Kapitel 6

Götter, Nymphen, Katastrophen

Am Sonntagmorgen um halb elf stand ich in der Küche, um Gigi, Jemma und mir einen frischen Orangensaft zu pressen. Sie warteten in meinem Zimmer, und ein paar Vitamine waren sicherlich ganz hilfreich, um die grauen Zellen in Schwung zu bringen. Wir hatten bereits eine Stunde konzentriert durchgelernt, nun war es Zeit für eine kleine Vitaminpause. Ich räumte gerade die Orangenschalen in den Müll, als Dad mit der Post hereinkam.

»Möchtest du auch ein Glas frisch gepressten Saft?«, bot ich ihm an und deutete auf die Orangen im Obstkörbchen. »Ich bin gerade so in Schwung.«

Dad winkte ab. »Danke dir, das ist lieb. Aber nicht für mich.« Er ließ sich auf einem der hohen Barhocker vor der Theke nieder und blätterte durch seine Post.

Ich wischte die Arbeitsplatte ab und spülte den Lappen aus, während Dad mit seinen Papieren raschelte. Dann seufzte er, erhob sich und ging zu einem der Küchenschränke. Er steckte sich ein kleines Schokoladenröllchen in den Mund und schob direkt noch einen Keks hinterher. »Schrecklich, in der Küche bekommt man immer Hunger.« Er schnappte sich eine Packung Gummibärchen und ging zurück zu seinem Platz, während er immer noch kaute.

Ich musste lächeln und stellte mich hinter ihn, während ich mir mit dem Geschirrtuch die Hände trocknete. »Ja, das kenne ich. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten? Zum Thema Weltuntergang vielleicht?«

Dad schüttelte den Kopf, und der zierliche Barhocker quietschte unter seinem Gewicht, als er sich kurz zu mir umdrehte. »Dieses Himmelsphänomen ist seit gestern Abend verschwunden, und angeblich soll dieser planetarische Nebel ja keine Gefahr darstellen. Mal sehen, ob er heute Nachmittag wieder auftaucht.«

Ich zog die Tageszeitung zu mir und warf einen Blick auf das reißerische Titelbild. Selbst dieses seriöse Blatt, das Mom und Dad abonniert hatten, hatte es sich nicht nehmen lassen, das Wort »Apokalypse« in die Überschrift aufzunehmen.

Dad riss weitere Briefumschläge auf. Mein Blick fiel auf eine Karte, die an ein paar geschäftlich aussehende Dokumente geheftet war. Ich sah meinem Dad über die Schulter, um einen besseren Blick auf den Schriftzug darauf zu erhaschen. »Von wem ist die?«

Dad zog die Karte zu uns. »Sie ist von John, einem Kollegen von mir aus der Botschaft. Er liebt solche Sprüche.«

»Wer die Welt bewegen will, sollte erst sich selbst bewegen«, sagte ich leise. »Da ist echt was dran.«

Dad stutzte. »Seit wann sprichst du Altgriechisch?«

Verdutzt hielt ich inne. »Altgriechisch? Aber das steht doch da ganz klar und deutlich.«

»Ja, natürlich steht das da ganz klar, aber es ist ja nicht so, dass es besonders leicht zu übersetzen wäre. John und ich hatten Altgriechisch an der juristischen Fakultät. Aber ich glaube nicht, dass es an den internationalen Schulen unterrichtet wird. Oder hast du einen Kurs auf Youtube gemacht?«

»Was? Uni? Youtube-Video?« Ich stemmte beide Hände in die Taille. »Dad, was soll denn das?«

Er sah mich an, das hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. »Schätzchen, ich weiß, deine Mom wird mich dafür hassen, aber wenn das hier nur gespielt ist, dann sollten wir nach einer guten Schauspielschule für dich suchen. Du hast definitiv Talent.«

»Hä?« Nun kam es mir doch etwas komisch vor. Was die Schauspielerei betraf, war ich ungefähr so talentfrei wie ein Gummibaum. Ich blinzelte und sah erneut auf die Karte. Die Worte sagten mir nun überhaupt nichts mehr. Ich starrte darauf. »Oha«, rutschte es mir heraus. Ob es nur eine spontane Eingebung gewesen war?

