Kapitel 11

Enthüllungen

Als ich auf das Gustave zuging, stand Maél bereits davor und wartete auf mich.

Er lächelte, als er mich sah, und wieder vollführte mein Herz einen kleinen Tanz. Obwohl kaum Zeit vergangen war, wirkte er erholter und besser in Form. Die Schatten um seine Augen waren nicht mehr ganz so tief, das blaue Auge fast verblasst und auch die Wunden schienen etwas besser verheilt als bei unserem ersten Wiedersehen. Auch hier schlug meine neue Realität wieder mit voller Kraft zu. Ich traf mich mit einem Halbgott. Einem Halbgott! Adrenalin durchfuhr mich, als ich an die Szene in der Gasse zurückdachte. An seine Kraft, seine Wut, den unbedingten Willen, mich zu beschützen. Er hatte drei bewaffnete Gegner in die Flucht geschlagen und mich dann mit blutenden Armen an sich gezogen. Ich konnte die Erinnerung an all das, das Gefühl seines erhitzen Körpers an meinem, die Dunkelheit seiner Schatten fast auf meiner Zunge schmecken …

Ich blinzelte kurz und zwang mich, ihn nicht weiter wie eine Mondsüchtige anzustarren. Unser Gespräch würde ernst werden und ich durfte mich jetzt nicht ablenken lassen.

Auf dem Weg hierher hatte ich mich mental darauf vorbereitet, Maél die Geschichte rund um Tiffy, Nyx und seinen Vater Hades zu erklären – sofern Hermes ihm gegenüber nicht schon etwas hatte durchblicken lassen, aber davon ging ich nicht aus. Sicher hatte auch er ihm erst mal Zeit geben wollen, nach seiner Gefangenschaft wieder zu Kräften zu kommen und die schlimmsten Wunden etwas verheilen zu lassen. Heute war noch genug Zeit für ungeheuerliche Neuigkeiten. Es erschien mir immer noch völlig absurd, Maél nach dreitausend Jahren sagen zu müssen, dass der Mann, den er immer als seinen Vater betrachtet hatte, gar nicht sein Vater war. Dass er gar kein Hadessohn war, sondern dass in seinen Adern das Blut der Nachtgöttin Nyx floss. Dass sie seine Mutter war und er dadurch genauso in Lebensgefahr schwebte wie Tiffy, die eigentliche Tochter von Hades. Dass sie beide Kinder waren, die laut der Gesetze der dunklen Götter nicht am Leben gelassen werden durften.

Ich erwiderte Maéls Lächeln und fragte mich im selben Moment, wie man jemandem schonend beibrachte, dass er schon bei seiner Geburt sein Recht auf Leben verwirkt hatte.

Maél umarmte mich und küsste mich zart auf die Wange. »Bonjour, schöne Nymphe. Du hast mir gefehlt.«

Ich drückte ihn an mich. »Du hast mir auch gefehlt, Maél.«

Maél löste sich von mir und lächelte schief. Wie immer war er ganz in Schwarz gekleidet, und wie immer wirkte er wie ein dunkler Fleck in einer eigentlich eher fröhlichen Gegend. Ich blickte hinauf in seine grauen Augen, die mich immer noch ansahen.

»Sollen wir uns schon mal einen Tisch suchen?«, schlug er vor.

Ich nickte.

Er musterte mich einen Moment lang. »Du siehst aus, als hättest du etwas auf dem Herzen.«

Ich war immer wieder überrascht, wie gut er mich durchschaute. Wie mühelos er meine Emotionen und meine Körpersprache zu lesen schien. »Ich muss dir etwas erzählen«, sagte ich. »Ich glaube, es wird dir nicht gefallen.«

»Willst du mit mir Schluss machen?« Er tarnte seine plötzliche Anspannung mit einem Lachen. Auch ich kannte ihn gut genug, um das zu erkennen.

»Unsinn«, sagte ich deshalb schnell. Danach war mein Kopf wie leer gefegt. Ich hatte mir schon die Worte zurechtgelegt, doch nun fiel mir nichts mehr ein. Im Überbringen heikler Nachrichten war ich offenbar kein Naturtalent.

»Ist es so schlimm?«, fragte Maél neben mir.

