Epilog

Es war noch früh am Morgen, als Éanna erwachte. Patrick neben ihr lag noch in tiefem Schlaf. Sie spürte seinen ruhigen Atem auf ihrer Stirn und die Wärme seines Körpers, an den sie sich gekuschelt hatte. Über ihr leuchtete trotz allen Drecks die Plane des Prärieschoners hell im ersten Sonnenlicht.

Sie blieb noch eine Weile still an Patricks Seite liegen und dachte mit Staunen und Dankbarkeit darüber nach, dass sie nun endlich am Ende ihrer langen Reise angelangt waren. Ihr Weg hatte sie durch die Prärie, über Bergketten und auf manch wasserloser Strecke geführt, doch sie hatten nicht aufgegeben. Und jetzt hatten sie ihr Ziel erreicht. Am späten Abend waren sie am Willamette River eingetroffen und man hatte verabredet, am nächsten Morgen einmal nicht in aller Herrgottsfrühe aus Zelten und Wagen zu kriechen. Dies war ein Tag zum Atemholen und Feiern.

Es hatte auf der letzten Strecke von der Trailgabelung bis in dieses Tal in Oregon zwar noch viele Beschwernisse, aber gottlob keine tragischen Unfälle, geschweige denn Tote mehr gegeben. Das war ein kleines Wunder, wie auch die erstaunliche Tatsache, dass der Großteil von Siegbert Seligmanns rollender Baumschule den Trail in gutem Zustand überstanden hatte und nun darauf wartete, in die fruchtbare Erde Oregons verpflanzt zu werden und zu einer großen Obstplantage heranzuwachsen.

Doch sie hatten auch herbe Verluste hinnehmen müssen. Viele Ochsen hatten es nicht bis an die Westküste geschafft. Aber vier von ihren Missouri-Tieren sowie ihre Stute Maggie hatten, wenn auch reichlich abgemagert, die Strapazen überlebt und waren der Notschlachtung auf dem Trail entkommen. Die Ochsen und der Wagen würden Emily und Liam einen guten Start ermöglichen, während Patrick und sie nun Partner der Seligmanns werden würden. So war es zwischen ihnen abgemacht, und wenn sie sich erst einmal niedergelassen hatten und zur Ruhe gekommen waren, würden sie nebenher ihren eigenen kleinen Hof aufbauen und bewirtschaften.

Plötzlich erinnerte sich Éanna an Winstons Geschenk. Endlich durfte sie nachsehen, was sich in der alten Blechschachtel verbarg. Behutsam, um Patrick nicht aus dem Schlaf zu holen, schlug sie die Decke zurück und rückte vorsichtig von ihm ab. Sie widerstand der Versuchung, ihm einen Kuss auf die Brust zu hauchen. Noch immer kam es ihr wie ein Traum vor, dass sie sich gefunden hatten und dass man solch tiefes Glück empfinden konnte.

Éanna hatte die Blechschachtel schnell hervorgeholt. Sie kroch nach vorn zum Einstieg, löste die Schnüre der Plane, nahm sie etwas zur Seite und streifte dann das Schleifenband von der Schachtel. Als sie den Deckel aufklappte, fand sie darin einen klein gefalteten Papierbogen von Winston Talbot sowie ein schweres Päckchen, das ungefähr so lang wie ihr Zeigefinger war und in ein sauberes Taschentuch gewickelt war.

Im nächsten Augenblick hielt sie zu ihrer großen Verblüffung eine von Winstons stumpfgrauen, bleischweren Schachfiguren in der Hand. Es war die Dame. Sie fragte sich, was sie bloß damit anfangen sollte – und wie er nun fortan ohne diese wichtige Figur von seinem Schachspiel Gebrauch machen wollte.

