Viertes Kapitel
Zur selben Stunde, als Patrick mit neuer Hoffnung an den Lippen seines Schiffskameraden hing, tastete Éanna nach dem kleinen Anhänger, den sie an einem dünnen schwarzen Lederband um den Hals trug. Es war eine ovale Kamee, etwas größer als ein Silberdollar, die Patrick ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Aus dem cremeweißen Material trat in unglaublich feiner Schnitzarbeit das Bild eines vierblättrigen Kleeblattes, umrankt von winzigen Rosenknospen, hervor. Vorsichtig umfasste Éanna das Schmuckstück und drückte es an ihre Brust.
Gleichzeitig hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass Patrick sich noch immer in ihre Gedanken schlich. Das durfte sie nicht zulassen, ihr Herz und ihre Zukunft gehörten Brendan!
»Du musst ihn endlich vergessen«, flüsterte sie tonlos und nahm ihre Hand von der Kamee. Es war doch nichts weiter als ein sentimentales Erinnerungsstück an ein endgültig abgeschlossenes Kapitel ihrer Vergangenheit.
Noch dazu ein Kapitel, das mit einer bitteren Enttäuschung geendet hatte.
Denn Patrick hatte es getan. Patrick hatte sie vergessen.
Er hatte nicht auf ihren Brief reagiert. Und auch an der Pier war er nicht erschienen, um Abschied von ihr zu nehmen. Es war dumm von ihr gewesen, darüber enttäuscht zu sein. Patrick wusste, dass sie sich für Brendan entschieden hatte und dass sie von nun an getrennte Wege gehen würden.
Und doch, es war ein wundervolles Gefühl gewesen, seine Zuneigung gewonnen und eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt zu haben.
Nie in ihrem Leben würde sie vergessen, was sie ihm verdankten. Ohne seine Hilfe wären sie jetzt nicht mit mehr als siebenhundert Dollar in ihrer Reisekasse auf dem Weg nach Independence. Wahrscheinlich würden sie sich noch immer als Tagelöhner und Dienstmädchen in New York durchschlagen und sich Sorgen um ihr tägliches Brot machen.
Éanna drehte sich auf die Seite. Sie musste endlich aufhören, über ihn nachzugrübeln! Morgen wartete ein weiterer anstrengender Tag auf sie und sie würde völlig zerschlagen aufwachen, wenn sie nicht ein bisschen Schlaf fand.
Doch sie wälzte sich noch lange auf ihrem harten Lager hin und her, ehe ihre Augen zufielen. Sie hatte kaum geschlafen, als sie wieder aus wirren Träumen hochschreckte. Sie brauchte einen Moment, bis ihr einfiel, wo sie sich befand. Dann hörte sie das gleichmäßige Rattern der Schaufelräder und das leise Rauschen der Fluten entlang der Bordwand und wusste wieder, dass sie auf dem offenen Deck der Selkirk lag.
Éanna blickte in den weiten Himmel über sich. Die Sterne funkelten still herunter und nur noch wenige Wolkenfelder verdunkelten ihr Leuchten. An der hohen Position des Halbmondes sah sie, dass es kurz nach Mitternacht sein musste. Wahrscheinlich befand sich die Selkirk mittlerweile schon auf dem Missouri.
Erschöpft versuchte Éanna, zurück in den Schlaf zu finden, als sie ganz in ihrer Nähe ein merkwürdig schabendes, metallisches Geräusch wahrnahm. Es kam aus der Richtung, in der Emily und Liam lagen, und klang so ähnlich wie ihr Messer, wenn sie es aus seiner verbeulten und rostigen Blechscheide zog.
Éanna schüttelte den Kopf. Sie musste wirklich völlig übermüdet sein, wenn sie sich schon solchen Unsinn einbildete. Wer sollte denn noch zu dieser nächtlichen Stunde sein Messer ziehen! Vermutlich waren Emily oder Liam im Schlaf mit der Fußschnalle gegen eine der Truhen oder Kisten gestoßen.
Warum sie sich dennoch aufsetzte und zum Nachtlager ihrer beiden Freunde blickte, wusste sie später nicht mehr zu sagen. Doch hätte sie es nicht getan, hätte sie die schemenhafte Gestalt im dunklen Umhang und mit einem schwarzen Filzhut auf dem Kopf nicht gesehen, die nur zwei Schritte von ihr entfernt stand. Sie beugte sich gerade zu Emily hinunter und hielt tatsächlich ein Messer in der Hand!
Éanna war vor Schreck wie erstarrt und brauchte eine Sekunde, bis sie begriff, was vor sich ging. Mit der linken Hand hatte die Gestalt die Lederschnur des kleinen Brustbeutels ergriffen, den ihre Freundin unter der Kleidung trug, und mit der rechten setzte sie gerade die Messerklinge an, um die Schnur zu durchtrennen.
Jemand wollte Emily ausrauben!