Er sah mich nicht an, stattdessen betrachtete er versonnen seine beiden Armspangen, die immer noch fest um sein Handgelenk geschmiedet waren. Rechts diejenige, die die Zugehörigkeit zu seinem Vater Hades symbolisierte.. Links eine deutlich schmalere Armspange, deren Breite variabel einzustellen war. Es war die Oberarmspange seiner leiblichen Mutter gewesen. Doch nun stimmte selbst diese Geschichte nicht mehr. Denn diese Frau war die Mutter von Tiffy gewesen. Und Maél hatte all die vielen Jahrhunderte den Schmuck einer völlig Fremden so in Ehren gehalten. »Livia, nun rede mit mir. Was ist denn los? Du hast gesagt, es geht um mich. Was kann es denn so Schreckliches sein, dass du es nicht über die Lippen bringst?«

»Ach, nein«, winkte ich ab. Ich wollte die Situation entschärfen. »Mach dir nicht solche Sorgen. So schlimm ist es nicht. Es wird dich vermutlich überraschen, aber ich suche immer noch nach den richtigen Worten für einen Einstieg.«

»Geht es auch um dich?«

»Nein. Ich habe damit gar nichts zu tun.«

»Warum bist du dann diejenige, die es mir mitteilt? Hat es etwas mit den Göttern zu tun? Mit meinem Prozess? Hat Hermes dich etwa vorgeschoben? Er ist eigentlich kein Feigling.«

»Nein, mit Hermes hat das auch gar nichts zu tun.« Wir fanden einen Tisch in einer Ecke und nahmen dort Platz. Die Hälfte des Personals kam hinter der Theke hervor, um Maél zu begrüßen. Auch hier schien er vermisst worden zu sein.

Wir bestellten schon mal, und als Maél sich wieder zu mir drehte, wirkte er nervös.

»Jetzt rede doch bitte nicht um den heißen Brei herum, das ist ja nicht zum Aushalten. Du …«

»Was hast du dir dabei gedacht, Nymphe?«

Hermes war wie aus dem Nichts vor unserem Tisch aufgetaucht. Er trug ausschließlich Schwarz, was ich so noch nie an ihm gesehen hatte. Dass er mich in aller Öffentlichkeit Nymphe genannt hatte, schien ihm egal zu sein.

Ich hörte gar nicht zu, denn ich betrachtete Hermes fasziniert. Zwar wurden die Schübe meiner neuen Realität weniger heftig, je öfter sie mich überfielen, aber es war immer noch der strahlende Götterbote, der gerade vor mir stand. Er war der Typ mit den Flügelschuhen und den zwei goldenen Schlangen, die auf seiner Brust wohnten! Verdammt, er konnte fliegen!

»Was ist passiert?«, hörte ich Maél fragen.

Hermes hatte Platz genommen und strich sich nun ordnend durchs Haar. Schon war eine Kellnerin da und nahm seine Bestellung auf. Als Evangéline unter meinem Shirt zu trippeln begann und so um Erlaubnis fragte, mit den kleinen Schlangen spielen zu dürfen, riss ich mich von seinem Anblick los. Beruhigend legte ich eine Hand auf den Stoff. Jetzt nicht, kleine Motte.

Hermes schnaubte. »Bist du lebensmüde? Mal abgesehen davon, dass ich keine Ahnung habe, wie du das angestellt hast, dachte ich, wir wären uns einig, dass zu deiner eigenen Sicherheit ausschließlich ich« – er hob mahnend den Zeigefinger – »mit Zeus rede.«

Oh-oh. Ich wich seinem vorwurfsvollen Blick aus.

»Wie hast du das bloß gemacht? Es hat mich alle Mühe gekostet, Zeus einzureden, dass er wohl eine halluzinogene Nuss in seinem Knabbermix hatte. Er tobt! Und wäre es ihm nicht so peinlich, dass er Maél Hals über Kopf freigelassen hat, sei dir sicher, er hätte dich schon längst zu Staub zerfallen lassen.«

»Hermes, es …«

Der Kaffee wurde serviert, und ich brach ab. Zum Glück war es drinnen im Café nicht so voll, weil eben überraschend die Sonne rausgekommen war und nun die meisten Besucher die letzten warmen Strahlen nutzten, bevor am frühen Abend der planetarische Nebel wieder erscheinen und die Sonne verdunkeln würde.