Dann nahm sie den zweiseitigen, eng beschriebenen Brief zur Hand, den sie erst mehrfach auseinanderfalten musste, und begann zu lesen. Mit jeder Zeile wuchsen ihre Verwirrung und ihr Unglauben, denn Winston Talbot hatte ihr eine erstaunliche Nachricht hinterlassen:

Meine werte, mir wie eine liebevolle Tochter innig ans Herz gewachsene Éanna!

Ich hoffe inständig, dass Du nicht gar zu schlecht von mir denkst, wenn Du meine Zeilen gelesen hast, und Nachsicht mit mir und dem hast, was ich zu tun mich in St. Louis gezwungen sah. Du hast es nie glauben wollen, doch einiges von dem, was die Pinkertons am Chimney Rock über mich gesagt haben, entspricht der Wahrheit. Wir alle wissen jedoch, dass die Wahrheit oft ein Wesen mit zwei Gesichtern ist. Diese Männer haben dir und all den anderen nur eine Seite der Wahrheit beschrieben, und zwar eine höchst widerwärtige und abstoßende. Deshalb will ich Dir hier von der anderen berichten, die Dich in Deiner Empörung hoffentlich etwas besänftigt und zu einem milderen Urteil über mich bringt.

Es entsprach nicht den Tatsachen, als ich dir davon erzählte, dass ich die Bleigießerei meines Vaters eine Weile fortgeführt und danach als Handelsvertreter gearbeitet habe. Die bittere Wahrheit ist vielmehr, dass die Gießerei meines Vaters von einem Kompagnon der Eastern Bank of Industrial Commerce zielstrebig und skrupellos in den Konkurs getrieben wurde. Jener Mann besaß schon damals viele Fabriken dieser Art und sah meinen Vater als lästigen Konkurrenten. Und da dieser nicht an Verkauf dachte, machte er sich daran, ihn auszuschalten. Mein Vater hielt viel auf seine Ehre und er hat den Bankrott und die Tatsache, dass er seinen Gläubigern eine Menge Geld und seinen Arbeitern viel Lohn schuldig bleiben musste, nicht verkraftet. In seiner Verzweiflung sah er keinen anderen Ausweg, als der Schande durch Freitod zu entkommen. Auch meine Mutter, von heute auf morgen in bittere Armut gestürzt, zerbrach daran und folgte ihm nur wenige Jahre später ins Grab. Sie war gerade Anfang vierzig. Damals schwor ich mir, Vergeltung für dieses Verbrechen an meinen Eltern zu üben. Die einzige Möglichkeit, dies zu erreichen, schien mir darin zu liegen, eines Tages eine ausreichend hohe Position in ebendiesem Bankhaus innezuhaben. Für dieses Ziel habe ich lange verbissen gelernt und gearbeitet. Nach anderthalb Jahrzehnten bei anderen Bankhäusern bot sich mir schließlich die Chance, auf die ich so lange gewartet hatte, und ich wurde Angestellter der Bank, die meine Familie ruiniert hatte. Es folgten noch viele weitere Jahre scheinbarer Hingabe, in denen es mir gelang, das Vertrauen der Direktoren zu gewinnen und endlich zu einem der Prokuristen ernannt zu werden. Im April tat ich dann, was ich mir fast vierzig Jahre vorher zu tun geschworen hatte: Ich nahm exakt die Summe Geld, die ein regulärer Verkauf der Gießerei eingebracht hätte, plus vier Prozent jährliche Verzinsung aus dem Tresor. Es waren genau fünfundzwanzigtausenddreihundertelf Dollar. Ich versichere dir, dass niemand dadurch zu Schaden gekommen ist, ausgenommen die Teilhaber der Bank.

Mit diesem Geld flüchtete ich dann nach einem kurzen Aufenthalt beim einstigen Vorarbeiter meines Vaters auf den Trail nach Westen. Ich glaubte, dass man eine schmächtige Person wie mich, der zeit seines Lebens hinter einem Schreibpult gesessen und nie etwas Schwereres als eine Schreibfeder oder ein Rechnungsbuch in die Hände genommen hat, nie als Teilnehmer eines Aussiedlerzuges nach Westen vermuten würde. Ein Irrtum, wie sich herausgestellt hat, der mir jedoch zum Glück nicht zum Verhängnis geworden ist.

