Kapitel 7

Zweites Plädoyer an den Göttervater

Draußen atmete ich ein paarmal tief durch. Was war geschehen? Ich hätte Angst haben müssen, als Enko mich so gepackt hatte. Als er mich körperlich bedroht und meinen Verstand zu manipulieren versucht hatte. Stattdessen war mein Hirn automatisch in den Kampfmodus gewechselt, und ich hatte mich gewehrt. Enko überragte mich wie ein Leuchtturm, und doch war ich mit ihm fertiggeworden. Nur … Ich sah auf meine Handflächen. Nur wie eigentlich?

Hinter mir drängten sich ein paar Studenten durch die Glastüren. Ich folgte ihnen, weil es sich sicherer anfühlte, mich in der Nähe anderer Menschen aufzuhalten. Außerdem hoffte ich, dass sie mich praktischerweise zur nächsten Metrostation führen würden. Schließlich stand Enko nicht mehr zur Verfügung, um mich von hier wegzubringen. Als ich an ihn dachte, jagte ein scheußlicher Gedanke den nächsten. Ich wusste, dass Hadessöhne Niederlagen nur schwer ertrugen. Was würde Enko anstellen – nun, da er mir nicht mehr den netten Studenten vorspielen musste? Würde er mir auflauern? Würde er unsere Rettungsaktion sabotieren? Mir wurde eiskalt. Würde er Tiffy verraten?

Ich hatte Glück, denn die Studenten hatten tatsächlich eine Metrostation zum Ziel gehabt. Als ich den Fahrplan studierte, verschwamm immer wieder das Bild vor meinen Augen, weil meine Gedanken abschweiften.

Ich wusste gar nicht recht, was ich als Nächstes machen sollte. Einerseits wollte ich mich zu Hause verkriechen und versuchen, dieses scheußliche Erlebnis mit Enko erst mal irgendwie zu vergessen. Andererseits war ich entschlossener denn je, alles zu tun, um Maél zu retten. Alleine in Hermes' Wohnung einzubrechen, das traute ich mich nicht. Mal abgesehen davon, dass ich keine andere Möglichkeit kannte, ein Schloss zu öffnen, außer mit dem dazu passenden Schlüssel. Bei dem Wort »Schlüssel« fiel mir plötzlich siedend heiß etwas ein. Ich zog meinen Schlüsselbund hervor und starrte ungläubig darauf. Warum hatte ich nicht gleich daran gedacht? Ich besaß einen Schlüssel zu Maéls Wohnung. Eigentlich waren es sogar zwei. Einer für die Haustür und einer für die Wohnungstür. Ich könnte Ödipus kurz besuchen und nachsehen, ob es ihm besser ging und er seine Erkältung überwunden hatte. Ihn fragen, ob er ein Handy besaß, und Nummern tauschen. Etwas, das schon viel zu lange überfällig war. Ich ärgerte mich über mich selbst, während ich die Treppen zur Metro hinabging. Wieso war mir der Schlüssel nicht früher eingefallen? Höchstwahrscheinlich hatte Maél einen Schlüssel zu Hermes' Wohnung irgendwo in seinem Besitz. Ich musste ihn vermutlich nur von einem Schlüsselbrett nehmen. Das hätte Enko und mir die ganze Situation rund um die Dietriche erspart. Andererseits hätte er mir dann wohl nicht so schnell sein wahres Gesicht offenbart.

An diesem Punkt realisierte ich mal wieder, wie sehr mich die Ereignisse der letzten Tage aufgewühlt hatten. Ich war die ganze Zeit irgendwie kopflos unterwegs. Stolperte von einem Ereignis, von einer Neuigkeit, von einer Herausforderung in die nächste. Der absolute Informations-Overkill. Ich hatte kaum geschlafen, und mein Verstand arbeitete die ganze Zeit auf Hochtouren. Immer bereit, sich gegen mögliche Angreifer zu wehren oder möglichen Stolperfallen auszuweichen. Ganz nebenbei schaukelte ich noch die Schule und meine Eltern, die sich durchaus für das Privatleben ihrer Tochter interessierten. Vielleicht war es einfach alles zu viel. Vielleicht war ich schlicht überfordert mit der Situation. Und nun war ich einen weiteren Mitstreiter los. Enko, der sogar direkte Verbindungen zur Götterwelt hatte. Enko, der nicht nur seinen Halbbruder Maél, sondern auch Hermes gut kannte und bereit gewesen war, in dessen Wohnung einzubrechen, nur um mir zu helfen. Nun stand ich wieder mehr oder weniger ganz allein da.

Im nächsten Moment gewann eine andere Partei in mir die Überhand. Das stimmte so nicht. Nur weil Enko nicht mehr zu uns gehörte, war ich noch lange nicht allein. Ich hatte meine Freundinnen und andere Halbgötter auf meiner Seite. Bis jetzt hatte ich alles getan, was in meiner Macht lag. Ich war sogar so erfolgreich gewesen, den Herrscher aller Götter, Zeus, persönlich an die Strippe zu bekommen. Ich hatte nicht versagt. Ich suchte in der Umhängetasche nach meinem Handy. Meine Finger zitterten, und ich fühlte mich auf einmal genauso ängstlich und flattrig, wie ich mich eigentlich in Enkos Anwesenheit hätte fühlen sollen. Ich öffnete meine WhatsApp-Gruppe mit Gigi und Jemma.

Es gab Streit mit Enko, textete ich. Er ist nicht mehr dabei. Seht euch vor.

Jemma war sofort online. Wo bist du? Brauchst du Hilfe? Ihre Hilfsbereitschaft rührte mich immer aufs Neue.

Nein, alles okay, schrieb ich schnell zurück, bevor sie sich in das nächste Taxi warf. Ich fahre jetzt zu Maél und sehe nach, ob ich dort noch Hinweise finde, wie wir Zeus erreichen können. Vielleicht entdecke ich dort auch den Schlüssel zu Hermes' Wohnung. Angeblich soll der ja eine Standleitung zu Zeus besitzen. Ich muss unbedingt noch mal mit Zeus sprechen. So leicht lasse ich mich nicht einschüchtern. Zeus ist der Einzige, der Maéls Freilassung veranlassen kann. Vielleicht fahre ich später weiter zu Hermes und gucke, ob ich mit dem Schlüssel die Wohnung betreten kann.

Jemma schickte mir drei Smileys mit weit aufgerissenen ängstlichen Augen. Dann war auch Gigi online. Sollen wir dich unterstützen?

Nein, danke, das ist lieb. Aber ich wollte nur, dass ihr Bescheid wisst.

Leider hatte ich Maéls Adresse nicht behalten, ich wusste lediglich, wo die Wohnung lag. Ich versprach meinen Freundinnen, die Adresse zu schicken, sobald ich sie kannte.

Maéls Wohnung lag in einem ziemlich miesen Viertel, aber ich vermutete, dass selbst dort die Welt an einem Sonntagnachmittag noch einigermaßen in Ordnung war.

Ich hatte nur noch einen Balken Empfang unter der Erde, aber Enkos Nachricht erreichte mich trotzdem. Angst klammerte sich um meinen Brustkorb. Wie hatte ich es bloß geschafft, so mutig zu sein, als er mir direkt gegenüberstand?

Livia, es tut mir leid. Bitte verzeih mir.

Mir lief ein eiskalter Schauer den ganzen Körper hinab. Ich würde ihm nicht antworten. Mich auf keine weitere Diskussion einlassen. Enko hatte alle Register gezogen, um mich auf irgendeine Art und Weise für sich zu gewinnen. Ich würde ihm keinen Schritt mehr über den Weg trauen. Weshalb also sollte ich noch Kontakt mit ihm haben?

