Achtes Kapitel

Am nächsten Morgen waren Éanna und ihre Freunde schon früh auf den Beinen, denn sie konnten es kaum erwarten, endlich Nathan Palmer zu treffen und alle wichtigen Auskünfte über die bevorstehende Reise zu erhalten.

Nach einer schnellen Wäsche gönnten sie sich in einer Garküche einen Becher mit schwarzem Kaffee und eine dicke Scheibe Brot, die ihnen der Straßenkoch mit gerösteten Speckstreifen belegte. Gestärkt von ihrem Frühstück machten sie sich dann auf die Suche nach dem Treckführer, dessen Zeitungsanzeige ihnen vor Monaten zufällig in die Hände gefallen war.

Zunächst waren sie ratlos, wo in dieser vor Geschäftigkeit wimmelnden Stadt sie beginnen sollten. Die meisten Menschen waren wie sie auf der Durchreise und kannten sich kaum besser aus. Doch die Freunde hatten Glück. Schon nach kurzer Zeit stießen sie auf jemanden, der mit dem Namen etwas anzufangen wusste. Er wies ihnen den Weg zu Nathan Palmers altem Armeezelt, das er am Rande von Independence auf freiem Feld aufgeschlagen hatte.

Allerdings waren sie nicht die Ersten, die sich hier einfanden. Dutzende aufgeregte Menschen drängten sich in dem Zelt, um Erkundigungen über den Wagenzug einzuholen und sich in die Liste der Teilnehmer einzuschreiben. Obwohl das Armeezelt einst Schlafplätze für zehn, vielleicht auch zwölf Soldaten geboten hatte, ging es darin sehr eng zu. Das lag nicht nur an den vielen Neugierigen, sondern auch daran, dass der Innenraum mit mehreren Kisten, einem riesigen Fernrohr, einem offenen Kasten mit langen Papierrollen sowie einem großen Feldtisch vollgestellt war. Hinter diesem Tisch saß Nathan Palmer und antwortete auf die Fragen, die ihm von den Männern und Frauen gestellt wurden. Vor ihm lagen ein dickes Kassenbuch und daneben mehrere Stapel mit Handzetteln, die er hatte drucken lassen.

Der einstige Landvermesser mochte etwa fünfzig Jahre alt sein und war eine imposante Erscheinung. Er war von kräftiger, breitschultriger Statur und sein kantiges Gesicht wurde von einem drei Finger breiten rostbraunen Backenbart eingefasst, der beidseitig bis ans Kinn hinunterreichte. Gekleidet war er in einen alten blauen Soldatenrock mit stumpfen Messingknöpfen, von dem die Regiments- und Rangabzeichen entfernt worden waren. Auf dem Kopf saß eine Kappe mit schwarzem Schirm, die ebenfalls aus Armeebeständen stammte.

Éanna und ihre Gefährten schoben sich so nah wie möglich zu ihm an den Tisch, um mitzuhören, was ihr vermutlicher Anführer gerade zwei Familien mitteilte.

»Ja, zehn Dollar für jeden Erwachsenen, der an meinem Wagenzug teilnimmt, und für Kinder bis zehn die Hälfte«, hörten sie ihn sagen.

»Das ist nicht wenig«, sagte ein Mann verdrossen.

»Aber es sind zehn Dollar, die gut angelegt sind!«, versicherte Nathan Palmer.

»Und was ist mit Eurem Scout? Wird für den auch noch eine Entlohnung fällig?«

»Genau, und wieso ist so ein Scout überhaupt nötig, wo Ihr die Strecke doch kennt, wenn wir Euch recht verstanden haben?«, wollte eine der Frauen wissen und fuhr besorgt fort: »Ist es wegen der Indianer?«

»Nein, ganz und gar nicht, gute Frau«, beteuerte Nathan Palmer und schmunzelte nachsichtig. »Von den Rothäuten entlang des Trails geht so gut wie keine Gefahr aus, da habt Ihr mein Wort! Schon gar nicht, wenn Ihr in einem so großen Wagenzug reist, wie ich ihn zusammenstelle. Diese haarsträubenden Geschichten von Überfällen, Entführungen weißer Frauen und grässlichen Torturen am Marterpfahl sind reine Erfindung! Diese Schauermärchen denken sich irgendwelche Schreiberlinge aus, um ihre Heftchenromane besser verkaufen zu können. Die meisten von ihnen haben noch nie einen Indianer zu Gesicht bekommen!«

»Das ist beruhigend zu hören, Mister Palmer«, sagte die Frau erleichtert.