»Woher hattest du eine Standleitung?«

Als die Kellnerin außer Hörweite war, erzählte ich Hermes von dem Muschelsplitter. Er hörte mir zu, doch meine Erklärung schien ihn nicht ganz zu überzeugen. Das erkannte ich an der Art, wie er sich gedankenverloren drei Löffel Zucker in den Kaffee kippte. Da wir aber noch mehr Neuigkeiten auszutauschen hatten, berichtete ich ihm als Nächstes von dem Verdacht, dass Agada mir ihre Halbgottkräfte übertragen hatte.

Hermes wurde ganz starr. »Hekate war eine mächtige Zauberin. Es könnte durchaus sein, dass deine Kraft groß genug ist, Zeus deinen Willen aufzuzwingen. Bei allen Göttern – noch niemals sind Kräfte über das Blut übertragen worden.« Er sah mich von oben bis unten an. »Ich wusste, dass sich etwas an dir verändert hatte, aber jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen.«

»Wie geht es jetzt weiter? Bekomme ich einen Paten? Lerne ich Helios bald kennen? Wer bringt mir alles bei und …«

Wieder hob Hermes die Hand, um mich zu unterbrechen. »Das werden wir schon Schritt für Schritt lösen. Im Moment …«

»Das größte Problem ist doch wohl, dass die Geschichte jetzt von vorne losgeht«, warf Maél ein. »Sie: Halbgöttin mit Kräften von Hekate und Helios, ich: Hadessohn. Sobald der Olymp davon erfährt, werden sie vermutlich ihre Seele einkerkern. Zu ihrer eigenen Sicherheit. So wie sie es mit Agada getan hätten, wenn sie es erfahren hätten.«

Hermes und ich tauschten betretene Blicke.

Irgendwann wedelte Maél mit der Hand zwischen uns hin und her. »Hallo? Möchte irgendjemand noch mit mir reden?«

Ich sah wieder hilfesuchend zu Hermes. Eigentlich hatte ich dieses Gespräch mit Maél führen wollen. Doch Hermes war eingeweiht. Er wusste über alles Bescheid, und er kannte Maél länger als ich. Sie waren Vertraute, Verbündete, und das schon seit Jahrtausenden. Vielleicht war es doch besser, wenn Hermes das übernahm.

Der Götterbote warf mir einen letzten fragenden Blick zu, und als ich nickte, begann er zu sprechen.

Maél war in seinem Stuhl zurückgesunken und rührte sich nicht. Er verzog keine Miene, als Hermes ihm alles erzählte. Von Tiffy, dem Verschwinden von Nyx, den vertauschten Kindern. Auch als Hermes geendet hatte, saß er einfach nur da. Ich schob meine Hand zu ihm hinüber, doch er nahm sie nicht. Plötzlich schien alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen. Er sprang so heftig auf, dass sein Stuhl fast nach hinten umgefallen wäre. Mit langen Schritten durchquerte er das Café in Richtung Ausgang. Hermes und ich sahen ihm schockiert hinterher.

»Ich brauche einen Moment«, rief er über die Schulter, dann verschwand er durch die Tür aus meinem Blickfeld.

Ich wollte aufspringen, doch Hermes legte kurz seine Hand auf meine. »Gib ihm diese Auszeit, Livia. Ich habe schon damit gerechnet. So ist er einfach. Er rennt davon und macht Probleme mit sich allein aus. Daran wirst du dich gewöhnen müssen, wenn du an seiner Seite bist.«

»Ich verstehe ihn«, sagte ich leise. Und doch fühlte ich mich schrecklich. »Das waren nicht gerade Neuigkeiten, die man einfach so wegsteckt. Immerhin geht es hier um eine Lebenslüge. Nimmt man es ganz genau, hat er das Leben eines anderen geführt. Immer und immer wieder. Bei jeder Wiedergeburt ist er als Hadessohn aufgewachsen. Und nun, nach dreitausend Jahren, teilt man ihm mit, dass das alles ein Schwindel war. Ich glaube, da bräuchte ich auch ein wenig frische Luft.«

»Er kommt gleich wieder. Vermutlich verschwindet er einmal kurz durch einen Kaninchenbau in die Katakomben und schreit dort alles raus, was ihn so umgehauen hat. Für mich ist es auch immer noch ungeheuerlich, schließlich war ich bis gerade eben überzeugt, die Götterwelt und ihre Geheimnisse zu kennen. Aber mach dir keine Sorgen. Maél ist stark, und was er für dich empfindet, wird ihn schnell in deine Arme zurückkehren lassen.«

Ich lächelte leicht verlegen, war aber auch erleichtert. Der Götterbote schien Maél wirklich gut zu kennen.

