Fünftes Kapitel

Patrick O’Brien konnte es kaum abwarten. Aber es dauerte noch zwei Tage, bis sein Freund Samuel ihm endlich das ersehnte Signal zur Flucht gab.

Patrick hatte gerade helfen müssen, in schwindelerregender Höhe ein Segel auszuwechseln, und hatte noch ganz zittrige Knie. Er ließ einige Minuten verstreichen, bevor er sich scheinbar zufällig in die Nähe seines Freundes begab.

»Hast du etwas in Erfahrung bringen können?«, fragte er leise, während er sich einen guten Schritt von ihm entfernt auf die Reling lehnte. Einige Hundert Meter vor dem Schiff jagte ein Schwarm Seemöwen nach Fischen. Das war ein gutes Zeichen, denn gewöhnlich bedeutete das Auftauchen von Vögeln, dass die Küste nicht mehr allzu weit war.

»Ja, ich habe gute Nachrichten«, raunte Samuel. »Ich habe mich vorhin in der Nähe unseres Captain herumgetrieben, als er mit den Steuerleuten den Kurs für die Nacht besprochen hat.« Er machte eine kurze Pause. »Wir segeln heute schon den ganzen Tag parallel zur Küste. Das heißt, dass wir bald Cape Hatteras passieren werden. Wenn du noch immer türmen willst, dann muss es dort sein. Nur an dieser Stelle hast du eine Chance, das Ufer lebend zu erreichen.«

Patrick schluckte. Nun war es also so weit! »Und wann, glaubst du, werden wir dort vorbeifahren?«, drängte er.

Samuel warf einen kurzen Blick zum Himmel. »Nun, wenn der Wind nicht nachlässt, schon diese Nacht.«

»Und du bist sicher, dass wir nahe genug an die Inselgruppe vor der Küste herankommen?«

Samuel nickte verhalten. »Ich bin diese Route schon mehrfach mit der Sarah Lee gesegelt. Und jedes Mal ist Captain Kenworth ganz knapp an den Inseln vorübergesegelt. Warum sollte er ausgerechnet dieses Mal einen weiten Bogen um das Cape segeln? Nein, er wird auch diesmal bei seiner Route bleiben.« Er sah kurz zu Patrick hinüber. »Also, wenn diese Éanna es wirklich wert ist, dass du für sie dein Leben riskierst, dann halte dich heute Nacht bereit.«

»Das ist sie«, versicherte Patrick leidenschaftlich. »Ich würde alles tun, um sie endlich wiederzusehen!«

Samuel grinste. »Na, das kannst du jetzt beweisen. Wenn du Glück hast, erreichen wir das Cape rechtzeitig, dass du die letzte Stunde der Flut erwischst. Das würde es dir um vieles leichter machen. Aber selbst dann wirst du kämpfen müssen, um nicht mit den rettenden Inseln vor Augen elendig zu ersaufen.«

»Ich weiß deine Besorgnis wirklich zu schätzen, Samuel, und ich danke dir von Herzen.« Patrick legte dem Freund die Hand auf die Schulter. »Aber ich weiß auch, wofür ich mein Leben aufs Spiel setze. Und ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist, dass ich es bis an Land schaffen werde!«

Samuel schien eine Erwiderung auf den Lippen zu haben, doch er verkniff sich die Bemerkung und nickte nur.

»Ich hoffe, dir gelingt, was ich selbst nicht wage!«, wünschte er ihm.

Es fiel Patrick schwer, seine Anspannung zu verbergen und nicht ständig Ausschau nach ersten Anzeichen von Land zu halten. An Bord spielte sich das Leben auf so begrenztem Raum ab, dass man unter ständiger Beobachtung der übrigen Besatzungsmitglieder stand. Jeder war mit den Eigenheiten der anderen vertraut. Da brauchte es nicht viel, um durch ungewohntes Verhalten die Aufmerksamkeit oder den Argwohn der anderen auf sich zu lenken.