»Und natürlich ist die Entlohnung für den Scout schon in den zehn Dollar enthalten. Mit Mister Jeremiah Fennmore«, fuhr Nathan Palmer fort, »habe ich einen erfahrenen Mann für unseren Treck gewinnen können. Er wird vorausreiten und das Gelände sondieren sowie die Jagdtruppen anführen, die wir regelmäßig ausschicken werden, um unseren Speisezettel etwas abwechslungsreicher zu gestalten. Jeremiah Fennmore hat lange als Pelzjäger gearbeitet und viele Jahre als Mountain Man in der Wildnis verbracht. Das wird uns allen zugutekommen.«

Die Männer vor Éanna nickten sich zu, sichtlich angetan von der Gewissenhaftigkeit und Umsicht, mit der Nathan Palmer seinen Wagentreck organisierte.

»Was genau werden wir für die Reise brauchen?«, erkundigte sich nun ein anderer. »Und wie lange werden wir Eurer Erfahrung nach unterwegs sein?«

»Mit vier bis fünf Monaten solltet Ihr schon rechnen«, antwortete Palmer. »Man kann die Strecke auch in kürzerer Zeit bewältigen, wenn man Maultiere hat, doch die kann sich kaum einer leisten. Viel hängt außerdem vom Wetter ab und wie oft wir pausieren müssen, um gebrochene Achsen oder Wagenräder zu reparieren. Und beim Überqueren von Flüssen kann es ebenfalls zu Verzögerungen kommen. Man weiß im Voraus also nie, wie lange man für den Trail nach Westen braucht. Gut viereinhalb Monate sind aber in jedem Fall ein gutes Mittel, an das Ihr Euch halten könnt.«

Wieder nickten sich die Männer zu. Denn das war die Auskunft, die sie auch schon von anderen erhalten hatten.

»Und was die notwendige Ausrüstung und den Proviant betrifft, so ist die Liste zu lang, um all diese Dinge jetzt aufzuzählen«, ging Nathan Palmer auf die zweite Frage ein. »Aber das ist auch nicht nötig, denn ich habe eine genaue Auflistung vom Allernotwendigsten drucken lassen. Also nehmt Euch von jedem Stoß ein Blatt. Auf den Zetteln ist alles aufgeführt, was Ihr wissen und mit auf den Treck bringen müsst.«

»Das wird uns bei den Besorgungen eine große Hilfe sein«, sagte die Frau, die sich wegen der Indianer Sorgen gemacht hatte.

»Aber überlegt nicht zu lange, ob Ihr an meinem Wagenzug teilnehmen wollt«, mahnte der Treckführer. »Schon mehr als vierzig Personen haben sich angemeldet und ihre Gebühr entrichtet. Wenn ich vierzig Wagen mit mindestens vierzig erwachsenen Männern zusammenhabe, nehme ich keine weiteren Teilnehmer mehr an. Ein zu großer Wagenzug bringt nämlich ebenso viele Probleme mit sich wie ein zu kleiner!«

»Und wann, glaubt Ihr, werdet Ihr losziehen?«

»Frühestens in einer guten Woche, möglicherweise auch noch ein paar Tage später«, sagte Nathan Palmer. »Auf der Prärie hat es in letzter Zeit viel geregnet. Das ist zwar gut für den Graswuchs, macht aber den Boden weich und lässt die Flüsse und Bäche anschwellen. Beides erschwert unser Fortkommen. Genaueres weiß ich aber erst, wenn Jeremiah Fennmore wieder hier ist. Er sieht sich gerade dort draußen um und dürfte in wenigen Tagen zurück sein, um einen Lagebericht abzugeben.«

Die beiden Familien beschlossen, sich auf der Stelle bei ihm anzumelden und die zehn Dollar Gebühr für sich und jedes ihrer älteren Kinder zu entrichten. Der Eintrag der einzelnen Namen in das Kassenbuch sowie das Ausstellen von acht Quittungen dauerten einige Zeit.

Éanna und ihre Freunde nutzten diese Minuten, um rasch zu besprechen, ob sie sich ebenfalls sofort bei Nathan Palmer einschreiben und ihre zehn Dollar zahlen wollten. Sie brauchten nicht lange, um sich zu entscheiden. Alle waren dafür, es nicht auf die lange Bank zu schieben, sondern sich jetzt gleich einen Platz in Palmers Wagenzug zu sichern. Dass gerade wieder drei andere Interessierte hinter ihnen ins Zelt traten, machte ihnen den Entschluss leicht.

So setzten sie wenig später ebenfalls ihre Unterschriften ins Kassenbuch, zählten vierzig Dollar auf den Tisch, ließen sich ihre Belege ausstellen und nahmen von jedem Stoß vier Blätter. Darauf waren allgemeine Informationen sowie Listen mit der wichtigsten Ausrüstung und dem nötigen Proviant gedruckt. Wie sie den fetten Überschriften entnahmen, durften sie sich von nun an Overlander nennen, denn so hießen die Teilnehmer eines Wagentrecks nach Oregon oder Kalifornien.

Draußen vor dem Zelt umarmten sie sich freudestrahlend und gratulierten sich gegenseitig, den letzten entscheidenden Schritt getan und sich bei Nathan Palmer eingeschrieben zu haben.