Hermes schüttete Milch in seinen Kaffee und rührte ihn kurz um. Dann ließ er sich in seinem Stuhl zurücksinken, und seine Gedanken schienen kurz abzuschweifen. Mich hatte er einigermaßen beruhigt, aber er selbst wirkte immer noch bedrückt und irgendwie traurig.

»Geht es dir gut?«, fragte ich vorsichtig.

Hermes sah mich nicht an. »Es geht mir gut.«

Ich kannte ihn nicht sehr gut, doch ich ahnte, dass es einfach nur eine Floskel war. Ich fragte mich, warum er die schwarze Kleidung trug. Diese düstere Farbe passte so gar nicht zu ihm. Seine fünf Telefone hatte er ordentlich auf dem Tisch abgelegt. Eines davon brummte nun und er sah kurz aufs Display, nahm aber nicht ab. Als das Brummen erlosch, wurde eine Nachricht auf dem Display angezeigt. Das Hintergrundbild erregte meine Aufmerksamkeit.

Ich beugte mich so nah darüber, dass ich erkennen konnte, was das Display zeigte. Es war das Bild eines Mannes aus den Zwanzigerjahren. Er war Mitte zwanzig, mit hellblondem Haar und großen, ausdrucksvollen Augen. Sein Lächeln war schüchtern, so als wüsste er nicht, wie gut er aussah. Vermutlich hatte Hermes es von einem Bild aus der Zeit abfotografiert.

Zuerst traute ich mich nicht, so eine persönliche Frage zu stellen, doch dann siegte meine Neugier. »Darf ich fragen, wer das ist?«

Hermes nahm das Handy hoch, entsperrte es und hielt mir das Display hin. »Das ist Remi. Er war Maler.«

Er klang so unendlich traurig. Ich sah ihn unauffällig von der Seite an. So hatte ich Hermes noch nie erlebt. In diesen Moment schien er auch noch den Rest seines Strahlens verloren zu haben. Ich sah Sehnsucht in seinem Blick und die verzweifelte Bemühung, seine Gefühle tief in sich einzuschließen. Ich war zwar erst sechzehn Jahre alt, aber ich erkannte Liebeskummer, wenn ich ihn sah. So alt, wie das Foto zu sein schien, musste es schon eine Weile her sein, dass die beiden ein Paar gewesen waren. Umso mehr berührte es mich, wie sehr Hermes der Anblick dieses Mannes noch aus der Bahn zu werfen schien.

»Du hast ihn sehr geliebt.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Es war nur eine Vermutung, und doch war ich mir ziemlich sicher, dass mein Gefühl mich nicht täuschte.

»Ja«, antwortete Hermes betont kurz und legte das Handy dann entschlossen zurück auf den Tisch. »Aber das ist lange her.«

»Nicht lange genug.«

Hermes presste die Lippen aufeinander. »Die Liebe ist nur eine Leihgabe, Livia. Sie wird uns genommen. Durch das Schicksal, durch Hände anderer, durch den Tod. Ich hätte es wissen müssen. Und doch …« Er brach ab. Dann warf er einen letzten Blick auf das Hintergrundbild, bevor er den Bildschirm mit einer schnellen Geste ausschaltete.

»Was war es bei euch?«

»Hm?« Hermes sah mich an, als hätte er mir gar nicht zugehört.