Dad klopfte mir anerkennend auf den Rücken. »Du bist ja vielleicht eine kleine Schauspielerin. Alle Achtung. Ich hab dir das wirklich abgekauft.«

Ich brachte ein Lachen hervor. »Ja, äh, nein, also, es ist das Youtube-Video. Wie du gesagt hast.«

Dad grinste. »Altgriechisch ist nicht einfach. Erst recht die Grammatik nicht. Oder war es ein Video, in dem speziell Sprüche von Sokrates übersetzt wurden?«

Ich lachte noch mal, und wenn Dad nicht völlig Banane war, würde er merken, wie schrecklich künstlich und leicht hysterisch es klang. »Oh ja, genau, es ging nur um Sokrates. Cooler Typ. Ich meine, ich mag ihn. Und seit ich dieses Referat, du weißt schon, dieses Halbjahres-Referat über die griechischen Götter machen muss, bin ich total auf dem Griechenland-Trip. Gigi, Jemma und ich überlegen sogar, ob wir mal griechisch kochen sollen. Das macht bestimmt Spaß.«

Dad lächelte gutmütig. »Eine sehr schöne Idee.«

Mir war immer noch ganz schwindelig von diesen seltsamen Umständen. Ich sollte besser verschwinden, bevor ich noch mehr Weisheiten in ausgestorbenen Sprachen von mir gab. Ich stellte unsere drei Gläser und eine kleine Karaffe mit etwas Saft zum Nachgießen auf ein Tablett, packte ein paar Haferkekse dazu und wollte aus der Küche verschwinden.

»Schätzchen«, sagte Dad, als ich ihn passieren wollte. »Solange dieses Phänomen am Himmel nicht eindeutig geklärt ist, sorg bitte dafür, dass dein Handy immer auf laut gestellt ist. Deine Mutter und ich wollen dich nicht im Haus anketten, weil offenbar keine unmittelbare Gefahr droht, aber bitte mach uns keine Sorgen, falls wir dich wirklich erreichen müssen. Bitte lass das Handy immer auf laut, egal, wo du bist. Auch in der Schule. Ich bin mir sicher, die Lehrer werden dafür Verständnis haben.«

Ich nickte. »Klar, Dad, kein Problem.«

»Ich danke dir.« Dann wandte er sich wieder der Tageszeitung zu. »Und viele Grüße und viel Erfolg beim Lernen euch dreien.«

»Danke!« Ich hetzte zurück nach oben, wo Jemma sich sofort auf den Orangensaft und die Kekse stürzte, während Gigi vor meinem Bett auf dem Teppichboden lag und mit Evangéline kleine Kunststücke übte. Eigentlich erzählte ich ihnen immer alles, was mich bewegte, und ich hätte ihnen am liebsten sofort berichtet, dass ich plötzlich Altgriechisch lesen konnte. Doch wir wollten noch mindestens zwei Stunden am Stück für die Klassenarbeiten nächste Woche lernen, und wir hatten es dringend nötig. Zu viel Zeit war ins Land gegangen, in der wir uns nur mit mythologischen Ungereimtheiten beschäftigt hatten, anstatt uns auf die Schule zu konzentrieren. Wenn ich ihnen nun von meiner neuen Fähigkeit erzählte, würden wir die nächsten zwei Stunden rätseln, woher das plötzlich kam und ob es mit meinen Nymphenkräften zusammenhinge. Niemand würde mehr Lust haben, irgendwelche Notizen oder Lehrbücher zu wälzen. Was auch immer diese Neuentwicklung bedeutete, ich verzichtete darauf, sie sofort meinen Freundinnen zu erzählen. Die Klassenarbeiten waren wichtiger, und die beiden hatten schon genug Zeit geopfert, um mir beizustehen. Sie sollten nicht wegen mir auch noch in schulische Schwierigkeiten geraten. Außerdem hatten wir schon ausgiebig über die Neuigkeiten der letzten Nacht geredet: Tiffy, eine Hadestochter! Ein verloren gegangenes mächtiges Artefakt! Verschwundene Götter! Es klang wie der Plot eines Hollywood-Fantasyfilms.

Also hielt ich den Mund, auch wenn es mir schwerfiel. Wir machten noch zehn Minuten Pause und bewunderten die ersten Kunststückchen, die Gigi Evangéline beigebracht hatte, tranken unseren Saft und verdrückten ein paar Kekse, bevor wir so konzentriert weitermachten wie zuvor. Ich war jedoch nicht richtig bei der Sache, und es kostete mich all meine Konzentration, meine Gedanken nicht immer wieder abschweifen zu lassen.

*

Um kurz nach drei wartete ich an der Metrostation auf Enko und seinen fahrenden Schrotthaufen. Ich wippte ungeduldig auf den Hacken hin und her, denn der Hadessohn war eindeutig der richtige Kandidat, um mit ihm meine neu gewonnenen Sprachkenntnisse zu diskutieren. Doch er verspätete sich. Ich zog meinen Mantel enger um mich, denn es war kälter, als ich gedacht hatte. Enkos Parka hatte ich in einem Jutebeutel dabei.

