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Während Cooper an Tugs Heckklappe hing, sah er sich nach einer Stelle um, an der er unbemerkt abspringen konnte. Dabei träumte er von einem großen Kessel voll mit kochend heißem Wasser, in den er springen wollte. Trotz der allseitigen Gefahr konnte er nur schwerlich an etwas anderes als ein sehr heißes Bad mit einer Kiste Seife und einer Gallone Haarwaschmittel denken.

Der Pickup kroch träge durch Wohngebiete. Nach einer gefühlten Ewigkeit – vermutlich nur 20 Minuten – fuhr Tug über den weiten Parkplatz eines gewaltigen Einkaufszentrums. Als er an einer der kunstvoll hergerichteten Grüninseln auf dem Gelände vorbeikam, ließ sich Cooper von der Stoßstange fallen.

Er blieb mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen, direkt neben einem Ölfleck, der nach Benzin und Fett stank. Cooper empfand den Geruch als den angenehmsten überhaupt, er inhalierte die wohlduftende Herrlichkeit von gebrauchtem Motorenöl und Beton. Dann quietschten die Bremsen des Fahrzeugs. Cooper blieb völlig reglos liegen, in der Hoffnung, nicht gesehen worden zu sein.

»Was zum Geier soll das?« Tug hatte bemerkt, dass etwas vom Heck des Trucks gefallen war, und deswegen gebremst. Dale streckte seinen Kopf aus dem Fenster und schaute nach hinten. Es war der Fremde. Heiliger Bimbam, hatte er sich die ganze Zeit über an den Wagen geklammert? Der Kerl schaute ihn an, regte sich aber nicht. Dale zog den Kopf zurück.

»Nichts, nur Müll. Weiter zu Seite 82!« Dale wollte Tug antreiben, doch der schaute mit zusammengekniffenen Augen in den Rückspiegel.

»Nein, das ist kein Müll, sondern ein Mensch, wie’s aussieht.«

»Ist bloß ein Toter, der an deiner Stoßstange hing. Du bist ja durch eine Million von ihnen gepflügt.« Dale setzte ein Lächeln auf.

»Ja, ist wohl so.« Tug legte den Gang wieder ein.

»Warte.« Dale hielt ihn zurück. Er wusste schon, wie er mit Tug umgehen musste, und wollte mit dem Fremden auf dem Boden hinter ihnen sprechen. Es gab nur noch wenige lebende Menschen auf der Welt. Entweder handelte es sich um einen anständigen Kerl oder einen Halunken wie Tug. So oder so, Dale wollte es genau wissen.

Der Motor brummte im Leerlauf, und Dale bewegte sich zwei äußerst schleppende Sekunden lang nicht, weil ihm bewusst war, dass alles von seinem nächsten Zug abhing. Er setzte das Leben des Mannes hinter dem Truck aufs Spiel, ohne genau absehen zu können, wie Tug reagieren würde. Auch strömten bereits Zombies zwischen den Gebäuden hervor und näherten sich dem Parkplatz. Die Zeit war knapp.

»Momentchen, bin gleich wieder da.« Dale stieg aus und ließ die Tür offenstehen. Tug blieb sitzen und starrte teilnahmslos geradeaus.

***

Der Wagen blieb zu lange stehen, weshalb sich Cooper darauf gefasst machte, die Flucht ergreifen zu müssen. Die Beifahrertür ging auf. Der Mann, der Dale hieß, stieg aus, schaute zu ihm rüber und gab ihm mit den Händen zu verstehen, dass er liegenbleiben sollte.

Cooper gehorchte, wenn auch voller Unruhe.

Dale kam etwas näher, ging in die Hocke und bedeutete Cooper noch einmal, sich nicht zu rühren.

»Ich bin Dale.« Aus der Nähe konnte er nun erkennen, dass der Fremde im Grunde genommen noch ein Junge war, höchstens 20 Jahre alt. Dale konnte nicht fassen, dass sich dieser Kerl am Heck des Pickups festgehalten hatte.

»Cooper.« Der Liegende streckte einen Zeigefinger auf den Truck aus. »Der Typ ist ein Mörder. Er wollte ein Mädchen vergewaltigen, und ich habe ihn aufgehalten.«

»Dann musst du das Arschloch sein, das ihm eins übergezogen hat.« Dale schmunzelte.

»Das bin ich, genau.«

»Die Vergewaltigung und den Mord hat er mir verschwiegen.« Dale verwies mit einem Blick auf Tug.

»Warum treibst du dich mit ihm rum?«

»Ich konnte ihn nicht auf Verdacht erschießen. Deshalb behalte ich ihn im Auge.«

»Und jetzt?« Cooper versuchte, den Kopf anzuheben.