»Eure Liebe. Wodurch ist sie euch genommen worden?«

»Durch den Tod. Er ist gestorben. Mit sechsundzwanzig Jahren an einem Blinddarmdurchbruch.«

»Das tut mir leid.«

Hermes zuckte die Schultern. »Wie gesagt, nur eine Leihgabe.«

»Und danach?«

»Was, danach?«

»Gibt es niemanden, der …«

»Nein.« Hermes klang fast verärgert. »Natürlich hatte ich vor Remi Beziehungen, Liebschaften, Affären. Dutzende. Hunderte.« Er strich sich durch die Haare. »Ich wollte das … sie … nicht. Sie – die ganz große Liebe. Ich wollte frei bleiben, unversehrt …« Er lächelte traurig. »Unwissend. Aber dann trifft man den einen, der dein Herz in seinen Händen hält.« Er nahm das Handy hoch, strich mit dem Daumen einmal über das mittlerweile schwarze Display, bevor er es mit einer endgültigen Geste zurück auf den Tisch legte. »Ich habe Remi mein Herz geschenkt, und es gehört ihm bis heute.«

Ich wollte Hermes noch so viel mehr über Remi, den Maler, fragen, doch als er meinem Blick bewusst auswich, wurde mir klar, dass ich meine Neugier zügeln musste. Mehr würde ich von Hermes zu diesem Zeitpunkt nicht erfahren. Andererseits hatte ich ihn nun auch schon genug Persönliches gefragt. Eigentlich gehörte es sich nicht, so im Liebesleben eines anderen herumzubohren. Hermes und ich waren irgendwie Freunde, aber für solcherlei tiefe emotionale Gespräche kannten wir uns im Grunde nicht gut genug. Ich war dankbar, dass er so ehrlich zu mir gewesen war. Jeder Satz über Remi schien ihn zu schmerzen und ihn noch tiefer in Traurigkeit versinken zu lassen.

Als ich ihm wieder einen kurzen Blick zuwarf, sah ich, wie er schwer schluckte. Fast hätte man glauben können, er kämpfte mit den Tränen. Niemals hätte ich geglaubt, dass dieser immer fröhliche, leicht überdrehte Gott zu solcherlei tiefen Gefühlen fähig wäre. Ich hatte angenommen, dass er Hunderte Liebschaften über die ganze Stadt verteilt unterhielt. Dass es genug schöne junge Männer und Frauen gab, die ihn anschwärmten. Dass er diesen Verlockungen nicht lange hätte widerstehen können. Doch so wie es sich angehört hatte, hatte er seit dem Tod von Remi niemanden mehr an sich herangelassen. Das Bild stammte wohl aus den Zwanzigern, also war Hermes nun seit knapp einhundert Jahren allein. Einhundert Jahre ohne das vertraute Gefühl eines geliebten Menschen nah bei sich.

Ich guckte auf mein eigenes Handy, um nachzusehen, ob Maél mir vielleicht geschrieben hatte. Doch ich hatte nur Nachrichten von meinen Freundinnen, die ich schnell beantwortete. Als Hermes seine Kaffeetasse an die Lippen führte, fiel mir wieder ein, dass auch ich dringend mit ihm sprechen musste. Eigentlich waren es ja zwei Punkte gewesen. Wir hatten über meine Halbgottkräfte reden müssen, und ich hatte Maél und Hermes ganz dringend von den Moiren und dem Tagebuch meiner Urgroßmutter erzählen wollen. Da Maél nun von seinen eigenen Neuigkeiten so eingenommen war, beschloss ich, dass ich Hermes ebenso gut jetzt von dem Ring und dem Tagebuch berichten konnte. Vermutlich wäre es für Maél sowieso nur ein absoluter Informations-Overkill gewesen.

Kaum, dass Hermes seine Tasse wieder abgestellt hatte, streckte ich ihm meine rechte Hand hin. »Sagt dir das irgendetwas?«

Hermes bewunderte den Ring. »Dass der Goldschmied wirklich Talent hatte?«

»Spürst du irgendetwas an ihm?«

Hermes beugte sich vor, ergriff meine Hand und berührte den Ring fast mit der Nasenspitze. »Also ich merke da gar nichts. Wieso?«

»Wirklich nicht?«

»Hat es irgendetwas mit diesen Kräften zu tun, die Agada dir vererbt hat?« Er lehnte sich wieder zurück. »Was übrigens wirklich zum Problem werden könnte. Ich habe nicht übertrieben, als ich gesagt habe, dass der Olymp handeln wird, wenn sie Kenntnis über dich erlangen. Du bist eine Gefahr. Für dich selbst und für andere.«

