Kapitel 18

Nächster Halt: Galerie Lafayette

Es roch nach Honig ...

Ich holte tief Luft, und meine Lebensenergie kam zurück. Im nächsten Moment öffnete ich die Augen.

»Sie ist wach! Kommt her, Leute, sie ist wach.«

Ich erblickte Maél, der sich mit sorgenvoller Miene über mich beugte. Als er lächelte, lächelte ich unwillkürlich zurück.

»Alles gut, kleine Nymphe?« Er streichelte meine Wange.

Erst da kamen die Erinnerungen der letzten Stunden zurück. Der Kampf mit Uranos, das Unwetter, die Zerstörungen. »Haben wir es geschafft?«

Mein Mund war ganz trocken, sogar das Sprechen fiel mir schwer. In diesem Moment schoss Evangéline aus dem Kragen meines Shirts hervor. Sie schüttelte aufgeregt ihre Flügel, während sie Maéls Arm hinaufrannte, um dann auf seiner Schulter Platz zu nehmen. Von da aus sah sie auf mich herunter, und ihre langen Fühler wippten neugierig.

»Hey, kleine Motte«, murmelte ich. »Alles gut bei dir?«

Sie schüttelte noch wilder ihre Flügel. Mein Blick glitt zurück zu Maél. Er sah unversehrt aus, wenn auch etwas müde und blass.

Dann hörte ich die Stimmen meiner Freunde: Jemma und Noah, Gigi und Selkes, Tiffy, Ödipus und Hermes. Sie sprachen alle wild durcheinander.

»Konnten wir die Welt retten? Geht es meinen Eltern gut? Hat ihnen jemand Bescheid gesagt, dass alles in Ordnung ist? Jetzt sagt doch mal was. Ich will alles wissen.« Vorsichtig drückte ich mich hoch. »Wo ist Uranos? Wo bin ich?«

Ich hatte zwar keine Ahnung, wo ich war, aber ich hatte definitiv sehr bequem gelegen, und irgendjemand hatte dafür gesorgt, dass die Luft um mich herum von einem sanften Honigduft geschwängert war. So oder so ähnlich stellte ich mir einen Himmel für Nymphen vor. Die Wände des Raumes waren in gedämpften, warmen Erdtönen gestrichen, und es war angenehm warm. Irgendwo hörte ich Wasser plätschern. Ob ich tatsächlich gestorben und zu meiner Quelle zurückgekehrt war und meine Freunde nur ein Trugbild waren?

Gigi drängelte sich durch alle hindurch und umarmte mich, indem sie sich halb auf mich warf. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht.« In ihrer Stimme klang ein Schluchzen mit.

»Mir geht’s gut«, versicherte ich ein zweites Mal lachend. »Was ist passiert? Und wo sind wir?«

»Das hier ist der Olymp.« Hermes klang ziemlich stolz. Seine Augen leuchteten wie schon lange nicht mehr. Er schien wieder mehr Farbe im Gesicht zu haben und hatte die ewig schwarzen Klamotten wieder gegen ein weißes Oberhemd und enge Bluejeans eingetauscht.

»Die Welt ist gerettet«, verkündete Jemma in ihrer bekannt trockenen Art. »Deshalb haben wir alle so schrecklich gute Laune.«

»Wirklich?« Ich sprang fast von der Liege. »Und es geht allen gut?«

»Ja. Wir konnten sogar schon kurz mit den Plejaden sprechen. Sie werden zusammen mit Nereus gerade auf den Olymp gebracht.«

»Bei allen Göttern.« So ganz konnte ich es immer noch nicht glauben. »Wir haben es geschafft.« Ich umarmte Gigi und Jemma, und dann kamen die Jungs noch hinzu.

»Es gibt da ein paar Götter, die gerne mit dir reden würden.« Maél grinste breit und sah mich mit unverkennbarem Stolz an.

Als meine Freunde mich wieder losließen, konnte ich mich im Zimmer genauer umsehen. Es sah aus wie der Ruheraum eines Spas. Bademäntel lagen ordentlich gestapelt neben großen, flauschigen Handtüchern. Kleine Flakons mit Duftessenzen standen auf Tischen neben sanft glimmenden Kerzen und Edelsteinen, in deren Facetten sich das Licht brach.

Erst da entdeckte ich den blonden jungen Mann, der etwas abseits stand. Ich erkannte ihn sofort, obwohl er moderne Kleidung trug: Remi, der Maler und Hermes' einzige große Liebe.

»Das ist Remi«, sagte Hermes, ging zu ihm hinüber und legte einen Arm um ihn. »Hades hat deinen Wunsch erfüllt, Livia.« Er schluckte und zog Remi noch etwas näher. »Ich danke dir.«

Ich schüttelte abwehrend den Kopf – ich wollte nicht, dass er sich bedankte. Er hatte so viel für mich getan.

»Hallo.« Ich lächelte Remi an. »Schön, dich kennenzulernen.«

»Es freut mich auch«, erwiderte Remi schüchtern.

»Wie ist das passiert?« Ich freute mich für Hermes und Remi, konnte mir aber nicht vorstellen, dass Remi irgendwann zwischen Weltuntergang und Olymp so einfach aufgetaucht war.

Remi sah verlegen auf seine Schuhe. »Da war ein Mann mit langen dunklen Haaren und schwarzen Augen. Er trug seltsam enge Kleidung. Sie sah fast aus, als wäre sie auf seinen Körper gemalt. Na ja, jedenfalls sagte er mir, eine Wiesennymphe habe ›den abstrusen Wunsch, mich in die Arme meines Liebhabers zurückzubefördern‹. Dann meinte er, bei Fragen zu meiner Existenz solle ich mich an einen ›Penner namens Ödipus‹ wenden.«

Ödipus schnaubte deutlich hörbar, doch als ich kurz zu ihm sah, grinste er breit.

»Der Mann schnippte mit dem Finger, und alles wurde schwarz. Als Nächstes fand ich mich in einem Raum wieder, der weiß eingerichtet war wie ein Krankenhaus, und Hermes beugte sich über mich …« Remi griff verlegen nach Hermes' Hand. »Wir haben uns minutenlang angestarrt und sind dann in Tränen ausgebrochen.«

»Ich war kurz in meinem Zimmer hier auf dem Olymp, um mich umzuziehen«, fuhr dieser fort, »als Remi wie aus dem Nichts durch den Boden brach. Er …« Hermes' Stimme brach, so gerührt schien er. »Er war einfach da. Ich konnte es nicht fassen. Ich kann es immer noch nicht fassen.«

Remi ging auf die Zehenspitzen und küsste ihn zart auf die Wange. Die beiden waren wirklich ein zuckersüßes Paar.

»Und dann habe ich das hier an mir entdeckt.« Remi hielt mir sein Handgelenk hin. »Wir haben alle gerätselt, was es sein soll.«

Ich musste zweimal hinsehen. Es war ein Auge, doch es war auffällig rund und schimmerte seltsam. Ein Glasauge?

Die Moiren hatten einen komischen Humor.

»Bist du jetzt unsterblich, Remi?«

Er zuckte die Schultern.