»Ich werde ihn herausrufen und meine Waffe ziehen. Nicht bewegen, solange ich ihn in Schach halte. Dann … ach, wir werden improvisieren.«

Bevor sich Dale jedoch wieder aufrichten konnte, öffnete Tug seine Tür und rutschte vom Sitz.

»Was ist hier los, Dale?« Er ging aufs Heck des Wagens zu.

Dale fasste sich unterm Shirt an die Brust, knöpfte einen Verschluss auf und zog seinen versteckten Revolver. Er fuhr herum und zielte auf Tug.

»Keine Bewegung.«

Cooper stand auf und erwartete dabei, dass der Verbrecher in irgendeiner Weise reagierte.

Tug blieb sofort stehen und hielt die Hände hoch. Es kehrte wieder dieses unheimliche Lächeln in sein Gesicht zurück und er starrte in die Ferne. Cooper beachtete er nicht, er schien ihn nicht zu erkennen.

»Los, die Arme noch höher. Umdrehen und die Hände hinter den Kopf.«

Tug fügte sich. Kein hinterhältiger Blick, kein Widerstand, weder Spucken noch Fluchen, keine Fragen, Verhandlungsangebote oder Bekundungen von Unschuld.

»Wusste ich’s doch, zu schön, um wahr zu sein«, sagte er, während er sich abwandte.

Cooper richtete seine beiden Pistolen auf Tug, als Dale ihn abtastete. Dabei fand er ein Taschenmesser und ein gefaltetes Blatt. Er klappte es auf. Es war Seite 82.

»Was ist zu schön, um wahr zu sein?«, hakte Dale nach, obwohl er glaubte, die Antwort zu kennen.

»Ein Freund. Du hattest Recht, ich kann keine Freunde haben.« Tug lächelte und glotzte weiter vor sich hin. »Ich weiß, was als Nächstes kommt.«

Dale empfand einen Hauch von Mitleid für ihn. Er mochte wohl soziopathisch sein und hatte wahrscheinlich kein bisschen Erbarmen mit seinen Opfern, doch Dale fand es betrüblich, dass der arme Kerl sein ganzes Leben freundlos verbracht hatte. Er war garantiert nie mit nur einem freundlichen, ermutigenden, lobenden oder liebevollen Wort bedacht worden. Sehr schade, doch laut Dales Erfahrung hatten die meisten Kriminellen ähnliche Geschichten zu erzählen und waren fast immer unverbesserlich. Folglich blieb ihm nach wie vor keine andere Wahl.

»Ich will es.« Tug schaute immerzu in den leeren Raum. »Ich will sterben.«

Cooper entspannte sich und nahm seine Waffen herunter.

Dale schaute Tug ins Gesicht. »Es wird kurz und schmerzlos sein.«

»Habe ich einen letzten Wunsch frei?« Zum ersten Mal stellte der Kerl Blickkontakt mit ihm her.

»Selbstverständlich, Tug«, erwiderte Dale und klang dabei, als wende er sich an einen Freund. Im Wissen darum, dass dies die letzten Augenblicke des Mannes auf Erden waren, sah er keinen Grund dafür, gemein zu ihm zu sein.

»Darf ich mit meinem Queue in den Händen sterben – dort drüben, während ich mich mit ihnen schlage?« Er verwies mit einer Kopfbewegung auf eine Stelle zwischen den Geschäften, an der die Toten in großer Zahl auf den Parkplatz drängten.

»Sicher, doch dir ist klar, dass ich dich erschießen werde, falls du irgendetwas anderes versuchst.« Tug nickte. »Eine kurze Zeitlang warst du … mein Freund.« Er lächelte. »Seite 82.«

Dale trat zurück, nahm den Billardstock von der Ladefläche und überreichte ihn. Nachdem Tug ihn entgegengenommen hatte, lief er auf den Mob anrückender Leiber zu. Seine Bewegungen weckten deren Interesse, und sie kamen auf ihn zu.

Da kam Dale der Gedanke, dass Tug womöglich annehmen könnte, bloß ausgeraubt zu werden. Er hatte ihm ja nichts von alledem erklärt.

Gemeinsam mit Cooper schaute er dabei zu, wie Tug gegen die Toten kämpfte. Das tat er mit fließenden, ja sogar eleganten Bewegungen, und fällte rasch einen nach dem anderen.

Tug hielt außerordentlich lange durch, dennoch sah man ihm an, dass er langsam müde wurde. Er schlug zusehends schwächer und weniger genau zu, bis er schließlich überrannt wurde. Er ging in einer zuckenden Masse aus verrottendem Fleisch unter – ohne einen Laut – und war verschwunden.

Dale stieg in den Truck und schob den Schaltknüppel in Fahrstellung, dann fuhren sie davon.