Ich ignorierte seine Nachricht und dachte stattdessen darüber nach, wie es sein würde, Maéls Wohnung zu betreten. Ob er es damals schon geahnt hatte? Ob er mir deshalb die Schlüssel gegeben hatte – damit ich weitere Hinweise finden konnte? Hatte er vielleicht sogar damit gerechnet, wie schrecklich die Rettungsaktion rund um Agada schiefgehen würde? Meine Bahn kam, und ich zwängte mich auf den letzten schmalen Sitz, der noch frei war. Die Frau neben mir telefonierte lautstark, obwohl ich auf meinem Handy keinen einzigen Balken Empfang mehr hatte. Die zwei Jugendlichen rechts neben mir unterhielten sich über irgendein Computerspiel. Ich versuchte zuzuhören, einfach nur, um diesem fiesen Gedankenkarussell Einhalt zu gebieten. Doch vergeblich. Da war so vieles, was völlig ungereimt war. Diese komischen Kräfte, die ich aktivieren konnte, wenn ich mich bedroht fühlte. Die seltsame Art, wie auch ich Enko irgendwie manipuliert hatte. Es geschafft hatte, ihn mit seiner eigenen Kraft aus meinem Geist zu verdrängen. Dann die ganze seltsame Geschichte rund um Tiffy und die vertauschten Götterkinder. Es klang wie die reißerische Titelstory eines Revolverblättchens: KINDER BEI DER GEBURT VERTAUSCHT. GROSSE GEHEIMNISSE UM DEREN HERKUNFT. Das klang mehr nach Soap als nach dem echten Leben. Außerdem machte mir der Gedanke daran, wie Enko auf meine Ablehnung reagieren könnte, gewaltige Bauchschmerzen. Ich traute ihm so ziemlich alles zu. Würde ich ab jetzt jeden Tag in Angst vor ihm leben müssen? Wie lange würde ich das durchhalten? Und würde er seinem Vater nun von Tiffy berichten? Hatte ich sie durch meinen Streit mit Enko auch in Gefahr gebracht?

Die Fahrt in eines der äußersten Arrondissements von Paris zog sich scheinbar ewig. Ebenso unangenehm war der Spaziergang von der Metrostation zu Maéls Wohnblock. Tatsächlich schien es keinen Unterschied zu machen, welcher Wochentag es war oder welche Uhrzeit. Wieder lungerten Gruppen von jungen Männern an den Straßenecken herum und beäugten mich, wie ein Rudel Löwen eine Gazelle betrachten würde. Ich senkte nicht den Kopf, sondern ging forschen Schrittes weiter. So als wüsste ich genau, wo ich hinwollte. So als würde ich erwartet. So als würde ich jeden Tag genau hierherlaufen. Niemand sprach mich an, niemand rief mir etwas hinterher, und ich schloss die Tür des Wohnhauses auf, ohne dass irgendetwas geschah. Ich überlegte, zuerst bei Ödipus vorbeizuschauen, doch dann war meine Neugier größer. Ich fuhr mit dem Aufzug bis in den Stock, in dem Maéls Apartment lag. Meine Hände zitterten, als ich den Schlüssel hervorkramte. Nur noch wenige Schritte, und ich würde vor seiner Wohnungstür stehen. Gleich würde ich sein Reich betreten. Würde die Sachen sehen, die er zuletzt benutzt hatte. Würde mich auf das Bett setzen, in dem er zuletzt geschlafen hatte. Würde da sein, wo er zuletzt gewesen war. Meine Füße fühlten sich plötzlich an, als würden sie durch Treibsand laufen. Jeder Schritt wurde mühsamer, ich sank immer tiefer, tiefer, tiefer ... Sollte ich mich einfach umdrehen und wieder gehen? Mein Mund wurde ganz trocken. Mir war schon wieder nach Weinen zumute. Es war so unerträglich, hier zu sein und zu wissen, dass seine Wohnung leer sein würde.

Ein Lichtstrahl fiel auf den spärlich beleuchteten Flur. War das nicht direkt vor Maéls Wohnung? Sofort waren alle Bedenken in den Hintergrund gerückt. Die geometrische Form ließ vermuten, dass die Wohnungstür einen Spalt offenstand. Wie konnte das sein? In so einem Haus hatte Maél die Tür gewiss hinter sich zugezogen und gleich zweimal abgeschlossen. Einbrecher, war das Erste, was mir einfiel. Irgendjemandem musste aufgefallen sein, dass die Wohnung verlassen war. Vermutlich hatte jemand Maéls spärliche Habseligkeiten durchwühlt und seinen teuren Laptop mitgehen lassen.

Ich blieb stehen und horchte, doch alles blieb ruhig. Vorsichtig ging ich näher. Immer noch kein Geräusch. Mit wild klopfendem Herzen blieb ich vor der Tür stehen. Ich hob die Hand, ließ sie aber dann wieder sinken. Sollte ich nicht vielleicht doch lieber die Polizei rufen? Dies war eindeutig ein Einbruch. Womöglich hatte sich ein Obdachloser in der Wohnung einquartiert und lag schlafend im Bett. Ich war mir nicht sicher, ob ich so jemanden überraschen wollte.

Doch plötzlich lag meine Handfläche auf der Wohnungstür. Vorsichtig stieß ich sie auf. Zuerst war ich völlig geblendet von dem grellen Licht, das durch die gegenüberliegenden Fenster in den Innenraum fiel. Ich blinzelte, um wieder etwas sehen zu können. Dann machte ich eine schwarze Silhouette vor der gleißenden Helligkeit aus. Angst jagte durch alle meine Glieder. Das Licht war so hell, dass ich nur eine verschwommene Gestalt sah. Ich wollte mich gerade umdrehen und die Flucht ergreifen, da fragte die schwarze Silhouette: »Wer bist du?«

Irgendwo tief in mir realisierte mein Unterbewusstsein, dass mir diese Stimme vertraut vorkam. Ich hielt in meiner Drehung inne. Dann legte ich eine Hand über die Augen und kniff sie zu Schlitzen zusammen. Ich holte erschrocken Luft, als ich erkannte, wer da vor mir stand.

»Wer bist du?«, fragte Hermes, Götterbote und Diplomat des Olymps, und im nächsten Moment war er nur noch eine Lichtgestalt mit zwei riesigen goldenen Schlangen an seiner Seite. Ich wollte noch etwas sagen, da stürzten die Schlangen schon auf mich zu.

*

Ich konnte mich vor Schreck nicht rühren.

Die Schlangen hatten mich nun fast erreicht. Ihre rubinroten Augen schienen von innen heraus zu leuchten, und ihr wütendes Zischen machte sie noch bedrohlicher. In letzter Sekunde schaffte ich es, dass mein Körper mir wieder gehorchte.

»Hermes«, schrie ich. »Hermes, ich bin’s, Livia.«

Die Schlangen erstarrten, als seien sie plötzlich zu massivem Gold geworden. Der Kopf der einen Schlange befand sich nur noch Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Von ihren nadelspitzen Fangzähnen tropfte eine golden schimmernde Flüssigkeit. Sie brannte ein Loch in den dunklen Boden zu meinen Füßen.

»Livia?« Hermes' Stimme klang immer noch ungläubig.

»Ja, ich bin es.«

Hermes pfiff seine Schlangen zurück. Plötzlich waren sie wieder geschmeidig und lebendig, und sie drehten sich von mir weg, als wäre ich nie interessant gewesen. Zu seinen Füßen wurden sie immer kleiner, und irgendwann ringelten sie sich seinen Körper hinauf, um dann in dem Ausschnitt seines Oberhemds zu verschwinden. Hermes behielt mich fest im Blick, doch dann drehte er sich um, beugte sich über den Schreibtisch und zog hastig die Vorhänge ein Stückchen vor das Fenster, um die Sonne auszusperren.

»Was machst du hier?«, stieß ich hervor. »Warum hast du mir nicht geantwortet?« Meine Stimme brach. »Ich habe dir so viele Nachrichten geschrieben. Ich bin fast umgekommen vor Sorge. Und jetzt erwische ich dich hier in Maéls Zimmer? Willst du eigentlich, dass ich komplett durchdrehe?«

Die letzten Worte hatte ich wieder geschrien. Doch als Hermes sich erneut zu mir umdrehte, blieben mir weitere Schimpftiraden im Halse stecken. Er, der strahlende Götterbote, der Liebling der ganzen Stadt und gut aussehende Lebemann, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er hatte bestimmt zehn Kilo abgenommen, seine Wangen waren eingefallen und seine sonst so sorgfältig frisierten Haare hatten ihren Glanz verloren. Seine strahlend blauen Augen schienen völlig erschöpft. Er wirkte um Jahre gealtert.

»Livia«, sagte er, dann machte er ein paar schnelle Schritte auf mich zu und zog mich in seine Arme. Sein Oberhemd war ihm zu groß geworden, ich fühlte den leeren Stoff unter meinen Fingern.