»Na ja …« Hermes druckste herum. »Hades kann zwar Menschen aus der Unterwelt zurückholen, aber die Olympier können niemanden unsterblich machen.«

Die anderen drängten sich um uns, um neugierige Blicke auf Remis Handgelenk zu werfen.

»Ich habe auch so was«, verkündete Ödipus. »Nur an einer anderen Stelle. Es ist das Zeichen der Moiren und macht dich unsterblich.« Er machte Anstalten, seine Hose herunterzulassen, doch Hermes konnte ihn gerade noch bremsen.

»Lass nur, wir glauben dir auch so.«

»Heißt das, wir können für immer zusammenbleiben?« Remi wirkte ganz aufgeregt.

Hermes sah ihn hoffnungsvoll an. »Na ja, Livia hat darum gebeten, dass du zu mir zurückkommst. Vielleicht haben die Moiren es gehört und ihren Teil dazu beigetragen.«

»Vielleicht ist es ihre Art, danke zu sagen«, mutmaßte Maél.

Mir fiel auf, dass wir alle, bis auf Hermes, noch die Kleider trugen, die wir in unserem Endkampf gegen Uranus getragen hatten. War erst so wenig Zeit vergangen? Irgendwie kam es mir vor, als hätte ich mindestens drei Tage geschlafen.

»Ist wirklich alles okay? Wissen meine Eltern tatsächlich Bescheid?«

»Keine Sorge.« Maél legte einen Arm um mich. »Alles ist gut. Deine Eltern sind wohlauf. Aber jetzt eins nach dem anderen.«

»Dann los«, sagte Selkes. »Das wird ein Spaß.«

Hermes, der sich hier offenbar am besten auskannte, ging voraus. Meine Vermutung bestätigte sich: Hier schien es sich wirklich um eine Art Luxus-Spa zu handeln. Ich entdeckte verschiedene Arten von Saunen, Türen, die in riesige Hallen mit Pools führten, und kleinere Zimmer, in denen offenbar kosmetische Behandlungen angeboten wurden. Doch die Räume waren alle leer und verlassen, was das Ganze irgendwie unheimlich machte.

Hermes führte uns in einen Raum, der so groß war, dass er schon eher ein Saal war. Trotzdem schien er komplett in eine riesige Felswand gehauen zu sein. Ein ebenerdiger Pool, nicht gekachelt, sondern ebenfalls nur in den Felsen gehauen, wurde umsäumt von breiten Liegen, die eher wie richtige Betten wirkten als die schmalen Sonnenliegen, die ich vom Strand kannte. Von irgendwoher erklang leise Musik. Es roch nach Zimt und Blüten, herb und süß zugleich, fast wie Ambrosia.

Wir umrundeten den Pool. Als wir näher kamen, entdeckte ich Hades auf einer eleganten Liege. Sie schien komplett aus schwarzem Ebenholz gefertigt zu sein, und die Bezüge waren aus dunkelgrauer Seide. Auch die anderen Liegen waren bis auf den letzten Platz belegt. Hermes deutete eine knappe Verbeugung an und blieb stehen. Die Liege in der Mitte war aus hellem Holz, und ihre Polster waren übersät mit Flecken und Krümeln. Auf ihr machte ich Zeus aus, den Herrscher der olympischen Götter. Er wirkte genauso gelangweilt wie immer. Statt uns zu grüßen, löffelte er einen überdimensional großen Eisbecher. Die Frau neben ihm, zu deren rechten Seite sich Hades niedergelassen hatte, hob neugierig den Kopf, um mich zu betrachten.

»Sie ist nun erwacht, edle Hera«, sagte Hermes und deutete zum zweiten Mal eine kleine Verbeugung an.

Die Frau erhob sich elegant von der Liege, und das trotz ihrer zwölf Zentimeter hohen High Heels.

»Du musst Livia sein.« Ihre Stimme war tief und rauchig. »Ich bin erfreut, deine Bekanntschaft zu machen.«

Da Hermes sie mit Hera angesprochen hatte, war ich mir sicher, dass es sich um Zeus' Ehefrau handeln musste. Doch was für ein ungleiches Paar sie waren! Hera sah aus, als hätte man alle Kardashian-Schwestern in einen Topf geworfen und kräftig umgerührt. Ihr Haar war dunkel, glatt und sehr lang. Die kurvige Figur war in ein hautenges Kleid gehüllt, das ihre Vorzüge noch mehr betonte. Sie war aufwendig geschminkt, und um ihren Schmollmund hätte sie vermutlich halb Hollywood beneidet.

»Schatz?« Hera drehte sich zu Zeus um, und ihre Stimme klang plötzlich scharf und schneidend. »Wollten wir das hier nicht zusammen machen?«

Zeus sah gelangweilt in die Runde, dann seufzte er tief und stellte seinen Eisbecher zwischen den Liegen auf dem Steinboden ab. Er kam mühsam hoch, ohne seine Jogginghose und das T-Shirt zu richten. Stattdessen kratzte er sich geräuschvoll in einer Körperregion, die ich in der Öffentlichkeit niemals berührt hätte. Ich sah schnell weg und nutzte den Moment, um die anderen Anwesenden unauffällig zu mustern.

Links neben Zeus lag ein Mann, dessen Familienähnlichkeit zum Herrscher aller Götter unverkennbar war. Er hatte dieselben scharf geschnittenen Züge, dasselbe dunkle Haar, und er trug ebenfalls einen Vollbart. Allerdings wirkte er gepflegt, und seine türkisblauen Augen musterten mich neugierig. Er lag lässig auf der Liege, die langen Beine gehüllt in geblümte Badeshorts. Sein geöffnetes Hemd entblößte einen Waschbrettbauch. Ich schätzte ihn auf etwa so alt wie Hermes. Als sich unsere Blicke trafen, hob er sein Cocktailglas und prostete mir grüßend zu. Auf seinem Unterarm entdeckte ich eine Tätowierung in Form eines Dreizacks. Obwohl es vermutlich keine Tätowierung, sondern die Krone seines Reiches war. Ich hatte Poseidon, den Herrscher der Meere und den Bruder von Hades und Zeus vor mir.

Auf der Liege daneben ruhte ein Mann, der mir seltsam bekannt vorkam. Sein hellblondes Haar schien von innen heraus zu strahlen. Er lächelte breit, und seine warmen braunen Augen musterten mich mit so viel Zuneigung, dass mir ganz warm ums Herz wurde. Er trug Jeans, ein schlichtes T-Shirt und Flip-Flops. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass seine Finger und Fußnägel golden strahlten, als hätte er sie lackiert. Durch sein Shirt hindurch begann plötzlich etwas immer heller und heller zu werden. Dann erkannte ich das stilisierte Abbild der Sonne. Genau wie Hades trug er die Krone seines Reiches über dem Herzen. Für einen Moment stockte mir der Atem. Das musste Helios sein. Der Sonnengott und Vater meiner Kräfte. Vermutlich hatte ich deshalb sofort diese Verbindung zu ihm gespürt. Sein Lächeln wurde breiter, und er legte seine Hand über die lodernde Sonnenkrone auf seinem Herzen. Unwillkürlich lächelte ich zurück und legte meine Hand ebenfalls auf mein Herz. Helios schien so gerührt, dass er mit den Tränen kämpfte.