Wie automatisch glitt meine Hand zu der linken Kuhle meines Schlüsselbeins. Doch sie war leer. Ich hatte Evangéline zu Hause gelassen. Dad würde den Rest des Tages in seinem Arbeitszimmer verbringen, und Mom war irgendwo im Haus eingeladen, wo sich einige Damen aus den diplomatischen Kreisen trafen. Ich machte mir keine großen Sorgen um die Motte, denn erstens würde Dad nicht in meinen Sachen wühlen und zweitens war Evangéline mittlerweile sehr geschickt im Umgang mit meinen Eltern. Beziehungsweise darin, den Umgang mit ihnen zu vermeiden. Ich vertraute ihr, dass sie einen geeigneten Schlupfwinkel finden würde, sollte meine Mom früher nach Hause kommen und beschließen, in meinem Zimmer ein wenig »aufzuräumen«. Der Gedanke, Evangéline bei einer Einbruchsaktion dabeizuhaben, hatte mir nicht behagt. Sie war zwar robuster, als sie aussah, aber trotzdem war und blieb sie ein kleines, zierliches Insekt, das viel zu kostbar war, um es in Gefahr zu bringen.

Ich konnte mir nicht vorstellen, sie jemals wieder abzugeben. Obwohl ich dem Händler nichts Böses wünschte, hoffte ich doch, dass er dort, wohin er verschwunden war, noch sehr lange bleiben würde. Ich hatte Evangéline liebgewonnen, sie war fast zu einem Teil von mir selbst geworden. Einem Körperteil, das nun fehlte, wenn es nicht da war. Nein, ich konnte und wollte mir einen Abschied von ihr nicht vorstellen.

Eine Hupe, die klang, als würde man einen Frosch würgen, ertönte unmittelbar neben mir am Bordstein. Ich schwang herum. Enko winkte durch das geöffnete Beifahrerfenster, und ich stürzte zum Auto. Zum Glück hatte er heute auf musikalische Untermalung verzichtet.

»Ich kann plötzlich Altgriechisch lesen«, sagte ich, als ich mich auf den Beifahrersitz fallen ließ.

»Masel tov!« Enko legte einen Gang ein. »Und dir auch einen guten Tag.«

Ich verdrehte die Augen. »Enko, hast du mir zugehört? Ich kann Altgriechisch lesen. Die Buchstaben sehen gar nicht anders aus als unsere, und ich kann sie einfach so lesen.«

Enko seufzte und reihte sich in den Verkehr ein. »Super. Dann kannst du ja mal überprüfen, wie schlecht die meisten altgriechischen Werke übersetzt sind. Grauenhaft, sage ich dir. Ich könnte dir dazu einiges erzählen …«

»Enko«, unterbrach ich ihn. »Hast du mir eigentlich zugehört?«

»Ja, klar. Wo ist das Problem? Du bist eine Nymphe. Keine Ahnung, ob die das vielleicht können?«

Ich ließ mich in dem Sitz noch tiefer sinken. »Super, und ich hatte gedacht, du könntest mir Antworten geben. Bei Halbgöttern passiert das doch mit Erreichen des zwölften Lebensjahrs. Ich bin schon sechzehn, und das nicht erst seit gestern. Was hat das zu bedeuten?«

»Entspann dich mal. Solange es nicht wehtut, ist doch alles okay. Und auf der Uni kannst du da super Credit Points in deinem Wahlfach sammeln. Dann wird die ganze Geschichte mit dem Bachelor ein Spaziergang.«

Seine lapidare Einstellung brachte mich ein wenig zur Weißglut. Ich bastelte gerade mental an einem entsprechenden Vortrag dazu, als Enko kurz zu mir rüber sah.

»Wir müssen noch mal ins Wohnheim, ich habe etwas vergessen.«

»Was hast du denn vergessen? Deinen Zauberstab?«

»Sehr witzig. Mein Dietrich-Set.«

»Du besitzt ein Dietrich-Set?«

Er nickte. »Und wie du siehst, braucht man es hin und wieder.«

Da konnte ich nicht widersprechen. »Ist es ein mythologisch-magisches Dietrich-Set? Etwas, das die angeblich existierenden Alarmanlagen ausschalten kann?«

»Nein, ist es nicht. Es ist einfach nur ein Dietrich-Set.«

»Wo bist du schon überall damit eingebrochen?«

Enko grinste breit. »Das würdest du wohl gerne wissen …«

»Sonst hätte ich nicht gefragt.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich möchte ein wenig geheimnisvoll bleiben. Wenn ich dir das alles erzählen würde, wäre ich irgendwann langweilig.« Er schien nicht bereit, weiter darüber zu reden.