»Sag mir, wie es ihm geht«, flüsterte ich. »Bitte, Hermes, du musst mir sagen, wie es ihm geht. Ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus, diese Angst, es treibt mich in den Wahnsinn.«

»Maél lebt«, sagte Hermes. »Die Verletzungen seines menschlichen Körpers konnten geheilt werden, aber er wartet nun auf seinen Prozess.« Hermes schob mich ein Stückchen von sich, um mir direkt ins Gesicht zu sehen. Die Schatten unter seinen Augen waren so tief wie Mondkrater. »Es sieht nicht gut aus.«

»Warum hast du dich nicht bei mir gemeldet?« Nun stiegen doch Tränen in meine Augen. »Warum hast du mich so lange warten lassen? Was habe ich dir getan? Ich wusste nicht mal, ob er die Nacht überlebt hat!«

»Livia.« Hermes legte seine Hände um meine Schultern und strich dann einmal meine Arme hinab. »Ich bin gerade erst wieder vom Olymp zurück. Ich bin nicht mal als Erstes in meine Wohnung gegangen, sondern in Maéls, weil ich nach entlastendem Material suchen wollte. Ich habe seit dem Tag, an dem es passiert ist, nicht mehr geschlafen. Sie haben mich auf dem Olymp verhört, mich eingesperrt wie all die Intriganten und Verbrecher. Ohne Nahrung, ohne Licht. Man hat mich als Verräter beschimpft und mir unterstellt, ich hätte Maéls Absichten gekannt und geduldet. Ich hätte mit ihm unter einer Decke gesteckt. Es hat mich sehr viel Diplomatie und Überzeugungskraft gekostet, meine göttlichen Brüder und Schwestern davon zu überzeugen, dass ich von alldem nichts gewusst habe. Was nur schwer zu glauben ist, wenn man bedenkt, dass Maél schon seit Midas' Zeiten auf der Suche nach Agadas Gold war. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, von alldem nichts mitzubekommen. Im Nachhinein bereue ich, dass ich nicht genauer hingesehen habe. Ich hätte Maél all das ersparen können, wenn ich ihm zuvor auf die Schliche gekommen wäre und das, was er vorhatte, unterbunden hätte. Ich bin sein Pate, ich bin für ihn verantwortlich. Ich hätte es merken müssen. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe.« In Hermes' Augen standen genauso Tränen wie in meinen. »Nun werde ich alles daransetzen, ihn irgendwie zu befreien. Und damit meine ich nicht einen Einbruch auf dem Olymp, eine Befreiungsaktion und noch mehr Schwierigkeiten. Nein, wir werden beweisen, dass er unschuldig ist. Maél ist ein guter Junge. Ich glaube kein Wort von dem, was ihm vorgeworfen wird.«

»Aber in den Katakomben, da hast du …«, begann ich. Immerhin hatte Hermes mir in den Katakomben nicht glauben wollen, dass Maél keine bösen Absichten gehegt hatte. Wieso hatte er seine Meinung nun geändert?

Hermes sah traurig aus. »Livia, es ist unser Protokoll. Hätte ich mich vor Hades nicht strikt daran gehalten, hätte er mir sofort einen Strick daraus gedreht. Du weißt doch, wie er ist. Er hat sogar seinen eigenen Sohn angeklagt, indem er zu Protokoll gegeben hat, dass Maél seine Kappe der Unsichtbarkeit gestohlen hat. Was ist das für ein absolut würdeloses Verhalten? Immerhin ist er sein Sohn. Ich hatte also keine andere Wahl. Aber nun bin ich freigesprochen und werde mit allen Mitteln versuchen, den Olymp vom Gegenteil zu überzeugen.«

»Ich habe mit Zeus gesprochen«, platzte es aus mir heraus.

Hermes' Augen wurden groß wie Untertassen. »Wie hast du das denn geschafft?«

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte rund um Nereus, seine frechen Pflanzen und das Telefon aus den Siebzigern, das wohl eine vergessene Standleitung war.

Hermes schüttelte leicht den Kopf. »Unglaublich, wie hat der alte Schlawiner es geschafft, diese Leitung so lange vor uns zu verbergen?«

Ich zuckte die Schultern. »Es war jedenfalls unglaublich großzügig von ihm, sie mich benutzen zu lassen, denn dadurch ist sie wertlos geworden. Nereus hat erzählt, dass das Telefon sich kurz nach unserem Besuch in Luft aufgelöst hat.«

»Und wie war dein Gespräch?«

»Völlig nutzlos. Zeus war wütend und hat mich abgewimmelt, er schien keinerlei Interesse an der Aufklärung der Situation zu haben. Ich habe mich gefühlt wie ein dummes kleines Mädchen, das eine wirre Geschichte erzählt. Irgendwann hat er einfach aufgelegt. Und ganz ehrlich, in seiner Verfassung hätte ich ihm auch nichts anderes zugetraut. Er sah schrecklich verwahrlost aus. So habe ich mir den Herrscher der olympischen Götter nicht vorgestellt.«

»Genau das wird mehr und mehr zum Problem.« Hermes seufzte und strich sich durch die kurzen Haare. Man schien ihm alle seine Ringe abgenommen zu haben, seine Hände wirkten seltsam nackt. »Das geht schon seit einigen Jahrhunderten so, dass Zeus einfach keine Lust mehr auf diese Geschäfte hat. Ich habe mehr und mehr die Rolle von demjenigen übernommen, der alles organisiert und lenkt. Vielleicht habe ich auch deshalb übersehen, was da direkt vor meiner Nase passiert ist.«

»Hast du eigentlich die Tür aufgebrochen?« Ich deutete hinter mich.

Hermes nickte. »Angesichts der dramatischen Lage schien mir das vertretbar.«

Ich war beruhigt, dass nicht vorher noch ein Einbrecher hier gewesen war. Mein Blick fiel zurück auf Hermes. »Du siehst echt schlecht aus«, stellte ich fest.

»Die Zeit vergeht schneller auf dem Olymp. Eine Woche ist wie ein Monat. Meine Gefangenschaft hat deutlich länger gedauert als nur ein paar Tage.« Er lächelte müde, dann musterte er mich von Kopf bis Fuß. »Eigentlich sagt man so was einer Dame ja nicht, aber dieses Mal mache ich eine Ausnahme: Dito, liebe Nymphe.«

»Ja, ich weiß.« Ich strich mir kurz über die Augen. Immer noch tanzten Lichtblitze vor meinen geschlossenen Lidern. »Aber es ist mir egal.« Ich öffnete die Augen wieder und sah auf meine Schuhe. Die Lichtblitze verschwanden langsam. »Ich will Maél zurück, Hermes. Schaffst du das?« Ich sah zu ihm hoch.

Er lächelte erneut, doch auch dieses Mal wirkte es bemüht und fast resigniert. »Ich lüge nicht, Livia, und deshalb kann ich dir nur die eine Antwort geben: Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, und ich kann dir nicht garantieren, dass ich Maél freibekomme. Weder zu deinen Lebzeiten noch später.«

Die Wucht seiner Worte hätte mir fast den Boden unter den Füßen weggerissen. Wie sollte ich das jemals akzeptieren? Aufgeben? Vergessen?

»Livia.« Hermes legte mir eine Hand auf die Schulter. »Du bist stark, und du bist noch stärker geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Was ist mit dir passiert?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich leise. Konnte ich ihm wirklich vertrauen? Konnte ich ihm von den seltsamen Kräften erzählen, die manchmal in mir wüteten?

Hermes schluckte, und es sah aus, als würde er nach den richtigen Worten suchen. »Gerade, als du im Türrahmen aufgetaucht bist … da habe ich dich nicht erkannt.«

»Ich habe dich auch nicht erkannt, weil du das grelle Sonnenlicht im Rücken hattest. Ich habe nur eine schwarze Silhouette gesehen.«

Hermes sah mich sehr ernst an. »Aber ich war nicht geblendet, Livia. Ich hatte das Sonnenlicht im Rücken.«

»Und was hast du gesehen?«

Er sah ausweichend zur Seite, als könnte er nicht glauben, was seine Augen ihm gezeigt hatten. »Du hast von innen heraus gestrahlt. Ich kenne dieses Strahlen, aber ich habe es noch nie bei einer Nymphe gesehen. Es ist ein göttliches Attribut, ein seltenes Attribut, und es ist so überwältigend, dass man nicht den Blick davon abwenden kann. Ich war wie hypnotisiert, und mein Verstand hat einen Moment lang völlig ausgesetzt. Doch da war noch mehr. Es geht eine Kraft von dir aus, die an meinen Gehirnwindungen zu zupfen scheint. Da ist etwas in deinem Blick, in diesem entschlossenen, kampfeslustigen Blick, das mein Hirn dazu bringen will, alles zu tun, was du willst. Es ist definitiv ein wenig furchteinflößend.«

Einen Moment lang wusste ich nichts zu erwidern. Ich und furchteinflößend? Ich war knapp einen Meter sechzig groß, eher kurvenreich als athletisch und in meinem mit Blumen bestickten Trenchcoat ganz gewiss keine Erscheinung, vor der man zitternd auf die Knie fallen würde. »Wie kann das sein?«, fragte ich also.