»Schatz.« Heras schneidende Stimme ließ mich den Blick abwenden. »Können wir dann?«

Mittlerweile hatte Zeus neben seiner Frau Position bezogen. Dank ihrer hohen Absätze überragte Hera ihren Gatten fast ein Stück. Sie warf einen angewiderten Blick auf sein T-Shirt, dann drehte sie sich mit entschlossener Miene zurück zu uns. Ihr Lächeln wirkte bemüht, und sofort tat sie mir leid. Zeus schien wirklich ein Muffel zu sein, der auf nichts und niemanden mehr Lust hatte.

Ich hätte auch gerne die anderen Götter des Olymps noch genauer betrachtet, doch ich wollte Hera gegenüber nicht unhöflich sein. Ihr Mann schien sie schon genug zu enttäuschen.

»Wir möchten uns bei euch entschuldigen«, hob Hera an. »Dafür, dass wir die Situation so unterschätzt haben. Hermes, es tut mir leid, dass wir deinen Hilferuf ignoriert haben. Eine Entschuldigung all deiner olympischen Brüder und Schwestern sei dir sicher, ebenso wie unser ewig währender Dank.«

Hermes zog Remi noch etwas näher an sich und schien größer zu werden. »Ich danke Euch, edle Hera.«

Nun erschien auch Nereus am Pool, und gemeinsam mit den Plejaden gesellte er sich zu uns. Wir lächelten uns kurz an. Er schien sehr stolz auf Selkes zu sein, denn sein Blick glitt immer wieder zu seinem Sohn, der neben Gigi stand.

»Livia.« Hera sah nun zu mir. »Du hast eindrucksvoll bewiesen, dass das Volk der Nymphen seinen Platz an unserer Seite mehr als verdient. Du bist die Anführerin der fünf Völker. Sei dir bei allem, was du tust, unserer Unterstützung sicher. Wir haben schon gehört, dass die Plejaden eine neue Aufgabe in deinen Diensten gefunden haben.« Sie nickte den Plejaden zu. »Willkommen. Magaly, wir sind dankbar und froh, dass ihr euch auf der Erde so gut zurechtgefunden habt und die Kommunikation aller Nymphen betreuen werdet. Wir sind überzeugt, dass ihr auch in Zukunft die Erdmutter Gaia gut betreuen und die Natur besänftigen und lenken werdet.«

Magaly neigte den Kopf. »Es ist uns eine Ehre.« Sie sah zu Ödipus. »Wir sind herzlich willkommen geheißen worden und freuen uns, dass wir bleiben dürfen.«

Ödipus wurde tatsächlich ein wenig rot. Ich freute mich zu sehen, dass er, der Unsterbliche, der jahrtausendelang ganz allein gewesen war, sich tatsächlich verliebt zu haben schien.

»Livia, wir wissen, dass du dieser großen Verantwortung gewachsen bist.« Hera sah mich ernst an. »Das hast du seit deiner Ankunft in Paris eindrucksvoll bewiesen. Du hast ein Kämpferherz, und deine Absichten waren zu jeder Zeit uneigennützig und ehrenvoll. Der ewige Dank des Olymps sei dir versichert, und wann immer du Hilfe brauchen solltest, drücke einfach nur die Eins auf deinem Telefon. Es ist deine persönliche Standleitung direkt zu mir. Ich werde mich um alle deine Belange kümmern, das verspreche ich dir. Aber nun«, sie drehte sich kurz in Richtung der Liegen um, »möchte ich dir gerne jemanden vorstellen. Jemanden, der von Uranos, dem Herrscher des Himmels, entführt worden war und dank dir zurück in unsere Mitte gekehrt ist.«

Helios erhob sich von seiner Liege, und die anderen machten Platz, damit er auf mich zugehen konnte.

Wir lächelten uns an, und er war einfach kein Fremder. Er fühlte sich an wie ein lang verloren geglaubter Verwandter. Als er mich an sich zog, versank ich in seiner Umarmung und fühlte mich unendlich wohl bei ihm. Seine Haut war ungewöhnlich warm, und er roch sogar nach Sonnenschein.

»Hallo, meine Tochter«, flüsterte er leise. »Ich danke dir. Ich danke dir für alles, und ich hoffe, dass wir uns in Zukunft oft sehen und besser kennenlernen werden. Du hast gegen Uranos gekämpft und die Erde gerettet. Ich bin so stolz auf dich.«

Wir lösten uns voneinander, und er strich meine Wange hinab. Nicht zärtlich, wie Maél es tat, sondern stolz und väterlich.

»Ich danke dir«, sagte ich leise, und meine Stimme zitterte vor Rührung. »Ich hoffe auch, wir lernen uns besser kennen.«

Er nickte mir noch einmal zu, dann ging er zurück zu seiner Liege. Offenbar war er besser in das Protokoll eingeweiht als ich. Ich hätte mich gerne noch ein wenig mehr mit ihm unterhalten.

Hera hingegen schien genauso eingeweiht wie Helios. Sie machte nahtlos weiter. »Als Halbgöttin, liebe Livia, steht dir ein Pate zu. Aufgrund der ungewöhnlichen Art, wie du zu einer Halbgöttin geworden bist, möchten wir dir die Wahl lassen.«

Ich musste keine Sekunde überlegen. Ich drehte mich zu Hermes um. Er war von Anfang an mehr als ein guter Bekannter gewesen. Er war ein Freund, er war jemand, dem ich blind vertraute. Er war weise und liebevoll, und er würde immer Rat wissen.

Auf Hermes' Gesicht malte sich ein glückliches Lächeln. Wir brauchten keine Worte. Er löste sich von Remi und zog mich in seine Arme. »Sehr gerne«, flüsterte er dann. »Sehr gerne, Sonnentochter.«

Sonnentochter. Dieser Kosename gefiel mir. Wir lächelten uns noch einmal an, dann stellte ich mich zurück zu Maél und Hermes ergriff wieder Remis Hand.

Hera nickte uns gutmütig zu, dann zauberte sie von irgendwoher einen kleinen Notizzettel hervor. »Jetzt muss ich doch noch einmal nachgucken, damit ich nicht irgendeinen Punkt vergesse. Die Patenschaft hatten wir geklärt …«, murmelte sie vor sich hin, und auf ihrer Nase erschien wie von Zauberhand eine kleine goldene Brille. »Und dann wäre jetzt … Ach, richtig.« Zettel und Brille verschwanden wie von selbst. »Wir haben leider die traurige Kunde erhalten, dass der Händler ein Opfer von Uranos geworden ist – das einzige, zum Glück. Wir trauern um diesen Verlust und möchten dich, Livia, deshalb fragen, ob du die Verantwortung für den Syllektis übernehmen möchtest.«

Evangéline rührte sich leicht unter meinem Oberteil, und sofort legte ich beschützend eine Hand über sie. »Natürlich. Es wäre mir eine Ehre.«

»Vielen Dank.« Hera nickte wohlwollend.