Doch gegen seine Nervosität konnte Patrick nichts tun. Es kam ihm so vor, als wollte die Sonne an diesem Abend einfach nicht hinter dem Horizont versinken. Beharrlich schien sie sich gegen die Dunkelheit zu stemmen und der heraufziehenden Nacht zu trotzen. Und nachdem sie endlich untergegangen war, schien ihm die Dämmerung endlos.

Als zu guter Letzt die Nacht ihr schwarzes Tuch über das Meer warf und der Sternenhimmel über ihnen funkelte, zwang Patrick sich dazu, sich unten in seine Koje zu legen. Er wusste, dass einige Stunden Ruhe ihm guttun würden. Aber der Schlaf wollte und wollte sich nicht einstellen. Unablässig kreisten seine Gedanken um die bevorstehende Flucht. Irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen würde er es wagen müssen, und obwohl er vor Samuel so zuversichtlich geklungen hatte, fragte er sich nun, ob er seine Fähigkeiten nicht überschätzte. Stürzte er sich in eine Gefahr, der er nicht gewachsen war?

Sogar wenn ihm die Flucht gelang und er die Küste von North Carolina erreichte, war er damit noch nicht gerettet. Er würde sich ohne einen Cent in der Tasche nach New York durchschlagen müssen, denn erst dort konnte er Geld von seinem Bankkonto abheben, um die nötige Ausrüstung für die Reise nach Westen zu kaufen. Hatte er überhaupt eine Chance, früh genug nach Independence zu kommen? Es würde ein irrwitziges Rennen gegen die Zeit werden!

Warum ließ er sich bloß darauf ein? Genügte es, dass er Éanna um jeden Preis nahe sein wollte?

Je länger er darüber nachgrübelte, desto verrückter und lächerlicher kam ihm sein Plan vor. Es war ja nicht so, als würde Éanna auf ihn warten. Hatte sie ihm denn nicht klar und unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie ihren Platz an der Seite von Brendan sah?

Was, zum Teufel, ließ ihn bloß glauben, ihre Liebe doch noch gewinnen zu können? War es der eine Kuss, den er ihr damals in Dublin gestohlen hatte und der so wundervoll gewesen war? Patrick war sich ihrer tiefen Zuneigung sicher – doch reichte das, um zu hoffen, dass sich ihre Freundschaft eines Tages in Liebe verwandeln würde?

Die Zweifel nagten in Patrick und ihm wurde übel. Verzweifelt sagte er sich, dass er die Flucht selbst dann wagen würde, wenn Éanna schon endgültig für ihn verloren wäre. Schließlich ging es um seine Freiheit!

Als Patrick endlich zum Dienst an Deck gerufen wurde, seufzte er erleichtert auf. Das leidige Warten hatte ein Ende! Als er die schmale Leiter zum Deck hochkletterte, richtete Samuel es so ein, dass er gleich hinter ihm aus der Luke stieg.

»Es wird noch ein paar Stunden dauern«, raunte er ihm zu, während er sich an ihm vorbeidrängte. »Überstürze nichts, sondern warte auf mein Zeichen!«

»In Ordnung«, flüsterte Patrick zurück. »Vielen Dank für alles! Und Gottes Segen, mein Freund.«

Das verabredete Zeichen kam später als gedacht. Erst im Morgengrauen, als sich im Osten die Schwärze der Nacht schon aufzuhellen begann, stellte sich Samuel an die Reling und klopfte vernehmlich die Asche aus dem Kopf seiner Maiskolbenpfeife. Er hatte die Küste von Cape Hatteras ausgemacht!

Patricks Herz begann zu jagen. Er zwang sich, noch einige Augenblicke seiner Arbeit nachzugehen. Dann jedoch ließ er das schadhafte Tau fallen, das er ausbessern sollte, stand auf und lief zügig über das Deck nach achtern.