Hermes zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, was für Kräfte da gerade in dir erwachen, Nymphe, aber du scheinst etwas ganz Besonderes zu sein. Du besitzt Attribute, die eindeutig göttlicher Natur sind. Und doch spüre ich das Erbe der Wiesennymphen in deinen Adern. Ist irgendetwas mit dir geschehen, während ich weg war?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe viel geheult und in der Zwischenzeit Pläne geschmiedet. In der wenigen Zeit, die dann noch blieb, habe ich versucht, irgendwie meine Noten zu halten und meinen Eltern völlige Normalität vorzugaukeln. Von gewissen Veränderungen habe ich zwar etwas mitbekommen, aber ich bin genauso ratlos.«

»Erzähle mir davon.« Hermes verschränkte die Arme vor der Brust. »Erzähl mir alles, was du weißt.«

In diesem Moment piepte mein Handy laut. Ich zuckte zusammen. Und zwar so sehr, dass Hermes fragend die Augenbrauen hob. »Du hast Angst.« Es klang nicht wie eine Frage.

Unbehaglich senkte ich den Blick. Dann seufzte ich und zog mein Handy hervor. Es half ja doch nichts. Ich musste nachsehen, wer mir geschrieben hatte, denn schließlich war es nicht ausschließlich Enko, der mir WhatsApp-Nachrichten sandte. »Es ist wegen Enko«, erklärte ich. »Wir haben Streit.«

Hermes' Augenbrauen wanderten noch höher. »Warum wundert mich das nicht?«

Ich sah auf das Display. Eine Nachricht von Tiffy. Ich klickte auf »Lesen»: Hallo, meine Liebe. Ich hoffe, es geht dir gut. Hast du noch etwas von Enko gehört? Ich mache mir schon ein wenig Sorgen. Da wir uns heute nicht sehen, dachte ich mir, ich schicke dir mal ein Foto von dem Bild aus dem Medaillon meiner Mutter. Ich hatte dir ja versprochen, dass ich es dir zeigen will, aber es ist mir zu riskant, es mit in die Schule zu bringen. Das ist also der vertauschte Sohn von Nyx. Ich finde, er sieht nett aus. Was meinst du? Liebe Grüße und bis morgen, Tiffy.

Der Whatsapp-Gong ertönte erneut, weil Tiffy ein Foto schickte. Als ich das Bild sah, hätte ich fast mein Handy fallen gelassen. Meine Beine knickten weg, und Hermes war in der nächsten Sekunde da, um mich aufzufangen.

»Bei allen Göttern, Livia, was ist passiert? Ist es eine schlimme Nachricht?«

In meinem Kopf schien alles zu explodieren. Himmel, was sollte ich nun tun? Sollte ich es Hermes erzählen? Dadurch würde ich Tiffy verraten. Aber ich konnte nicht anders, ich musste mit jemandem darüber reden, auch wenn ich Tiffy dadurch noch mehr in Gefahr brachte. Wortlos hielt ich Hermes mein Handy vors Gesicht, damit er sich das Foto ansah. Er neigte interessiert den Kopf zur Seite. »Was für ein hübsches Porträt. Maél ist gut getroffen.« Dann wurde alles schwarz.

*

Ich kam zwischen weichen Kissen und Decken wieder zu mir. Ein feuchter Lappen kühlte meine Stirn, und als ich die freie Hand hob, um ihn zu entfernen, erschien eine kleine goldene Schlange in meinem Gesichtsfeld und sah mich streng an. Offensichtlich hatte sich das Reptil auf dem Tuch zusammengerollt, damit es an Ort und Stelle blieb.

»Livia.« Hermes saß neben mir auf dem Bettrand und tätschelte meine Schulter. »Du bist einfach umgefallen. Wie geht es dir?«

Nur langsam bekam meine Welt wieder Konturen. Erst als die Erinnerungen der letzten Minuten zurückkehrten, realisierte ich, auf wessen Bett ich da lag. Ich holte tief Luft, und da war er. Maéls Geruch. Sein Bett roch nach ihm, und einen Moment lang vergaß ich alles, was mich in den letzten Tagen so gequält hatte. Maél. Hier war er noch greifbar. Hier fühlte ich mich ihm ganz nah. Die kleine Schlange legte sich auf dem feuchten Tuch wieder ordentlich zurecht. Ich spürte ihre leichten Bewegungen an meiner Stirn. Die andere goldene Schlange ringelte sich um Hermes' Hals und reckte dann den Kopf, um mir ebenso forschend wie Hermes ins Gesicht zu sehen.

»Seit ich eine Nymphe bin, werde ich ständig ohnmächtig. Es ist so peinlich.«

Hermes schüttelte leicht den Kopf, wobei die zierliche Schlange mitschwankte. »Solche Veränderungen fordern dem Körper extrem viel Kraft ab. Ich kenne mich nicht so gut mit Nymphen aus. Ich weiß nicht, wie eure Entwicklung vonstattengeht. Aber Götterkinder sind manchmal wochenlang krank, wenn ihre Kräfte erwachen. Es sind extreme Belastungen, die dem Körper alle Ressourcen abverlangen.«

»Aber es ist peinlich«, wiederholte ich. »Ich bin doch keine Diva, die sich durch eine Ohnmacht aus der Affäre zieht.«

»Wer behauptet denn so etwas? Jede Kraft, die in deinem Körper langsam erwacht, ist wie ein Marathonlauf. All deine Zellen stehen permanent unter Strom. Und manchmal brennen die Sicherungen eben durch. Dafür musst du dich nicht schämen.«

Die zweite Schlange verließ ihren Platz an Hermes' Hals, ringelte sich seinen Arm hinab und legte dann ihren Kopf auf meinen Unterarm, als wollte sie mich trösten, so wie Hermes. Die gesamte Situation war genauso surreal wie mein neues Leben. Hier lag ich auf dem Bett eines Jungen, den ich vermutlich niemals wiedersehen würde, und ein jahrtausendealter olympischer Gott tätschelte beruhigend meine Schulter, während zwei kleine goldene Schlangen sich als Krankenschwestern versuchten. Wie gut nur, dass ich zwei sehr liebe Freundinnen hatte, denen ich jede noch so abstruse Geschichte erzählen konnte. Und die mir jede noch so verrückte Story glaubten. Hätte ich niemanden zum Reden gehabt, ich wäre schon vor Wochen völlig durchgedreht.

»Woher hast du dieses Bild von Maél?«, fragte Hermes.

Ich schloss kurz die Augen. Nun war es Zeit für die Wahrheit. Eine Wahrheit, die Tiffy gefährlich werden konnte – Tiffy, die ich gerade erst kennengelernt hatte, die ich aber mochte und der ich irgendwie vertraute. Doch vielleicht könnte ich es schaffen, sie irgendwie durch Hermes beschützen zu lassen. Insbesondere vor Enko, den ich immer noch für eine tickende Zeitbombe hielt. Also öffnete ich die Augen wieder.

»Hermes, du weißt vielleicht, dass Nyx, die Göttin der Nacht, verschwunden ist.«

Er nickte. »Ja, zusammen mit ein paar anderen Göttern. Wir wissen nicht, wo sie sich aufhalten. Keiner hat eine Nachricht hinterlassen. Wir sind absolut ratlos.«

»Ich habe ein Mädchen kennengelernt, das behauptet, dass Nyx entführt wurde. Sie ist eine Klassenkameradin von mir, und sie sagt, dass es im Tempel der Nacht eindeutige Spuren eines Kampfes in den privaten Gemächern gab.«

Hermes legte seinen Handrücken nacheinander an meine Wangen, vermutlich, weil er dachte, dass ich Fieber hätte. Dann sah er mich wieder so prüfend an. »Könntest du das wiederholen?«

Ich sagte beide Sätze noch mal.