Eine Frage drängte sich mir auf. Als Hera es bemerkte, lächelte sie. »Sprich, Kind.«

Ich zögerte, doch dann trug ich vor, was mich schon lange beschäftigte. »Ich habe von Agada je nur ein Viertel Götterblut geerbt. Diese beiden Viertel, von Helios und Hekate, machten mich zu einer Halbgöttin. Nun wollte der Omphalos die Kräfte eines Halbgottes. Ich hätte beide Kräfte geopfert, zumal ich ja schon eine Nymphe bin. Doch irgendwie habe ich gewusst, dass er mir nur eine Kraft rauben wird und ich trotzdem eine Halbgöttin bleiben werde. Wie kann das sein?«

Hera deutete auf die Stelle, an der Evangéline unter meinem Oberteil saß. »Dein Syllektis verstärkt deine Kräfte. Und weil du ein Naturwesen bist, kann es gut sein, dass er sie verdoppelt hat.«

Mir stockte der Atem. »Aber wenn Evangéline meine Kräfte verdoppelt hat, dann muss ich ja zeitweise …« Eine Göttin gewesen sein. Doch ich sprach es nicht aus.

»Du warst eine vollwertige Göttin.« Hera lächelte, als würde auch ihr gerade erst bewusst, was sie da gesagt hatte. »Und niemand hat es bemerkt. Du hast sogar den mächtigen Omphalos getäuscht.«

»Ich habe das nicht absichtlich getan. Andere zu täuschen …«

Hera winkte ab. »Vermutlich hat es deshalb so gut funktioniert und niemand hat es bemerkt.«

Hermes sah mich an, als sähe er mich mit ganz neuen Augen. Maél neben mir war so überrascht, dass er sich gar nicht rührte. Ich selbst war auch noch ziemlich überrumpelt.

»Nun bist du jedenfalls eine Halbgöttin, und alles ist gut ausgegangen«, sagte Hera, und es war nicht zu übersehen, dass sie weitermachen wollte im Protokoll. »Maél, Sohn der Nyx.«

Maél neben mir versteifte sich. »Edle Hera?«

»Auch dir sei unser Dank und eine Entschuldigung sicher. Mein Mann hat leider versäumt, die neuen Erkenntnisse an mich weiterzuleiten. Deine lange Inhaftierung bedauern wir.«

»Danke«, erwiderte Maél. »Zum Glück hatte ich Freunde, die mich nicht aufgegeben haben.«

Heras Lächeln verrutschte für einen Moment. »Hier ist jemand, der freikam, als Uranos' Kräfte gebrochen wurden. Jemand, der dich schon lange kennerlernen will.«

Sie deutete hinter uns. Eine Frau manifestierte sich aus einer tanzenden Galaxie aus Sternen und wirbelndem Nachthimmel. Ihr Haar war lang und blauschwarz, ihre Gestalt hochgewachsen und anmutig. Die Haut war so hell, dass sie leicht bläulich schimmerte. Ihr langes, dunkelblaues Kleid raschelte über den Boden, als sie näher kam.

»Mama!«, rief Tiffy und stürzte auf die Frau zu. Die beiden fielen sich in die Arme und hielten sich einen Moment lang ganz fest. Dann löste sich die Frau von Tiffy, legte einen Arm um sie und spazierte auf uns zu. Je näher sie kam, desto mehr entdeckte ich Maél in ihren Zügen. Ihr Gesicht war weicher geschnitten, doch sie besaß dieselben hohen Wangenknochen, die gerade Nase und die verblüffend grauen Augen.

Maél neben mir zögerte. Er wirkte plötzlich befangen.

»Hallo, mein Sohn«, sagte Nyx, die Göttin der Nacht.

Maél nickte einfach nur. Ich wusste, er war niemand, der jemandem einfach so um den Hals fiel. Er war von Hades erzogen worden. Von jemandem, der die Zurschaustellung von Gefühlen für eine Schwäche hielt.

Nyx streckte ihre freie Hand in seine Richtung aus. »Lass mich dich ansehen.«

Tiffy sah unsicher zu ihrer Mutter hoch. Jeder wusste, wie sehr sie an Nyx hing, und ihre Angst, sie zu verlieren, war deutlich spürbar.

Maél bewegte sich nicht. »Tiffy ist deine Tochter«, sagte er. »Ich bin einfach nur jemand, der deine Gene trägt.«

Hermes schnappte hörbar nach Luft, sogar Hades hatte sich neugierig auf seiner Liege aufgerichtet.

Nyx kam zu uns herüber, Tiffy immer noch fest an der Hand. Ein dunkler Schweif Nachthimmel wehte hinter ihr her. »Du bist mein Sohn.«

Sie sah ihn fest an. Ihr Blick war dunkel und strahlend zugleich. Es sah aus, als würden in ihren Augen Galaxien geboren.

»Ich brauche Zeit«, erwiderte er schlicht.

Nyx verstand und kapitulierte. Sie wollte sich wegdrehen, doch Tiffy hielt sie auf.

»Sie ist deine Mutter, und sie ist auch meine Mutter. Wir können sie beide lieben.«

Maél lächelte, doch es wirkte erzwungen. »Ich danke dir. Aber gib mir noch Zeit.«

Hera, die wohl erkannt hatte, dass diese Zusammenführung in einer Sackgasse geendet war, erhob erneut das Wort. »Womit wir dann zu dir kämen, Tiffany.«

Tiffy drückte sich an Nyx. »Ja?«

»Tiffany. Du hast großen Mut bewiesen. Dein Vater Hades hat ja bereits angekündigt, dass die dunklen Gesetze abgeschafft werden. Keine Kinder der dunklen Götter sollen mehr getötet werden. Der Dank des Olymps ist dir sicher. Solltest du etwas brauchen, wende dich an uns.«

»Dankeschön«, erwiderte Tiffy mit ihrer piepsigen Stimme. Ihre Wangen schimmerten plötzlich rosa.

Hera ließ ihren Blick über unsere Gruppe gleiten. »Wer ist die Sterbliche, die mit dem Halbgott Selkes liiert ist?«

»Das bin ich.« Gigi trat vor, und ihre Stimme klang vor Nervosität ganz hoch. Selkes trat neben sie.

»Wie lautet dein Name?«

»Brighid O’Mally.«

»Wir danken dir, Brighid, für deinen Mut und deine Loyalität den Göttern gegenüber.«

Gigi wollte schon den Mund aufmachen, um zu protestieren, doch sie schloss ihn schnell wieder, als Selkes sie eindringlich von der Seite ansah. Hera schien es nicht bemerkt zu haben.

»Wir wissen um deine Liebe zu Selkes, Sohn des Flussgottes Nereus. Als Dank für deine Hilfe im Kampf gegen Uranos bieten wir dir ein kostbares Geschenk an.«

Poseidon erhob sich von seiner Liege und gesellte sich zu Hera.