Also wechselte ich das Thema. »Und? Hast du Tiffy schon verpetzt?«

Nun war er es, der die Augen verdrehte. »Du und ich, wir beide, wir haben einen Deal. Erinnerst du dich? Gestern, wir zwei, in der Umkleide …« Er wackelte mit den Augenbrauen. »Es war ziemlich dunkel, und wir waren einander sehr nahe …«

Ich drehte meinen Kopf Richtung Fenster und stöhnte. »Oh, bitte.«

Er lachte kurz auf. »Um es noch mal deutlich zu machen: Nein, ich habe diese Tiffy nicht verpetzt. Und um es ebenso deutlich zu machen: Ich glaube kaum, dass sie eine Tochter von Vater ist. Ich erkenne Hadessöhne, wenn ich sie …« Er verstummte abrupt. »Mannomann, das ist echt so krass. Also noch mal von vorn: Ich erkenne Kinder von Hades, wenn ich sie sehe. Ich hatte wirklich Zeit genug zum Üben.«

Ich wollte gerade den Mund aufmachen und Enko von der Vertauschungsaktion durch Nyx erzählen, als mich mein Unterbewusstsein eindringlich warnte. Also klappte ich den Mund wieder zu und sagte gar nichts.

Irgendwann redete Enko weiter.

»Keine Ahnung, warum sie dir das weismacht. Vielleicht will sie sich auch einfach nur wichtigmachen. Vielleicht ist sie die Tochter irgendeiner völlig unwichtigen Nebengöttin, nach der kein Hahn kräht, und Tiffy liebt einfach den großen Auftritt. Okay, ihre Attribute sind definitiv Attribute der dunklen Götter. Aber sie könnte wer weiß wer sein. Tochter der Mondgöttin, der Nebelgöttin, der Sternschnuppengöttin …« Er wedelte mit der Hand. »Oder was weiß ich. Es gibt jede Menge unterschiedliche Götter, die alle so unwichtig sind, dass niemand sie kennt. Und die meisten von ihnen sind schon irgendwohin verschollen, vermutlich aus Frust, weil sich keiner für sie interessiert. Bei dieser Tiffy wird es genauso sein. Lass dich von ihr nicht beeindrucken.« Er sah zu mir. »Du hast immerhin einen echten Hadessohn, der dich im Auto herumkutschiert.«

»Hab ich ein Glück«, murmelte ich.

Enko lehnte sich trotz des laufenden Verkehrs mit dem Kopf zu mir, stupste mich mit der Nase vor die Schulter und grinste dann so breit, dass er mal wieder absolut unwiderstehlich aussah. Wir mussten beide lachen.

»Okay«, sagte ich. »Du hast eindeutig gewonnen.«

»Na klar«, erwiderte er. »Ich gewinne immer.«

Ich schüttelte bloß den Kopf.

*

Im Flur des Wohnheims roch es nach Fertiggerichten und ungewaschenen Socken. Ich folgte Enko in sein winziges Zimmer, das nur wenig aufgeräumter schien als beim letzten Mal.

»Blickst du hier überhaupt noch durch?« Ich drehte mich einmal um mich selbst.

Enko wühlte bereits auf seinem Schreibtisch herum. »Das Genie überblickt das Chaos, Baby. So einfach ist das.«

Ich musste schmunzeln. Der Spruch war mal wieder so typisch Enko.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Enko, ohne sich umzudrehen.

»Nein, danke. Aber ich habe deinen Parka dabei.« Ich zog den Mantel aus meinem Jutebeutel und legte ihn kurzerhand dahin, wo noch Platz war: auf das Bett. Es war mal wieder der einzige Platz in diesem Zimmer, der wirklich ordentlich und aufgeräumt war. Bei jedem anderen hätte ich mich vermutlich wie selbstverständlich auf die Bettkante gesetzt. Doch bei Enko blieb ich lieber stehen. Ich hatte gelernt, auf mein Bauchgefühl zu vertrauen, und Enko kam mir immer noch vor wie eine tickende Zeitbombe. Wie jemand, der gewohnt war zu bekommen, was er wollte, und dies mit allen Mitteln zu erreichen versuchte. In meinem Falle, indem er mir den lustigen, überdrehten Studenten vorspielte, den ich vermutlich sympathisch finden würde. Obwohl es gemein war, so über ihn zu denken, wollte mein Verstand einfach nicht still sein. Eine kleine flüsternde Stimme in meinem Kopf warnte mich eindringlich, Enko für etwas anderes zu halten, als er war: ein Sohn von Hades. Jemand, der immer haben wollte, was anderen gehörte. Der Bruder, vor dem Maél mich eindringlich gewarnt hatte.

»Danke dir.« In einem der Schreibtischfächer fiel etwas klirrend um. Enko fluchte leise, wühlte aber genauso akribisch weiter. Dann wechselte er zur anderen Seite des Schreibtischs und riss dort alle Schubladen hintereinander auf. »Wo ist denn dieses verdammte Ding?«, murmelte er.

