Kapitel 2
Die Textilreinigung des Monsieur Wu
Um 16 Uhr warteten wir an der Metrostation »Champs de Mars« auf Enko. Ich hatte sie als Treffpunkt vorgeschlagen, weil ich nicht wollte, dass unser Portier Fabrice mal wieder meinen Umgang kommentierte. Mit Maél war er bereits aneinandergeraten, und da Enko ein ähnliches Kaliber war, wollte ich ein Aufeinandertreffen bewusst verhindern. Nicht nur Jemma und Gigi warteten mit mir, auch Noah war mit von der Partie. Er war offenbar wild entschlossen, voll in das Thema »griechische Mythologie im Alltag« einzutauchen. Er war ein wenig blass, aber wann auch immer sein Blick auf Jemma fiel, leuchteten seine Augen. Noah hatte es so richtig erwischt, aber auch Jemma wirkte happy und aufgekratzt zugleich in seiner Gegenwart.
Noah erzählte gerade, dass er seine beiden Hunde »Cookie« und »Cream« heute bei seiner Mutter gelassen hatte, als der älteste Kleinwagen von Paris mit ächzender Karosserie vor uns zum Stehen kam. Aus dem Inneren erklang Musik, die sich anhörte, als würde jemand eine Katze quälen. Die nicht gerade melodische Untermalung durch eine Flöte, die klang, als hätte sie zu lange im Wasser gelegen, machte es nicht besser.
Wir sahen uns alle an.
»Das ist er.« Noah zog ein Gesicht. »Aber was ist das für ein Krach?«
Enko faltete sich erstaunlich mühelos aus dem Spielzeugauto. »Freunde, Verbündete, Vasallen!« Er riss sich die riesige Sonnenbrille von der Nase. »Karthago muss fallen.«
Wir sahen uns schon wieder an.
»Römische Zitate für jeden Tag«, stellte Noah trocken fest. »Eine super App, habe ich auch.«
»Wo ist er da gerade rausgestiegen?«, flüsterte Jemma mir ins Ohr. »Aus einem Staubsauger mit vier Reifen? Und wie passt er da rein?«
»Keine Ahnung. Es sieht aus wie eine größere Ente. Ob wir uns da zu dritt auf die Rückbank quetschen können?«
»Und ob wir das wollen?« Jemma zog die Nase kraus.
Enko kam um den Wagen herum auf uns zu. »Bereit für den Kampf?«, brüllte er über den Lärm namens »Musik« hinweg, zu dem sich just in diesem Moment noch ein fehlgestimmter Dudelsack gesellte.
Um uns herum blieben schon wieder die ersten Passanten stehen. Aber so war das immer mit Enko. In seinem bundeswehrgrünen Parka, den zerrissenen Röhrenjeans und den schweren Boots sah er aus wie ein exaltierter Musiker oder Schauspieler. Er trug ein schwarzes Hemd, das mit einem tiefroten psychedelischen Rosenmuster bedruckt und eindeutig einen Knopf zu tief aufgeknöpft war. Enko strahlte in die Runde und verteilte dann Küsschen an uns Mädchen und eine Umarmung an Noah.
»Warum so miesepetrig? Wir retten jetzt meinen Bruder, damit Livia weiter mit ihm rumknutschen kann.«
Ich stöhnte auf und barg mein Gesicht in meinen Händen. »Enko …« Meine Wangen brannten.
»Sind deine Boxen kaputt?«, fragte Noah und deutete auf das Auto.
»Nein.« Enkos Strahlen verrutschte nicht. »Hopp, hopp, hinein in die gute Stube. Chinatown liegt im 12. Arrondissement. Dafür müssen wir durch die halbe Stadt.«
Er öffnete die Beifahrertür und deutete einladend ins Innere. Von außen wirkte das pastellblaue Miniauto unbekannter Marke ziemlich abgerissen und rostig, aber innen war es erstaunlich gepflegt. Noah schlüpfte auf die Rückbank und zog Jemma mit sich. Gigi folgte ihr, und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich vorn neben Enko zu setzen. Er schenkte mir dieses Lächeln, mit dem er ganze Stadien zum Dahinschmelzen brachte, dann gab er Gas.
»Kannst du das bitte abstellen?«, brüllte Noah von der Rückbank.
Enko schüttelte nur den Kopf.
Andere Autos schnurrten wie Raubkatzen, wenn man das Gaspedal durchtrat. Dieses Modell gab ein Husten von sich, das entfernt an einen erkälteten Waschbären erinnerte. Enko reihte sich in den Verkehr ein, während sich zu dem Lärm aus Dudelsack, Flöte und kreischender Katze noch dumpfe Trommeln gesellten, deren Klang empfindlich in meinem Magen widerhallte. Unauffällig lehnte ich meinen Kopf ans Fenster, um mir wenigstens ein Ohr zuhalten zu können, ohne dass Enko es sah.
*
Zum Glück gerieten wir nicht in einen Stau und erreichten Chinatown in einer viertelstündigen Fahrt. Jemma, Gigi und ich sahen begeistert durch die Scheiben. Ein buntes Geschäft reihte sich an das andere, rote Lampions hingen in den Fenstern und große goldene Drachenstatuen zogen alle Blicke auf sich.
Enko parkte, würgte die Musik ab und stieg als Erster aus. Er schien bester Laune zu sein. Ich genoss einen Moment lang die Stille, bevor auch ich ausstieg und meinen Sitz umklappte. Enko streckte seinen langen Körper und klimperte dann mit dem Schlüsselbund. »Eine Sightseeingfahrt quer durch Paris, und das mit bester musikalischer Untermalung. Was will man mehr?«
»Einen Nothammer für die Heckscheibe, vielleicht?« Noah quetschte sich durch den schmalen Spalt zwischen Rückbank und Vordersitz. Er rieb sich die Ohren, als schmerzten sie.
Jemma stupste ihn lachend an. »Ich dachte, ihr macht Musik zusammen?«
»Ja, aber dieses düstere Geheimnis hat er bisher vor mir verborgen.« Er sah in die Runde. »Wer hat noch das Gefühl, dass die Ohren bluten?«
»Meine Mutter kam aus Norwegen, und ich ehre ihr Andenken, indem ich die Musik meines Landes höre«, erklärte Enko hoheitsvoll und steckte endlich den klimpernden Schlüsselbund weg.
»Kein Wunder, dass die Wikinger ausgestorben sind«, erwiderte Noah ungnädig. »So etwas überlebt man nicht langfristig ohne Hirnschaden.«
Enko wollte gerade Luft holen, vermutlich um nun einen ausführlichen Vortrag über seine Vorfahren und deren außergewöhnliche musikalische Talente zu halten, doch ich knallte die Beifahrertür lauter als nötig zu. Er hielt inne und sah zu mir.
»Ist es das?« Ich deutete auf das große rote Schild an dem Ladengeschäft vor uns, das in elegant geschwungenen goldenen Lettern verhieß, dass es sich um die »Chinesische Reinigung von Monsieur Wu« handelte. Ein kleineres Schild darunter verkündete, dass Monsieur Wu »auch die hartnäckigsten Flecken« sicher entfernte.
Enko nickte, während Gigi sich bei mir einhakte und mit großen Augen zu dem Schild hochsah.
»Ich war noch nie in Chinatown, aber genauso habe ich es mir immer vorgestellt.«
»Willst du vorgehen?«, fragte ich Enko. »Du bist doch schon mal hier gewesen.«
Er antwortete nicht, stattdessen bedeutete er uns einfach, ihm zu folgen. Als er die Tür der Reinigung aufstieß, klimperte irgendwo ein Windspiel. Es roch nach Ingwer und süßen Räucherstäbchen. Von hinten erklang leise exotische Musik. Ein Mann mittleren Alters hob den Kopf, als wir auf die Theke zugingen. Er nickte uns zum Gruß zu, und seine Mandelaugen blitzten neugierig auf, als er uns der Reihe nach musterte.
»Die Herrschaften wünschen?«
»Wir wollen zum Herrn der Flüsse«, sagte Enko, und wie von Zauberhand erschien ein kleiner Feuerball über seiner Handfläche. Noah schnappte nach Luft. Der chinesische Reinigungsfachangestellte jedoch schien unbeeindruckt. Er warf einen kurzen Blick auf den tanzenden Feuerball, dann klappte er einen Teil der Theke hoch, damit wir ihm nach hinten folgen konnten.
Zunächst ging es an schier unendlichen Reihen ordentlich gebügelter Kleidung vorbei. Eine junge Chinesin war gerade dabei, noch weitere Bügel aufzuhängen. Wir durchquerten eine breite Tür und betraten die Wäscherei. Ich wäre fast stehen geblieben, wäre Jemma nicht von hinten gegen mich gestoßen. Gigi stieß ein überraschtes Keuchen aus. Aber auch ich glaubte zu träumen. In großen, durchsichtigen Bottichen tummelten sich grünlich schillernde Wesen, die ich noch nie gesehen hatte. Sie sahen aus wie kleine Wasserdrachen, und es wirkte tatsächlich so, als würden sie die Wäsche waschen. Seepferdchen pusteten schäumende Blasen in das Wasser, und die ganzen Bottiche schienen zu brodeln. Waschmaschinen entdeckte ich keine. Nur jede Menge kleine Wassertiere, die fleißig ihrer Arbeit nachgingen. Auf langen Theken lagen Kleidungsstücke ausgebreitet, die mit besonders schlimmen Flecken verschmutzt waren. Diese wurden von Meeresschnecken bearbeitet, deren klebriges Sekret die Verschmutzungen aufzulösen schien. Große violettfarbene Quallen wirbelten durch eine breite Wanne, in die kontinuierlich frisches Wasser lief. Es sah so aus, als würden sie die Wäsche ausspülen. Ich sah nur zwei menschliche Angestellte, die die saubere Kleidung entweder auswrangen und in einen Industrie-Trockner warfen oder auf Bügelmaschinen spannten.
»Jetzt weiß ich endlich, woher Disney seine verrückten Ideen hat«, murmelte Jemma und warf einen faszinierten Blick auf die Wasserdrachen. »Kann mich mal jemand kneifen?«
»Ich möchte bitte auch gekniffen werden«, sagte Noah.
»Später kann ich euch beide gerne kneifen«, bot Enko an.
»Nein, danke, Sohn der Finsternis und des schlechten Musikgeschmacks.« Noah seufzte. »Ob sie so eine Schnecke vielleicht auch verleihen? Meine Klamotten sind nach dem Fußball immer so dreckig.«
»Es ist das Erfolgsgeheimnis dieser Reinigung. Das wäre wie einen Chefkoch um das geheime Rezept seines Soufflés zu bitten. Das macht doch keiner.«
»Aber …«
Enko drehte sich im Laufen zu Noah um. »Untersteh dich, Nereus danach zu fragen. Das hier ist wichtig. Wenn er uns rausschmeißt, haben wir echt ein Problem. Alle ohne mythologische Gene halten am besten den Mund.«
»Ja, Papa«, sagte Gigi. Jemma presste sich die Hand auf den Mund, um nicht zu lachen. Selbst Noah grinste.