»Die Liebe zu einem unsterblichen Halbgott kann schmerzlich sein, wenn man ein Sterblicher ist. Aber eure Liebe scheint stark.« Sie stupste Poseidon an, der sich lächelnd vorbeugte. Auf seiner geöffneten Handfläche glitzerte etwas türkisfarben.

»Dies, liebe Brighid, ist eine Schuppe aus dem Fischschweif des mächtigen Poseidon. Sollte deine Liebe zu Selkes so stark sein, dass ihr euch irgendwann für immer binden wollt, so kannst du durch sie zu einer Tochter des Meeres werden. Bohre die Schuppe tief in deine Haut, und du wirst zu einer unsterblichen Halbgöttin des Meeres. Zu einer Tochter von Poseidon.« Sie lächelte. »Ein Sohn des Flussgottes und eine Tochter des Meeresgottes. Ihr könntet dann sogar unter Wasser zusammenleben.«

»Wahnsinn«, entfuhr es Selkes. »Wie krass, danke!«

Gigi schien sprachlos, auch dann noch, als Poseidon die Schuppe vorsichtig auf ihre Handfläche gleiten ließ. Sie hatte Tränen in den Augen. »Ich danke euch. Was für ein wunderbares Geschenk.« Sie sah hoch zu Selkes, und er küsste sie kurz.

»Wo ist Ödipus?« Hera sah sich suchend um.

Ödipus, der sich unauffällig neben Magaly gestellt hatte, sah überrascht hoch.

»Ja, edle Hera?«

»Wir kennen und verfolgen dein grausames Schicksal nun schon so lange. Es hat mich, ja, uns alle, sehr gefreut zu sehen, dass du dich neuen Freunden und Verbündeten angeschlossen hast. Hab herzlichen Dank für deine Hilfe. Hast du einen Wunsch?«

Ödipus schüttelte den Kopf. »Ich bin glücklich, nun da ich Freunde gefunden habe. Dieser Umstand wird verhindern, dass ich wieder der Trauer und der Hoffnungslosigkeit verfalle. Ich habe keinen Wunsch.«

»Wenn wir etwas für dich tun können, dann lass es uns wissen.«

»Vielen Dank.« Kaum, dass Hera sich abwandte, griff Ödipus vorsichtig nach Magalys Hand. Sie lächelte zu ihm hoch und verschlang ihre Finger noch mehr mit seinen.

Hera lächelte zufrieden. »Nun kämen wir dann zu den sterblichen Freunden, die ein Paar sind?«

Jemma und Noah traten vor.

»Jemma Cohen und Noah Dubois«, stellte Noah vor.

Hera nickte wohlwollend. »Willkommen auf dem Olymp, Jemma und Noah. Seid euch des ewigen Dankes der Götter sicher.« Sie legte grazil eine Hand an ihr Kinn. »Ich würde euch gern ein Geschenk machen, um euch zu danken, aber ich kenne mich so wenig aus bei den Sterblichen. Wovon träumt ihr? Gold? Geld? Unsterblichkeit?«

Jemma und Noah schüttelten bei dem letzten Wort beide vehement den Kopf.

»Ich will nicht ewig leben«, sagte Jemma. »Das ist nichts für mich.«

Noah nickte bekräftigend.

Hera lächelte. »Wie wäre es dann mit sehr viel Gold?«

Noah schien zu zögern. »Ich habe einen Wunsch. Aber ich weiß nicht, ob er zu groß ist.«

Hera hob die Augenbrauen.

Noah sah zu Jemma, und die beiden führten eine kurze nonverbale Unterhaltung nur mit den Augen. Dann nickte Jemma.

Noah straffte die Schultern. »Ich möchte meinen Freund Enko zurück. Nicht nur, weil wir eine Band sind und jede Woche stundenlang zusammen abhängen, sondern weil er mir wichtig ist und schrecklich fehlt. Er hat Fehler gemacht, hat auf die falschen Leute gehört, aber dieses Schicksal hat er nicht verdient.«

Hera nickte, denn offenbar wusste sie, worüber Noah sprach.

»Ich möchte meinen Wunsch auch dafür einsetzen«, sagte Jemma. »Enko fehlt uns allen, und wir wollen ihn zurück.«

»Außerdem hat er uns im Kampf gegen Uranos beigestanden. Er hat mit den anderen Sternbildern gegen ihn gekämpft.«

Maél neben mir zitterte leicht, so sehr nahm ihn diese Unterhaltung mit.

Hera schien mit sich zu ringen. »Es tut mir sehr leid, Jemma und Noah. Aber die olympischen Götter sind nicht allmächtig. Der Tartaros kann Tote freilassen. Aber Enko wurde von Uranos getötet und als Sternbild gebannt. Uranos ist ein Gott, der trotz allem mächtiger und älter ist als wir. Als er Enko in das Sternbild verwandelte, war er auf dem Höhepunkt seiner Kraft. So kurz vor Eintreten der Planetenkonstellation war er mächtiger als je zuvor. Ich fürchte, Enko ist für immer verloren.«

Eine schwere Stille senkte sich über den Raum.

»Vorhin, als Livia nicht bei Bewusstsein war, sagte Hermes, dass es unseren Eltern gut geht. Stimmt das?«, fragte Noah. »Sonst würde ich meinen Wunsch gern dafür einsetzen, sie zu retten, sie hierher auf den Olymp zu holen.«

Hera hob beschwichtigend die Hände. »Die Welt ist in bester Ordnung, und euren Eltern und Freunden geht es gut. Wenn ihr jetzt keinen Wunsch habt, den wir erfüllen können, dann wendet euch einfach über Livia an mich, wenn ich zu einem späteren Zeitpunkt etwas für euch tun kann.«

Noah und Jemma murmelten Dankesworte, wirkten aber immer noch niedergeschlagen.

»Haben wir Uranos wirklich getötet?«, warf ich ein. »Wie existiert die Welt ohne Himmel?«

»Ihr habt sein Herz mit euren Kräften zum Zerspringen gebracht. Das hat ihn so geschwächt, dass er wieder weit zurück von der Erde gewichen ist. Er ist geschwächt, aber nicht gestorben. Hermes hat uns von den Moiren berichtet. Natürlich haben wir versucht, sie zu erreichen, doch jede Kontaktaufnahme ist gescheitert. Wir wissen nicht mal, ob unsere Botschaften sie erreicht haben. Sie halten sich irgendwo versteckt und schmieden ihre Ränke im Verborgenen. Wir können also nur vermuten, dass ihr Plan aufgegangen ist. Durch die Kombination eurer beider Kräfte konntet ihr Uranos so empfindlich verwunden, dass er im letzten Moment den Rückzug angetreten hat.«

»Der Himmel ist also wieder da, wo er hingehört?«, fragte Maél.