»Bin ich denn wirklich eine Halbgöttin? Sind meine Kräfte so stark, dass sie der einer Halbgöttin gleichkommen? Kannst du das bestätigen? Maél und ich hatten vermutet, dass es vielleicht nur aufgrund des getauschten Blutes zu irgendwelchen leichten Nachwirkungen kommt.«

Hermes schüttelte den Kopf. »Ich muss zwar immer noch ganz genau hinsehen, um zu erkennen, was du bist, aber ich nehme an, dass es sich um eine Transformation handelt. Deine Kräfte werden noch stärker werden. Verglichen mit unserer letzten Begegnung, bei der ich etwas gespürt habe, haben sie sich auf jeden Fall deutlicher entwickelt. Du besitzt dieses typische Strahlen von Helios, und ich erkenne auch die Handschrift von Hekate in deinem Blick. Hattest du Streit mit Agada? Bevor das geschah? War sie vielleicht wütend auf dich und hat es aus Rache versucht?«

»Nein, überhaupt nicht, wir haben uns in den Katakomben erst kennengelernt. Unsere Begegnung dauerte genau zehn Minuten, dann war erst ich tot und dann war sie tot. Ende der Geschichte. Irgendwann ist mir aufgefallen, dass ich Leuten meinen Willen aufzwingen kann. Die Helioskräfte haben sich erst etwas später gezeigt. Aber ich habe wirklich das Gefühl, dass sie stärker werden. Was soll ich nur tun, Hermes? Ich will nicht eingesperrt werden. Sie werden mir nicht glauben, wenn ich ihnen versichere, dass ich keine Gefahr bin. Und gegen einen Angriff von Hades bin ich nicht gefeit. Ich kann mich nicht gegen einen Gott wehren, der mich bedroht, um meine Kräfte zu missbrauchen. Genauso wenig wie Tiffy vor ihm sicher ist, sollte er erfahren, dass sie seine Tochter ist. Wenn er sich strikt an die Gesetze der dunklen Götter hält, müsste er sie töten! Nicht mal Maél ist dann noch sicher. Wer weiß, was Hades mit ihm anstellt, wenn er herausfindet, dass Maél nicht sein Sohn ist. Er kann ihn zwar nicht töten, weil er nicht sein Kind ist, aber ich halte ihn für kreativ genug, ihm trotzdem irgendwie schaden zu können. Er hat ihn in den Katakomben schwer verwundet. Der Einzige, der eingesperrt werden müsste, ist Hades. Er ist für drei Menschen, die einfach nur ihr Leben wollen, eine Gefahr. Kann man ihn nicht in seinen Tartaros verbannen, damit er keinen Unfug mehr anstellt?«

Um Hermes' Lippen spielte ein feines Lächeln, das erste an diesem Tag. »Glaub mir, das ist über die Jahrtausende schon so manches Mal überlegt worden. Deshalb herrschen für ihn auch schärfere Bedingungen, wenn es darum geht, sein Reich zu verlassen. Er kann nicht so hin und her springen, wie ich es kann. Heute Olymp, morgen Erde, dann die Unterwelt, hin und her. Das funktioniert für Hades nicht. Doch zurück zu unserem Thema. Noch sind deine Kräfte nicht so stark, dass sie jedem ins Gesicht springen.« Er machte eine entsprechende Geste. »Du verstehst?«

Ich nickte.

»Bleibt abzuwarten, wie rasant sie sich entwickeln. Dass du einen Teil deiner Kräfte von Hekate geerbt hast, ist dabei von Vorteil. Vielleicht kann ich dir helfen, Hekates Erbe so zu nutzen, dass du deine Kräfte tarnen kannst. Ähnlich wie sie die Attribute von Tiffy und Maél verschleiert hat. Wir werden uns regelmäßig treffen müssen und üben. Verhalte dich unauffällig. Verhindere, dass du irgendwie mit Hades in Kontakt kommst. Sobald der Herr der Unterwelt von der Vertauschungsaktion der Kinder erfährt, ist es sowieso zu spät. Dann müssen wir sehen, was wir mit dir machen. Da du jedoch nicht direkt betroffen bist, kann es sein, dass wir dich außen vor halten können. Allerdings weiß Zeus von den vertauschten Kindern. Und bald wird es einen Prozess um Maél geben. Es kann sein, dass Hades verlangt, mit dir zu sprechen, damit du als Zeugin auftrittst. Dieses Recht hat er. Und wenn wir endgültig beweisen wollen, dass Maél unschuldig ist, dann müssen wir die Karten auf den Tisch legen. Dann müssen alle erfahren, dass er ein Sohn von Nyx ist. Und was dann passiert, weiß niemand. Hades ist leider völlig unberechenbar.«