Enko drehte sich noch mal um. »Das habe ich jetzt nicht gehört, mein Fräulein.«
Die freundschaftlichen Streitereien fanden ein abruptes Ende, als wir vor einer reich verzierten Tür anhielten.
Der Mann klopfte und wartete, bis ein »Herein« von der anderen Seite ertönte.
Der Raum, den wir nun betraten, war dunkel und kaum möbliert. Er schien mal ein Lagerraum gewesen zu sein, denn er war nur spartanisch hergerichtet. Durch schmale Fenster am oberen Rand der rechten Wand fiel ein wenig Licht. Die Luft war zum Schneiden. Zigarettenqualm, Räucherstäbchen und noch etwas, das ich nicht benennen konnte.
Um einen runden, dunkelroten Lacktisch saßen acht Männer. Sie alle hielten Spielkarten in den Händen und sahen neugierig zu uns hoch.
»Du hast Besuch, Vater«, sagte der Mann, der uns hergeführt hatte, und machte eine tiefe Verbeugung. Ein Mann Anfang fünfzig, mit hellblondem Haar und einem Vollbart, legte seine Spielkarten verdeckt vor sich auf den Tisch. Er war der Einzige an dem Tisch, der nicht asiatischer Herkunft zu sein schien. Umso überraschender war es, dass der Mann, der uns hergeführt hatte, ihn »Vater« nannte.
Der blonde Mann richtete sich auf, und dann sah ich sein wahres Ich. Hinter seinem Stuhl peitschte ein türkisblauer Fischschwanz. Auf seinem Haar ruhte eine Krone aus Muscheln. Ich hörte das sanfte Rauschen von Wellen zu seinen Füßen. Ganz sicher hatte ich Nereus, den Gott der Flüsse, vor mir.
»Willkommen«, sagte der Mann mit dröhnender Stimme. »Ihr seid ja eine bunte Truppe.«
»Sie wissen alle Bescheid, Herr der Flüsse«, sagte Enko in vollkommener Höflichkeit, und deutete auf mich und meine Freunde. »Danke, dass Ihr uns empfangt.«
Ich warf ihm einen anerkennenden Seitenblick zu. Für so diplomatisch hatte ich ihn gar nicht gehalten.
»Meine Herren, das Spiel ist für heute beendet.« Nereus schnippte mit den Fingern, und die anderen Spieler erhoben sich, so langsam und bedächtig in ihren Bewegungen wie Schlafwandler.
»Kommt morgen wieder, dann machen wir weiter.«
Wir ließen die Chinesen passieren. Sie beachteten uns gar nicht, so als wären wir plötzlich nicht mehr da.
»Nehmt doch Platz.« Nereus deutete auf die nun freien Stühle. »Dann machen wir uns miteinander bekannt.« Die Stühle rückten wie von Zauberhand gleichzeitig vom Tisch ab. »Meinen Sohn Ling Wu habt ihr ja bereits kennengelernt.«
Ling Wu verbeugte sich höflich, und wir erwiderten den Gruß. Auch er deutete einladend auf die freien Stühle.
Wir überlegten noch, wer sich wo hinsetzen sollte, da erschien aus dem Dunkel des Raumes eine weitere Gestalt. Sie kam direkt auf den Tisch zu. Der junge Mann war ungefähr in unserem Alter, und dieses Mal war die Familienähnlichkeit unverkennbar. Auch er hatte dichtes hellblondes Haar und breite Schultern. Mit lässiger Eleganz balancierte er ein Tablett mit acht Teebechern auf einer Hand. Er blieb neben seinem Vater stehen und musterte uns neugierig. Sein Blick blieb an Gigi hängen und verweilte dort.
»Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?« Er stellte das Tablett neben seinem Vater auf dem Tisch ab, ohne dass auch nur einer der zarten Becher klirrte. »Oder soll ich noch mal reinkommen, Schönheit?«
Gigi riss die Augen auf und starrte den Blonden an. Dann wurde sie feuerrot und stürzte mit den Worten »Ich muss … muss mal ganz dringend auf mein … mein Handy gucken … ganz dringend« aus dem Zimmer.
Jemma seufzte. »Ich gehe mal hinterher.«
Nereus sah erst Gigi nach und dann entschuldigend in die Runde. »Das ist mein Sohn Selkes. Normalerweise weiß er sich zu benehmen.«
Selkes verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust und grinste zufrieden. Er trug trotz der herbstlichen Kälte nur ein T-Shirt, rote Bermudas und Flip-Flops. Auf dem weißen Shirt prangte das Wappen der französischen Rettungsschwimmervereinigung. Na, das passte ja gut. Doch bei ihm schien meine Sicht nicht zu verschwimmen, genauso wenig wie bei dem jungen Chinesen, den Nereus ebenfalls als seinen Sohn bezeichnet hatte. Ich strengte mich an und versuchte mich zu konzentrieren. Und dann, endlich, hörte ich erneut das Rauschen von Wellen. Ich erhaschte die Konturen eines tiefblauen Fischschwanzes hinter Selkes. Schnell drehte ich mich zur Seite: Hinter Monsieur Wu erblickte ich einen goldenen Fischschwanz. Ich sah sogar Kiemen an seinem Hals. Er lächelte mir freundlich zu und deutete eine kleine Verbeugung an. Ich lächelte zurück. Meine Sicht war noch nicht komplett verschwunden, als mein Blick Enko streifte. Flammen und Magma loderten zu seinen Füßen, und ich sah das Erbe seines Vaters in jeder Faser seines Körpers pulsieren. Er wirkte so angsteinflößend, dass ich mich verschluckte und blinzeln musste. Sofort konnte ich wieder klar sehen. Enko warf mir einen fragenden Blick zu, doch ich winkte ab.
Also machte er den Anfang und nahm gegenüber von Nereus Platz. Noah und ich setzten uns ebenfalls. Selkes ließ sich rechts neben seinen Vater auf den Stuhl fallen, warf einen Blick auf den leeren Platz zu seiner Rechten und zwinkerte dann zu mir herüber. Eine Abfuhr beziehungsweise ein nervöser Zusammenbruch schien ihn wohl nicht auszubremsen.
»Was führt euch zu mir?«, fragte Nereus und schob das Tablett mit den dampfenden Bechern einladend in die Mitte des Tisches. »Das ist Jasmintee. Bedient euch, er ist köstlich.«
Enko und ich tauschten einen kurzen Blick, dann nahm er einen der Becher vom Tablett. Erst nachdem er probiert und anerkennend genickt hatte, nahmen auch wir uns jeder einen Becher. Sicher war sicher. Wer wusste schon, ob man im Reich des Flussgottes ohne Bedenken etwas essen und trinken durfte. Ich, die ich mich dank diverser Fantasyschmöker hervorragend mit den Gepflogenheiten im Feenreich auskannte, wusste, dass dies durchaus zum Problem werden konnte. Doch hier schien keine Gefahr zu drohen. Noah probierte von seinem Tee, und auch er verzog anerkennend die Lippen. »Wirklich köstlich.«
Ich wollte gerade den Kopf recken, um nach Gigi und Jemma Ausschau zu halten, da traten sie schon wieder durch die Tür. Gigi schien ihre normale Gesichtsfarbe wiedergefunden zu haben. Nun schimmerten ihre Wangen sogar leicht rosig. Ich suchte ihren Blick und deutete dann einladend auf die freien Plätze. Zu meiner Überraschung folgte sie nicht Jemma, die sich natürlich neben Noah setzte und neben der noch ein Stuhl frei war, sondern nahm zwischen Selkes und mir Platz. Ihre Wangen wurden noch etwas rosiger.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte ich.
Sie nickte nur und umklammerte ihr Handy mit beiden Händen wie einen Rettungsanker.
Nereus lächelte sie entschuldigend an. Sie erwiderte das Lächeln, senkte dann aber schnell wieder den Blick.
»Herr der Flüsse«, begann Enko. »Wir sind hier, um Euch um Hilfe zu bitten.« Er berichtete, dass sein Bruder in einem Kampf verwundet worden sei und er nun zum Olymp Kontakt aufnehmen müsse, in diesem Falle aber nicht mit der Hilfe seines Vaters rechnen könne. Dann fragte er Nereus nach einer antiken Münze. Obwohl Enko nicht die ganze Wahrheit erzählte, schien Nereus keinen Verdacht zu schöpfen.
Er nickte ernst und hörte scheinbar interessiert zu.
Als Enko geendet hatte, stellte der Herr der Flüsse seinen zierlichen Teebecher bedächtig vor sich ab. »Es ist ein gefährliches Risiko, an dem Götterboten Hermes vorbei den Olymp zu kontaktieren. Ich habe Verständnis dafür, dass du dich um deinen Bruder sorgst, doch diese Situation ist eindeutig nicht dramatisch genug, um so einen Bruch des Protokolls zu wagen.« Er ließ seinen Blick über uns wandern. »Außerdem bin ich mir sicher, dass du mir nur die halbe Wahrheit erzählst, Sohn des Hades. So wie du das Problem darstellst, geht es ausschließlich um dich. Aber warum solltest du dann so eine bunt zusammengewürfelte Truppe mit zu mir bringen? Du hast sogar Menschen dabei, was für ein Risiko!« Dann verweilte sein Blick auf mir. »Und du, meine Liebe, bist etwas, das ich schon allzu lange nicht mehr zu Gesicht bekommen habe. Liege ich da richtig?«
Ich nickte, denn ich war mir sicher, dass er auf mein Nymphendasein anspielte.
Nereus nickte bedächtig. »Ihr verheimlicht mir etwas. Und das gefällt mir nicht. Wenn man mich um Hilfe bittet, dann sollte man die Karten auf den Tisch legen. Ich weiß noch nicht mal eure Vornamen, abgesehen von deinem, Hadessohn. Das reicht mir nicht. Entweder ihr stellt euch alle einzeln vor und legt anschließend die Karten auf den Tisch, oder ihr könnt gleich wieder gehen.«
Wir wechselten nervöse Blicke quer über den Tisch. Selkes hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, als erwartete er eine großartige Show. Er sah von einem zum anderen, und sein Blick war genauso neugierig wie der seines Vaters.
Ich zögerte zunächst und fragte mich, ob es klug wäre, das Wort zu ergreifen. Enko schien deutlich verhandlungssicherer. Doch dann konnte ich mich nicht mehr bremsen. Ich erzählte Nereus alles, was passiert war, und anschließend stellte ich uns alle einzeln vor.
Enko neben mir protestierte nicht, was ich als gutes Zeichen wertete.
