Drittes Kapitel

Weit entfernt von Éanna auf ihrem Weg in den Westen schnitt der Zweimaster Sarah Lee vor der amerikanischen Ostküste mit windgeblähten Segeln und singendem Rigg durch die nachtschwarzen Wogen. Die See war ruhig und der Wind blies beständig aus Nordnordost.

Captain Kenworth hatte fast alles verfügbare Tuch setzen lassen, denn schon kurz nach dem Auslaufen aus dem Hafen von New York waren sie in einen schweren Sturm geraten, der sie gezwungen hatte, mühselig vor dem Wind zu kreuzen. Die beträchtliche Verzögerung wollte er nun unbedingt wieder wettmachen, damit die Fracht, die der Zweimaster an Bord genommen hatte, möglichst schnell den Händler in Savanna erreichte. Dort wartete auch schon eine ganze Schiffsladung Baumwolle darauf, von der Sarah Lee über den Ozean nach England gebracht zu werden.

Patrick saß zu dieser nächtlichen Stunde mit Samuel, einem baumlangen Schwarzen, auf dem Vorschiff des Zweimasters. In der kurzen Pause, die ihnen zwischen zwei Wachen zur Verfügung stand, gönnten sie sich eine Maiskolbenpfeife voll Tabak. Niemand vom Rest der Mannschaft hielt sich in ihrer Nähe auf, sodass sie keine Mithörer fürchten mussten.

Samuel war der Einzige an Bord, mit dem Patrick offen reden konnte. Denn sie teilten dasselbe Schicksal. Sie waren beide in einer Taverne im Hafen von New York betäubt und im Schutz der Dunkelheit an Bord des Schiffes gebracht worden. Schanghaien nannte man diese Methode, die in allen großen Häfen angewandt wurde, wenn ein Captain knapp an Seeleuten und skrupellos genug war, seine Mannschaft auf diese Weise zu vervollständigen.

Samuel war schon vor gut zweieinhalb Jahren an Kenworth verkauft worden und hatte sich offensichtlich mit seinem Los abgefunden. Patrick hingegen befand sich erst seit gut einer Woche in der Gewalt des Captains. Anders als Samuel war er jedoch nicht zufällig ein Opfer des Schanghaiens geworden. Das Flittchen Caitlin war schuld daran, dass er nun in dieser Lage war.

Sie hatte Patrick unter einem Vorwand in eine üble Hafentaverne gelockt und ihn mit Opiumbier betäubt. Patrick hatte keine Ahnung, weshalb Caitlin das getan hatte. Er hatte nie Streit mit ihr gehabt, geschweige denn ihr etwas Böses getan.

Und auch darüber, was danach geschehen war, konnte Patrick nur spekulieren. Wohl noch im Hinterhof der Taverne oder auf dem Weg zur Sarah Lee hatten ihn die Schurken ausgeraubt und ihm alles abgenommen, was von Wert gewesen war: den hellbraunen Überrock, seine rehfarbene Seidenweste, die goldene Kette mit der Taschenuhr, seine Seidenkrawatte, die weichen Stiefel und sogar den abknöpfbaren Hemdkragen. Nur Hemd und Hose hatten sie ihm gelassen und beiden Kleidungsstücken sah man nach dem tagelangen Sturm und dem vielen Seewasser, das sie immer wieder durchtränkt hatte, nicht mehr an, dass er sie erst vor Kurzem bei einem renommierten New Yorker Herrenausstatter erstanden hatte.

Als er mit dröhnendem Kopf aus seiner Betäubung erwacht war, hatte er sich jedenfalls an Bord der Sarah Lee wiedergefunden, die längst in New York abgelegt und sich bereits auf hoher See befunden hatte. Auf Patricks empörten Protest hin hatten die Seeleute nur dreckig gelacht. Als er allerdings darauf bestanden hatte, wieder an Land gebracht zu werden, hatte der Bootsmann nicht lange gezögert, ihn auf ein Gitterrost binden zu lassen und ihm eigenhändig mit der neunschwänzigen Peitsche ein Dutzend Hiebe zu verpassen. Damit hatte er klargestellt, dass Patrick von nun an zur Mannschaft gehörte und jedem Befehl von ihm und dem Captain unverzüglich Folge zu leisten hatte. Sogar jetzt, mehrere Tage nach der Auspeitschung, waren die Verletzungen kaum verheilt und schmerzten immer noch höllisch.