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Das klang alles überhaupt nicht gut. Die Bedrohung durch Hades war sehr real. Aber auch der Gedanke, dass der Olymp versuchen würde, mich einzusperren, war beängstigend. »Das ist alles so verworren … Mir schwirrt der Kopf.«

»Wir schweifen auch vom Thema ab«, sagte Hermes. »Was hat es denn nun mit dem Ring auf sich?« Sein Blick war offen und neugierig. Ich wusste einfach, dass ich ihm vertrauen konnte. Ich konnte ihm die abstrusesten Geschichten präsentieren, und er würde sich bemühen, eine Lösung zu finden. Also erzählte ich ihm alles. Ich begann ganz vorn, schon bei der ersten Begegnung mit den Küchenfrauen an meinem ersten Schultag, und endete mit dem Gespräch, das ich mit meinen Eltern geführt hatte.

Hermes blieb ganz still. Es schien, als müsste er all diese Neuigkeiten erst noch sacken lassen. Dann schloss er die Augen und massierte seinen Nasenrücken, als würde dieser schmerzen. Er seufzte. »Warum hatte ich eigentlich gedacht, dass es ab irgendeinem Punkt einfacher werden würde mit dir?«

»Tut mir leid«, sagte ich.

Er lachte. »Du musst dich doch nicht entschuldigen. Dich trifft am wenigsten irgendeine Schuld.«

Ich zuckte trotzdem verlegen die Schultern.

»Und du bist dir ganz sicher?« Hermes zog ein nachdenkliches Gesicht. »Die Graien sind unwichtige Göttinnen mit begrenzter Macht. Wir haben sie, genau wie Hekate, schon seit Tausenden Jahren nicht mehr gesehen. Sie mischen sich nicht in die Leben anderer ein. Ich verstehe das nicht.«

»Aber sie haben nur ein Auge. Das passt doch.«

»Das stimmt, aber …« Wieder brummte eins seiner Telefone. »Entschuldige, meine Liebe, das ist wichtig, da muss ich ran.«

Er sprang auf und nahm das Gespräch schon im Gehen an. Ich hörte ihn noch genervt stöhnen, bevor er durch die Tür verschwand.

Ich war erleichtert, dass er genauso skeptisch schien wie ich. Draußen lief Hermes auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab und redete wie ein Wasserfall. Erneut sah ich auf mein Handy. So langsam könnte Maél von seinem kleinen Ausflug zurückkommen. Allmählich machte ich mir Sorgen. Ich wollte ihn wieder bei mir haben, ihm beistehen in dieser schwierigen Situation. Außerdem konnte ich es kaum erwarten, auch ihm von dem Ring und dem Tagebuch zu erzählen. Vielleicht wusste er ja einen plausiblen Grund, warum sich drei lange verschollene, ziemlich machtlose Göttinnen für mein Schicksal interessierten.

Oh nein. Mir wurde eiskalt. Beim Stichwort »Schicksal« musste ich an mein Gespräch mit Agada in den Katakomben denken. Vertrau mir, so wie ich den Schicksalsgöttinnen vertraue. Ich kannte sie nur in der Mehrzahl, wusste jedoch nicht, wie viele es von ihnen gab. Aber jetzt schnappte ich mir mein Handy und googelte es. Das Ergebnis war knallhart und eindeutig. Es gab drei Schicksalsgöttinnen. Altgriechische Darstellungen zeigten sie als drei alte Frauen unterschiedlicher Größe. Meistens aufgereiht nebeneinander wie Orgelpfeifen. Die eine mit wirren Haaren, die andere groß und dürr und die in der Mitte mit dem strengen Blick einer Anführerin. Ich erkannte sie sofort.