»Eine Klassenkameradin?«

»Na ja …« Ausweichend zupfte ich an dem Tuch auf meiner Stirn herum, und wieder beugte die kleine Schlange sich mahnend vor. Schnell ließ ich die Hand sinken. »Sie ist nicht nur meine Klassenkameradin. Sie ist eine Halbgöttin.«

Sofort wirkte Hermes beruhigter. Was irgendwie noch surrealer war. »Ah, noch eine Halbgöttin. Wie nett. Wessen Tochter ist sie?«

Nun musste ich die Karten auf den Tisch legen. »Sie ist eine Tochter von …« Ich holte tief Luft. »Von Hades.«

Für Sekundenbruchteile verrutschte Hermes' Miene, dann setzte er seinen Diplomatenblick auf. »Liebes, ich enttäusche dich ungern und unterstelle deiner Freundin Lügen, aber das kann nicht sein. Es ist ein Naturgesetz, dass die dunklen Götter immer nur Nachkommen des gleichen Geschlechts produzieren. Die männlichen Götter können nur Söhne zeugen, die Göttinnen gebären nur Mädchen. Es hat nie eine Ausnahme gegeben, weil es ein Gesetz der Natur ist.«

»Sie ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt«, sagte ich und wollte ihm gerade erklären, warum Tiffy absolut glaubwürdig war, als sich die Puzzleteile in meinem Kopf rasant zusammensetzten. Plötzlich sah ich das ganze Bild. Dunkelheit und Sterne. Den Nachthimmel und die Schwärze des Tartaros. Die Schatten, die Maél umgaben wie ewige Nacht. Die tanzenden Galaxien in seinen Augen. Keine Feuer der Unterwelt, sondern der blaue Nachthimmel. Ich kam so abrupt hoch, dass das Tuch von meiner Stirn rutschte. Ich schaffte es gerade noch so, die kleine goldene Schlange in meinen Händen aufzufangen. Sie zischte mich empört an, bevor sie sich zurück zu Hermes schlängelte.

»Hermes, Maél ist unschuldig.«

»Das wissen wir doch alle. Und wir werden es …«

»Nein«, unterbrach ich ihn eindringlich. »Er ist absolut unschuldig. Das, was man ihm vorwirft, ist haltlos, weil seine Kräfte es gar nicht ermöglichen. Er ist kein Sohn von Hades. Er besitzt nicht die Kraft, die ihn zusammen mit Agada so gefährlich gemacht hätte, denn es ist eine Kraft, die ausschließlich den Hadessöhnen gehört.«

Hermes sah mich an, als verstünde er nicht.

»Maél ist ein Sohn von Nyx, der Nachtgöttin. Ob allein oder zusammen mit Agada, er hätte gar keinen Schaden anrichten können. Hermes, wir müssen sofort irgendwie den Olymp erreichen. Die Anschuldigungen gegen ihn sind haltlos. Und jetzt kann ich es beweisen.«

Hermes hob beide Hände, als wollte er ein durchgehendes Fohlen beschwichtigen. »Ganz ruhig, Livia, ganz ruhig jetzt. Und nun bitte noch mal von vorne. Ich komme allmählich nicht mehr mit. Du willst mir sagen, Maél ist kein Hadessohn? Das ist ja noch wirrer als die Geschichte mit dieser Tiffy. Willst du mir sagen, Maél wusste die ganze Zeit, dass er kein Sohn von Hades ist? Kläre mich auf, und das bitte langsam und deutlich.«

»Nein, Maél weiß es nicht. Da bin ich mir ganz sicher. Und Tiffy hat es mir unabhängig davon bestätigt.« Ich sammelte mich kurz und erzählte ihm dann den ganzen Rest. Alles, was Tiffy erzählt hatte und alles, was ich mir selbst zusammengereimt hatte.

Maél würde freikommen. Mein Herz raste. Er war kein Hadessohn, er war ein Sohn des Himmels, der Nachtgöttin. Selbst wenn er es vorgehabt hätte, niemals hätte er die Kraft besessen, mit Agada die Welt ins Chaos zu stürzen. Als ich geendet hatte, schwieg Hermes eine Weile, als müsste er die Worte erst auf sich wirken lassen.

»Das ist ja alles ganz ungeheuerlich«, sagte er schließlich. »Vertauschte Kinder. Hekate war eine mächtige Zauberin, ihr ist so etwas durchaus zuzutrauen. Es wäre ein Meisterwerk. Ein Jammer, dass sie unserer Gemeinschaft entglitten ist. Nun wäre es hilfreich, sie als Zeugin auftreten zu lassen.«

»Sie würde sich eines schweren Verbrechens beschuldigen. Glaubst du nicht, dass wir es schaffen, den Olymp davon zu überzeugen, dass die Kinder vertauscht wurden, ohne dass Hekate sich ihrem Urteil stellen muss?«

»Ich weiß es nicht.« Hermes sah nicht überzeugt aus.

»Ich musste Tiffy versprechen, dass ich sie nicht verrate, und das habe ich jetzt doch getan. Sie ist sich sicher, dass Hades sie töten wird, wenn er sie entdeckt. Sie sagt, dass es Gesetz ist, jene Kinder zu töten, die mit dem falschen Geschlecht zur Welt kommen.«

Hermes sah mich ratlos an. »So ein Gesetz gibt es nicht, weil es einfach noch nie vorgekommen ist. Aber vielleicht ist es ein ungeschriebenes Gesetz der dunklen Götter. Ein offizieller Teil des Protokolls ist es jedoch nicht.« Hermes neigte den Kopf zur Seite, als dächte er nach. »Moment, da war mal etwas. Ich erinnere mich. Aber es ist schon einige Jahrhunderte her. Die Nachricht verbreitete sich damals wie ein Lauffeuer durch unsere göttliche Gemeinschaft. Aglaia, die Göttin der Sternschnuppen, hatte einen kleinen Jungen bekommen. Richtig …« Er strich sich über das Kinn. »Wir haben es damals nur am Rande mitbekommen, weil sie nicht zu den olympischen Göttern zählt. Und glaube mir, wir haben genug mit uns selbst zu tun. Die Gemeinschaft der dunklen Himmelsgötter entführte den Jungen. Sie haben Aglaia unter Drogen gesetzt, die sie willenlos machten. Sie hat ihr eigenes Kind in einem ihrer Tempel geopfert, weil man den Jungen für einen Vorboten des Bösen hielt. Aglaia hat diesen Schicksalsschlag nie verwunden. Es folgten Jahrzehnte, dunkle Jahrzehnte, in denen nicht eine Sternschnuppe über den Himmel getanzt ist. Ich habe gehört, dass sie danach nicht mehr dieselbe war. Aber wie gesagt, im Olymp ist es nicht großartig berichtet worden – erst jetzt, wo du davon erzählst, erinnere ich mich daran. Ich weiß noch, dass ich Mitleid hatte mit dem armen kleinen Jungen. Und, dass ich diese martialischen Riten zutiefst verabscheute.« Er sah mich an. Traurigkeit verdunkelte seinen Blick. »Glaube mir, so etwas dulde ich nicht. Ich sehe kein zweites Mal zu, wenn sich so eine Tragödie anbahnt. Auch wenn viele der Götter, die nicht zum Olymp gehören, weitestgehend in ihren eigenen Gemeinschaften bleiben, so gelten doch auch für sie die Regeln unseres Zusammenseins. Ich werde alles daransetzen, dass Tiffy nichts geschieht. Und dass auch Maél kein Leid angetan wird, sollte er freikommen. Ich werde es nicht zulassen, dass noch mal Kinder sterben. Nur, weil sie von den falschen Eltern abstammen. Nur, weil sie das falsche Geschlecht haben. Niemals.«

»Ich danke dir.« Ich drückte seine Hand. »Du machst mir Mut.«

Hermes drehte sich um, als wollte er die Größe der Wohnung abschätzen. »Wir müssen mit Zeus reden. Fühlst du dich bereits wieder imstande dazu?«

Ich richtete mich noch mehr auf. »Natürlich. Immer. Wie ist der Plan?«

»Nun, als Erstes werden wir Zeus davon berichten, dass Maél gar nicht die Kräfte besitzt, die ihn zusammen mit Agada so gefährlich gemacht hätten. Als Nächstes werden wir mit Tiffy sprechen müssen. Sie muss uns alles erzählen, was sie weiß. Alles, was sie im Tempel der Nacht dazu herausgefunden oder aufgeschnappt hat. Vielleicht gibt es ja weitere Zeugen für diese Vertauschungsaktion. Vielleicht sind andere Himmelsgötter eingeweiht und können aussagen. Unter der Prämisse der Straffreiheit, natürlich. Und wir sollten auch Hades …«

»Nein«, unterbrach ich ihn scharf. »Nicht Hades. Ich traue ihm nicht. Er ist grausam und hinterhältig. Er ist genau wie Enko. Es spielt einem den netten Kerl vor, und in Wirklichkeit ist er ein Monster, das sich unter jeder Menge Charme und gutem Aussehen versteckt. Nein, Hermes, bitte. Lass Hades da raus.«

