Fünfzehntes Kapitel

»Kommt, wir gehen hin und begrüßen ihn«, forderte Emily ihre Freunde auf.

»Den Teufel werde ich tun«, knurrte Brendan, drehte sich auf dem Absatz um und lief hastig zu ihrem Wagen zurück.

Liam seufzte. »Ich denke, ich gehe ihm besser nach und rede ihm gut zu. Mister O’Brien kann ich auch später noch begrüßen.«

»Eine gute Idee, Liam«, sagte Emily und fuhr erbost fort: »Richte ihm von mir aus, dass er sich nicht immer wie ein trotziges Kleinkind aufführen soll!«

»Ach, Emily …«, setzte Éanna abwehrend an.

Ihre Freundin ließ sie erst gar nicht ausreden. »Nichts ach Emily! Das muss ihm endlich mal jemand sagen!« Und an Liam gewandt fuhr sie fort: »Wenn er Éanna wirklich liebt, dann soll er nicht ständig so auf ihr herumtrampeln! Diese schwachsinnigen Eifersuchtsszenen sind ja nicht mehr auszuhalten!«

Verschreckt von so viel Entschlossenheit nickte Liam nur schnell und eilte Brendan hinterher.

»Das war wirklich nicht nötig, Emily«, sagte Éanna besänftigend. »Er wird sich schon wieder einkriegen.«

»Das reicht aber nicht! Er könnte einfach mal nachdenken, bevor er so einen Aufstand macht. Ich weiß doch, wie sehr er dir damit zusetzt. Ich an deiner Stelle hätte ihn längst in die Wüste geschickt.«

»Ich denke, das Thema hatten wir schon zur Genüge.«

»Ja, leider! Aber geändert hat sich immer noch nichts«, gab Emily prompt zurück. Doch nach einer kurzen Pause fügte sie versöhnlich hinzu: »Ich weiß, dass das ganz allein deine Sache ist. Aber ich kann es eben nicht ertragen, dich so unglücklich zu sehen.«

Éanna lächelte ihre Freundin dankbar an. Emily hatte ja recht. Ihr war durchaus bewusst, dass Brendan eifersüchtig auf Patrick war – und das nicht ganz zu Unrecht. Doch dass er es als völlig unmöglich abgetan hatte, dass Patrick hier auftauchen könnte, und bei seinem Anblick so weiß wie eine frisch gekalkte Wand geworden war, kam ihr äußerst merkwürdig vor. Aber dann schüttelte sie diese Gedanken ungeduldig aus ihrem Kopf. Sie wollte ihre Zeit jetzt nicht damit verschwenden. Viel zu groß war ihre Freude über Patricks unerwartetes Erscheinen!

Als Patrick sie Augenblicke später auf sich zukommen sah, strahlte er über das ganze Gesicht. »Éanna! … Emily!«, rief er freudig. »Und ich hatte schon Angst, ihr wärt mit einem anderen Treck losgezogen!«

»Der ganze Wagenzug hat nur auf Euer Eintreffen gewartet, Mister O’Brien«, gab Emily scherzhaft zurück. »Ihr habt Euch wirklich viel Zeit gelassen, um nach Independence zu kommen, das muss ich schon sagen. Und dass Ihr Éannas Bitte nicht nachgekommen seid, uns in New York ein würdiges Abschiedsgeleit zu geben, war ein rechter Wermutstropfen! Das sieht Euch eigentlich gar nicht ähnlich, wenn Ihr mir diese Bemerkung erlaubt.«

Éanna errötete unwillkürlich. »Emily, rede doch nicht so einen Unsinn! Mister O’Brien wird bestimmt seine Gründe gehabt haben.«

»Die hatte ich in der Tat«, bestätigte Patrick. »Und ich wollte damals auch keineswegs Abschied von euch nehmen, sondern mit euch zusammen nach Independence aufbrechen.«

»Und was ist Euch dazwischengekommen?«, fragte Emily, während Éanna mit ihren zwiespältigen Gefühlen kämpfte. Die Wiedersehensfreude sprengte ihr fast die Brust, doch gleichzeitig meldeten sich Gewissensbisse gegenüber Brendan.