Gedämpft wurde ihre Freude allerdings, als sie sich abseits vom Zelt auf die Kante eines Wassertroges setzten und die Listen studierten.

»Um Himmels willen«, stöhnte Éanna. »Hört euch mal an, was wir alles kaufen müssen: 50 Pfund Getreidemehl, 50 Pfund Maismehl, 50 Pfund Cracker, Zwieback oder Schwarzbrot, 50 Pfund Schinken, 25 Pfund Speck, 10 Pfund Butter, 5 Pfund Dörrfleisch, 20 Pfund Kaffee, 30 Pfund Zucker, 5 Pfund Reis, 5 Pfund Bohnen, 5 Pfund Käse und noch einiges mehr.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Und das sind die Rationen für eine einzige Person, angeblich das äußerste Minimum, was man für die Reise haben muss!«

»Heiliges Kanonenrohr, das müssen ja mehrere Hundert Pfund Proviant pro Kopf sein!«, stieß Brendan ungläubig hervor.

»Es sind genau 280 Pfund«, sagte Éanna, denn die Gesamtsumme war unter dem Strich angegeben. »Davon könnte man in Irland ein ganzes Dorf monatelang durchbringen.«

Emily nickte. »Ich fürchte fast, unser Geld reicht nicht für alles, was auf dieser Liste steht. Wir werden wohl oder übel auf einiges davon verzichten müssen.«

»Das wird wohl nötig sein«, meinte Liam, der sich das Blatt vorgenommen hatte, auf dem die empfohlene Ausrüstung aufgeführt war. »Diese Liste hier ist auch nicht ohne.« Und dann begann er vorzulesen, was jeder Overlander in seinem persönlichen Gepäck mitführen sollte: »2 blaue oder rote Oberhemden aus Flanell, vorn offen und mit Knöpfen, 2 wollene Unterhemden, 2 Paar dick wollene Unterhosen, 4 Paar Wollsocken, 2 Paar Baumwollsocken, 4 farbige Taschentücher, 2 Paar feste Schuhe oder 1 Paar Stiefel, 3 Handtücher, 1 wetterfester Poncho, 1 breitkrempiger Hut aus weichem Filz, 1 Kamm und 1 Bürste, 2 Zahnbürsten, 1 Pfund ergiebiger Seife, 3 Pfund Seife für Kleiderwäsche, 1 Gürtelmesser, 1 Wetzstein zum Schärfen, einen reichlichen Vorrat an Nadel und Flick. . .«

»Genug, Liam«, fiel Brendan ihm ins Wort. »Mein Gott, diese Listen nehmen ja überhaupt kein Ende. Mir wird ganz schwindelig, wenn ich daran denke, was das wohl kosten wird!«

»Und hier ist auch noch eine dritte Liste mit all den Dingen, die zum Wagen gehören: Zugtiere, Ersatzachsen, Werkzeug, Seile, regenfeste Zeltplanen, Zaumzeug, Joche für Ochsen und so weiter und so weiter«, sagte Emily sichtlich bestürzt.

»Ganz abgesehen davon, dass unser Geld niemals für all das Zeug reichen wird: Es wird eine höllische Arbeit sein, mit diesen Listen durch die Stadt zu ziehen, überall die Preise zu vergleichen und dann zu entscheiden, was wir uns leisten können«, seufzte Brendan.

»Gott sei Dank, dass wir dafür noch mindestens eine Woche Zeit haben«, meinte Éanna. »Zum Glück waren wir früher hier als geplant. Die Tage können wir wirklich gut gebrauchen. Genauso wie das Geld, das wir bei den Übernachtungen gespart haben!«

Brendan warf ihr einen zerknirschten Seitenblick zu. Éanna sah ihm an, dass er zwar mit ihrer Unterkunft nicht ganz zufrieden war, dass er inzwischen jedoch einsah, dass sie keinen einzigen Cent vergeuden durften.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die vier entschlossen hatten, wie sie vorgehen sollten, um sich über die günstigsten Preise in der Stadt zu informieren und sich umzuhören, wo sie die besten Wagen und Tiere erstehen konnten. Schließlich kamen sie überein, dass jedes Paar sich eine Liste vorknöpfen sollte. Emily und Liam übernahmen die Liste mit dem Proviant, während sich Éanna und Brendan um den Wagen, das Gespann und alles andere kümmern sollten. Sie hatten sich darauf geeinigt, die Liste mit der persönlichen Ausrüstung zunächst außer Acht zu lassen, denn hier sahen sie die besten Möglichkeiten, Geld zu sparen. Deshalb wollten sie sich erst um Bekleidung und Hygieneartikel kümmern, wenn sie alles andere beisammen hatten. Und damit würden sie erst einmal mehr als genug zu tun haben.

»Also dann«, sagte Éanna trocken, als sie mit Brendan loszog, »suchen wir uns einen Prärieschoner, der so gut wie nichts kostet und uns dennoch sicher nach Westen bringt!«