»Nimm deine dreckigen Finger von dem Beutel«, stieß Éanna hervor und schleuderte die Decke von sich. Sie wollte aufspringen, um sich auf den Dieb zu stürzen und ihn festzuhalten, bis die anderen ihr zu Hilfe kamen. Ihre Füße verhedderten sich jedoch in der Decke und sie stürzte nach vorn auf einen Stoffballen. Zähneknirschend unterdrückte Éanna ein Fluchen, weil sie nicht laut genug gerufen hatte, um Brendan und Liam aufzuwecken. Noch im Stolpern sah sie, wie das Messer des Diebes durch die Lederschnur schnitt und er den Beutel an sich riss. Für einen flüchtigen Augenblick fiel Mondlicht auf das Gesicht des Schurken, doch mehr als eine krumme Nase, die unter dem tiefen Schatten der breiten Hutkrempe hervorschaute, enthüllte ihr der schwache Schein nicht. Und dann stürzte der Dieb auch schon mit wehendem Umhang davon.
»Verfluchter Halunke!«, schrie Éanna nun laut.
Überrascht fuhren Brendan, Emily und Liam aus dem Schlaf hoch.
»Was ist denn los?«, murmelte Brendan schläfrig.
Gleichzeitig erwachten auch die Passagiere in ihrer Umgebung. »Verdammt noch mal, was soll dieser Krawall mitten in der Nacht?«, grollte eine fremde Männerstimme verärgert hinter einer Reihe von Kisten.
»Jemand hat Emily den Brustbeutel geklaut«, rief Éanna. »Ich habe es genau gesehen! Da vorne läuft der Dreckskerl!«
Éanna achtete nicht auf die ärgerlichen Stimmen, die laut durcheinanderredeten und nun auch noch die tiefsten Schläfer weckten, sondern versuchte, den Dieb nicht aus den Augen zu verlieren. Indessen breitete sich das Stimmengewirr immer weiter auf der Selkirk aus.
Den Langfinger im Blick zu behalten, erwies sich als erheblich schwerer, als Éanna vermutet hatte. Das Gepäck der Passagiere sowie die vielen Frachtstücke, die sich überall auf dem Deck auftürmten, boten dem Täter im Dunkel der Nacht Schutz. Außerdem sprangen nun überall Menschen von ihren Lagern auf und blickten verwirrt um sich.
In diesem Durcheinander von schläfrigen Männern, Frauen und Kindern tauchte der Dieb unter. Éanna sah noch, wie er sich in der Nähe einer Treppe in eine Menschengruppe mischte und so tat, als würde auch er sich verstört nach dem Grund für die nächtliche Störung umsehen. Dann wich er rückwärts zurück und verschwand in der Menge.
Éanna erfüllte jetzt eine ähnlich flammende Wut, wie sie Brendan am Nachmittag gepackt hatte. Wie konnte jemand etwas so Abscheuliches tun! Arme Einwanderer auszurauben, die sich jeden Cent bitter vom Mund abgespart hatten, um das nötige Geld für einen Siedlertreck nach Westen zusammenzubekommen! Wie abgebrüht musste dieser Kerl sein, dass er so etwas tat! Éanna wollte hinüber zur Treppe stürzen, doch eine Menschengruppe versperrte ihr den Weg. Die Männer und Frauen redeten in einer fremden Sprache aufgeregt durcheinander.
»Lasst mich doch durch«, schrie sie, als sie den Dieb auf dem Oberdeck zu erkennen glaubte. »Da versucht ein Gauner zu flüchten!«
Verständnislose Blicke trafen sie.
Éanna gab die Erklärungsversuche auf und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Fast hatte sie den Aufgang zum Oberdeck erreicht, als ihr plötzlich ein erschrockenes Kleinkind in den Weg lief. Geistesgegenwärtig wich sie zur Seite aus, verlor dabei jedoch das Gleichgewicht und stürzte der Länge nach auf die Planken.
Bevor Éanna wusste, wie ihr geschah, spürte sie zwei kräftige Hände, die sich um ihre Taille legten und sie so mühelos hochhoben, als wäre sie leicht wie ein Sack Daunenfedern.
Aber es waren nicht Brendans Hände, die nach ihr gegriffen hatten. Sie blickte in das Gesicht eines jungen Manns, der nur wenig älter als Brendan und Liam sein konnte. Er hatte kräftige, markante Züge, eine strohblonde Haarmähne, einen kurz getrimmten Schnurrbart und strahlend himmelblaue Augen, die sie vergnügt anblitzten.
»Nur gemach, Miss! Decksplanken sind unsicherer Boden für uns Landratten.«
Verdattert blickte sie den Fremden an, der sie wie eine Puppe in der Luft hielt, sodass ihre Füße einige Handbreit über dem Boden schwebten. Dann stieß sie heftig atmend hervor: »Und während ich hier in der Luft zappele, entkommt der Dieb, der unseren Geldbeutel gestohlen hat!«, schnaubte sie.