»Oder ist die Frage zu indiskret?«

»Nein, ganz und gar nicht«, antwortete Patrick und verzog das Gesicht. »Zu dem Zeitpunkt, als ihr an Bord des Dampfers gegangen seid, war ich leider nicht mehr Herr über mein Schicksal, sondern befand mich in einer recht … nun ja, prekären Lage. Genau genommen befand ich mich an Bord eines Schiffes und mit ihm auf hoher See.«

»Ihr habt eine Schiffsreise unternommen?«, fragte Éanna verblüfft.

»Ja, aber alles andere als freiwillig, das könnt ihr mir glauben«, versicherte Patrick. »Man hat mich im Hafen betäubt und ungefragt auf den Segler gebracht.«

Éanna und Emily machten teils ungläubige, teils bestürzte Gesichter.

Er lachte. »Ja, es ist wirklich keine Räuberpistole, die ich euch da erzähle! Das kommt wohl häufiger vor, als man denkt, und zwar immer dann, wenn ein Captain kurz vor dem Auslaufen noch keine vollständige Besatzung zusammenhat. Und wenn es nach dem Captain meines Schiffes gegangen wäre, würde ich jetzt noch dort schuften. Dem Himmel sei Dank, dass ich noch rechtzeitig von Bord flüchten konnte, bevor es über den Atlantik ging!«

Éanna erschrak noch im Nachhinein. »Um Gottes willen! Aber wie seid Ihr denn nur in die Hände dieser Männer gefallen?«

Patrick zögerte kurz. »Ich bin auf einen heimtückischen Trick hereingefallen und sozusagen blind in einen Hinterhalt gelaufen«, sagte er ausweichend. »Aber es war meine eigene Dummheit. Ich hätte keinen Fuß in diese üble Hafentaverne setzen dürfen. Dann wäre mir in den letzten Wochen manch bittere Erfahrung erspart geblieben.«

»Und wie seid Ihr von diesem Schiff wieder entkommen?«, wollte Emily nun wissen.

»Das ist eine lange und recht abenteuerliche Geschichte, die ich euch bei Gelegenheit erzählen werde. Vielleicht sind Liam und Brendan ja auch daran interessiert, sie zu hören«, sagte er mit einem etwas spöttischen Unterton und sah Éanna dabei an.

»Bestimmt«, versicherte Éanna ahnungslos. »Aber sagt, habt Ihr denn schon alles besorgt, um morgen auf den Treck zu gehen? Ist das hier Euer Wagen?« Sie deutete auf den Prärieschoner, an dessen Heckleiste Patrick sein Pferd angebunden hatte.

»Nein, der gehört der Familie Seligmann, wie auch die anderen drei Wagen. Ich habe dafür einen großen Teil des Proviants bezahlt. Die Seligmanns sind Deutsche, die eine Zeit lang in Vermont gelebt haben und sich in Oregon mit einer Obstplantage selbstständig machen wollen«, berichtete er. »Ich habe mich ihnen angeschlossen, weil sie einen weiteren Mann für ihre Wagen gut gebrauchen können. Erika und Siegbert haben zwei jugendliche Söhne und eine zehnjährige Tochter und können eine weitere Arbeitskraft gut gebrauchen. Und ich kann ja schlecht ganz allein reisen. Mit diesem Arrangement ist ihnen wie mir geholfen.«

»Und dieser Mister Seligmann will mit all den Bäumen bis an die Westküste?«, fragte Emily ungläubig. »Das ist doch ein unmögliches Vorhaben!«

Patrick lachte. »Ja, ich habe ihn zuerst auch für verrückt erklärt. Aber dann hat er mich davon überzeugt, dass es gar nicht so abwegig ist, sondern dass sein Vorhaben sogar von großer Weitsicht zeugt. Bei seinen Bäumen handelt es sich um eine Vielzahl verschiedener Obstsorten, die es im Westen nicht gibt. Er verspricht sich davon ein gutes Geschäft, weil mit zunehmender Besiedlung der Gebiete auch die Nachfrage steigen wird. Jedenfalls ist Mister Seligmann fest davon überzeugt.«

»Vorausgesetzt, die jungen Bäume überstehen die lange Reise«, gab Emily mit skeptischer Miene zu bedenken. »Sie brauchen bestimmt viel Pflege und Wasser kann unterwegs knapp werden.«