Nereus sah auf seine bläulich schimmernden Fingernägel und faltete die Hände dann ordentlich auf dem Tisch. »Nun, Livia, diese Geschichte klingt schon ganz anders als die abgespeckte Version, die mir der Hadessohn auftischen wollte. Auch ich habe von den verschwundenen Halbgöttern gehört. Wir sind alle beunruhigt, und natürlich wollen wir wissen, von wo aus uns Gefahr droht. Es tut mir leid, dass dein Freund so schlimm verwundet wurde und dass er vermutlich unschuldig in Haft ist. Andererseits könnte es mich in Schwierigkeiten bringen, wenn herauskommt, dass ich euch geholfen habe. Ich wüsste nicht, warum ich dieses Risiko eingehen sollte.«
Gigi neben mir richtete sich mit einem Ruck im Stuhl auf. »Hier geht es vermutlich um die gesamte Götterwelt, und trotzdem wollen Sie uns nicht helfen? Ich verstehe das nicht, und es gefällt mir ganz und gar nicht. So möchte ich nicht sein.« Sie atmete tief aus, als würde mit einem Schlag alle Luft aus ihren Lungen weichen. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und wirkte wieder so klein und harmlos wie zuvor.
Selkes neben ihr hatte sich in seinem Stuhl immer mehr in ihre Richtung gedreht, und in seinem Blick war Überraschung grenzenloser Bewunderung gewichen. Seine Lippen waren leicht geöffnet, und seine tief türkisblauen Augen leuchteten förmlich, als er sich noch etwas mehr zu ihr drehte.
»Gigi …« Er klang todernst. »Hätte ich so eine Münze, ich würde sie dir sofort schenken.«
Nereus schüttelte den Kopf. »Sei still, Selkes. Und behalte gefälligst deine Hormone im Zaum. Das hier sind unsere Gäste.«
»Ich wollte doch bloß nett sein.« Er fuhr sich verlegen durch das dichte blonde Haar.
»Wir führen hier eine geschäftliche Verhandlung, mein Sohn. Wenn du das Mädchen magst und sie näher kennenlernen möchtest, kläre das bitte nach diesem Gespräch.«
Selkes verdrehte die Augen. »Könntest du das bitte lassen?«
In der Stille, die darauf folgte, sah Gigi zu mir, und ich grinste. Dann deutete sie mit dem Kopf ganz unauffällig Richtung Selkes und formte lautlos mit den Lippen die Worte Er ist süß, was mich kaum mehr hätte überraschen können. Nach diesem dreisten ersten Spruch seinerseits? Ich sah sie fragend an, doch sie nickte voller Inbrunst.
»Nun gut.« Nereus' dröhnende Stimme unterbrach unsere wortlose Konversation und Gigi wandte sich schnell wieder ihm zu. Wir alle sahen ihn gespannt an. »Dann wage ich es. Ich helfe euch, und ihr helft mir. Glaubt mir, das Risiko, das ich eingehe, ist um einiges größer als der Gefallen, um den ich dich, Nymphe, vielleicht bitten werde.« Er sah zu mir.
Sofort richtete sich Enko neben mir auf. »Herr der Flüsse, Ihr könnt gerne einen Gefallen von mir …«
Doch Nereus schnitt ihm mit einer schnellen Geste das Wort ab. »Nein, Hadessohn, ich brauche deine Hilfe nicht.« Wieder glitt sein Blick zu mir. »Was bist du für eine Nymphe?«
»Eine Wiesennymphe.« Ich konnte gerade so verhindern, dass meine Stimme vor Nervosität kippte. »Wieso?«
Nereus stützte das Kinn auf seine gefalteten Hände. »Nun ja, ich habe da dieses Problem. Es ist ein Versorgungsproblem.«
Wir sahen ihn fragend an, nur Selkes verdrehte die Augen.
»Ich habe ein großes Versorgungsproblem, es ist wirklich ernst. Und als Wiesennymphe wirst du mir vermutlich helfen können. Sagst du mir deine Hilfe zu?«
»Worum geht es denn genau?«
Enko beugte sich vor, als wollte er dazwischengehen. »Zuerst sollten wir die Modalitäten des Handels klären, bevor Livia irgendetwas zusagt.«
Nereus kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Du bist also ihr Berater? Kann Livia nicht für sich selbst sprechen? Seit wann sind Nymphen hilflose Wesen, die der Fürsprache irgendwelcher Halbgötter bedürfen?«
Enko ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken und sah tief beleidigt aus. Ich rechnete schon damit, dass gleich sein Temperament zuschlagen würde, deshalb ergriff ich schnell wieder das Wort.
»Natürlich bin ich prinzipiell bereit dazu, Ihnen zu helfen. Was für ein Problem auch immer Sie haben. Doch vielleicht sollten wir tatsächlich erst die Einzelheiten klären. Wir brauchen Ihre Hilfe. Wir haben Sie zuerst gefragt, also könnten wir vielleicht auch zuerst besprechen, wie Sie uns helfen?«
»In Ordnung.« Nereus nickte. »Wie ihr wisst, hat Zeus alle Möglichkeiten, den Olymp auf direktem Wege zu kontaktieren, vernichtet. Offiziell ist Hermes nun der Einzige, der mit seinen Telefonen unseren Herrscher erreichen kann. Früher besaßen viele von uns Standleitungen zum Olymp, doch sie wurden alle zerstört.«
Nereus machte eine dramatische Pause und sah in die Runde. Noah hing völlig fasziniert an den Lippen des Flussgottes. Jemma beugte sich in einer gespannt wirkenden Pose über den Tisch. Gigi schien weniger interessiert, denn sie und Selkes sahen sich immer wieder verstohlen von der Seite an. Enko wirkte immer noch angefressen, er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und zog einen Flunsch.
»Aber …?«, soufflierte ich.
Nereus grinste triumphierend. »Ich habe eine versteckt.«
»Eine was?« Ich brauchte einen Moment, bis es Klick machte. »Sie haben eine Kontaktmöglichkeit versteckt?«
Nereus nickte. »Ein ganz einfacher Trick, aber es hat hervorragend geklappt. Bis jetzt. Niemand weiß davon.« Er grinste stolz. »Es ist ein Telefon für absolute Notfälle. Eine Standleitung auf den Olymp. Ihr könnt mir glauben, ihr brockt euch gewaltigen Ärger ein, wenn ihr sie benutzt. Kann sein, dass Zeus euch direkt mit einem Blitz erwischt, und dann war’s das. Wie gesagt, ich gebe keinerlei Garantie für die Benutzung, und ich empfehle sie ausdrücklich nicht. Erst recht keinem Sterblichen, ob Mensch oder Nymphe.«
Mein Herz krampfte sich vor Angst zusammen, aber trotzdem würde mich das nicht abschrecken. Ich würde alles versuchen, um Maéls Reputation wiederherzustellen. »In Ordnung«, sagte ich. »Was ist die Gegenleistung dafür, dass wir das Telefon benutzen dürfen?«
Nereus stand auf. »Vielleicht solltet ihr es euch mit eigenen Augen ansehen.«
Ich guckte unsicher zu Enko. Wer wusste schon, was Nereus wirklich vorhatte? Schließlich kannte ich ihn gar nicht. Was, wenn er uns irgendwo einsperrte, um uns entweder seinen Wasserdrachen zum Fraß vorzuwerfen oder uns direkt an den Olymp zu verpfeifen? Wir würden alle bestraft, vielleicht sogar direkt in ein Gefängnis gebracht werden.
Doch Enko stand auf, als wäre er sich sicher, dass uns keine Gefahr drohte.
Ich zog unauffällig mein Handy hervor, während wir alle aufstanden. Schnell tippte ich eine Nachricht an Enko: Ist es okay, wenn wir ihm vertrauen? Ich hörte das Handy in Enkos Jeanstasche brummen. Er zog es hervor.
Nereus beobachtete zum Glück gerade seinen Sohn Selkes, der sich in großartiger Pose neben Gigi aufbaute. Er zog ihr galant den Stuhl zurück und half ihr dann tatsächlich beim Aufstehen, als wäre sie über fünfundneunzig und sehr gebrechlich.
Enko tippte eine Nachricht, und in der nächsten Sekunde brummte mein Handy: Er ist okay. Einer von der alten Schule. Ehre und so weiter …
Das beruhigte mich ein wenig.
Nereus ging auf ein Regal an der Wand zu. Als er dem massiven Holz einen kleinen Schubs gab, glitt es lautlos zur Seite. Dahinter verbarg sich ein Lastenaufzug.
Noah schnaufte anerkennend hinter mir. »Das nenne ich mal ein gutes Versteck.«
Ich drehte mich kurz zu ihm um. Er hatte Jemma bei der Hand genommen, und auch sie betrachtete fasziniert das lautlos auf Schienen dahingleitende Regal. Die Aufzugtüren öffneten sich und Nereus spazierte voraus. Wir folgten ihm. Der Aufzug hatte nur zwei Knöpfe: einen für die Etage, auf der wir uns befanden, und einen für eine Etage, die laut Schild nur »E« hieß. Selkes stellte sich neben Gigi, als wäre es das Normalste auf der Welt. Die Art, wie er verzückt auf sie hinuntersah, ließ keinen Zweifel daran, dass er sie toll fand. Gigi wich keinen Millimeter zur Seite. Es war ihr offenbar nicht unangenehm, dass Selkes sich als ihr Schatten bewerben wollte. Der Aufzug fuhr lautlos nach unten, und als sich die Türen öffneten, fanden wir uns vis-à-vis einer schier unendlich riesigen Wasserfläche gegenüber. Blasen stiegen brodelnd darin auf, und es roch nach Algen und Gräsern.
»Wie krass«, flüsterte Noah hinter mir. »Was ist das denn?«
Nereus drehte sich um und lehnte sich an das Geländer, das zum Schutz angebracht war. »Hier züchten wir das Futter für die Wasserdrachen und die Schnecken. Sie sind Vegetarier und fressen am liebsten die Früchte einer bestimmten Algenart. Doch leider tragen diese Algen kaum mehr Blüten. Was dazu führt, dass sich fast keine Früchte mehr bilden. Ein echtes Problem also, weil wir so immer zu knapp mit dem Futter für unsere Tiere sind. Ich habe keine Ahnung, was da unten los ist, aber irgendetwas stimmt ganz und gar nicht. Das Problem ist: Diese Pflanzenart ist eigentlich schon ausgestorben. Wir züchten zwar Setzlinge, die wir dort unten ansiedeln, doch sie tragen zu wenige Früchte. Wir versuchen zwar ständig, sie auszutauschen, doch es bringt nicht viel. Bald werden unsere Tiere Hunger leiden müssen. Es ist wirklich ein ernstes Problem. Ich habe das Gefühl, es handelt sich um eine Verschwörung.«
Noah sah erst Nereus an und dann mich. »Eine Verschwörung? Unter Algen?«, wiederholte er tonlos.