So, jetzt kennst du die vollständige Geschichte über den Verbrecher und Bankräuber Morton Hayes alias Winston Talbot oder wie immer er sich bald nennen wird.

Wie ich Dich schon anfangs bat, so tue ich es auch jetzt noch einmal: Bitte richte nicht zu hart über mich und das, was andere gemeinen Diebstahl nennen. Es war ein Schwur, den ich meinen seligen Eltern schuldig war und um jeden Preis, auch um den meiner Unbescholtenheit, einhalten musste.

Du wirst sicherlich verwundert sein, was es mit meinem merkwürdigen Geschenk auf sich hat, und Dich fragen, wieso ich diese Dame sozusagen opfere. Aber auch all die anderen Figuren werden bald nicht mehr existieren und ich bin gewiss, dass Du schnell auf den Kern ihres Geheimnisses stoßen wirst. Du wirst erkennen, dass der äußere Schein dieser Dame – so wie auch oft bei uns Menschen – trügt. Manchmal genügt schon ein ordentlicher Kratzer an der Hülle, um auf den wahren Kern zu stoßen. Möge die Dame Dir und Deinem Patrick zu einer wahrhaft goldenen Zukunft in Eurer neuen Heimat Oregon verhelfen!

In diesem Sinne sei von Herzen umarmt und möge der Allmächtige stets seine schützende Hand über Euch halten sowie Euch und Euren Kindern ein erfülltes Leben schenken!

Dein Dich in steter Erinnerung bewahrender Reisegefährte und Mann der vielen Namen

Éanna ahnte sogleich, was es mit dem Geheimnis der Dame auf sich haben konnte. Aufgeregt legte sie den Brief beiseite, griff zur Schachfigur und ritzte mit einer scharfen Kante der Schachtel die Bleihülle an. Unter der dünnen grauen Schicht trat sogleich ein goldener Schimmer hervor.

Die Dame bestand aus purem Gold!

Sie lachte leise auf. Kein Wunder, dass die Pinkertons keine dicken Geldbündel bei der Durchsuchung seiner Sachen gefunden hatten! Winston Talbot, beziehungsweise Morton Hayes, hatte dafür heimlich Goldmünzen gekauft, das geschmolzene Edelmetall zu Schachfiguren gegossen und sie mit einer dünnen Hülle Blei umgeben. Sie nahm an, dass ihm der einstige Vorarbeiter seines Vaters dabei geholfen hatte. Aber wie auch immer er es angestellt hatte, er hatte zweifellos viele Jahre Zeit gehabt, um sich seinen Plan in allen Einzelheiten auszudenken.

Nach allem, was Éanna aus seinem Brief erfahren hatte, dachte sie nun nicht schlechter über ihn als vorher. Was er getan hatte, mochte vor dem Gesetz Unrecht sein, aber Recht und Gerechtigkeit waren nicht immer dasselbe. Und deshalb hatte sie auch keine Gewissensbisse, sein Geschenk mit Dankbarkeit anzunehmen.

»Éanna?«, hörte sie im nächsten Augenblick Patricks schläfrige Stimme. »Ist es schon Zeit aufzustehen?«

»Nein, es ist noch still im Lager«, antwortete sie und legte schnell den Brief und die Dame aus Gold in die Schachtel zurück. Winstons Geständnis würde sie später im Kochfeuer verbrennen.

»Dann komm noch für eine Weile zu mir, mein Liebling!«

Sie schlüpfte zu Patrick unter die Decke, gab ihm einen zärtlichen Kuss und schmiegte sich an ihn. »Es wird schön hier in Oregon für uns werden, Patrick«, sagte sie verträumt. »Ich glaube, vor uns liegt eine richtig goldene Zukunft.«