Hera nickte. »Zum Zeitpunkt von Uranos' Angriff hatte er alle Götter und Halbgötter des Himmels, des Tages und der Nacht in seine Gewalt gebracht. Nur ihr beide«, sie deutete auf Maél und mich, »wart noch übrig. Doch nun sind alle wieder frei und zurück in ihrem Herrschaftsgebiet. Bisher hat Uranos sich weder gerührt noch versucht er wieder Gewalt über seine Sternbilder zu erlangen. So wie es aussieht, ist er viel zu geschwächt, um je wieder so eine Kraft zu entwickeln. Ihr habt sein Herz zerstört und ihm für immer einen großen Teil seiner Macht genommen.«

Heras Worte klangen zuversichtlich, und sie beruhigten mich ein wenig. Ich hätte es nicht ertragen zu wissen, dass die Sternbilder uns so selbstlos geholfen hatten, nur um jetzt wieder in Uranos' Gewalt zu sein.

»Aber was ist mit der Erde? Den Verwüstungen? Den vielen panischen Menschen?« Jemma gestikulierte wild. »Wie erklärt man das? Wer sorgt da für Ordnung?«

Hera deutete einladend auf Nyx, die sich daraufhin neben sie stellte.

»In meinem Tempel wächst eine Pflanze namens ›Mondblume‹.« Nyx ließ ihren Blick über uns gleiten.

Bei mir klingelte es bei der Erwähnung des Namens. Ich sah zu Tiffy hinüber, die mich anlächelte und nickte.

»Niedrig dosiert bewirkt sie einen leichten Schlaf und angenehme Träume. Hoch dosiert sorgt sie für einen sehr langen Schlaf und das Vergessen der letzten Stunden. Das Pulver hat quasi die Kraft, die Zeit zurückzudrehen. Meine Priesterinnen und ich haben es in die Luft gegeben, und schon kurze Zeit später schliefen die Menschen tief und selig. Mit den vereinten Kräften des Olymps haben wir an Schäden rückgängig gemacht, was ging. Haben Verwüstungen beseitigt und die Panik aus den Köpfen der Menschen ausradiert. Die Menschen sind erwacht, und es ist ein ganz normaler Mittwoch überall auf der Welt.«

»Der Tag vor dem Weltuntergang«, murmelte Noah. »Raffiniert.«

»Der planetarische Nebel, ein Vorbote von Uranos' Macht, wird bald verblassen, denn Uranos ist zu geschwächt, um ihn weiter zu kontrollieren. Das Leben wird einfach seinen Gang gehen. Ihr hattet gerade schulfrei, weil die Küchenfrauen verschwunden waren, erinnert ihr euch?«

Wir nickten alle. Ich erinnerte mich sehr gut. Hermes hatte uns mit dem Bulli von der Schule abgeholt.

»Die Moiren werden verschwunden bleiben, denn die Kraft der Mondblume ist begrenzt. Wir können die Zeit circa einen Tag zurückdrehen. Wenn ihr den Olymp gleich verlasst, wird es früher Mittag sein. Wenn ihr nach Hause kommt, werden eure Eltern euch begrüßen wie immer. Nichts außer dem planetarischen Nebel am Himmel wird an Uranos' Machtübernahme erinnern.«

»Wie absolut krass …«, murmelte Noah.

»Ihr habt euren Teil zur Weltrettung beigetragen«, schloss Hera. »Nun haben wir unseren Teil beigetragen.«

Hermes verneigte sich. Offenbar war es mal wieder Teil des Protokolls. »Wir danken Euch dafür.«

Dann sah er zu uns. Waren wir nun entlassen?

Hermes koordinierte das Verabschiedungsritual, das ein wenig dauerte, aber irgendwann waren wir entlassen. Ich freute mich auf ein Treffen mit Helios, der mir soeben seine Handynummer gegeben hatte. Nereus war in ein angeregtes Gespräch mit Poseidon vertieft, der ihm gerade dankend auf die Schulter klopfte. Nyx umarmte die Plejaden, die wohl noch etwas bleiben wollten. Obwohl Tiffy der Abschied schwerzufallen schien, schloss sie sich unserer Gruppe an.

Hermes bugsierte uns aus der großen Schwimmhalle und konnte Selkes nur mit Mühe davon abhalten, doch noch kurz in den Pool zu hüpfen.

Wir liefen so einige lange Gänge entlang, bis ich irgendwann nicht mehr wusste, wo wir waren.

»Wie verlassen wir den Olymp eigentlich?« Gigi drehte sich im Gehen zu Maél und mir um.

»Ich hoffe, sie werfen uns nicht alle mit einer Tüte über dem Kopf auf einen Parkplatz, so wie mich das letzte Mal.«

Gigi zog ein Gesicht. »Ich denke nicht. Aber Hermes macht ein großes Geheimnis daraus. Ich habe ihn gerade schon gefragt, und er hat nur geheimnisvoll gelächelt.«

»Wo bleibt er eigentlich?« Maél drehte sich um. »Wenn wir uns hier oben verlaufen, hängen wir für immer fest. Ich denke mal, irgendwann wird jeden Tag Schwimmen und Saunieren auch langweilig.«

»Wir sollten es ausprobieren«, schlug Noah vor. »Die Ewigkeit und eine zarte Haut, könnte doch schlimmer sein.«

Jemma stieß ihm lachend den Ellbogen in die Seite. »Du bist so ein Spinner.«

»Also ich hätte nichts dagegen, mit dir zusammen in einer Sauna …«

Maél hielt die Hände so, dass sie ein Kreuz formten. »Oh, Leute. Time-out. Das sind eindeutig zu viele Informationen.«

Wir lachten, während wir weiter den Gang hinunterliefen, der nun in eine scharf abknickende Kurve mündete.

Und da stand er. Lässig an die Wand gelehnt, das Hemd zu weit aufgeknöpft, die hellblonden Haare rockstarmäßig verwuschelt wie immer.

»Was geht, ihr Loser?«

Maél und ich blieben so abrupt stehen, dass der Rest der Gang in uns hineinrannte. Von weiter hinten hörte ich Selkes protestieren.

Noah gab einen erstickten Laut von sich. Maél neben mir war kreidebleich geworden.

»Jetzt guckt mich nicht an, als hättet ihr einen Geist gesehen«, sagte Enko und kicherte über seinen eigenen Witz. »Hier, ich hab was für euch.« Er schnippte einen kleinen pechschwarzen Rauchball auf uns zu. Bevor ich darüber nachdenken konnte, was ich tat, hatte ich den Ball schon aufgefangen.

»Der Typ scheint echt eine Schwäche für euch zu haben«, sagte Enko gerade, als der Ball sich zu einem kleinen Zettel formierte. Auf dem schwarzen Papier stand in hellgrauer Schrift: GUT GEMACHT, PFADFINDER.

Dann löste der Zettel sich in Luft auf. Ich sah wieder zu Enko. Noch hatte sich niemand gerührt. Noch traute niemand seinen Augen. Es war nicht zu leugnen, dass Enko verändert aussah. Älter, mit noch schärfer geschnittenen Konturen und einer nervösen Unruhe in seiner Haltung. Sein hellblondes Haar schimmerte nun silbern, fast als hätten sich die glitzernden Lichtpunkte, die sein Sternbild geformt hatten, für immer darin verewigt. Der Himmel hatte ihn geprägt, doch ich sah immer noch das Magma zu seinen Füßen brodeln, als mein Blick verschwamm. Er war wieder ein Hadessohn, vielleicht war er nie etwas anderes gewesen. Die Spuren von Uranos würden verblassen.