»Irgendetwas stimmt da unten nicht. Sie entscheiden sich dazu, keine beziehungsweise kaum noch Blüten zu treiben. Und zwar alle«, erklärte Nereus. »Irgendetwas ist also im Busch, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.«
Jemma sah aus, als müsste sie ein Lachen unterdrücken.
Ich betrachtete die sich leicht kräuselnde Wasseroberfläche. Die Halle war insgesamt so groß wie eins dieser riesengroßen Gewächshäuser, wie man sie auf dem Land findet. Nur dass sie komplett aus einem Wasserbecken zu bestehen schien, das unendliche Meter tief in den Boden gegraben war.
»Wo sind diese Wasserpflanzen jetzt?«, fragte ich zur Sicherheit nach.
Nereus deutete über das Geländer hinweg. »Sie wohnen am Boden des Beckens. Es ist ein unterirdisches Gewächshaus, das komplett mit Wasser gefüllt ist.«
»Und wo genau soll ich mit den Pflanzen sprechen? Ich nehme an, Sie wollen, dass ich nachfrage, was los ist?«
»Na ja …« Nereus deutete mit dem Kopf einladend auf das Becken und grinste.
Ich kombinierte messerscharf. »Sie wollen von mir, dass ich in dieses riesige Becken springe, nach unten tauche und dort versuche, mich mit irgendwelchen Wasserpflanzen zu unterhalten?«
»Niemals«, sagte Enko so entschlossen, dass wir uns alle zu ihm umdrehten. »Wer weiß, was da unten noch zu Hause ist. Das Risiko, von irgendeinem verirrten Wasserdrachen gefressen zu werden, ist zu hoch, Livia. Wir werden das ablehnen.«
Ich sah ihn unschlüssig an. Meinte er etwa die niedlichen kleinen Drachen, die nicht größer waren als ein Dackel und sich von Früchten und Algen ernährten?
»Und er macht es schon wieder«, murmelte Selkes. Er sah zu mir. »Hält er dich eigentlich für dumm?«
Gigi stieß ihn in die Seite, was eine so überraschend vertraute Geste war, dass die beiden danach verlegen nebeneinanderstanden.
»’tschuldigung.« Selkes sah sie zerknirscht an. »Manchmal rutscht mir so was einfach raus.«
Nereus verdrehte schon wieder die Augen. »Und ich entschuldige mich für das lose Mundwerk meines Sohnes. Aber er hat recht.« Er wandte sich an Enko. »Ich verhandle mit der Nymphe, Hadessohn. Respektiere das.«
In Enkos Augen brannte schon wieder dieses gefährliche Feuer. Ich sah die Flammen lodern, und ich konnte sein brodelndes Temperament fühlen.
»Enko«, wisperte ich. »Enko, es ist alles in Ordnung. Bitte lass mich selbst für mich sprechen. Ich bin vorsichtig und werde dich um Rat fragen, wenn ich nicht weiterkomme.«
Er sah zu mir herunter, und wieder erinnerte er mich so stark an seinen Vater, dass ich einen halben Schritt zurückwich. Ich konnte spüren, wie sehr er sich körperlich anstrengen musste, sein Temperament nicht an die Oberfläche brechen zu lassen.
»In Ordnung«, stieß er hervor. »Mach doch, was du willst.«
Es tat mir leid, Enko so zu übergehen, aber sein Beschützerinstinkt war bei dieser Verhandlung eindeutig hinderlich. Ich wandte mich wieder an Nereus.
»Erzählen Sie mir mehr über die Pflanzen. Gibt es etwas zu beachten?«
»Gerne.« Nereus schenkte mir einen anerkennenden Blick. »Wenn die Pflanzen Blüten tragen, verwandeln sich die Blüten irgendwann in Früchte. Die lösen sich dann von den Stängeln, wenn sie reif sind, und steigen nach oben. Von dort kann man sie ganz einfach auf der Oberfläche schwimmend einsammeln.«
»Man muss also nicht tauchen, um die Pflanzen abzuernten?«
»Nein, wir gehen nur runter, wenn wir neue Setzlinge einpflanzen.«
»Wie verhalten sich die Pflanzen, wenn sie sich bedroht fühlen? Wenn sich ihnen zum Beispiel jemand nähert, der sie ausreißen will?«
Nun wirkte Nereus etwas verlegen. »Sie besitzen kleine Samenkapseln, die ein leichtes Neurotoxin enthalten. Es ist aber nicht sehr stark. Ein leichtes Jucken oder Brennen, wenn sie die Haut berühren. Und so eine Abwehrreaktion ist in den letzten Jahrzehnten genau ein Mal vorgekommen. Die Pflanzen sind sehr friedlich.«
Mehr brauchte ich nicht zu wissen. Diesen Pflanzen würde ich mich nicht näher als nötig entgegenstellen. »Dann werde ich versuchen, mit ihnen vom Beckenrand aus zu kommunizieren.«
»Du kannst es ja versuchen.« Nereus zuckte mit den Schultern. »Vergiss nur nicht, wie tief dieses Becken ist. Werden deine Kräfte bis da unten hin reichen? Ansonsten könnten wir sicher auch eine Taucherausrüstung auftreiben.«
»Damit kenne ich mich nicht aus. Ich probiere es zuerst so.«
»Livia soll also in Vorleistung gehen, bevor sie das Telefon benutzen darf? Was, wenn die Leitung schon lange tot ist und niemand es gemerkt hat?« Enko sah schon wieder aus, als wäre er kurz vorm Überkochen. »Ist das Euer Ernst?«
»Ihr habt mich um Hilfe gebeten, also stelle ich die Bedingungen«, erwiderte der Flussgott lapidar.
Bevor die beiden sich weiter streiten konnten, ging ich vor dem Geländer in die Hocke, um dem Wasser möglichst nah zu sein. Sofort hatte ich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Ich ließ meine Barriere sinken.
Nichts. Ich konzentrierte mich. Immer noch nichts. Nur das regelmäßige Schwappen der Wellen gegen den Beckenrand. Ich streckte die Hand aus, bis meine Haut auf das kühle Wasser traf. Nichts. Ich kniff die Augen noch fester zusammen, versuchte, mir die Pflanzen dort unten vorzustellen … Nichts. Ich seufzte und kam wieder hoch.
»Sind Sie sicher, dass da unten alles okay ist? Ich höre nämlich gar nichts.«
Vater und Sohn sahen sich kurz an. »Gestern ging es ihnen noch gut«, sagte Selkes. »Ich war unten.«
Nereus strich sich nachdenklich über den blonden Vollbart. »Sieh noch mal nach. Wer weiß, was jetzt schon wieder passiert ist.«
Selkes protestierte nicht. Im Gegenteil, er schien erfreut, sich in das schwarze Wasser stürzen zu dürfen. Er salutierte gespielt vor seinem Vater, zwinkerte Gigi zu und riss sich im selben Moment das Shirt über den Kopf. Bermudashorts und Flip-Flops flogen hinterher, bis er nur noch in kurzen Badeshorts vor uns stand. Gigi schluckte deutlich hörbar. Ich konnte sie gut verstehen. Von so einem Prachtexemplar von Rettungsschwimmer würde sich so manche Frau gerne retten lassen.
Selkes sah erneut kurz hinüber zu Gigi, ließ die Muskeln spielen und machte dann einen eleganten Kopfsprung ins Wasser. Gigi kicherte und stand am Rand wie eine Cheerleaderin, die nur noch Pompons schwingen müsste, um völlig authentisch zu sein.
Plötzlich tauchte Selkes wieder auf und klatschte seine Badehose auf den Boden zwischen den Geländerstreben. Gigi erstarrte. Zwischen Selkes' Fingern entdeckte ich zarte Schwimmflossen. Sekunden später hob sich die Flosse seines tiefblauen Fischschweifs hinter ihm aus dem Wasser. »Na, wie findet ihr das, meine Damen?«
Gigi kicherte schon wieder, ich gab ihm ein »Daumen hoch« und Jemma grinste.
Enko verdrehte die Augen. »Bei allen Göttern. Da greife ich doch lieber zur Gitarre, um die Damenwelt zu beeindrucken. Wer steht schon auf Schuppen?«
Gigi knuffte ihn mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Sorry, vergessen«, sagte Enko. »Du hast ja ein Faible für Meeresfrüchte.«
Die beiden zankten sich freundschaftlich weiter, doch ich hörte nicht mehr hin. Selkes war erneut unter der Oberfläche verschwunden. Nur noch ein sanftes Kräuseln des Wassers erinnerte an die Stelle, wo er abgetaucht war.
»Wie atmet er?«, fragte ich Nereus.
Der berührte seinen Hals mit beiden Händen knapp unter dem Ohr. »Durch Kiemen.«
Während ich noch beeindruckt nickte, war Selkes schon wieder da. »Alle gesund und munter«, berichtete er, während er am Rand nach seinen Schwimmshorts angelte. Er schnippte mit dem Finger und der schlagende Fischschweif hinter ihm verschwand abrupt. Die Verwandlung ging so schnell, dass ich gerade noch einen Blick auf die zart flatternden Kiemen an seinem Hals erhaschen konnte, bevor sie verblassten. Selkes schwang sich aus dem Wasser. Natürlich ohne die Treppe zu nutzen. Dann schüttelte er sich filmreif das Wasser aus dem Blondschopf. So viel Lässigkeit musste er lange vor einem Spiegel geübt haben. Alles, was er tat, schien darauf abzuzielen, Gigi zu beeindrucken.
Und es klappte hervorragend. Ich schob ihr eine Hand unters Kinn und raunte ihr zu: »Macht es weniger auffällig, okay? Oder ich bestelle morgen eure Verlobungskarten.«
Gigi wurde knallrot, was Selkes dazu verleitete, sich noch mehr aufzuplustern. Er schnappte sich seine Klamotten und wollte verschwinden, um sich irgendwo umzuziehen.
Doch sein Vater hielt ihn auf. »Warte. Wenn alles in Ordnung ist, dann liegt es bestimmt am Wasser, dass die Kommunikation zwischen Livia und den Pflanzen gestört ist. Du musst sie mit der Krone meines Reiches markieren. Ihre Kraft könnte die Wasserbarriere für Livia überwinden.«
»Mit der Krone Ihres Reiches?«, fragte ich. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Und wieso wurde ich eigentlich nicht gefragt, ob ich so eine Markierung überhaupt wollte?
»Das ist so wie mit der Flammenkrone«, erklärte Enko, dieses Mal relativ friedlich. »Auch die Flussgötter besitzen ein eigenes Zeichen, das über gewisse Kräfte verfügt. Da Flussgötter Wasserwesen sind, soll es dir die Kraft verleihen, über das Medium Wasser mit den Pflanzen zu kommunizieren.«
»Verstehe.« Maél hatte mir die Flammenkrone als persönliches Schutzzeichen erklärt. Aber bei den Flussgöttern schien sie eine weitaus weniger persönliche Bedeutung zu haben.