Ich verschränkte die Hände hinter meinem Nacken und streckte mich. Mein hastig herunter geschlungenes Mittagessen hatte mich ein wenig müde gemacht. »Also, ich würde hier überhaupt gar nichts finden.« Ich dehnte meinen Rücken und drehte mich zu der breiten Bücherwand. »Du liebe Zeit.« Ein leises Stöhnen kam mir über die Lippen. »Allein diese ganzen wild durcheinander gestapelten Bücher. Da blickt doch kein Mensch mehr durch.«

Als ich keine Antwort von Enko bekam, ließ ich die Hände sinken und drehte mich zu ihm. Er starrte mich an, das Dietrich-Set mit den Fingern fest umklammert. Die Art, wie er mich ansah, machte mir sofort bewusst, wie das gerade eben auf ihn gewirkt haben musste. Ich hatte mich gestreckt, den Rücken durchgebogen und mich leicht hin und her gewiegt. Das Stöhnen musste den Rest dazu beigetragen haben. Enkos Blick war der eines fast verhungerten Raubtiers. Er reckte die Schultern, und die Flammen in seinen Augen begannen zu tanzen.

Intuitiv wich ich einen Schritt zurück. Da war es wieder. Das Erbe seines Vaters, das so unkontrolliert hervorbrach. »Enko.«

Enko legte das Dietrich-Set hinter sich auf die Tischplatte. Langsam und sehr bedächtig.

»Enko.« Dieses Mal hatte meine Stimme einen warnenden Unterton.

In der nächsten Sekunde stand er vor mir. Nah, viel zu nah, und sein Atem strich über meinen Hals. Er hatte den Kopf geneigt, und nun berührte seine Nasenspitze meine Ohrmuschel. »Du weißt, wie sehr ich es versuche.« Seine Stimme klang gepresst. »Ich weiß, dass du es weißt. Gestern, da war ich schon kurz davor. Aber jetzt …« Er brach ab. Gleichzeitig legte er seine Hand flach auf meinen Rücken.

In mir begann alles zu flattern. Enko hatte aus reiner Gewohnheit die Tür hinter uns abgeschlossen. Wirklich aus reiner Gewohnheit? Wenn ich mich jetzt herumwarf, brauchte ich wertvolle Sekunden, um die Tür zu entriegeln. Sekunden, die ich bei einem Hadessohn definitiv nicht hatte. Er war schneller als ich, er war stärker als ich, und ein Gewissen schien er nur zu besitzen, wenn ihm gerade danach war. Meine Chancen standen also denkbar schlecht.

Ich wartete auf die Angst, auf das Zittern und Flattern, das mir den Verstand vernebeln würde. Auf diese Urangst, die ich bei Enko immer im Hinterkopf behalten hatte. Dieses Gefühl, dass er etwas war, das auch seine menschliche Seite nicht hatte domestizieren können. Egal, wie gut er mir den Menschen vorgespielt hatte. Doch da war nichts. Kein Zittern, kein Flattern, keine Angst. Diese Erkenntnis traf mich völlig unerwartet.

Da war etwas in mir, eine Gewissheit, eine neu erwachte Kraft, die mir zuflüsterte, nicht zurückzuweichen, sondern mich ihm entgegenzustellen. Mich ihm ebenbürtig zu fühlen. Wärme erwachte tief in meinem Inneren und breitete sich wie flüssige Lava in all meinen Zellen aus. Meine Haut fühlte sich an, als würde sie brennen. Es war jene Kraft, die mir versicherte, dass ich nie wieder Angst vor Enko haben musste. Ich ließ es zu. Ich vertraute meinem Bauchgefühl. Ich vertraute dem neu erwachten Gefühl in meinem Inneren. Keine Angst. Kein Zurückweichen.

Ich presste beide Hände gegen Enkos Brust und stieß ihn von mir.

Er lachte, als wäre es die Aufforderung zu einem Spiel. Sofort kam er wieder näher. Doch dieses Mal hielt er einen leichten Abstand. Die Hitze in mir sandte triumphierende Funken durch all meine Adern. Ich sah ihm direkt in die Augen. »Liebst du deinen Bruder?«

Die Antwort kam ohne ein Zögern. »Ja.«

»Und würdest du ihm etwas wegnehmen, das er liebt?«

Enko zögerte. »Wir sind Halbgötter, Livia.«

»Na und?«

»Wir sind anders. Diese Art von Gefühlen …« Er brach ab. »Es geht hauptsächlich um Macht.«

»Um Macht?« Ich bekam kaum Luft. Enko schien erst in diesem Moment zu bemerken, was er da gesagt hatte. Er wollte den Mund aufmachen, doch ich war schneller. »Du meinst also, es geht bei dir nur um Macht? Ist es das? Willst du das erfüllen, was Maél dir immer unterstellt hat? Ihm etwas wegnehmen, nur weil es ihm gehört?«