»He, was soll das?«, polterte der Bootsmann gereizt. »Zurück an die Arbeit, Bursche! Ein bisschen flott, sonst setzt es was.«

»Fahr zum Teufel, verfluchter Schinder!«, schrie Patrick zurück, griff in die Seile und zog sich hinauf auf die Reling.

»Henderson! Mosley! Packt ihn! Schnell!«, brüllte der Bootsmann, als er begriff, was Patrick vorhatte. »Der Idiot will über Bord springen!«

Für einen kurzen Moment starrte Patrick nach Westen, wo sich die Küste von Cape Hatteras als schmaler schwarzer Strich vom Himmel abhob. Er versuchte, die Entfernung zu schätzen, doch ihm blieb nicht viel Zeit. Also stieß er sich mit aller Kraft von der Reling ab und sprang in die tintenschwarze See.

Er schlug hart auf dem Wasser auf und tauchte ein. Die Kälte war ein Schock. Ihm war, als bohrten sich Tausende Eisnadeln in seinen Körper. Voller Panik ruderte er mit den Armen, um wieder zur Oberfläche zu kommen, und als er sie endlich durchbrach und nach Atem ringend der Sarah Lee hinterherschaute, hatte sich das Schiff schon gute zwei Längen von seiner Position entfernt. Ihr Kurs sagte ihm, in welche Richtung er schwimmen musste, um die Inselgruppe zu erreichen. Denn vom Wasser aus war die schwache Küstenlinie nicht mehr auszumachen.

Vom Deck des Seglers ertönte wütendes Geschrei. Für einige bange Augenblicke fürchtete Patrick, der Captain könne den Befehl zum Beidrehen und Aussetzen eines Beibootes geben.

Zu seiner großen Erleichterung hielt die Sarah Lee jedoch ihren Kurs und wurde schnell zu einer schattenhaften, rasch kleiner werdenden Silhouette.

Patrick verschwendete nicht seine Kraft, ihr lange hinterherzublicken. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, sich der Wellenbewegung anzupassen und in einen gleichmäßigen Schwimmrhythmus zu finden. Er wusste, dass er nicht zu schnell schwimmen durfte, wenn er sich nicht schon lange vor dem Ziel verausgaben wollte. Seine Rettung lag in Beständigkeit und Ausdauer.

Patrick mochte eine gute Stunde geschwommen sein, als sich die ersten Ermüdungserscheinungen zeigten. Seine Züge waren weniger kraftvoll als zu Beginn und die Muskeln in Armen und Beinen begannen zu schmerzen. Die Sonne warf einen rotgoldenen Schein über das Meer und Patrick sah weit vor sich die Insel und die Umrisse von Bäumen. Aber die Strecke, die er noch zu bewältigen hatte, erschien ihm erschreckend weit.

Er drehte sich auf den Rücken und ließ sich eine Weile treiben, um neue Kraft zu schöpfen. Ob ihn die Flut dabei der Insel näher brachte, konnte er nicht beurteilen. Er hoffte es jedoch inständig.

Nach einigen Minuten zwang er sich zurück in die Brustlage und nahm den Kampf wieder auf. Er zählte seine Schwimmstöße, um sich vom Brennen in Armen, Beinen und Nacken abzulenken. Aber er musste immer mehr Willenskraft aufbringen, um gegen die Ermüdung anzukämpfen. Ihm war, als füllten sich seine Glieder mehr und mehr mit Blei, so schwer wurden sie ihm, und stechender Schmerz jagte ihm durch Lunge und Oberkörper.

Verzweiflung ergriff ihn. Der beklemmende Eindruck, dass die Insel einfach nicht näher kommen wollte und er sich vergeblich abplagte, wurde fast übermächtig. Es kostete ihn alle Kraft, der aufkeimenden Angst Widerstand zu leisten. Wie verführerisch war der Gedanke, sich auszuruhen und sich einfach in die Tiefe sinken zu lassen!

