Dreiunddreißigstes Kapitel

Einen guten Tag später lagen zwei breite Flöße am Ufer bereit und sie begannen mit dem Übersetzen der Wagen, was eine ebenso zeitraubende wie wackelige Angelegenheit war. Daniel und Patrick hatten es auf sich genommen, den Sweetwater mit ihren Pferden zu durchqueren und je ein Zugseil auf die andere Seite zu bringen. So konnten sie die Flöße mit beiden Ufern verbinden, um zu verhindern, dass sie außer Kontrolle gerieten.

Danach mussten sich ihre beiden Pferde kräftig ins Zeug legen, um das erste Floß über den Fluss zu ziehen. Eine Gruppe von Männern ließ dabei langsam das hintere Seil nach, damit das Floß nicht von der Strömung abgetrieben wurde. Als die ersten Ochsen, die angebunden neben dem Floß herschwammen, bei Patrick und Daniel angekommen waren, übernahmen nun sie die Arbeit als Zugtiere.

So ging es Wagen für Wagen langsam vorwärts. Es war schon spät geworden, als endlich der Prärieschoner von Éanna und ihren Freunden an der Reihe war, über den Fluss zu setzen. Nur noch fünf andere Wagen waren auf ihrer Seite des Sweetwater übrig geblieben und warteten ungeduldig darauf, an das andere Ufer gebracht zu werden, bevor die Sonne hinter den Bergen versank. Die Sorge dieser kleinen Gruppe, nicht mehr rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit über den Fluss zu kommen, und die daraus resultierende Hast waren wesentlich für das Unglück verantwortlich, das wenig später geschah.

Denn die Männer hinter ihnen ließen viel zu schnell das Seil nach, ohne dass die Zugtiere am gegenüberliegenden Ufer mit derselben Geschwindigkeit das Floß heranziehen konnten.

»Verdammt, haltet gefälligst das Seil straff!«, brüllte Brendan alarmiert, als sich das Floß mit seinem Heck plötzlich flussabwärts drehte.

Obwohl sie sich inzwischen gut auf der Mitte des Sweetwater befanden, wäre vermutlich nicht viel passiert, wenn sich das Floß nicht über den Rücken eines der Ochsen gelegt hätte, die angebunden neben dem Floß schwammen. Das Tier drohte darunterzugeraten und geriet in Panik. Brüllend warf es den mächtigen Schädel hoch und versuchte, sich zu befreien, wobei es dem schwankenden Gefährt einen heftigen Stoß versetzte.

Éanna hatte sich am Wagenkasten festgehalten, kippte bei dem unerwarteten Stoß, der das Floß ruckartig anhob, jedoch jäh nach hinten. Dabei rutschten ihre Stiefel auf den glitschigen Stämmen aus und sie verlor das Gleichgewicht.

Bevor sie wusste, wie ihr geschah, stürzte sie auch schon mit einem gellenden Aufschrei rücklings in die eisigen Fluten. Instinktiv streckte sie die Arme aus und versuchte noch, das hintere Ende des Floßes zu fassen zu bekommen, aber die Strömung war zu stark. Ihre Hände fanden keinen Halt und sie konnte nichts gegen die Fluten ausrichten, die sie fortrissen.

»Éanna ist über Bord gestürzt!«, schrie Emily entsetzt, während ihre Freundin wild im Wasser um sich schlug und sich an der Oberfläche zu halten versuchte. »Um Himmels willen, wir müssen sie retten! … Brendan! Liam! Mein Gott, so tut doch was!«

Entsetzte Schreie kamen von beiden Seiten des Flusses.

»Aber was denn? Ich kann nicht schwimmen!«, schrie Brendan hilflos zurück, der selbst um ein Haar den Halt auf dem Floß verloren hätte.

»Ich auch nicht«, kam es kläglich von Liam.

Jemand schrie: »Wir müssen ihr ein Seil zuwerfen!«

Auch Patrick hatte gesehen, wie Éanna vom Floß katapultiert worden war, und im ersten Moment des Schreckens war ihm das Herz stehen geblieben. Doch dann zögerte er keine Sekunde. Er beachtete den Ruf nach einem Seil gar nicht, denn er wusste, dass sie weder schnell genug einen Strick zur Hand haben noch Éanna damit rechtzeitig erreichen würden. So schnell er konnte, zerrte er sich die Stiefel von den Füßen und rannte dann am Ufer flussabwärts, um mit Éanna auf eine Höhe zu kommen. Erst dann würde er eine Chance haben, zu ihr schwimmen zu können. Im Laufen riss er sich seine Jacke vom Leib und warf sie hinter sich.