»Nein.« Er klang ganz ruhig. »Ich will um etwas kämpfen, das mir wichtig ist.«

Ich schüttelte den Kopf. »Enko, für dich ist doch alles nur ein Spiel. Deine Meinung dreht sich mit dem Wind. Du sagst, ohne zu zögern, dass du deinen Bruder liebst und erklärst mir im nächsten Atemzug, dass Götter zu so etwas gar nicht fähig sind. Was soll ich nun glauben?«

»Königreiche sind gefallen, weil Brüder die gleiche Frau begehrten. Allianzen wurden gebrochen, Kriege entfesselt und ganze Kontinente entzweit. Ich werde mich nicht dafür entschuldigen.« Er schluckte und schien einen Moment ganz in Gedanken versunken. Als er wieder hochsah, hatte er dieses Funkeln in den Augen. »Der Krieg um sie verstummte, als die schöne Helena auf Trojas brennenden Mauern tanzte. Es war ihr egal, dass die Schlacht aussichtslos schien. Sie hat sich nicht darum geschert, was andere über sie sagten. Du bist wie sie. Es kümmert dich nicht, dass alle dir sagen, dass du einen aussichtslosen Kampf führst. Du lachst ihnen ins Gesicht, weil sie dir keine Angst machen.« Er lächelte. »Du tanzt auf brennenden Mauern.«

»Enko …« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Er überwand die kleine Distanz zwischen uns. Als er meine Hand mit beiden Händen umschlang, jagte ein Schauer meine Wirbelsäule hinab.

»Maél ist mein Bruder, aber ich werde ihm wegnehmen, was er liebt.« In seinen Augen war nichts Menschliches mehr. »Ich kann es, und ich werde es.«

Ein kleiner Teil meines Verstandes bäumte sich auf, als er realisierte, dass Enko die Nymphe in mir ansprach. Langsam und bedächtig ließ er die Kraft in seiner Stimme mein Nymphenerbe übernehmen.

»Es geht doch gar nicht um mich.« Ich entzog ihm abrupt meine Finger. Das Sprechen fiel mir schwer. »Es geht um Maél. Ich bin das Spielzeug, das du ihm wegnimmst, um ihn zu ärgern.«

Enko lachte leise. »Livia, schöne Livia. Kampfeslustige Frauen finde ich wahnsinnig attraktiv. Da schlagen wohl meine Wikinger-Gene durch.« Er kam noch näher. Wieder nahm er meine Hand.

Ich blinzelte, um seinem Blick zu entkommen. Es durfte nicht passieren, dass er mich weiter manipulierte. Niemals wieder würde ich mich von einem dunklen Gott für seine Zwecke benutzen lassen, so wie Maél mich nachts durch halb Paris geschickt hatte. Doch die Kräfte der dunklen Götter waren stark, und es fiel mir schwer, nicht nachzugeben. Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Konnte ich Enkos Macht vielleicht irgendwie abschütteln? Lass mich klarsehen. Lass mich seine Macht durchschauen. Etwas in mir kribbelte. Dann klarte mein Hirn auf, als würden die dunklen Wolken an meinem Himmel einfach zur Seite geschoben. Mir fiel auf, dass ich meine linke Hand noch frei hatte. Ich packte Enkos Gesicht.

Er gab einen Laut von sich, der fast wie ein Schnurren klang. »So gefällt mir das.«

Nicht mehr lange, dachte ich und ließ all meine heiße Wut durch meinen Arm strömen. Sekunden später warf seine Haut Blasen.

»He!« Er ließ mich los. Die Haut um sein Kinn war rot und aufgeplatzt. Er sah aus, als hätte er sich einen schweren Sonnenbrand zugezogen. »Du gehst aber ganz schön ran.«

Ich wich einen halben Schritt zurück. Es kostete mich so einiges, die Überraschung über meine Kräfte zu verbergen. Doch meine Wut siegte. »Glaubst du etwa, ich bemerke deine faulen Tricks nicht? Willst in meinem Kopf herumpfuschen und mich beeinflussen, als wäre ich immer noch die gutgläubige Nymphe, die nichts weiß und nichts bemerkt? Sorry, Hadessohn, diese Tage sind lange vorbei.«

Enko nahm es sportlich. Seine Haut begann bereits zu heilen. »Okay. Und du stehst also auf die richtig harte Gangart? Mannomann, hätte ich meinem Weichei von Bruder gar nicht zugetraut.«

Nur mit sehr viel Mühe schaffte ich es, bei dieser Anzüglichkeit nicht rot zu werden. Stattdessen lachte ich spöttisch. »Du hast gequietscht wie eine Maus, als ich dich berührt habe, und nennst ihn Weichei? Niedlich.«

Enkos Augen weiteten sich. Für einen Moment starrten wir uns an. Enkos Kiefermuskeln arbeiteten.