Doch immer wenn Patrick glaubte, das Ende seiner Kräfte erreicht zu haben und nicht mehr weiterschwimmen zu können, rebellierte der Überlebenswille gegen die Stimme, die ihn zur Aufgabe verlocken wollte. Wie in Trance schwamm er auf die Insel zu. Sein Körper war ein einziges Brennen und Stechen, jeder Muskel in ihm schien zu schreien. Patrick schloss gequält die Augen, doch er gab nicht auf.

Und dann plötzlich hörte er das Geräusch einer sanften Brandung. Er riss die Augen auf, hob den Kopf und sah das rettende Ufer keine zweihundert Yards vor sich.

Mit letzter Anstrengung erreichte er den Strand. Auf allen vieren kroch er aus dem Wasser und sackte entkräftet in den Sand. Er war zu keiner Bewegung mehr fähig, nur ein Schluchzen unsäglicher Erlösung drang aus seiner Kehle.

Später wusste Patrick nicht zu sagen, wie lange er dort gelegen hatte. Es konnte eine halbe Stunde, aber ebenso gut auch volle zwei Stunden gewesen sein. Er war so ausgelaugt, dass er in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung fiel.

Als er wieder erwachte, war es heller Tag. Das Stechen in seiner Brust war kaum mehr zu spüren und die Schmerzen in seinen Gliedern waren auf ein erträgliches Maß zurückgegangen. Für einige Minuten blieb er noch am Strand sitzen und blickte mit einer Mischung aus Staunen, Dankbarkeit und Stolz auf das im Sonnenlicht glitzernde Meer hinaus. Er hatte es tatsächlich geschafft, der Sarah Lee zu entkommen.

Dann rappelte er sich auf und suchte sich einen Weg hinüber auf die andere Seite der Insel. Dort ging er fast eine Stunde am Strand entlang, bis er endlich die Stelle gefunden hatte, von der aus die Entfernung von der Insel zum Festland am schmalsten war – und wo auf etwa halber Strecke ein anderes kleines Eiland aufragte. Bis zu diesem kleinen Flecken Sand und Buschwerk war es vermutlich nicht viel mehr als eine Meile. Doch als Patrick wieder ins Wasser hinauswatete, kam ihm die Strecke um ein Vielfaches länger vor. Am liebsten hätte er in aller Ruhe neue Kraft geschöpft. Doch dazu blieb ihm keine Zeit, wenn er Éanna vor dem Aufbruch ihres Siedlertrecks erreichen wollte.

Zu seiner großen Erleichterung ließen ihn seine Kraftreserven nicht im Stich. Und mit seinem Ziel, Éanna wiederzusehen, fest vor Augen, nahm er auch den zweiten Wasserarm in Angriff, der ihn jetzt noch vom Festland trennte.

Patrick war den Tränen nahe und dankte dem Herrgott auf Knien, als er das Ufer endlich erreicht hatte. Er war gerettet und wieder frei. Zwar lag noch immer ein langer Weg vor ihm, doch den gefährlichsten Teil hatte er bewältigt. Jetzt musste er sich nur noch durch das Marschland und den Wald dahinter bis zur nächsten Landstraße durchschlagen und dann einen Weg finden, um so schnell wie möglich zurück nach New York zu kommen. Mit ein wenig Glück müsste die Zeit reichen, um rechtzeitig in Independence einzutreffen.

Patrick lachte auf, als er sich bewusst wurde, was er da gerade gedacht hatte. »Von wegen nur«, murmelte er kopfschüttelnd und blickte an sich hinab. Sein Hemd war verschlissen und von Salzwasser ausgebleicht, seine Hose wurde in der Hüfte nur von einem Strick gehalten und seine Füße waren nackt und dreckig. Er sah aus wie ein gewöhnlicher Landstreicher.

Patrick zögerte kurz, doch was sollte er schon tun? Ergeben zuckte er die Achseln und ging dann mit energischen Schritten auf den Wald zu.