Noah war der Erste, der auf ihn zustürzte. Ich sah Tränen auf seinen Wangen schimmern. Enko zog ihn an sich und klopfte ihm dröhnend auf die Schulter. Dann gab es auch für die anderen kein Halten mehr. Enko wurde fast unter uns begraben. Er lachte, und all seine Coolness war wie verflogen. »Ich liebe euch auch, Leute.«

Ich konnte es immer noch nicht fassen.

Gut gemacht, Pfadfinder. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Nur Erebos hatte uns »Pfadfinder« genannt. Offenbar hatte er uns beobachtet und dabei Enkos Tod, unsere Trauer um ihn und seine Hilfe im Kampf gegen Uranos mitangesehen. Erebos, der mächtigste und älteste Gott des Universums, hatte uns Enko zurückgegeben. Er war der Einzige, der älter und damit mächtiger war als Uranos, und er hatte ihn Uranos' Einfluss entrissen. Ich unterdrückte einen Freudenschrei und nahm mir fest vor, mich bei Erebos zu bedanken.

Als ich mich endlich zu Enko nach vorne gedrängelt hatte, sah ich die Lichtpunkte auch unter seiner Haut schimmern. Es wirkte, als wäre er aus Sternenlicht geboren. Er war wunderschön und wirkte zugleich beängstigend. Enko zog mich in seine Arme und legte die Wange an meine Schläfe.

»Es tut mir so leid«, flüsterte er. »Ich habe mich in etwas verrannt, und irgendwann habe ich den Zeitpunkt verpasst, um wieder klar zu sehen.« Dann sah er mich an und fügte grinsend hinzu: »Ich weiß nicht, was du mit Erebos gemacht hast, was ihr alle mit ihm gemacht habt, aber er ist tief beeindruckt von euch. Das hat er mir erzählt, nachdem er mich wieder zusammengesetzt hatte. Ich habe gespürt, wie er einfach nach mir gegriffen hat. Nach jedem einzelnen leuchtenden Punkt von mir. Uranos hat sich zitternd in eine Ecke verkrochen, und Erebos hat ihm ins Gesicht gelacht.« Er löste sich von mir und sah mich an. »Ich will nicht wissen, warum Erebos euch ›Pfadfinder‹ nennt, oder?«

Ich lachte, und in meinen Augen standen Tränen. »Nein, ich glaube, lieber nicht.«

Maél hatte sich neben mich gedrängt. »Was machst du für einen Mist, du Penner«, sagte er, und es klang liebevoll und ehrlich. Die beiden umarmten sich erneut. Enko flüsterte etwas in Maéls Ohr, das ich nicht verstand. Doch Maél lächelte und nickte dann. »Es ist gut, dass du wieder da bist.«

Enko wirkte ganz ergriffen. Noch mal umarmten sie sich. Als sie sich voneinander lösten, hatten beide feuchte Augen.

»Und du bist ganz der Alte?«, fragte Jemma vorsichtig.

Enko streckte die Arme in einer theatralischen Geste aus. »Genauso großartig und unwiderstehlich wie eh und je.«

Er erntete ein synchrones Aufseufzen, das genervt und erleichtert zugleich klang. Nein, Enko hatte sich wirklich überhaupt nicht verändert.

»Was ist denn das für ein Gekreische?«, hörte ich Hermes sagen, und Schritte näherten sich. »Dass wir sie aber auch keinen Moment aus den Augen lassen können …«

Ich hörte Remi irgendwas murmeln, verstand es aber nicht. Schon bogen die beiden um die Ecke. Remi lief einfach weiter, aber Hermes blieb abrupt stehen, als hätte jemand seine Sohlen auf dem Fußboden festgeklebt. Er sah Enko an, dann uns, dann wieder Enko.

»Sagt mir bitte mal jemand, dass ich eine Brille brauche?«

»Du brauchst keine Brille, alter Mann«, rief Enko. »Dein Lieblingsrockstar ist zurück.«

Remi sah fragend zu Hermes hoch. Der lächelte entschuldigend. »Nur ein Hadessohn, auf den ich hin und wieder ein Auge habe.«

Remi runzelte die Stirn.

»Mein lieber Freund«, sagte Hermes plötzlich streng. »Du weißt schon, dass dich von deinem Vater eine ganz gewaltige Standpauke erwartet. Und wenn der mit dir fertig ist, kannst du dir genau die gleiche Standpauke von mir abholen. Außerdem möchte ich gar nicht wissen, was für ein Hokuspokus hier im Spiel war, damit du leibhaftig wieder vor uns stehst. Wenn du dafür wieder einen Teil deiner Seele an irgendeinen Gott verkauft hast, werde ich dafür sorgen, dass sich der Stubenarrest deines Vaters um weitere dreihundert Jahre erhöht.«

»Jetzt bleib mal cool, Hermes. Erebos hat das geregelt.« Enko schlenderte lässig an uns vorbei auf den Götterboten zu. »Stell mir lieber die Kleine mal vor.«

Hermes' Augen waren ein einziges großes Fragezeichen. Maéls Schultern bebten lautlos, während Gigi beide Hände über den Mund gepresst hatte, um nicht zu lachen. Tiffy hinter mir presste ihr halbes Gesicht gegen meinen Rücken und schien kurz vorm Platzen.

»Hi«, sagte Enko und streckte Remi die Hand hin. »Ich bin Sänger einer Rockband und war bis vor Kurzem noch ein Sternbild. Hast du heute Abend vielleicht Zeit?«

Remis Augen wurden sekündlich größer, dann sah er wieder Hilfe suchend zu Hermes hoch.

Der knirschte deutlich hörbar mit den Zähnen. Ich sah die Flügel aus den Hacken seiner Boots schießen, so aufgebracht war er. Die zwei goldenen Schlangen reckten sich aus dem Ausschnitt seines Hemdes hervor und fauchten Enko an.

»Wow, was geht denn jetzt ab?« Enko hatte immer noch nichts verstanden. »Gehst du mit ihr oder was?«

»Enko«, sagte Hermes, und seine Stimme klang geschätzte zehn Oktaven tiefer, »das ist Remi. Ein sehr talentierter Maler und die Liebe meines Lebens. Ich denke nicht, dass es sich schicken würde, wenn du ihn um eine Verabredung bittest.«

Enko war selten um Worte verlegen, und genau deshalb waren die Sekunden, die darauf folgten, nahezu filmreif. Irgendwann hustete er, straffte die Schultern und machte den Mund auf, klappte ihn dann aber wieder zu. Sein Blick glitt zu Remi. »Alles klar, Alter«, sagte er schließlich so lässig wie möglich.

Remi sah schon wieder ratlos zu Hermes hoch.

Der rang sichtlich um Geduld. »Erklär mir lieber, warum du leibhaftig vor uns stehst. Und zwar ohne irgendjemanden hier anzubaggern.«

Wir anderen, die in der Zwischenzeit immer näher gerückt waren, um auf gar keinen Fall auch nur eine Sekunde dieses Auftritts zu verpassen, mussten uns schon wieder heftig zusammenreißen, um nicht loszuprusten. Enko gab auch Hermes die Kurzfassung von dem, was Erebos für ihn getan hatte.