»Du hast also nicht nur studiert, sondern bist tatsächlich ein Schriftsteller und hast ein richtiges Buch geschrieben?«, fragte Samuel nun ungläubig. Patrick hatte ihm gerade ein wenig mehr von seinem bisherigen Leben erzählt.

Er nickte. »Ja, und endlich habe ich einen Verlag gefunden, der das Manuskript bald veröffentlichen wird«, bestätigte er stolz. »Aber ich weiß nicht, ob ich wirklich ein Schriftsteller bin. Noch kann ich nicht sagen, ob mehr als dieses eine Buch in mir steckt und mein Talent reicht, um darauf ein Leben aufzubauen.«

»Na ja, ein Leben auf See hat jedenfalls eine Menge Geschichten zu bieten, die du aufschreiben kannst!« Samuel grinste spöttisch.

»Ich habe aber nicht vor, so viel Zeit an Bord der Sarah Lee oder irgendeines anderen Schiffes zu verbringen, bis meine Erlebnisse ein zweites Buch ergeben«, wies Patrick den Vorschlag grimmig zurück.

Samuel lachte. »Wir werden sehen. Aber sag, wovon handelt dein Buch? Ist es eine spannende Abenteuergeschichte?«

»Nein, nicht wie das Seemannsgarn, das manche hier spinnen. Mein Buch erzählt eine wahre Geschichte, aber es ist deswegen nicht weniger aufregend. Es handelt von der entsetzlichen Hungersnot in meiner Heimat Irland, die schon über eine Million Tote gefordert hat. Es wird ›Der große Hunger‹ heißen und beschreibt die Leiden der Familie Sullivan«, erklärte Patrick. Tiefer Kummer schlich sich in seine Stimme, als er fortfuhr: »Die Sullivans gehörten zu den unzähligen armen Bauernfamilien, die bei der jahrelangen Kartoffelfäule alles verloren haben. Sie wurden gewaltsam von ihrem kargen Stück Land und aus ihrer kleinen Hütte vertrieben und bis auf eine Tochter, Éanna, sind alle elendig verhungert oder an Krankheit gestorben.«

»Und ausgerechnet in Éanna hast du dich verliebt«, sagte Samuel mitfühlend, der diesen Teil von Patricks Lebensgeschichte schon kannte.

Patrick nickte und dachte an den Tag zurück, als Éanna ihm zum ersten Mal begegnet war. In ihrer Not hatte sie versucht, ihm seinen Spazierstock mit dem silbernen Griffstück zu stehlen, um ihn bei einem Pfandleiher zu versetzen.

»Nie im Leben hätte ich mir das vorstellen können. Ich war damals ganz schön verwöhnt und habe blendend vom Geld meines reichen Onkels gelebt«, gestand er. »Und trotzdem habe ich schon bei unserer ersten Begegnung gespürt, dass Éanna etwas Besonderes ist. Und als wir uns dann jeden Sonntag getroffen haben und sie mir von ihrem Leben erzählt hat, ist sie mir immer mehr ans Herz gewachsen. Das waren die schönsten Stunden meines Lebens. Und jetzt hocke ich auf diesem verdammten Schiff, während sie mit diesem … mit ihren Freunden auf dem Weg nach Independence ist und schon bald mit einem Siedlertreck nach Westen zieht. Verflucht soll das Miststück Caitlin sein!«

»Besser, du gewöhnst dich langsam daran, dass du dem Seemannsleben so schnell nicht entkommen wirst«, sagte Samuel trocken und stopfte die Asche im Pfeifenkopf mit seinem schwieligen Daumen nach unten.

