massierte ihre Schläfen. „Die Erinnerung …“, sie atmete schwer, „sie ist zum Greifen nahe. Das macht mich fast verrückt. Ich kann das nicht mehr, John. Ich muss wissen, wer ich bin. Ich will diesen Psychiater treffen, den Dr. Morgan empfohlen hat.“

„Wir rufen ihn gleich morgen als Erstes an, okay?“

Sie nickte. „Es tut mir leid, dass ich dich da hineingezogen habe. Ich meine, du kennst mich nicht einmal. Du weißt nicht, was für ein Mensch ich bin.“

„Ich weiß genau, was für ein Mensch du bist.“ Er setzte sich neben sie aufs Sofa und versuchte, nicht über die Ironie ihrer Worte nachzudenken. John wusste genau, was für ein Mensch Hannah war. Und deshalb fragte er sich, wie diese gütige, mitfühlende Frau, an der ihm inzwischen so viel lag, reagieren würde, wenn sie die Wahrheit über ihn erfuhr.