»Halt aus!«, schrie er Éanna vom Ufer aus zu und rannte, so schnell er konnte. »Versuch, ein bisschen näher ans Ufer zu kommen!«

Aber schon während er ihr diese Worte zurief, sah er, dass es ihr nicht gelingen würde. Die Strömung war einfach zu stark und sie konnte nicht schwimmen. Immer wieder tauchte sie unter und wenn ihr Kopf endlich wieder aus den schäumenden Fluten auftauchte, würgte sie Wasser hervor und rang verzweifelt nach Atem.

Patrick spürte überhaupt nicht, dass spitze Steine im Ufersand wie Messerspitzen durch seine Socken stießen und seine Fußsohlen blutig schrammten. Seine unsägliche Furcht, Éanna könne vor seinen Augen ertrinken, beherrschte alles in ihm und ließ weder Schmerz noch Angst um sein eigenes Leben zu. Er musste sie vor dem Devil’s Gate erreichen, sonst würde er sie nicht mehr fassen und an Land bringen können. Denn dort verengte sich das Flussbett und drängte die Wassermassen zusammen, sodass der Fluss noch reißender wurde. Und keiner wusste, ob in den dahinterliegenden Schluchten nicht Stromschnellen oder gar Wasserfälle lauerten, die für sie beide den Tod bedeuten konnten.

Als er Éanna um etwa zwanzig Schritte überholt hatte, wagte er den entscheidenden Sprung in den Fluss und hechtete aus dem Lauf heraus in die Fluten. Das Wasser schlug über ihm zusammen und ihm war, als hätte sich ein Eisblock um ihn geschlossen, der ihm den Brustkorb zusammendrückte. Die Kälte raubte ihm den Atem und schien ihn lähmen zu wollen. Mit aller Kraft wehrte er sich gegen die Macht des Wassers, tauchte auf und riss den Kopf in den Nacken. Mühsam kämpfte er gegen den eisigen Druck und pumpte neue Luft in seine Lungen.

Dann suchte er nach Éanna. Doch er hatte sich verschätzt. Die Strömung brachte sie nicht näher zu ihm, sondern hatte sie schon einige Körperlängen an ihm vorbeigetrieben. Wie einen Korken sah er ihren Kopf in den Wogen auf und ab tanzen.

»Gib nicht auf, Éanna!«, brüllte er und mobilisierte alle Kraft, um sie einzuholen. »Ich bin gleich bei dir! Halte durch!«

Die Angst um Éanna trieb Patrick an und ließ ihn die Kälte vergessen, die wie zahllose Dornen aus Eis bis in seine Knochen drang. Wenn er sich nicht beeilte, würde das eisige Wasser sie in kürzester Zeit lähmen und dann wäre nicht nur Éanna, sondern auch er verloren. Entsetzt sah er, dass Éannas Kräfte nachließen und sie immer länger untergetaucht blieb. Unerbittlich trieben die Fluten sie wie einen Spielball der Schlucht entgegen. Patrick nahm alle Kraft zusammen und schwamm keuchend auf sie zu.

Unzählige Schläge später hatte er sie endlich eingeholt, bekam sie an ihrer Bluse zu fassen und riss sie zu sich heran. Ihr Gesicht war von Todesangst verzerrt und nur mühsam röchelte sie nach Luft. Panisch klammerte sie sich an ihn und drückte sich mit verzweifelter Gewalt nach oben. Patrick drohte untergetaucht zu werden und schrie bestürzt: »Hör auf, Éanna! Halt dich an meiner Schulter fest!« Doch sie hörte ihn gar nicht, sondern krallte sich mit aller Kraft an ihn. Patrick sah keinen anderen Ausweg, als ihr eine kräftige Ohrfeige zu verpassen. Erst da kam Éanna wieder zu sich und er konnte sie endlich ans Ufer ziehen. Es kostete seine letzten Reserven, um sie beide der Gewalt der eisigen Strömung zu entreißen und in seichtes Uferwasser zu bringen. Sie hatten Glück, denn der Sweetwater vollführte vor ihnen einen weiten Bogen nach links, um eine knappe halbe Meile dahinter zwischen den schroff aufragenden Felsen des Devil’s Gate hindurchzuschießen. Die Biegung erleichterte es Patrick, an das rechte Ufer zu kommen, da die Strömung sie nun genau in diese Richtung trieb.