Selkes, immer noch tropfnass, grinste breit. »Wollen wir?« Er hielt mir auffordernd die Hand hin.
Ich nahm an, dass sich die Krone des Flussgottes über Selkes' Herz befinden würde. Dort, wo auch Maéls Krone gelodert hatte. Doch Selkes streckte mir immer noch die Hand entgegen. In seiner Handfläche erschien ein Zeichen. Drei Reihen sanft geschwungener Wellen übereinander.
»Keine Sorge, es tut nicht weh.«
»Ich weiß«, murmelte ich, und die Erinnerung an Maél schnürte mir mal wieder den Hals zu.
»Gib mir einfach deine Hand«, bat er leise.
Ich legte meine Handfläche auf seine. Zuerst war es nur wie ein sanftes Prickeln, ein ganz leichtes Brennen. Doch dann riss Selkes seine Hand plötzlich weg.
»Wow, was ist denn mit dir los?«
Ich spürte, dass alle mich neugierig ansahen, also zuckte ich mit den Schultern. »Was meinst du?«
Selkes hatte einen Schritt zurück gemacht und deutete mit dem Kopf auf meine Hand. »Zeig mal her.«
Ich hielt ihm die Hand hin. Dort, wo nun eigentlich die drei Wellenbögen schimmern sollten, war nichts zu sehen. Selkes streckte mir seine eigene Hand hin. »Siehst du da etwas?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Es brennt total. Gerade war ich mir sicher, meine Haut hätte Blasen geworfen.«
Nereus schaltete sich ein. »Was gibt es für ein Problem, mein Sohn?«
»Es funktioniert nicht.«
Nereus zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Es funktioniert nicht? Was soll das heißen?«
»Ich kann sie nicht markieren.«
»Oh Mann, das lernt man doch echt in der Vorschule«, spottete Enko. »Braucht ihr vielleicht Hilfe?«
»Selkes, vielleicht markierst du Enko mal zur Probe, um zu gucken, ob es überhaupt funktioniert?«, schlug ich vor, bevor er und Enko sich doch noch prügeln würden.
Enko schüttelte den Kopf. »Vergebene Liebesmüh. Halbgötter untereinander können sich nicht markieren.«
»Und das soll jetzt was heißen?«, fragte Jemma nach.
Enko verschränkte die Arme vor der Brust und grinste. »Sagen wir es mal so: Wir aus dem Tartaros sind nicht auf die Hilfe irgendeiner Markierung angewiesen, um alles zu tun, was wir wollen.«
Selkes schnaubte. »Dass ihr Unterweltler immer so schrecklich angeben müsst.« Er wandte sich an Jemma. »Durch die Markierung mit der Wellenkrone bekommt sie einen Teil unserer Kraft. Es ist wie ein temporärer Zutritt zu unserer Welt.«
»Wenn du das alles nicht brauchst, rede du doch mit den Pflanzen«, schlug ich Enko mit einem zuckersüßen Lächeln vor.
Der wollte gerade etwas erwidern, da räusperte Nereus sich energisch. »Nymphe, es muss an dir liegen.«
Ich ließ die Schultern hängen. Natürlich. Was sonst.
»Aber bei Maél und ihr hat es doch auch geklappt«, wandte Enko ein. »Vermutlich ist sie als Wiesennymphe zu stark für euch Flussgötter.«
Selkes drehte sich zu ihm. »Lass mich raten, du bietest dich an, sie zu markieren?«
Enko grinste. »Warum nicht?«
»Weil uns das im Moment nicht weiterhilft?« Der Herr der Flüsse schob sich zwischen die beiden, die sich mit Blicken duellierten. »Bevor wir weiter Zeit verschwenden, würde ich mich anbieten.« Er streckte mir seine Hand hin, und auch auf ihr machte ich die wogenden Wellen aus. Auf Selkes' Haut hatten sie sich allerdings nur leicht bewegt, während sie auf Nereus' Handinnenfläche regelrecht zu toben schienen.
Zögernd legte ich meine Hand in seine. Ich musste die Augen schließen, so intensiv war es. Ich hörte das leise Rauschen von Wellen, die an ein mit Schilf gesäumtes Ufer schlugen. Die Geräusche von Fischen und ihr Flüstern. Muscheln, die sich klappernd unterhielten. Wassergräser, die sich im Takt der Strömung bogen. Es roch grün und blau und ein wenig nach Erde. Dann war der Moment vorbei, und ich sah auf meine Hand. Endlich leuchtete dort die Wellenkrone. »Es hat funktioniert!«
Nereus sah mich ernst an. »Das war ein Stück harte Arbeit. Was immer du bist, du bist nicht einfach nur eine Wiesenymphe. Da ist noch mehr. Besitzt du etwas, das deine Kräfte verstärkt oder sie verändert?«
Sofort fiel mir Evangéline ein. »Ich habe einen Syllektis adoptiert. Vielleicht ist sie dafür verantwortlich?«
»Ein Syllektis«, sagte Nereus anerkennend. »Die sind sehr selten. Du kannst dich geehrt fühlen, dass sie dich ausgewählt hat.«
Ich nickte. »Vielen Dank.« Wie zum Beweis regte Evangéline sich kurz.
Nereus bedachte mich mit einem weiteren ernsten Blick. »Irgendetwas in dir hat sich gegen diese Markierung gewehrt …«
Da ich selbst nicht wusste, was ich dazu sagen sollte, zuckte ich wieder mal nur mit den Schultern.
»Gut.« Der Flussgott besann sich wieder auf das eigentliche Problem. »Dann versuch jetzt noch mal, mit den Pflanzen zu sprechen. Vielleicht haben wir ja Glück.«
Ich nickte und zog meine Strickjacke aus, damit sie nicht nass wurde, sollte das Wasser höher schwappen. Mit freien Armen fühlte ich mich irgendwie auch beweglicher. Dann ging ich wieder in die Hocke. Die anderen kamen näher. Ich hielt mich mit einer Hand am Geländer fest, damit ich nicht Gefahr lief, in das schwarze Wasser zu fallen. Vorsichtig beugte ich mich zwischen den Stäben hindurch, bis ich die freie Hand flach auf die Wasseroberfläche legen konnte.
Augenblicklich brandeten Stimmen in meinem Kopf auf.
Die Pflanzen erkannten offenbar die Anwesenheit einer Nymphe, denn sie begannen alle gleichzeitig zu schreien. Ihre Stimmen waren hoch und schrill, seltsam unmelodisch und doch so scharf, dass ich das Gefühl hatte, mir würde ein Regen aus Glasscherben entgegenprasseln.
Ich wich zurück. Hinter mir hörte ich die anderen aufgeregt murmeln. Ich schwankte, doch zum Glück hielt ich mich mit der anderen Hand an dem Geländer fest. Sobald meine Haut erneut das Wasser berührte, hörte ich sie wieder.
Endlich ist jemand da!
Rede mit uns, warum bist du hier?
Los, komm her, komm näher, los, Mädchen, komm näher, komm näher, wir wollen mit dir reden.
Du bist eine Nymphe. Wir sehen, wir fühlen, wir wissen, was du bist … Tochter der Quelle, Tochter der Blumen, letzte Tochter deiner Art, du …
Wir wollen mit dir reden … reden … reden … reden … komm her! Komm her! Komm näher!
Wie von selbst beugte ich mich immer näher zur Wasseroberfläche. Mein selbstloses Nymphenerbe wollte mich überreden, den Wünschen der Pflanzen Folge zu leisten.
Komm her …
Nein. Niemals würde ich mich in dieses schwarze Wasser fallen lassen. Panik überfiel mich. Eigentlich hatte ich ganz gut gelernt, meine Barrieren irgendwie aufrechtzuerhalten, selbst in Stresssituationen. Doch das hier, dieses wütende Heer an Pflanzen, diese Hunderte Setzlinge und ausgewachsene Wasserpflanzen, das war einfach zu viel.
Ruhe!, rief ich mental. Die Pflanzen hörten nicht auf mich. Das Geschrei ging weiter, es wurde sogar noch höher und schriller. Mein schmerzverzerrtes Gesicht musste schlimm aussehen, denn jemand legte mir besorgt eine Hand auf den Rücken.
Bitte seid doch mal kurz ruhig, bat ich ein zweites Mal. Ich kann euch sonst nicht helfen.
Die Stimmen wurden weniger, aber es waren immer noch zu viele, um sie einzeln wirklich zu verstehen.
Ich spürte eine seltsame Wärme in meinem Bauch. Zuerst ganz zart und flattrig, aber dann begann sie größer zu werden, sich zu einem Ball zu formen, um schließlich in einem Funkenregen durch alle meine Glieder zu strömen.
Ruhe, verdammt! Hinter meinen geschlossenen Lidern tauchte ein Bild auf. Das Innere des Aquariums war plötzlich in helles Licht getaucht, und nun sah ich, wie die Pflanzen wirklich aussahen … wie wunderschön sie schillerten, wie unglaublich zart und filigran jedes einzelne Blatt und jeder einzelne Halm geformt war. Sie schienen fast durchsichtig, und ihre Blätter bewegten sich im Wasser so schillernd schön wie Schmetterlingsflügel. Ihr Anblick war berauschend, wäre da nicht dieses schreckliche Geschrei gewesen. Doch nun waren sie mit einem Schlag ganz still. So als spürten sie, dass ich sie plötzlich sehen konnte.
Ich atmete schwer. Ich will, dass ihr eine Sprecherin auswählt. Eine von euch spricht, die anderen hören zu. Sonst verlasse ich sofort die Halle.
In der Mitte meines Sichtfeldes reckte eine besonders große Pflanze sich in die Höhe. Ich bin eine der ältesten hier, ich werde unsere Vorwürfe vorbringen.
Vorwürfe, wiederholte ich, verstehe. Ihr habt also tatsächlich ein Problem mit dem Herrn der Flüsse. Warum tragt ihr keine Früchte mehr?