Patrick nickte. »Das ist auch die größte Sorge der Seligmanns.«

»Nun, wir werden ja sehen, wie sich der rollende Wald der Seligmanns auf dem Treck hält«, sagte Emily. »Wir freuen uns jedenfalls, dass Ihr dem Schiff entkommen und noch rechtzeitig hier im Lager eingetroffen seid, um morgen mit uns auf den Treck zu gehen, Mister O’Brien.«

»Die Freude ist ganz meinerseits«, erwiderte Patrick und fuhr fort: »Aber du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du fortan auf das so schrecklich formelle Mister O’Brien verzichten würdest. Sonst wäre ich gezwungen, es dir gleichzutun und dich mit Miss Farrell anzureden. Und das käme mir sehr gestelzt vor, wo wir uns doch schon so lange kennen.«

»Nichts lieber als das, Mister …« Emily unterbrach sich lachend und beendete den Satz mit seinem Vornamen.

Patrick nickte zufrieden und sah nun Éanna an, als wollte er fragen: Und waren wir beide denn nicht auch schon längst über diese Förmlichkeit hinweg? Willst du es mir wirklich antun, mich wieder mit Mister O’Brien anzureden, als wären wir Fremde?

Éanna hatte bisher geschwiegen. Sie wusste, dass er ihre Freundin aus gutem Grund zuerst darum gebeten hatte, fortan seinen Vornamen zu benutzen. Denn nachdem Emily natürlich sofort darauf eingegangen war, konnte sie selbst nun unmöglich darauf beharren, weiterhin die formelle Anrede zu verwenden. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, so würde sie ihn liebend gerne Patrick nennen.

Deshalb gab sie schließlich mit einem verlegenen Lächeln nach. »Also gut, Patrick«, murmelte sie, und als er sie daraufhin mit einem strahlenden Lächeln anblickte, als hätte sie ihm ein kostbares Geschenk gemacht, ging ihr sein Blick durch und durch. Hastig schlug sie die Augen nieder.

Als sie kurz darauf mit Emily zu ihren Freunden zurückkehrte, wartete Brendan schon sichtlich unruhig auf sie.

»Na, was hatte der Herr Schriftsteller alles mitzuteilen?«, fragte er mit angespannter Miene.

Sie erzählten ihm, was Patrick berichtet hatte.

»Und? Sonst nichts?«, fragte Brendan argwöhnisch.

Verwundert sah Éanna ihn an. »Was heißt denn hier sonst nichts? Das ist doch wohl mehr als genug.«

Emily blickte in ungläubig an. »Du bist vielleicht ein Trampel, Brendan! Da erzählen wir dir, dass Patrick auf ein Schiff verschleppt worden ist und auf abenteuerliche Weise flüchten musste, und du hast nichts Besseres dazu zu sagen als ein herzloses ›Sonst nichts?‹!«

Brendan grinste betreten. »War gar nicht so herzlos gemeint, wie es geklungen hat. Ich dachte bloß, er hätte … er hätte euch noch ein paar mehr Einzelheiten über seine Entführung und die Zeit auf dem Schiff erzählt«, entschuldigte er seine merkwürdige Reaktion. Dabei blickte er nervös zu Boden und kratzte sich am Kopf.

»Nein, hat er nicht«, sagte Éanna. »Aber er hat uns versprochen, uns später auch noch den Rest der Geschichte zu erzählen. Ich bin wirklich gespannt, wie ihm die Flucht vom Schiff gelungen ist und was er sonst noch alles erlebt hat.«

Brendan nickte scheinbar zufrieden, wirkte jedoch in den nächsten Stunden ungewöhnlich in sich gekehrt, ja fast grüblerisch. Éanna schob es darauf, dass es ihn vermutlich ärgerte, dass Patrick nun doch mit auf den Treck ging. Immerhin würde er den Nebenbuhler jetzt monatelang in nächster Umgebung von Éanna dulden müssen. Aber sie dachte nicht daran, zu ihm zu gehen und ihn aufzumuntern. Das hatte sie in der Vergangenheit oft genug getan, damit musste nun Schluss sein. Er musste endlich begreifen, dass sie diese zermürbenden Spielchen nicht mehr mitmachte. Außerdem hatte sie ihm wahrlich keinen Grund gegeben, so eine miesepetrige Miene zu machen. Nein, diesmal würde nicht sie es sein, die sich um eine Versöhnung bemühte!