Patrick quälte sich dem rettenden Ufer entgegen, das zu einer mit hohen Sträuchern dicht bewachsenen Anhöhe anstieg. Ein letzter gewaltiger Kraftakt, dann stießen seine Füße endlich auf Grund. Er richtete sich auf, packte Éanna um die Hüfte und zog sie wie einen nassen Sack an Land, wo sie beide hustend und würgend zusammenbrachen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich einigermaßen erholt hatten und ihr Atem wieder etwas gleichmäßiger ging. »Oh Éanna! Musstest du erst in den Fluss stürzen, damit ich dir wieder nahe kommen durfte?«, versuchte er zu scherzen und zog sie in seine Arme. Zitternd versuchten sie, sich zu beruhigen und etwas aufzuwärmen. Die Sonne hatte zu dieser Abendstunde zwar immer noch beachtliche Kraft, konnte aber die Kälte, der sie ausgesetzt gewesen waren, so schnell nicht vertreiben. »Allmächtiger, was hast du mir für einen entsetzlichen Schrecken eingejagt! Ich bin vor Angst um dich tausend Tode gestorben.«

Éanna klammerte sich an ihn, als wollte sie ihn nie wieder loslassen, und stieß schluchzend Worte hervor, die keinen zusammenhängenden Satz ergaben. Die Todesgefahr, in der sie geschwebt hatte, die Anstrengung, mit der sie um ihr Leben gekämpft hatte, und die unsägliche Erlösung schienen zu viel gewesen zu sein. Patrick sah ihr an, dass sie nicht wusste, was sie ihm zuerst sagen sollte.

Schließlich unterbrach er ihr weinendes Gestammel und strich ihr zärtlich die nassen Strähnen aus dem Gesicht. »Lass es gut sein, Éanna. Du musst mir nichts erklären. Das Einzige, was ich mir von dir erhoffe, lässt sich in drei schlichten Worten ausdrücken. Aber ist dein Herz auch bereit dafür?«

Sie sah ihn an und Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie nickte. Es dauerte eine Weile, bis sie sprechen konnte, doch dann sagte sie schluchzend: »Ich liebe dich. … Ich liebe dich, Patrick, hörst du? Ich liebe dich schon so lange, dass ich gar nicht mehr weiß, wie es vorher war. Aber willst du mich denn überhaupt noch? Ich war so dumm … Ich hatte Angst, weil ich dachte, dass …«

Patrick schüttelte sanft den Kopf und legte einen Finger auf ihre Lippen. Auch er hatte Tränen in den Augen. »Natürlich will ich dich noch«, flüsterte er leise. »Nichts auf der Welt will ich mehr als dich.«

Ganz vorsichtig, als hätte er Angst, sie zu zerbrechen, nahm er ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. Ihre eiskalten Lippen berührten sich sachte und Patrick schloss fassungslos über sein Glück die Augen, als von jenseits der Anhöhe die lauten Rufe von Daniel und einigen anderen zu ihnen drangen. Schnell fuhren sie auseinander, als die Männer durch das Gebüsch brachen, und ließen sich zurück zu den Wagen bringen.

Doch nun, da sich auch Éanna endlich ihren Gefühlen geöffnet hatte, konnten sie sie nicht mehr in ihrem Innersten verschließen. Für den Rest des Tages blieben sie zusammen und immer wieder griff einer nach der Hand des anderen. Und abends am Lagerfeuer wagte Patrick es sogar, den Arm um Éanna zu legen und ihr einen Kuss aufs Haar zu drücken.

Emily stupste ihre Freundin an und flüsterte ihr ein verschmitztes »Na endlich!« ins Ohr. Sogar Brendan konnte sich dem offenkundigen Glück der beiden nicht verweigern. Ein frohes und dankbares Lächeln zog sich über Éannas Gesicht, als Brendan sie beiseitezog und leise zu ihr sagte: »Er hat dich wohl verdient, Éanna. Ich hoffe, du wirst mit ihm das Glück finden, das ich dir nicht geben konnte.«