»Warum er?«, stieß er dann heiser hervor. »Warum ausgerechnet er?«

»Ich liebe ihn.«

»Aber warum?« Er wischte sich die letzten Hautfetzen vom Kinn. Dann war er wieder der makellos schöne Halbgott, den alle so anbeteten.

»Liebe kann man nicht erklären. Es ist ein Gefühl, das entweder da ist oder eben nicht.«

Enko sagte nichts. Ihm schien keine Gegenfrage einzufallen.

Ich zog den Riemen meiner Umhängetasche zurück an ihren Platz. Immer noch fühlte ich diese Kraft in mir. Die Kraft, die mich aufrecht hielt und meine Angst vor ihm zum Schweigen brachte. »Ich werde jetzt gehen. Ich danke dir für deine Hilfe und deinen Beistand, aber das hier ging zu weit. Ich dachte, wir wären Freunde. Freunde machen so etwas nicht.«

»Geh nicht.« Er streckte die Hand aus, ließ sie dann aber schnell wieder sinken. »Es tut mir leid.«

Ich schüttelte den Kopf, meine Finger fest um den Trageriemen der Tasche geschlungen. »Ich dachte, du wolltest mir helfen. Ich war der Meinung, es ginge um Maél. Darum, ihn zu befreien. Jetzt, da ich deine wahren Absichten kenne, sollten wir das mit uns beenden.«

»Was sind denn meine wahren Absichten?« Enko verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn ich dich hätte fressen wollen, hätte ich das schon vor Wochen gemacht.«

»Oh Mann, Enko.« Ich schnaubte. »Dieser Satz sagt echt alles.« Ich drehte mich um, entriegelte die Tür und griff nach der Klinke. »Ein schönes ewiges Leben noch.«

Doch so schnell ließ er mich nicht gehen. Er stand im Nu so dicht hinter mir, dass ich die Tür nicht mehr öffnen konnte.

»Du verrennst dich in einen naiven Traum, wenn du glaubst, dass Maél jemals wieder freikommt. Du magst zwar wissen, dass er sich als Retter der Menschheit aufspielen wollte. Aber die Beweise, das, was zählt, sprechen gegen ihn. Sie werden ihn für Jahrhunderte einkerkern.«

Ich tat ihm den Gefallen und drehte mich ein letztes Mal zu ihm um. »Soll das ein Angebot sein?«

Enkos übernatürlich weiße Zähne machten sein Grinsen noch bedrohlicher. »Ich bin mir sicher, wir hätten eine Menge Spaß.«

Ich wich zurück.

Enkos Grinsen wurde noch breiter.

»Spaß. Soso.« Ich schnaubte verächtlich. »Du hast keine Ahnung von der Liebe.«

Enko fand unser Wortgeplänkel wohl amüsant. Er überwand die letzte Distanz zwischen uns.

Mein Rücken prallte gegen die dünne Tür.

»Du könntest mir Nachhilfe geben.«

Ich schüttelte den Kopf. »Sorry, aber ich erkenne einen hoffnungslosen Fall, wenn ich ihn vor mir habe. Und jetzt lass mich gehen.«

»Wir diskutieren das Phänomen der Liebe. Wie könnte ich dich da gehen lassen?«

»Das hast du nicht zu entscheiden.« Blitzschnell schlang ich meine Hand um seinen Hals. »Lass mich jetzt sofort gehen, oder ich verpasse dir einen Handabdruck, an den du dich für den Rest des Abends erinnern wirst.« Ich gab ihm einen kleinen Vorgeschmack.

Enko grinste, rührte sich aber immer noch nicht.

Ich verstärkte die Kraft, ließ meine Wut emporkriechen und konzentrierte die Hitze in meinen Gliedern auf dieses eine Ziel. Ich hatte keine Ahnung, woher das alles kam, diese Wut, meine Hand um seinen Hals, die Kraft und was ich mit ihr anstellte. Doch solange ich intuitiv wusste, wie ich sie einzusetzen hatte, wollte ich es nicht hinterfragen. Jedenfalls nicht in einer Situation wie dieser.

»Ja, streng dich an, Nymphe«, wisperte Enko. »Mach dem fiesen Hadessohn ein bisschen Angst.« Er klang immer noch belustigt. Im nächsten Moment hatte er sich vorgebeugt, und seine Zungenspitze strich über meine Wange. Meine Hand drückte ihm den Kehlkopf bedrohlich ein, doch es schien Enko nicht aufzuhalten. »Soll ich dir mal zeigen, was ich so kann?« Er sprach nah an meinem Ohr, sein Körper so hart gegen meinen gepresst, dass ich mich nicht rühren konnte. Dann wich er so abrupt zurück, dass sich meine Hand von seinem Hals löste. Meine Finger hatten rosa Abdrücke darauf hinterlassen. An einer Stelle sah ich sogar eine kleine Brandblase.