Die Pflanze bewegte die langen Blätter, und es wirkte fast ein wenig trotzig. Er behandelt uns wie seine Sklaven. Er pflanzt uns in diesen dunklen Bottich wie Schlachtvieh und erwartet dann von uns, dass wir ihn versorgen. Eigentlich leben wir in Flüssen, in großen, breiten Wasserläufen. In lebendigen Gewässern, mit Fischen, mit Schnecken, mit kleinen Flussbewohnern, mit dem Wind, der über das Wasser streicht, und mit dem Sand, der sich bewegt, wenn ein Unwetter über uns hinwegfegt. Hier leben wir in einem Tank, und es ist jeden Tag dunkel. Wir sind ganz allein. Uns fehlen die Fische, die uns streicheln und die zarten Berührungen der Muscheln, wenn sie an uns hinaufkrabbeln. Egal in welcher Stadt wir mit ihm leben müssen, immer hält er uns in diesen Tanks gefangen. Früher war alles besser! Jetzt sind wir in einen Streik getreten. Er kann noch so viele neue Setzlinge holen und sie einpflanzen, wir erinnern uns und wir werden nicht mehr mitspielen. Wir wissen, dass er seine Drachen damit füttert, und sie sind bestimmt genauso einsam wie wir. Wir sind Lebewesen, genau wie die, die für ihn arbeiten. Wir fordern ein lebenswertes Dasein für uns alle.
Ihr wollt also, dass ich Nereus bitte, dass er Fische in euer Becken setzt? Und Lampen anbringt?
Bevor ihre Sprecherin antworten konnte, ergriff eine andere Pflanze das Wort. Das ist doch vergebene Liebesmüh. Er wird sowieso nicht auf sie hören. Die Nymphe wirkt nicht so, als könnte sie bei ihm irgendetwas durchsetzen. Vermutlich muss sie ihm nur einen Gefallen tun, weil sie irgendetwas von ihm will. Es ist doch immer das Gleiche bei den Göttern.
Schachmatt. Trotzdem ließ ich mir nichts anmerken. Stellt bitte eure Forderungen.
Wir wollen, dass die Wasserdrachen zum Schwimmen in unser Becken kommen. Und wir wollen Fische!
Und ich will einen Piranha!, rief irgendwo eine Pflanze. Meine Vorfahren sind unter Piranhas groß geworden, und sie sollen sehr freundlich sein. Niemand streichelt besser als ein Piranha.
Und wo sind eigentlich die Schnecken?, fragte ihre Sprecherin. Wir wollen gefälligst auch ein paar Schnecken haben, und wir möchten Licht. Sonnenlicht! Das Becken ist viel zu tief. So tief sind die meisten Flüsse gar nicht. In so großer Tiefe wachsen wir nicht. Aber am wichtigsten ist etwas Licht. Wir wollen uns gegenseitig besser erkennen können. Wie soll es denn hier zu irgendeiner Art von Fortpflanzung kommen, wenn wir uns lediglich im Dunkeln ertasten können? Das funktioniert so nicht. Das sollte dem Herrn der Flüsse eigentlich auch klar sein.
Das waren interessante Vorschläge.
Wenn wir mit den Wasserdrachen reden könnten, würden sie dem zustimmen, da sind wir uns ziemlich sicher.
Kann der Herr der Flüsse denn mit seinen Drachen reden?, fragte ich nach. Mit euch konnte er ja nicht reden.
Das kann er, sagte eine kleinere Pflanze. Sie wirkte deutlich aggressiver als ihre Sprecherin. Er kann mit den Fischen reden, mit den Schnecken, mit den Drachen und mit allen anderen tierischen Lebewesen in seinem Reich. Fauna ja, Flora nein. Ganz einfaches Gesetz.
Gut, dann werde ich eure Wünsche vorbringen. Sollte der Herr der Flüsse alldem zustimmen, versprecht ihr mir, dass ihr wieder Blüten und Früchte ausbildet?
Wieder erhob sich Gemurmel, das aber nicht wirklich versöhnlich klang. Was wollten die Pflanzen denn noch?
Wir versprechen dir gar nichts, erwiderte die kleine Pflanze patzig. Wir verhandeln nicht mit dem Boten.
Eine kleine schleimig glänzende Kugel löste sich unter einem Blatt der Pflanze und schoss auf mich zu. Ich war zu überrascht, um zu reagieren. Die Kugel musste mich verfehlt haben, denn ich spürte nichts. Die Augen hielt ich fest geschlossen, um die Verbindung in so einem heiklen Moment nicht abbrechen zu lassen.
Der Bote ist der Einzige, der zur Verfügung steht, erwiderte ich.
Der Herr der Flüsse respektiert uns überhaupt nicht, sagte die kleine Pflanze zu den anderen und erntete große Zustimmung. Die Stimmung kippte rasant. Offenbar waren die Pflanzen doch nicht so friedliebend wie von Nereus beschrieben.
Los, verschwinde!, rief eine andere Pflanze. Du kannst doch sowieso nichts bewirken. Wir machen uns hier vor dir lächerlich, und er sagt schlicht und einfach Nein.
Genau!, rief eine weitere. Sie hat doch sowieso nichts zu melden, merkt ihr das nicht?
Und dann schrien sie wieder alle durcheinander.
Wir verschwenden unsere Zeit.
Los, verschwinde!
Hau doch ab!
Aber er kann doch gar nicht mit euch reden. Was wollt ihr denn noch? Ich versuchte, zu retten, was zu retten war. Ich musste es schaffen, zu vermitteln, denn sonst würde mir Nereus vermutlich nicht sein Telefon zur Verfügung stellen.
Wir lassen uns nicht mehr halten wie Sklaven! Von überallher flogen diese kleinen Kügelchen plötzlich auf mich zu. Die Pflanzen schienen sie absichtlich in meine Richtung zu schleudern.
Zum Glück sah ich sie kommen. Meine Verbindung brach ab, ich riss die Augen auf und blinzelte. Schon schossen die ersten Kugeln aus dem Wasser und direkt auf mich zu. Ich wich vom Beckenrand zurück, ließ das Geländer los und kam wieder hoch. Hektisch schlug ich nach den Kugeln. Sie waren schleimig, rutschten hinter den Kragen meines Shirts und meine nackte Haut hinab. Evangéline schoss unter dem Stoff hervor und floh weit nach oben in die Luft. Ich drehte mich um, und nun trafen mich die schleimigen Kugeln auch am Nacken. Sie schienen ein Eigenleben zu besitzen, denn sie rutschten sofort meine Haut hinab und über meinen Rücken. Meine nackten Arme wurden getroffen. Ich schlug nach den Kugeln, als wäre ich in einen Schwarm Moskitos geraten.
»Aufhören!«, rief Selkes und schmiss sein Shirt in das Becken. Es half nichts. Die Kugeln flogen weiter. Nereus zog mich beherzt aus der Schusslinie und bekam selbst ein paar der Kügelchen ab. Selkes drängte nun die anderen nach hinten in Richtung Aufzug. Kaum, dass der Beckenrand verlassen war, hörte der Kugelhagel auf.
Dann begann das Jucken. »Igitt!« Ich löste eine der Kugeln von meinem Unterarm. Doch durch meine Berührung öffnete sie sich noch mehr, und ein Sekret trat aus. Es trocknete fast augenblicklich. Bei allen Göttern, das machte das Ganze nur noch schlimmer. »Das juckt vielleicht!« Ich kratzte mich ausgiebig an den Stellen, die ich erreichen konnte. Am liebsten hätte ich mir die Kleider vom Leib gerissen, aber das ging nun wirklich zu weit. »Warum haben Sie mich nicht gewarnt, dass Sie da unten Kampfpflanzen züchten?«
»Ach du liebe Zeit«, sagte Gigi und betrachtete mich. »Soll ich mal die Anzeichen eines anaphylaktischen Schocks googeln? Ist dir schlecht? Schwindlig?«
Ich winkte ab. »Mal abgesehen von diesem unerträglichen Jucken geht es mir gut.«
Enko hatte sich neben mich gestellt und fuhr mit dem Finger zart über einen der roten Flecken an meinem Unterarm. »Tut es weh?«
Ich schüttelte den Kopf. »Aber es juckt. Könntest du mich am Rücken kratzen? Da, wo ich nicht hinkomme?«
Er grinste und stellte sich hinter mich. Während er seine kurzen Fingernägel über meine Haut gleiten ließ, beugte er sich leicht über meine rechte Schulter. »Na? Wie ist das?«
Ich ignorierte sein Geflirte. Stattdessen hielt ich nach Evangéline Ausschau und atmete erleichtert auf, als ich sie bei Jemma entdeckte. Sie und Noah beruhigten die Motte gerade, indem sie ihren pelzigen Bauch kraulten. Ein Glück, dass Evangéline nicht auch von einer der Kugeln getroffen worden war.
»Das war unverantwortlich, Herr der Flüsse.« Enkos Stimme klang gefährlich ruhig. »Seht Euch Livias Haut an. Überall bilden sich rote Flecken. Was, wenn sie allergisch gegen dieses Pflanzengift ist?«
»Sie sieht definitiv so aus, als wäre sie allergisch«, stellte Noah fest und kam näher. »Was sind das da für Streifen an deinem Hals?«
»Was? Wo denn?« Ich tastete ängstlich danach.
»Keine Panik, Leute«, sagte Selkes und musste anscheinend ein Lachen unterdrücken. »Das sind Kiemen. Guck dir deine Hände an, Nymphe.«
Da entdeckte ich die Schwimmhäute. Zart schillernde hauchdünne Membranen, die ein wellenförmiges Muster zu besitzen schienen. Ich verschluckte mich fast vor Schreck.
»Das bewirkt die Wellenkrone«, erklärte Selkes fröhlich. »In ein paar Tagen verschwindet es von allein.«
»Und bis dahin habe ich Schwimmhäute und Kiemen?« Jetzt wurde mir doch ein wenig schlecht.
»Nur bei äußerlichem Kontakt mit Süßwasser. Der Einfluss der Wellenkrone lässt bald nach. Bis dahin könntest du theoretisch unter Wasser atmen.«
Na super …
»Ich glaube es einfach nicht«, brummte Enko hinter mir. Sein Kratzen war mittlerweile in eine Art sanftes Streicheln übergegangen, das sich viel zu angenehm auf meiner geschundenen Haut anfühlte, als dass ich es unterbrechen wollte.
»Die Kiemen und Häute sollten gleich wieder verschwinden.« Nereus warf einen kurzen Blick auf meinen Hals. »Und eine Allergie wäre bei einer Wiesennymphe höchst unwahrscheinlich.« Der Flussgott sah mich trotzdem entschuldigend an. »Es tut mir leid. Damit hatte ich nicht gerechnet. Wie gesagt, eigentlich sind die Pflanzen friedfertig. Keine Ahnung, wie die Situation so eskalieren konnte.«
»Jetzt gebt bloß nicht Livia die Schuld«, blaffte Enko hinter mir.
»Schon gut.« Ich löste mich von ihm. »Danke, Enko. Es geht schon wieder.« Dann erzählte ich Nereus von den Forderungen der Pflanzen.