Hermes schien nicht hundertprozentig überzeugt, dafür war er viel zu überrascht genau wie wir, doch er protestierte auch nicht.

»Was für eine erfreuliche Begegnung«, sagte er dann. »Es ist schön, dass du wieder da bist.«

Noah klopfte ihm auf die Schulter. »Ich kann es immer noch nicht fassen. Das ist so genial.«

Hermes sah auf seine Armbanduhr. »So genial das auch ist, wir sollten jetzt los. Soweit ich weiß, habt ihr alle morgen Schule. Und du«, er deutete mit dem Finger auf Enko, »hast eine Semesterarbeit abzugeben.«

Enko hob in einer fragenden Geste die Hände. »Hermes, du bist nicht mein Pate.«

»Und ich weiß trotzdem Bescheid. Außerdem ist mir klar, dass deine Patin Aphrodite sich kein bisschen um dich kümmert. Also los. Geh zu deinem Vater, hol dir deine Standpauke ab, und dann ab an deinen Schreibtisch. Im Studium wird nicht gebummelt. Und ihr anderen«, er sah zu uns, »schön früh ins Bett heute, die Welt dreht sich ganz normal weiter.«

Maél seufzte tief, während Hermes uns vor sich hertrieb. Enko hatte sich verabschiedet, um seinem Vater am Pool die frohe Kunde mitzuteilen.

»Da verhindern wir den Weltuntergang, und er schickt uns wie Kinder ins Bett.«

»Das habe ich gehört«, rief Hermes von weiter hinten. Und dann, vermutlich an Remi gewandt: »Wir sollten in Zukunft strenger mit ihnen sein.«

Remi murmelte wieder etwas. Vor uns tauchten zwei reich verzierte Türen auf.

»Alle Mann nun bitte in den Fahrstuhl zu eurer Linken. Wir kommen im Restaurant im obersten Stock der ›Galerie Lafayette‹ an. Bitte verhaltet euch ganz normal.« Hermes räusperte sich. »So normal wie möglich. Wer mag, kann sich dort etwas zu trinken kaufen.«

»Gibt’s da eine Zooabteilung?« Selkes' Augen leuchteten.

»Untersteh dich, dich wieder in der Öffentlichkeit auszuziehen, bloß weil du Fische siehst.«

Selkes brummte, aber Gigi hakte sich tröstend bei ihm unter.

»Ich hätte Lust auf Hühnersuppe«, sagte Ödipus. »Auch wenn sie garantiert nicht so gut sein wird wie meine.«

»Was an ›unauffällig‹ ist eigentlich so schwer zu verstehen?« Hermes seufzte theatralisch. »Und außerdem …«

*Dingding*

Hermes wurde vom glockenhellen Klingeln des Aufzugs unterbrochen.

»Nächster Halt: Olymp«, sagte eine Computerstimme.

Das Innere der Kabine war prunkvoll wie ein Schloss gestaltet. Die Wände schienen komplett aus aufwendig gestalteten Bernstein-Intarsien zu bestehen.

»Cool!«, rief Noah. »Ihr habt das Bernsteinzimmer versteckt! Da wäre ich nie drauf gekommen. Das ist ja noch besser als die Geschichte mit dem Loch-Ness-Monster.«

»Husch, husch«, sagte Hermes, ohne Noahs wilde Verschwörungstheorien zu bestätigen. »Der Aufzug wartet nicht gern.«

Maél beugte sich zu mir, nachdem wir uns alle brav in der Kabine versammelt hatten. »Wir retten die Welt, und er ist der Typ mit Trillerpfeife und Klemmbrett, der uns die Bienchen und Blümchen erklärt. Fehlt nur noch so eine beigefarbene Uniform, Wanderstiefel und ein Hut und er ist der perfekte Anführer einer Pfadfinder-Truppe.«

Ich hörte das Lachen in seiner Stimme. Hermes war ein Original und in seiner pseudo-autoritären Art mehr unterhaltsam als beeindruckend.

»Oh!« Ich sah zu Maél hoch. »Jetzt weiß ich endlich, warum uns Erebos ›Pfadfinder‹ nennt.«

Maél grinste, dann küsste er mich zart. »Das kapierst du erst jetzt? Niedlich, kleine Nymphe.«

Ich boxte ihn dafür.

»Könnten wir noch mal über das Thema Bernsteinzimmer reden?«, warf Noah in die Runde. »Das interessiert mich wirklich.« Doch niemand schenkte ihm Beachtung.

»Ich möchte auch zur Uni gehen«, sagte Remi.

»Von mir aus.« Hermes wich noch ein Stück zurück, als die Türen sich geräuschlos schlossen. »Dann gehst du heute auch früh ins Bett.«

*Dingding*

»Nächster Halt: »Restaurant, Galerie Lafayette.«

Die Erde hatte uns wieder.

Es fühlte sich so gut an.

»Okay, verrückte Gang«, sagte Ödipus und ließ angriffslustig die Finger knacken. »Wer von euch kommt mit, die Hühnersuppe testen?«

»Niemand«, erwiderte Hermes so geduldig wie ein Kindergärtner. »Denn sie gehen …«

»… alle früh ins Bett«, sagten wir im Chor. Und dann lachten wir, bis uns die Besucher des Selbstbedienungsrestaurants komisch ansahen. Evangéline bewegte sich in der linken Kuhle meines Schlüsselbeins, vermutlich weil sie neugierig war, warum alle so gute Laune hatte. Ich legte meine Hand über die Stelle, um sie zu beruhigen. Alles gut, kleine Motte.

In meiner Tasche brummte mein Handy. Es war eine Nachricht von meiner Mutter: Liebes, magst du nach der Schule mit mir durch ein paar Geschäfte bummeln? Das wäre schön. Küsschen, deine Mom. Ich war so erleichtert, dass es meinen Eltern tatsächlich gut zu gehen schien, dass ich sofort ein Ja, gerne und ein paar Herzen zurückschickte.

»Oh, Fische!«, rief Selkes entzückt. »In einem Aquarium!«

»War das nun das Bernsteinzimmer oder nicht?« Noah tippte hektisch auf seinem Smartphone herum. »Hat jemand zufällig gerade ein Foto gemacht?«

Jemma schüttelte den Kopf, nahm dem protestierenden Noah das Handy ab und steckte es in ihre Tasche. Dann küsste sie ihn auf die Wange, was Noah sofort versöhnte.

»Guck mal, pinkfarbene Cupcakes!« Tiffy hakte sich bei Gigi unter. »Komm, die probieren wir, auch wenn sie bestimmt nicht so gut wie deine sind.«

Maél lächelte, und seine Liebe zu mir funkelte in jedem tanzenden Stern in seinen Augen. »Möchtest du einen Tee mit Honig?«

Ich erwiderte sein Lächeln und schob meine Hand in seine. »Sehr gerne.«

Die Erde hatte uns wirklich wieder.

– ENDE –