»Aber Sie zappeln so zauberhaft«, gab der Mann unbeirrt zurück und blinzelte sie an.
Trotz ihrer Wut auf den Dieb musste Éanna sich zusammenreißen, um nicht mitzulachen. »Genauso zauberhaft sehe ich aus, wenn ich wieder sicheren Boden unter den Füßen habe«, konterte sie.
Der Blonde grinste anerkennend und setzte sie sanft ab. »Gewiss doch, fremde Schöne. Gestatten, Daniel Erickson, aus Schweden eingewandert und Euch stets gern zu Diensten, Miss«, sagte er schmunzelnd.
In diesem Moment bahnte sich Brendan hinter ihnen einen Weg durch die Menge, gefolgt von Emily und Liam.
»Was geht hier vor sich?«, stieß er aufgeregt hervor und starrte den Fremden, der Éanna gerade noch im Arm gehalten hatte, feindselig an. »Ist das der Dieb, Éanna? Hat er dir wehgetan?«
»Um Gottes willen, nein! Ich bin gestürzt und da hat er mir aufgeholfen«, antwortete Éanna schnell und war froh, dass Brendan den Wortwechsel mit Daniel Erickson nicht mitbekommen hatte. »Der Dieb ist irgendwo auf dem Kabinendeck verschwunden. Wahrscheinlich hat er sich längst in ein Versteck verkrochen!«
»Mach dir nichts draus«, sagte Emily und lächelte tapfer, obwohl ihr der Schock noch immer in den Knochen saß. »Zum Glück habe ich in dem Brustbeutel nur ein bisschen Kleingeld gehabt, bestimmt nicht mehr als sechzig oder siebzig Cent.«
»Das andere Geld haben wir woanders versteckt, wo so schnell keiner drankann«, raunte Liam ihr leise zu.
»Na und? Diebstahl bleibt es trotzdem! Und dafür gehört dieser Schuft bestraft.« Éanna war noch immer empört.
Brendan nickte. »Ja, du hast recht. Trotzdem können wir froh sein, dass nicht mehr gestohlen wurde. Das wird uns eine Lehre sein, demnächst noch besser …«
Brendan hatte noch nicht ausgesprochen, als vom Oberdeck eine laute Stimme erschrocken rief: »Um Gottes willen, da vorne brennt es! Das Feuer muss gleich hinter der Flussbiegung sein!«
Sofort war der nächtliche Diebstahl vergessen und alle stürzten an die Reling, um zu sehen, was es mit dem Feuer auf sich hatte. Mit jedem Augenblick gewann der rot flackernde Schein an Helligkeit.
»Da brennt ein Raddampfer. Wahrscheinlich sind die Kessel explodiert, weil sie zu stark eingeheizt haben«, kam die nüchterne Stimme eines Besatzungsmitglieds aus der Menge. »Würde mich nicht wundern, wenn es die Lewis & Clark oder die Gallant ist. Nicht das erste Wettrennen, das so endet. Und ganz sicher nicht das letzte!«
Es war die Lewis & Clark. Die Explosion hatte den Raddampfer in zwei Teile gerissen, die von der starken Strömung auf eine Sandbank nahe des Westufers getrieben worden waren. Die Überreste standen lichterloh in Flammen. Ein gutes Stück oberhalb hatte die Gallant am Ufer festgemacht.
Von dort rief man ihnen zu, dass sich das Unglück vor knapp einer Stunde ereignet hatte. Auf dem brennenden Wrack war kein Lebenszeichen mehr auszumachen. Die Mannschaft der Gallant hatte schon alle Überlebenden der Katastrophe geborgen und an Bord genommen.
Der Captain der Selkirk dachte offensichtlich keinen Augenblick daran, seine Fahrt zu unterbrechen und den Gestrandeten zu Hilfe zu kommen. Und auch auf die Mannschaft hatte der Unfall wenig Eindruck gemacht. »Tja, die Lewis & Clark war immerhin schon fast vier Jahre im Dienst. Wundert mich, dass die überhaupt so lange durchgehalten hat«, stellte einer der Flussschiffer ungerührt fest.
Ein anderer pflichtete ihm bei und fügte hinzu: »Viel länger hält sich hier nun mal kein Raddampfer. Hat bestimmt eine Menge Tote gegeben – das wird ein schöner Mief, wenn die in den nächsten Wochen ans Ufer gespült werden.«
Keiner von beiden schien das Entsetzen der Passagiere zu bemerken. Éanna lief ein kalter Schauer über den Rücken und sie war sicher, dass es Brendan, Emily und Liam nicht anders ging. Die Vorstellung, dass sie beinahe an Bord der Lewis & Clark gewesen wären, schnürte ihr die Kehle zu. Jetzt mussten sie dankbar sein, dass der Bootsmann ausgerechnet bei ihnen die Einschiffung jäh beendet hatte – und dass Brendans Wüten dafür gesorgt hatte, dass der Bursche sich nicht hatte erweichen lassen, sie doch noch mitzunehmen.