Der Gott der Flüsse hörte mir aufmerksam zu. »Das ist alles?«
Ich zuckte die Schultern. »Ich glaube, sie wollen es einfach nur ein wenig netter haben. Kann man ja auch verstehen.«
Nereus wirkt erleichtert. »Das lässt sich alles einrichten. Ich bin mir sicher, die Schnecken und die Wasserdrachen werden sich freuen, wenn sie noch ein weiteres Becken zur Verfügung haben. Das bringt ein wenig Abwechslung rein. Warum bin ich nicht von allein darauf gekommen? Gleich morgen früh werden wir Fische besorgen und andere kleine Flussbewohner. Und ich lasse Tageslichtstrahler anbringen, die das Becken heller machen.«
Das hörte sich alles sehr vielversprechend an. In einer anderen Situation hätte ich mich nun noch mal an die Pflanzen gewandt, um ihnen diese Neuigkeiten mitzuteilen. Doch obwohl das Jucken bereits nachließ, dachte ich nicht im Traum daran, mich dem Beckenrand noch mal zu nähern.
Evangéline flatterte mir entgegen. Sie wirkte immer noch nervös, als sie sich auf meiner Schulter niederließ.
»Hey, alles gut, kleine Motte.« Ich strich beruhigend über ihre dicht angelegten Flügel. »Keine Angst. Mir ist nichts passiert.«
Evangéline zitterte tatsächlich ein wenig, und ich war gerührt, dass sie sich so große Sorgen um mich gemacht hatte. Sie verschwand unter meinem Shirt.
»Ein sehr hübscher Syllektis. Doch nun sollte ich meinen Teil der Abmachung erfüllen.« Nereus sah lächelnd in die Runde. »Folgt mir.«
Wir fuhren zurück in die Etage, in der sich das Hinterzimmer mit dem Pokertisch befand. Erst als Selkes von irgendwoher wieder auftauchte, fiel mir auf, dass er nicht mit uns im Fahrstuhl gefahren war. Er war wieder vollständig bekleidet. Nun ja, was man bei Selkes so »vollständig bekleidet« nennen konnte. Er trug ein hautenges Langarmshirt mit einer tätowierten Meerjungfrau vorne drauf, Cargo-Bermudas und Flip-Flops. Draußen herrschten freundliche zwölf Grad, aber Selkes schien so etwas wie Gänsehaut nicht zu kennen.
»Selkes wird dich zu dem Zimmer führen, in dem ich das Telefon versteckt halte, Livia. Du wirst sehen, was zu tun ist, denn es ist nur ein einfaches Telefon. Ihr anderen, nehmt ruhig Platz, wir können hier warten.«
Enko wollte schon wieder protestieren, doch ich legte ihm kurz die Hand auf den Unterarm. »Du hast gesagt, wir können Nereus vertrauen. Also vertraue ich ihm und seinem Sohn auch. Selkes wird mich schon nicht in einer dunklen Ecke erdrosseln. Er ist viel zu sehr in Gigi verschossen, als dass er es riskieren würde, uns zu verärgern.«
Enko presste die Kiefer zusammen und nickte knapp.
Selkes lächelte breit und deutete dann einladend auf den hinteren Teil des Raumes, aus dem er vorhin erschienen war. »Dort drüben entlang, bitte, Nymphe.« Er schenkte Gigi ein letztes Lächeln, dann ging er voraus, um mir den Weg zu zeigen. Ich folgte ihm durch ein paar verwinkelte dunkle Gänge. Das Haus hinter der Reinigung war viel riesiger als ich erwartet hatte.
»Deine Freundin …«, sagte Selkes und ließ sich etwas zurückfallen, bis er neben mir lief. »Ist sie Single?«
Es war klar, von wem er redete. »Ja, sie ist Single.«
»Gibst du mir ihre Handynummer? Ich möchte mit ihr ausgehen.«
Innerlich schüttelte ich den Kopf. Männliche Halbgötter und ihre unerschütterlichen Egos.
Ich antwortete wohl nicht schnell genug, denn er fuhr fort: »Hör zu, Nymphe. Sie ist süß, ich mag sie und sie mag mich. Mehr braucht es dafür nicht. Ich bin einer von den Guten. Lustig, treu, ehrlich …«
»... bescheiden ...«
Selkes schnaubte amüsiert. »Du musst mich gar nicht mögen, Nymphe, hier geht es nur um Gigi. Außerdem hast du ja bereits deinen persönlichen Fan dabei. Dass der Hadessohn sabbert wie ein Hündchen, wenn du ihn nur schräg von der Seite anguckst, ist schwer zu übersehen.«
Ich sah zu ihm hoch. Die Anspielung auf Enko ignorierte ich. Ganz sicher würde ich mit Selkes nicht mein Liebesleben diskutieren. Aber ich wusste, dass Gigi Selkes mochte. Und sie hatte es so was von verdient, auch endlich jemanden kennenzulernen, der ihr gebrochenes Herz heilen würde. »Frag sie doch direkt nach einem Date und nach ihrer Nummer, Selkes. Ich bin mir sicher, das gefällt ihr viel besser.«
Einen kurzen Moment lang wirkte Selkes ein wenig unsicher, dann hatte er sich wieder voll im Griff. Er lächelte. »Okay, dann mach ich das.« Er stieß eine Tür zu seiner Linken auf. Die schmale Kammer war bis zur Decke vollgestellt mit irgendeinem Schrott. Auf einem wackligen Beistelltisch thronte ein erbsengrünes Telefon aus den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Das schwarze Kabel, das sich vom Hörer zum Gerät kringelte, glänzte speckig. Neben dem Beistelltisch prangte ein Ohrensessel, der mit einem Samtstoff aus orangefarbenen und braunen Streifen bezogen war. Vermutlich auch ein Relikt aus den geschmacksfreien Siebzigern.
Selkes deutete auffordernd in den Raum. Ich machte einen Schritt durch die Tür und wäre von dem Muff und flirrenden Staub darin fast erschlagen worden.
»Weidmannsheil.« Selkes salutierte zackig und zog dann die Tür scheppernd ins Schloss.
Nun war ich allein. Allein mit einer Art Telefon, das ich bisher nur aus Filmen kannte. Allein mit jeder Menge Sperrmüll und einem Ohrensessel, der aussah wie die Heimat Hunderttausender Staubmilben. Ich straffte die Schultern. Hier ging es um Maél. Und ich würde mich in noch ganz andere milbenverseuchte Untiefen stürzen, um ihn zu retten.
Zögerlich ging ich auf den Sessel zu. Eigentlich musste ich mich nicht wirklich hinsetzen, um zu telefonieren, oder? Ich besah mir das Telefon genauer. Es sah eher aus wie die Requisite eines Films und nicht wie ein technisches Gerät, das tatsächlich noch funktionierte. Eine feine Staubschicht bedeckte den Hörer. Ich griff danach, ohne hinzusehen. Meine Hände berührten das Plastik, doch dann schien das Material sich zu verändern. Als ich die Augen aufriss, hielt ich eine große Muschel in der Hand. Es war eins dieser gedrehten Schneckenhörner, von außen cremeweiß, das Innere rosig schimmernd. Die Muschel sah perfekt und absolut sauber aus. Sie war fast so groß wie das Telefon, und ihr Gewicht lag schwer in meiner Hand. Beim Blick hinunter auf den kleinen Beistelltisch riss ich die Augen auf. Das Telefon war komplett verschwunden. Nicht mal mehr das Kabel war noch da. Ich ärgerte mich, dass ich meine Augen geschlossen hatte, denn diese Transformation hätte ich wirklich gerne mitangesehen. Trotzdem machte diese hübsche Muschel das Problem nicht einfacher. Wie konnte ich damit telefonieren? Ich tat das, was mir am natürlichsten erschien. Ich hielt das Schneckenhaus an mein Ohr.
»Hallo?«, fragte ich. Im nächsten Moment wurde es in dem ohnehin schon düsteren Zimmer so stockdunkel, dass ich die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnte. Dann sprang ein großer, scheinbar hölzerner Rahmen vor mir auf. Er öffnete sich wie ein neues Fenster am Computer, das Bild darin rauschte, und doch war alles so durchsichtig, dass ich die Dunkelheit dahinter erkennen konnte. Es sah tatsächlich aus wie ein Fenster in eine andere Welt.
»Hallo?«, fragte ich ein zweites Mal, die Muschel immer noch ans Ohr gepresst.
Plötzlich war da ein Bild in dem Fenster, das vor mir mitten im Raum schwebte. Ich sah einen Mann mit dunklen Haaren und buschigen Augenbrauen. Er trug eine Jogginghose und ein weites T-Shirt, das mit unzähligen Flecken verschmiert war. Sein Vollbart wirkte struppig und ungepflegt.
»Ja?«, bellte er.
Ich starrte ihn eine Sekunde lang an, dann glitt mein Blick hinter ihn, und ich sah auf eine Wand, die aus unzähligen Fernsehbildschirmen bestand. Auf allen Bildschirmen, es waren bestimmt an die dreißig Stück, liefen unterschiedliche Programme. Bei den meisten handelte es sich um Sitcoms oder Seifenopern, in denen sich Menschen entweder anschrien, weinend in den Armen lagen oder küssend übereinander herfielen. Es wurde in allen Weltsprachen durcheinandergeredet.
»Ja, verdammt?«, grollte der Mann.
»Ich …«, stotterte ich. Ich konnte ihn ja schlecht fragen, wen ich vor mir hatte.
»Wer wagt es, mich zu stören?«
Ich guckte ihn mir etwas genauer an, und dann sah ich plötzlich, wie hinter seiner Gestalt Blitze anfingen zu züngeln. Oh, mein Gott. Sollte ich tatsächlich direkt bei Zeus gelandet sein? Hatte Nereus recht gehabt, und ich war direkt in Zeus' privaten Gemächern gelandet? Nun wurde mir doch ein wenig mulmig.
»Hallo. Ich bin Livia. Es freut mich, dass ich Euch sprechen kann, Zeus.«
Vermutlich würde er mich anschreien, wenn ich ihn bei einem falschen Namen nannte. Doch der Mann zuckte nicht mit der Wimper. Stattdessen fixierte er mich mit seinen dunklen Augen. In seinem Bart hingen Reste von Weingummi. Innerlich schüttelte ich mich ein wenig. Er sah ungepflegt aus und alles um ihn herum wirkte irgendwie schmuddelig.
»Was bist du?«, knurrte er. »Ich kenne dich nicht.«
Offenbar konnte er nicht sehen, dass ich eine Nymphe war.