»Livia, ich kann dir nicht garantieren, dass Zeus sich nicht an seinen Bruder wendet, wenn es um eine Sache von solcher Dringlichkeit geht. Damit müssen wir rechnen. Du vergisst, dass sie Brüder sind. Sie sind zusammen aufgewachsen, sie vertrauen einander.«

Mir war ganz elend zumute. »Hermes, bitte. Ich habe Angst um Maél. Und ich habe Angst um Tiffy.«

»Tiffy ist seine Tochter, seine einzige Tochter. Die Götter dürfen keine Kinder mehr mit den Menschen zeugen. Diese Tochter ist ein Geschenk. Er wird ihr kein Leid antun.«

»Er wird sie umbringen«, erwiderte ich. »So wie es die Tradition bei den dunklen Göttern verlangt. Du hast mir gerade eben davon erzählt. Hast du das schon vergessen?«

»Ich weiß nicht, wie ich Zeus davon erzählen soll, ohne dass ich Tiffys Rolle darin erwähne. Immerhin muss ich erklären, wer mit wem vertauscht wurde. Nur so kann ich darauf hinweisen, dass Maél gar nicht die nötigen Kräfte besitzt und die Anschuldigungen gegen ihn haltlos sind.«

»Aber …«

»Vertrau mir.« Er erhob sich vom Bett und strich über sein hoffnungslos verknittertes Oberhemd. »Ich mache das nicht erst seit vorgestern. Die Welt hätte schon ein paarmal in Trümmern gelegen, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Die Diplomatie ist meine wahre Gabe. Es ist das, was ich gut kann.« Er hielt mir seine Hand hin. »Versuche, dich ein wenig zu beruhigen, und dann legen wir los. Irgendjemand muss es schließlich tun.«

Ich ergriff seine Hand. »Irgendjemand muss es tun.«

Als ich vor ihm stand, lächelten wir uns an. Dann zückte Hermes ein ziemlich ramponiertes Handy.

»Showtime.«

*

Wir stellten uns gegenüber von Maéls Küchenzeile auf. Hermes tippte auf dem Telefon herum, und eine riesige Leinwand erschien. Dahinter konnte ich immer noch die Küchenschränke und den Herd sehen. Es tutete, genau wie bei einem normalen Telefonanruf, und nach ein paarmal Klingeln erschien ein Bild. »Lass mich reden«, raunte mir Hermes noch in letzter Sekunde zu. Ich war ohnehin von dem Anblick zu geschockt, um irgendetwas zu sagen. Der Herr der olympischen Götter lungerte mal wieder auf seiner Fernsehcouch herum, gehüllt in ein fleckiges T-Shirt, und auf dem wirklich beachtlichen Bauch balancierte er eine Schüssel mit Popcorn.

»Hätte nicht gedacht, so schnell von dir zu hören«, sagte er mit vollem Mund. Er klang nicht gerade erfreut. Statt Hermes anzusehen, glitt sein Blick immer wieder zu den vielen Bildschirmen, auf denen Fernsehprogramme in allen Sprachen liefen.

»Ich grüße dich, Zeus«, erwiderte Hermes förmlich. »Meine Freundin, die Wiesennymphe Livia, kennst du ja bereits von einem anderen Gespräch.«

Zeus ließ seinen Blick zu mir wandern, und es schien, als hätte er mich bis dahin noch gar nicht bemerkt. Er brummte etwas Abschätziges und seine Mundwinkel verzogen sich, was leicht angeekelt und genervt wirkte. Hermes legte mir hinter dem Rücken eine Hand auf die Schulter, sodass Zeus es nicht bemerken würde. Das sollte wohl eine aufmunternde Geste sein. Trotzdem versteifte ich mich unbehaglich. Zeus wirkte überhaupt nicht wie ein Anführer, geschweige denn wie jemand, der sich für irgendetwas einsetzen würde.

»Was gibt’s denn nun?«, brummte Zeus. »Du siehst, ich bin beschäftigt.«

Mich ignorierte er komplett.

»Zeus, es geht um Maél, den Hadessohn, der in einem deiner Gefängnisse auf seinen Prozess wartet. Es gibt Neuigkeiten, die eine überraschende Wendung in diesen Fall bringen.«

Wieder brummte Zeus nur etwas. Dann griff er mit seiner riesigen Pranke in die Schüssel und stopfte sich eine ganze Handvoll Popcorn in den Mund. Einige Krümel verfingen sich in seinem langen Bart oder blieben am Stoff seines Shirts hängen. Ich musste mich wirklich bemühen, nicht angewidert das Gesicht zu verziehen.

»Zeus, die Angelegenheit ist äußerst dringend.«

Der Herrscher aller Götter nahm die Schüssel und stellte sie unwirsch zur Seite. »Bei allen Abgründen der Unterwelt, was hat dieser Knabe bloß an sich, dass sich alle so sehr um ihn sorgen?« Er schnippte sich ein paar Krümel vom Bauch. »Dieses Bürschchen ist eines von vielen. Er ist nichts Besonderes. Wen interessiert es, ob er auf Erden wandelt oder in irgendeinem Kerker feststeckt? Er hatte ein paar ziemlich dumme Ideen, und dafür büßt er nun. So sind die Regeln unserer Gemeinschaft, das Protokoll.« Er sah Hermes direkt an. »Das hast du doch auch kürzlich zu spüren bekommen, nicht wahr, mein Lieber?«

Ich hörte, wie Hermes schluckte. Als ich kurz zu ihm hochsah, wurde mir klar, wie sehr Zeus seinen engsten Berater damit beleidigt hatte.

»Ich hatte und habe damit nichts zu tun, großer Herrscher, und ich bin froh, dass du mir in diesem Punkt Glauben geschenkt hast. Ich bin dankbar, dass ich gehen durfte. Was aber nicht bedeutet, dass ich mich nicht für meinen Schützling einsetze.«

Zeus seufzte. »Ach ja, richtig …« Er kratzte sich geräuschvoll am Bart. »Der Kleine ist ja dein Mündel.«

Hermes neben mir straffte die Schultern. »Genau. Ich bin sein Pate, und ich nehme diese Verantwortung sehr ernst. Wie du weißt, habe ich noch andere Patenschaften übernommen, und egal, welches meiner Patenkinder mich braucht, ich würde mich für jedes gleichermaßen einsetzen. Maél ist gerade in einem schwierigen Alter, weshalb er meine besondere Aufmerksamkeit braucht. Wir wissen doch alle, wie Teenager sind. Die Hormone, die wilden Ideen, die Möglichkeiten. Du kennst Maél seit über dreitausend Jahren, und …«

»Moment, Moment, Moment«, schnitt Zeus ihm das Wort ab. »Ich kenne diesen Burschen überhaupt nicht. Ich habe genug eigene Kinder, die mir auf der Nase herumtanzen. Ich habe vorher noch nie von diesem … wie auch immer er heißt, gehört. Sie wechseln ihre Namen wie andere die Unterwäsche, mal heißen sie so, mal heißen sie so … Glaubst du, ich kann mir jeden Sprössling des olympischen Nachwuchses merken? Kannst du das etwa?«

Schon wieder sah Hermes verletzt aus. »Das verstehe ich. Vielleicht kennst du ihn nicht, weil er noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Anders als viele andere Hadessöhne.«

Zeus seufzte und wirkte noch genervter als vorher. »Ja, die Gene meines Bruders Hades sind ein schweres Erbe. Was glaubst du, warum ich ihm die Unterwelt vermacht habe? Dort sind sie schön unter sich und können brandschatzen, mit Flammen werfen und ihre komischen ledrigen Flügel polieren, so viel sie möchten und ohne die Menschheit hoffnungslos zu verschrecken.«

»Aber genau darum geht es«, wandte Hermes ein. »Es geht darum, dass Maél gar kein Sohn von Hades ist.«

Jetzt wurde es ernst. Mein Herz stolperte einmal kurz vor Aufregung. Zeus, der gerade nach einem riesigen Becher mit einem Strohhalm gegriffen hatte, hielt in der Bewegung inne. »Was hast du dir denn nun für eine Geschichte ausgedacht, um deinen Sprössling zu retten? Schieß los, ich bin gespannt.« Er schnappte sich den Strohhalm und sog geräuschvoll eine offenbar kohlensäurehaltige Flüssigkeit in seinen Mund. Während Hermes die ganze Geschichte rund um Maél und Tiffy erklärte, blähte Zeus rhythmisch die Backen, als würde er sich mit der Cola oder was auch immer den Mund spülen. Ich musste ein Würgen unterdrücken. Als Hermes geendet hatte, schluckte Zeus alles geräuschvoll hinunter. Ich presste vor Ekel eine Hand auf den Mund und sah kurz zur Seite.