»Von wegen«, widersprach Patrick sofort. »Ich denke nicht daran! Bei der ersten Gelegenheit, die sich mir bietet, werde ich sehen, dass ich von Bord komme. Koste es, was es wolle!«

Samuel warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Da wirst du lange warten müssen, das kann ich dir sagen. Der Captain ist nicht auf den Kopf gefallen. Er weiß genau, dass du die ersten Monate den Gedanken an Flucht nicht aus dem Kopf kriegst. Deshalb wird er es mit dir genauso machen wie mit mir und allen anderen, die nicht freiwillig hier sind: Sobald wir einen Hafen anlaufen, wird er dich unten im Frachtraum einsperren und anketten und erst herauslassen, wenn wir wieder auf See sind. Finde dich lieber damit ab, dass du eine ganze Weile hier bleiben wirst. Das ist der beste Rat, den ich dir geben kann. Irgendwann gewöhnt man sich daran. So schlecht ist das Leben auf See gar nicht, wenn man erst seinen Platz gefunden und alle Handgriffe gelernt hat.«

Patrick schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Es muss doch einen Weg geben zu flüchten!«

»Ja, in ein paar Jahren vielleicht, in irgendeinem Hafen, in dem der Captain keine Probleme hat, Seeleute anzuheuern.«

»Ein paar Jahre?« Patrick lachte bitter auf. »Unmöglich, Samuel, so lange kann ich nicht warten. Ich muss so bald wie möglich von Bord kommen! Ich muss, verstehst du? Es darf einfach nicht sein, dass Flucht unmöglich ist. Irgendeine Möglichkeit muss es doch geben!«

Samuel schwieg eine Weile und zog nachdenklich an seiner Pfeife, während Patrick verzweifelt über das Meer in die Nacht starrte. Niedergeschlagen fuhr er sich mit der Hand über das schwarze, leicht gewellte Haar und vergrub sein Gesicht in den Händen.

»Meinst du es wirklich ernst?«, holte Samuel ihn plötzlich aus seinen dunklen Gedanken. Er blickte ihn eindringlich an. »Was bist du bereit zu riskieren?«

Patrick fuhr hoch. »Mein Leben, wenn es sein muss! Ich würde alles tun, um von hier wegzukommen. Alles!«

»Du bist eine stattliche Erscheinung, Patrick, außerdem jung und kräftig. Aber kannst du auch schwimmen?«, fuhr sein Gegenüber fort.

»Ja, natürlich.«

»Ich meine nicht nur ein bisschen herumpaddeln und planschen. Kannst du dich länger als ein paar Minuten über Wasser halten?«, bohrte Samuel nach.

»Und ob«, versicherte Patrick. Erst letzten Sommer hatte er manchmal Stunden im Wasser verbracht und seine Ausdauer im Schwimmen trainiert. »Sag bloß, du hast eine Idee, wie ich dem Captain und seinem Schiff entkommen könnte?«

Samuel zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Mag sein. Aber was mir da gerade durch den Kopf gegangen ist, kann dir den Tod bringen, wenn du nicht wirklich ein guter Schwimmer bist. Du wirst meilenweit schwimmen müssen.«

»Das kann ich«, bekräftigte Patrick aufgeregt. »Und nun erzähl schon, welche Idee dir gekommen ist!«

»Also, die Sache ist die«, begann Samuel zögerlich. »Normalerweise kann kaum ein Seemann schwimmen, weiß der Teufel, warum das so ist. Hier auf der Sarah Lee kenne ich jedenfalls nicht einen, der mehr kann als nur mühselig wie ein Hund im Wasser treten. Deshalb sperrt der Captain die Neuen auch erst immer dann weg, wenn wir schon in der Nähe des Hafens sind. Wenn du also so ein guter Schwimmer bist, wie du behauptest, ist das deine Chance. Du musst von Bord springen und ans Ufer schwimmen! Aber nicht kurz vorm Hafen, denn da wird dir der Captain sofort ein Beiboot nachschicken und dich im Handumdrehen wieder einfangen.«

»Wo dann?«, stieß Patrick aufgeregt hervor. Sein Herz raste nicht nur vor Hoffnung auf baldige Flucht, sondern auch vor Angst angesichts der Gefahr, in die er sich damit brachte. Wenn der Captain von seinem Vorhaben erfuhr, würde er sich sicherlich nicht wieder damit begnügen, ihm ein paar Peitschenhiebe zu verpassen. Ganz zu schweigen davon, was geschehen würde, wenn ihn im Meer die Kraft verließ!

Auch Samuel war sichtlich nervös. Vorsichtshalber blickte er sich noch einmal um, ob sich auch wirklich niemand in ihrer Nähe herumtrieb, der ihr Gespräch belauschen konnte. Erst dann begann er, Patrick leise zu erläutern, wann und wo seine Chancen auf Flucht am größten waren.