Es zischte, als Enko seine rechte Hand hob. Ein kleiner Feuerball loderte darauf. Mit der Linken griff er nach meinem Kiefer und drückte so stark, dass ich den Mund ein Stückchen öffnen musste.

Nun wallte doch Angst in mir auf. Er würde doch nicht …? Nein, das würde er nicht. Wollte er mir etwa den kleinen Feuerball in den Mund schieben?

Enko hob den Kopf gerade genug, dass ich ihn ansehen konnte. »Lust auf etwas richtig Heißes, Baby?«

Er schnippte den Feuerball in die Luft, fing ihn mit dem Mund auf, und dann küsste er mich.

Ich hatte von meinen Eltern zu meinem sechzehnten Geburtstag ein winziges Schlückchen Sekt bekommen. Enkos Feuerkuss schmeckte genauso. Überraschend, prickelnd und leicht schwindelerregend. Der Feuerball schmolz auf unseren Zungen, und einen ewigen Moment war da nichts als Hitze und zerspringende feurige Funken. Es vergingen nur Sekunden, bis ich ihn hart von mir stieß.

»Was erlaubst du dir!« Meine Stimme überschlug sich vor Wut. Ich musste auf Distanz gehen, sonst würde ich einen Schreikrampf bekommen. Also machte ich ein paar Schritte an ihm vorbei durchs Zimmer bis zu seinem Schreibtisch. Ich brauchte den Abstand, um meine Kräfte wieder zu sammeln. Um die Angst zu bezwingen. Dass sich meine Fluchtmöglichkeiten dadurch rapide verschlechtert hatten, fiel mir erst auf, als Enko sich lässig gegen die Tür lehnte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. »Fass mich noch einmal an, und ich schwöre dir, ich finde einen Weg, dich für immer zu deinem Vater in den Tartaros zu verbannen. Bah!« Ich wischte mir energisch über die Lippen. Sie waren immer noch unnatürlich warm.

Enko sah fast ein wenig beleidigt aus. »Mach mal nicht so ein Fass auf, Herzchen. Wer hat denn angefangen?«

»Ich wollte dir wehtun, du erinnerst dich? Meine Hand lag um deinen Hals.«

Enko zuckte die linke Schulter. »Und ich wollte dich küssen. Ende der Geschichte.«

»Entschuldige mal? In meiner Welt ist das nicht vergleichbar. Außerdem habe ich einen Freund. Deinen Bruder Maél. Falls dir das entfallen sein sollte.«

»Ja und? Ich habe dich geküsst. Nicht andersherum. Deine Tugend ist also unangetastet. Okay, du hast mich zurückgeküsst, und du kannst mir nicht erzählen, dass es dir nicht ein kleines bisschen gefallen hat, aber …«

Ich sah ihn fest an. »Es hat mir nicht gefallen.«

Enko ließ seinen Blick an mir hinab und wieder hinauf wandern. »Du bist so eiskalt. Kaum zu fassen, dass da kein Götterblut in deinen Adern fließt.«

»Hau von der Tür ab. Ich muss meinen Freund retten.«

Natürlich rührte er sich nicht. »Warum er? Ich wäre eine ebenbürtige Alternative.«

»Wir sind Feuer und Feuer, Enko. Das mit uns würde niemals gutgehen.«

»Ja, klar. Und du und Maél seid ein Traumpaar?«

Ich sah ihn fest an. »Wir sind Licht und Schatten. Wir existieren nicht ohne einander.«

Etwas in Enkos Gesicht zerbrach. Endlich wich er so weit zurück, dass ich die Tür öffnen konnte. Trotzdem behielt ich ihn im Auge, als ich das Zimmer durchquerte. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich ihn passierte, und all meine Coolness schien dahin.

»Livia.«

Ich sah die Flammen, sah, wie er von innen heraus loderte.

Schnell griff ich nach der Klinke. »Halte dich fern von mir, Enko. Für immer.«

Ich zog die Tür hinter mir zu. Mit klopfendem Herzen blieb ich einen Moment im Flur stehen. Immer bereit, es mit ihm aufzunehmen, sollte er mir folgen. Doch seine Tür blieb geschlossen. Dann erklang Lärm, der sich anhörte, als würde er seine Bücherregale umwerfen.

Ich nahm die Beine in die Hand und sah zu, dass ich aus dem Wohnheim kam.