»Tolle Geschichte, mein Lieber, tolle Geschichte. Wenn sich das herumspricht, wird es Mord und Totschlag geben, das ist dir schon klar, oder? Da ist es doch besser, wir behalten den Kleinen in Gefangenschaft und sagen gar nichts, als dass ich ihn auf meinen Bruder loslasse. Du kennst doch die Regeln der dunklen Götter.«

»Aber mein Herrscher, es sind nicht unsere Regeln.« Nun schien Hermes regelrecht verzweifelt. »Diese Regeln sind nicht Teil des Protokolls, sie existieren offiziell nicht.«

Zeus zuckte die Schultern. »Es ist sicherlich nicht schlecht, dass die dunklen Götter zum Protokoll noch ein paar ihrer eigenen Regeln hinzugefügt haben. Du weißt ja, was für ein wilder Haufen sie sind: eine Mischung aus den olympischen Göttern wie zum Beispiel Hades oder Hephaistos, den uralten Göttern wie Gaia und Erebos und den hoffnungslos unwichtigen Nebengöttern wie Selene oder Orkus. Sie alle gehören zu den dunklen Göttern und sie sind extrem unterschiedlich, das sorgt nun mal für Spannungen. Ihr düsteres Erbe macht sie wilder, unberechenbarer und wesentlich schwerer an Konventionen zu binden als alle anderen. Wenn sie der Meinung sind, sie müssten ihre Kinder umbringen, dann werde ich sie nicht bremsen, wenn dadurch die Ordnung ihrer Gemeinschaft erhalten bleibt.«

»Aber das ist martialisch, primitiv und absolut mittelalterlich!«, brach es aus mir hervor. »Wie könnt Ihr so etwas dulden?«

Zeus nahm noch mal einen geräuschvollen Schluck aus seinem Becher, dann deutete er mit dem Finger auf mich. »Du da hältst den Mund, wenn mein Berater und ich uns unterhalten. Sei froh, dass ich dich nicht auf der Stelle zu Staub zerfallen lasse, kleines Mädchen.«

Wieder spürte ich Hermes' Hand an meinem Rücken. Ich presste die Lippen aufeinander, auch wenn ich gerne durch den Bildschirm gesprungen wäre, um den Herrn aller olympischen Götter mal kräftig zu schütteln.

»Zeus«, sagte Hermes, »ich habe dir die ganze Geschichte erzählt. Maél kann das, was wir ihm unterstellen, gar nicht umsetzen. Ihm fehlen die Kräfte dazu, weil er ein Sohn der Nachtgöttin ist.«

»Ich wiederhole mich ungern«, erwiderte Zeus und nahm die Schüssel mit dem Popcorn wieder hoch. »Wenn dir irgendetwas an dem Kleinen liegt, dann lass ihn und seine unsterbliche Seele in diesem Kerker verrotten, so lange, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Dieses Mädchen, das behauptet eine Tochter von Hades zu sein …« Zeus war so amüsiert, dass er kichern musste und das Popcorn in der Schale auf und ab hüpfte. »Entschuldige, die Geschichte ist einfach immer noch zu gut. Na ja, jedenfalls solltet ihr die Kleine zum Schweigen bringen und hoffen, dass Nyx irgendwann wieder auftaucht, um sie zur Vernunft zu bringen. Glaube mir, beide Kinder werden nicht mehr lange leben. Und Nyx ist dann ebenfalls in Gefahr. Die anderen Götter werden sie sich vorknöpfen. Sie werden es machen wie mit Aglaia, du erinnerst dich? Irgendetwas in den Tee am Morgen, und zack, legt man sein eigenes Kind auf den Opferaltar. Die haben die Messer schneller gewetzt, als wir Piep sagen können. Die dunklen Götter sind grausam, ob sie nun am Himmel wohnen oder tief unter der Erde. Unterschätze sie nicht. Unterschätze nicht, durch welche strengen Regeln ihre Gemeinschaft überhaupt möglich ist. Sie werden beide Kinder opfern. Hades wird sich diese Tini vorknöpfen …«

»Tiffy«, berichtigte Hermes schnell, doch als aus Zeus' Augen Blitze hervor schlugen, neigte er schnell den Kopf. »Entschuldige bitte, mein Herrscher.«

»Jedenfalls wird Hades sich diese Tini oder wie auch immer vorknöpfen, da kannst du dir ganz sicher sein. Er wird ein Exempel an ihr statuieren. Und für diesen Maél und Nyx wird es auch kein gutes Ende nehmen.«

»Das glaube ich nicht«, warf ich ein.

»Schaff sie weg!«, blaffte Zeus. »Schaff sie mir endlich aus den Augen, bevor ein Unglück geschieht.«

Hermes schob mich so weit zur Seite Richtung Fenster und Schreibtisch, dass Zeus mich auf dem Bildschirm nicht mehr sehen konnte. »Wie du wünschst, mein Herrscher.«

Ich stand an der Seite, neben Maéls Schreibtisch gepresst, und konnte meine Wut nur schwer beherrschen. Die mittlerweile vertraute Hitze flammte durch meinen Körper, und als ich meine Finger von der Schreibtischplatte löste, stellte ich mit Entsetzen fest, dass meine Finger Abdrücke in das Metall geschmolzen hatten. Schnell verschränkte ich die Hände vor der Brust und versuchte, weiter dem Gespräch von Zeus und Hermes zu folgen.

»Mein Herrscher, du weißt meine Diplomatie zu schätzen, und ich vertraue auf mein Geschick. Bitte, es würde uns viel bedeuten, wenn Maél aufgrund der neuen Umstände freikäme. Ich würde dir mit all meinen Kräften garantieren, dass es zu keinen Unruhen kommen wird. Wir werden es schaffen, die dunklen Götter in Schach zu halten. Wir werden ein lang gehütetes Geheimnis aufdecken, aber ich bin mir ganz sicher, dein Bruder wird sich über ein neues Kind freuen. Du weißt ja, wie sehr er seine Kinder liebt … nun ja, tief im Grunde seines schwarzen Herzens jedenfalls.«

Zeus lachte. »Man muss lieben, was man bekommt. Aber er hat seine kleinen Monster gut im Griff, das muss man ihm lassen. Davon könnte ich mir so manche Scheibe abschneiden.«

Hermes erwiderte lieber nichts. Er räusperte sich. »Jedenfalls garantiere ich dir, dass es zu keinen diplomatischen Katastrophen kommen wird, denn ich werde dafür sorgen, dass sich alles Stück für Stück auflöst. Wie ein Knoten, den man langsam löst. Aus diesem Grund möchte ich dich bitten, deinem Bruder Hades noch nichts davon zu erzählen. Bitte lass es mich auf meine Art lösen. Vertrau mir da, mein Herrscher, ich habe dich noch nie enttäuscht.«

Zeus schien zu überlegen. Wieder stopfte er sich eine ganze Handvoll Popcorn in den Mund und kaute dann bedächtig. »Ich weiß ja nicht …« Er sprach mit vollem Mund, und Popcornreste spritzten überallhin. »Ich bin sehr beschäftigt.«

Wenn ich nicht so angespannt gewesen wäre, hätte ich sicher losgeprustet.

»Natürlich würde es mich freuen, wenn sich jemand anderes dieses eher unwichtigen Problems annimmt. Immerhin ist der Junge bloß ein Halbgott. Es ist mir völlig egal, wie viele von ihnen in irgendwelchen Kerkern verrotten. Andererseits ist es natürlich eine heikle diplomatische Angelegenheit, die vielleicht eines Machtwortes bedarf. Eines Machtwortes, das nur ich sprechen kann.« Er schluckte und plusterte sich ein klein wenig auf. »Du verstehst?«

Hermes deutete wieder eine Verbeugung an. »Ich verstehe absolut, mein Herrscher. Dennoch möchte ich dich gerne entlasten und dir so viel Bürokratie abnehmen wie möglich. Ich weiß ja, wie beschäftigt du bist.«

Erneut hätte ich fast laut gelacht. Zeus war so beschäftigt, dass man ihn zu jeder Tageszeit vor dem Fernseher antraf. Was für ein stressiges Leben! Fassungslos schüttelte ich den Kopf und ballte die Fäuste.

Hermes warf mir einen schnellen warnenden Seitenblick zu, und ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte und ruhig blieb.