»Ich bin eine Nymphe.«
Zeus lachte so schallend, dass ein paar der Weingummireste aus seinem Bart fielen. »Erzähl keine Märchen, Mädchen. Die Nymphen sind ausgestorben.«
Ich schluckte. »Ich bin eine Wiesennymphe.«
Zeus' Lachen ging in ein trockenes Kichern über. »Oh, Mann. Ich glaub, ich hab schon wieder aus Versehen einen Pilz erwischt, der so komische Halluzinationen macht.« Er sah zur Seite und wühlte in irgendeiner Art von Tüte. Dann schob er sich eine Handvoll gemischter Nüsse in den Mund und kaute geräuschvoll. »Okay, genug der Märchen. Ich lege jetzt auf. Wer auch immer dir diese Standleitung ermöglicht hat, wird eines grausamen Todes sterben.«
»Nein, nein, nein, nein«, rief ich und wedelte wild mit meiner freien Hand. »Zeus, ich bitte Euch, alle, die mir helfen, handeln nur in guter Absicht. Es geht um Maél, den Hadessohn, der auf dem Olymp gefangen gehalten wird. Er ist ein Freund von mir, und ich muss wissen, ob es ihm gut geht. Und ich muss … ich meine, ich möchte für ihn sprechen, weil er zu Unrecht festgehalten wird. Er wollte niemandem etwas Böses. Er wollte einfach nur seine Schwester beschützen. Ganz sicher wollte er nicht die Weltherrschaft an sich reißen oder was auch immer man ihm anhängen will. Er ist zwar ein Hadessohn, aber er würde so etwas niemals tun. Er ist überhaupt kein bisschen wie sein Vater. Er ist gutherzig und will immer nur das Beste für alle, und …«
Zeus schnitt mir das Wort mit einer Geste ab, die so genervt aussah, dass ich sofort innehielt.
»Interessiert mich nicht«, sagte er einfach nur.
»Aber Zeus, ich bitte Euch. Maél ist unschuldig. Er ist schwer verletzt, und das hat er alles nur riskiert, um eine große Gefahr abzuwenden. Er hat dafür gesorgt, dass das gefährliche Gold nicht länger in Umlauf ist. Bitte glaubt mir. Bitte lasst ihn sprechen, und er wird alles erklären.«
Zeus unterbrach mich schon wieder. »Hör mal zu, du wildgewordener Handfeger. Meine Zeit ist kostbar, und ich habe keine Lust, mich damit zu befassen. Sprich mit Hermes, wenn du irgendetwas willst. Und wenn du ihn nicht erreichst, dann sei dir sicher, dass auch er mit dir nichts zu tun haben will. Mich interessiert das alles schon lange nicht mehr, weißt du? Ich habe jahrtausendelang meinen Dienst erfüllt, und jetzt habe ich einfach keine Lust mehr. Ich bin beschäftigt.« Er deutete hinter sich auf die Wand mit den Dutzenden Fernsehern, wo die Seifenopern vor sich hin dudelten. »Ich bin sehr beschäftigt.«
»Aber Zeus, bitte!«
»Das hat jetzt ein Ende.«
Er drückte einen Knopf, und im nächsten Moment verschwand der Bildschirm. Die Muschel zerbröselte in meiner Hand, als wäre sie aus Sand. Ihre scharfen Kanten bohrten sich unangenehm in meine Haut. Das Licht fiel zurück ins Zimmer, und ich sah entsetzt auf die Überreste der Muschel, die zu meinen Füßen lagen. Zeus hatte die Standleitung zerstört. Das bedeutete, dass ich dafür verantwortlich war, dass Nereus seine letzte Kontaktmöglichkeit zum Olymp verloren hatte. Ich schluckte und fühlte mich unendlich mies. Ob er mir sehr böse sein würde? Ich wollte mich gerade zur Tür drehen, als diese auch schon geöffnet wurde.
»Na?«, fragte Selkes gut gelaunt. »Was sagt der Boss?«
Als ich nicht antwortete, glitt sein Blick zu den Muschel-Überresten zu meinen Füßen. »Oh.«
Ich nickte.
Selkes kaute auf der Innenseite seiner Unterlippe. »Wir sollten mit Vater reden.«
*
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass Nereus einen Riesenaufstand machen würde, weil ich seine Standleitung ruiniert hatte. Doch er reagierte so ruhig und bedächtig wie zuvor.
Nachdem ich in den letzten paar Minuten schon genug angebrüllt worden war, war ich höchst erleichtert. Im Pokerzimmer saßen immer noch Gigi, Jemma und Noah am Tisch, zusammen mit Nereus und Enko, die bei unserer Rückkehr in ein angeregtes Gespräch vertieft gewesen waren.
»Es geht schon lange Zeit das Gerücht um, dass Zeus sich nicht mehr um seine Angelegenheiten kümmert.« Nereus goss sich aus einer Kanne Tee nach. »Nun haben wir die Bestätigung. Das heißt wohl, dass du auf dich allein gestellt bist, Livia. Vom Olymp wirst du keine Hilfe bekommen.«
»Aber ich brauche unbedingt die Hilfe des Olymps«, sagte ich verzweifelt. »Nur das Gericht des Olymps kann Maél freisprechen.«
Nereus zuckte die Schultern. »Meine Möglichkeiten sind begrenzt. Das Einzige, was ich dir anbieten konnte, war meine Standleitung, die nicht mehr existiert.«
»Was ist mit einer Münze?«, warf Gigi ein.
Nereus schüttelte den Kopf. »Ihr werdet kein Glück damit haben. Zeus hat diese Kontaktmöglichkeit deaktiviert. Die Münzen haben keine Macht mehr.«
»Warum haben Sie uns das nicht sofort gesagt?« Noah runzelte nachdenklich die Stirn.
»Weil der Herr der Flüsse gerne Spielchen spielt, so wie alle Götter«, brummte Enko.
Nereus grinste breit. »Was wollt ihr? Ihr habt eure Chance bekommen.«
»Ach, da ist noch was.« Kleinlaut sah ich auf den Becher vor mir. »Zeus hat gesagt, derjenige, der mir dieses Telefon zur Verfügung gestellt hat, wird eines grausamen Todes sterben.«
Selkes riss erschrocken die Augen auf, und sogar Noah und Enko setzten sich etwas gerader in ihren Stühlen auf. Gigi hatte eine Hand vor den Mund gepresst, und Jemma starrte mich entsetzt an. Nereus hingegen sah wenig beeindruckt aus.
»Ja, unser Herrscher droht gerne. Das hat er schon viele tausend Jahre lang gemacht und das meiste davon nie in die Tat umgesetzt. Ich glaube kaum, dass er mich als Hüter der Flüsse einfach so zu Staub verbrennen wird.«
Gigi ließ langsam die Hand sinken. »Und Zeus hat also wirklich rigoros abgelehnt, dir zu helfen?«
Ich erzählte, wie das Telefonat gelaufen war.
Enko schüttelte nur den Kopf. »Irgendwie habe ich damit gerechnet. Er ist so ein Ignorant. Schlimmer als Vater.«
»Aber wie wollen wir Maél dann helfen?«
»Da hilft nur, zu warten, bis der Götterbote Hermes wieder auftaucht«, sagte Nereus. »Er mag zwar jetzt verschwunden sein, aber auch er ist ein waschechter olympischer Gott und ganz sicher nicht einfach so unter einen Lkw geraten. Ich kenne Hermes. Er ist ein guter Mann. Vertraut darauf, dass er sich bei euch melden wird, sobald er dazu kommt. Ihr müsst nur Geduld haben.«
Unterm Tisch ballte ich meine Hände zu Fäusten. »Geduld …«, murmelte ich. »Geduld ist nicht meine Stärke.«
»Seid ihr sicher, dass dieser Maél noch lebt?«, warf Selkes ein.
Ich nickte, allerdings mehr auf Wunschdenken als auf Fakten basierend.
Enko sah ihn fest an. »Er ist mein Bruder. Ich bin mir sicher, ich wüsste, wenn er tot wäre.«
Selkes lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Na, dann ist es wohl Zeit für euren Plan B.«
»Wenn du einen hast, immer her damit.«
Nereus nahm einen Schluck von seinem Tee und stellte den Becher dann sanft vor sich ab. »Es tut mir leid, dass es so unerfreulich für dich gelaufen ist, Livia.«
Enko erhob sich als Erster. »Wir danken Euch, Herr der Flüsse. Wir werden uns jetzt verabschieden.«
Auch wir anderen erhoben uns. Erst da fiel mir auf, dass das Jucken seit dem Telefonat mit Zeus komplett verschwunden war. Vielleicht hatte dieses unerfreuliche Gespräch wenigstens etwas gebracht.
»Es hat mich gefreut.« Nereus hob zum Abschied die Hand, blieb aber sitzen und nippte weiter an seinem Tee. Wie von Zauberhand erschien Ling Wu und öffnete uns die Türen.
Selkes begleitete uns, und wir bestaunten noch mal die Wasserdrachen und die Schnecken. Er führte uns zu einem der großen Becken. Die kleinen Drachen waren neugierig und kamen sofort zum Rand. Ihre Schnauzen waren weich wie die von Seerobben. Mit ihren gelben Augen und den bläulich-violettfarbenen Schuppen wirkten sie tatsächlich wie Tiere von einem anderen Stern. Einer schnaufte in meine Handfläche, als ich ihn unter dem Kinn kraulte, und seine borstigen Schnauzhaare kratzen über meine Haut. Ich hätte ewig mit den kleinen Drachen spielen können, und auch die anderen schienen ganz verzückt. Irgendwann trieb Selkes uns lachend weiter mit dem Versprechen, dass wir die Wasserdrachen bald mal wieder besuchen kommen könnten.
Auf der Straße hatte Selkes jedoch nur noch Augen für Gigi. »Dann schreibe ich dir, okay?« Er wirkte plötzlich wieder etwas nervös.
Ich hatte gar nicht mitbekommen, wo und wann die beiden Handynummern getauscht hatten.
Gigi nickte. »Gerne!« Die beiden lächelten sich an und schienen sich gar nicht voneinander trennen zu wollen.
Noah legte Jemma den Arm um die Taille. »Muss das schön sein, verliebt zu sein«, flüsterte er.
Jemma grinste bis zu den Ohren und beugte sich dann zu ihm, um ihn kurz auf den Mund zu küssen. »Ja, ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt.«
Ich fühlte mich zwischen den beiden Paaren wie das fünfte Rad am Wagen, obwohl direkt hinter mir Enko stand, der sich, seit Maél verschwunden war, aufführte wie mein persönlicher Bodyguard. Trotzdem, ich vermisste Maél so schrecklich. Und jetzt, da die beiden anderen so verliebt wirkten, wurde mir nur noch viel stärker bewusst, wie glücklich ich mit Maél gewesen war. Trotz unserer Differenzen, dem Misstrauen und all dem, was sich uns in den Weg gestellt hatte.
Von hinten legte mir jemand sanft die Hand auf die Schulter. Enko.
»Komm«, sagte er. »Wir bringen die anderen nach Hause.«
Ich wollte protestieren und ihm sagen, dass es eigentlich kein »wir« gebe, aber ich hatte keine Kraft dazu. Irgendwie war es tröstlich, dass es ihm so wichtig schien, für mich da zu sein.
Dennoch blieb das ungute Gefühl, dass das »wir« bald zu einem Problem werden würde.