»Bitte, mein Herrscher, lass es mich versuchen. Lass Maél frei.«

Zeus lachte so dröhnend auf, dass das Bild für einen Moment verschwamm. »Oh nein, mein Lieber, nein, nein, nein. So haben wir nicht gewettet. Ich lasse mir nicht eine wilde Geschichte auftischen und schicke im nächsten Moment irgendjemanden hinab in die Kerker, damit er den Jungen wieder auf die Welt loslässt. Ganz gewiss nicht. Er hatte einen Plan, und auch wenn der an seinen eigenen fehlenden Kräften gescheitert ist, zählt doch die Absicht, die ihn so gefährlich macht. Ich gewähre dir den Gefallen, dass ich Hades nichts von unserem Gespräch erzählen werde. Du hast mein Wort. Aber das ist mein einziges Zugeständnis. Ich muss alles andere gut überdenken, und du weißt ja, wie beschäftigt ich bin.«

Hermes seufzte. »Natürlich weiß ich das, mein Herrscher.« Auch er schien diese Platte nicht mehr hören zu können.

Zeus zwinkerte ihm zu, doch es wirkte eher arrogant und abschätzig. »So schnell geht das nicht, das müsstest du eigentlich wissen, mein Lieber.«

Hermes zuckte zusammen, und mir wurde klar, dass »mein Lieber« ab diesem Zeitpunkt nicht mehr freundlich gemeint war.

Zeus schwadronierte weiter. »Ich brauche Zeit, ich brauche Berichte, ich brauche Zeugen. Nicht falsch verstehen«, er sah zu Hermes und lächelte ihn jovial an, »ich vertraue dir natürlich. Aber andererseits habe ich eine Pflicht gegenüber meinen anderen Göttern. Da könnte ja jeder daherkommen und mir ein rührseliges Märchen über irgendeinen meiner Gefangenen auftischen.«

»Mein Herrscher, bitte. Ich weiß, ich kann nicht erwarten, dass du weißt, wie es Maél geht. Aber es ist wirklich schlecht um ihn bestellt. Man ist nicht gut zu ihm in den Kerkern, weil die Söhne von Hades auf dem Olymp eben nicht gern gesehen sind.«

Zeus zuckte die Schultern. »Sie können seine ewige Seele nicht töten, das weißt du so gut wie ich. Sollen sie mit seinem menschlichen Körper doch anstellen, was sie wollen. Wenn er stirbt, behalten wir seine Seele so lange hier, bis er freigesprochen wird, und dann lassen wir ihn wieder auf die Menschheit los. Er wird wiedergeboren, na und? Was soll das ganze Drama?«

Meine Hände glitten erneut zum Schreibtisch. Ich musste mich an irgendetwas festhalten, um nicht zum Bildschirm zu stürzen und Zeus anzuschreien. Wieder fing ich einen warnenden Seitenblick von Hermes auf.

»Ich werde mich bemühen, weitere Informationen zu beschaffen. Ich danke dir für deine Zeit – und für deine Bereitschaft, dich dieses Falls erneut anzunehmen. Auf bald.«

Zeus nickte von oben herab, dann schnippte er mit dem Finger, und das Bild wurde schwarz.

Ich musste mich immer noch an der Tischkante festhalten, um nicht die Fassung zu verlieren. »Es hat ihn überhaupt nicht interessiert«, stieß ich hervor.

»Das hat nichts zu bedeuten«, erwiderte Hermes, doch sein Gesicht sprach eine andere Sprache. »So ist er immer. Für ihn sind das alles Nichtigkeiten, die es nicht wert sind, besprochen zu werden. Immerhin hat er nicht sofort alles abgeblockt und uns nur angeschrien. Auch das kommt hin und wieder vor.«

»Ich glaube, er fand die Geschichte rund um die vertauschten Kinder ganz amüsant, aber er wird Maél nicht freilassen.« Meine Stimme zitterte schon wieder.

Hermes kam zu mir. »Das habe ich auch gar nicht zu hoffen gewagt. Das Wichtigste ist, dass er mir versprochen hat, seinen Bruder Hades nicht einzuweihen. Zeus mag vielleicht ein gelangweilter alter Mann sein, aber eines ist er nicht: ein Wortbrecher. Wenn er etwas verspricht, dann hält er sich daran. Wir können also sicher sein, dass Hades davon nichts mitbekommt. Jedenfalls nicht, solange ich Beweise anbringen kann und es tatsächlich zu einem Prozess kommt. Bis dahin müssen wir uns einfach in Geduld üben.«

»Aber Maél … Du hast erzählt, sie sind nicht gut zu ihm auf dem Olymp?«

Hermes' Gesichtsausdruck verriet mir, dass er es bereute, das vor mir erwähnt zu haben. »Es geht ihm gut, Livia. Er ist stark, er ist hart im Nehmen, er ist von Hades aufgezogen worden. Du weißt, wie Hades ist. Er duldet keine Schwäche, weder mental noch körperlich. Er mag nicht das Erbe seines Vaters in sich tragen, aber sein wahrer Vater war und ist Hades. Und der ist ein sehr strenger Lehrmeister. Maél ist für alles gerüstet. Sämtliche Verletzungen, physisch oder psychisch. Er ist stark, er wird das durchstehen.«

»Konntest du mit ihm sprechen? Irgendwann mal? Hat er irgendetwas gesagt?«

Hermes schüttelte den Kopf. »Nein, sie schirmen ihn vollkommen ab. Sie haben uns weit voneinander getrennt untergebracht. Ich hatte keine Chance, ihn zu treffen. Doch ich habe meine Informanten und Spione überall im Olymp, und diesen Quellen vertraue ich zu einhundert Prozent.«

»Dann muss ich also wieder herumsitzen und einfach nur warten? Jetzt habe ich endlich einen Beweis und doch passiert nichts. Ich fühle mich, als würde ich meinem eigenen Scheitern zusehen. Das regt mich wahnsinnig auf. Ich hätte Zeus am liebsten gepackt und mal kräftig durchgeschüttelt, damit er mal wieder im Hier und Jetzt ankommt.«

Hermes sah mich ernst an. »Übe dich in Geduld, Livia. Denke daran, dass wir unserem Ziel Zentimeter für Zentimeter näher kommen. Auch ein steter Tropfen höhlt den Stein. Wir werden Erfolg haben, einfach weil wir nicht aufgeben.«

»War das gerade eben denn nun ein Erfolg oder nicht?«

»Es war ein Erfolg. Bitte glaube ganz fest daran. Ich unterstütze dich, so wie du mich unterstützt. Und wenn du irgendwie glaubst, nicht weiterzukommen, dann rede mit mir. Jetzt bin ich ja wieder hier. Wenn Enko dir Probleme macht, sag mir Bescheid. Ich kann ihn in seine Schranken verweisen.«

»Das ist lieb von dir, danke.«

Hermes verschränkte die Arme vor der Brust. »Und jetzt hören wir auf zu grübeln. Das Gespräch war ein Erfolg, und alle Erkenntnisse von vorhin waren auch große Erfolge. Wir haben nun die Möglichkeit, Maél zu befreien, dessen bin ich mir ganz sicher.«

Ich drehte mich um und sah auf Maéls spärlich bestückten Schreibtisch. Was für ein Unterschied zu dem Chaos auf Enkos Arbeitsplatz!

Hermes sah sich kurz um. »Wir brauchen einen Tapetenwechsel gegen die traurige Stimmung. Ablenkung ist manchmal die beste Medizin.« Er versuchte ein Lächeln. »Wie geht es eigentlich Ödipus?«

Ich erwiderte sein Lächeln, auch wenn es mir schwerfiel. »Der sollte sich mittlerweile von seiner Erkältung erholt haben.«

Hermes zog eine Grimasse. »Oje, wie lästig, der Arme.«

Ich nickte. »Er war schon krank, als wir ihn vor den Katakomben getroffen haben. Ich wollte ihn eigentlich besuchen, noch bevor ich in Maéls Wohnung gehe, um mal nach ihm zu sehen.«

»Dann sollten wir das jetzt zusammen machen«, sagte Hermes und bot mir seinen Arm an. »Er wird sich garantiert freuen. Und danach sollte ich mal bei mir nach dem Rechten sehen und sehr lange duschen. Bei allen Göttern, was freue ich mich auf frisch gewaschene Jeans und gebügelte Oberhemden.«

Ich hakte mich bei ihm unter. »Das alles hast du dir redlich verdient, Götterbote.«

Hermes sah mich an. »Wir schaffen das, Livia. Mach dir keine Gedanken mehr. Ich habe schon ganz andere Konflikte gelöst. Nicht mehr lange und du hast deinen Maél zurück.« Er sah mich aufmunternd an. »Und jetzt sehen wir mal nach Ödipus.«