Die Küchenfrauen der Internationalen Schule von Paris waren in Wahrheit die Moiren. Schicksalsgöttinnen, älter als die Zeit und gefürchtet sogar von den Göttern. Und sie hatten ausgerechnet mich zu einem ihrer Lieblingsspielbälle erklärt. Wieder überfiel mich das dringende Bedürfnis, Maél anzurufen. Zum Glück kam in diesem Moment Hermes wieder zurück. »Entschuldige.«

Ich hielt ihm mein Handy unter die Nase. »Das sind sie.«

Er runzelte die Stirn. »Diesen Gedanken solltest du nicht mal denken, Liebes. Dann doch lieber die Graien, glaub mir.«

»Das sind sie.« Ich wusste, dass Götter ihr Aussehen zwar modernen Zeiten anpassten, also ihre Bärte abrasierten und Haare schnitten und so weiter, sich aber nicht komplett in eine andere Person verwandeln konnten. Ein Bild der Graien, das ich nun im Netz fand, bestätigte meinen Verdacht. Ich schüttelte den Kopf und hielt es Hermes zum Beweis hin. »So sehen sie nicht aus. Dann tarnen die Moiren sich also als Graien, damit ich ihnen nicht auf die Schliche komme.«

Es war das erste Mal, dass Hermes vor meinen Augen kreidebleich wurde. Er brauchte einen guten Moment, um sich zu sammeln, dann schien er sich einen Ruck zu geben. »Ich muss zugeben, es beunruhigt mich, dass die Moiren ihre Finger in deinem Schicksal haben. Das alles sieht nach einem Plan aus, der über die Jahrhunderte hinweg sorgfältig gesponnen wurde. Ich bin mir sicher, wir haben bisher nur Bruchstücke davon durchschaut. Eines jedoch ist klar: Die Moiren sind mächtige alte Göttinnen. Dass sie ausgerechnet dich im Blick haben, ist mehr als mysteriös. Es scheint ja doch so, als würden viele zufällige Ereignisse genau in einem Punkt münden.« Er sah zu mir. »Und dieser Punkt bist du. Maél sagt, er habe jahrhundertelang keine Nymphe mehr gefunden. Und dann standest du plötzlich vor ihm. Du warst diejenige, die ihm beim Suchen der letzten Fragmente helfen konnte. Außerdem hast du gerade erzählt, dass in deiner Familie über zwei Generationen hinweg keine Töchter geboren wurden. Und dann kamst du und konntest das Erbe deiner Urgroßmutter antreten. Du findest ihr Tagebuch, weil die Moiren es so wollen. Du findest diesen Ring, weil die Moiren es so wollen. Was, wenn die Moiren auch alles andere so wollten? Was hat es mit dir auf sich, dass gerade dein Schicksal in dieser Zeit so eine wichtige Rolle zu spielen scheint?«

Mir wurde heiß und kalt zugleich. So messerscharf hatte ich all diese Fakten noch gar nicht kombiniert. In diesem Moment war ich heilfroh, dass ich mich Hermes anvertraut hatte. Diesem scharfen Denker, der schon so viel erlebt und gesehen hatte.

»Du glaubst, das ist alles absichtlich geschehen? Sogar, dass ich Maél getroffen habe?«

Hermes zuckte die Schultern. »Es ist nur eine Vermutung. Zufall. Man sagt ja, einmal gibt es den Zufall. Beim zweiten Mal sollte man anfangen, sich Gedanken zu machen.«

»Da hast du absolut recht.«

»Überlege mal, ob dir noch mehr einfällt, das dir irgendwie komisch vorkommt. Das vielleicht Rückschlüsse darauf zulässt, dass hier irgendeine Art von Plan im Spiel ist. Je mehr wir wissen, je mehr Puzzleteile wir haben, desto eher zeigt sich ein Bild. Vielleicht können wir den Moiren zuvorkommen. Auch sein Schicksal kann man ändern, Livia, glaub mir.« Er sah mich fest an. »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht.«

»Danke«, sagte ich leise und sah wieder auf den Ring. Es machte mir große Angst, dass ich ganz offensichtlich jemand war, mit dem die Moiren ihre Spielchen trieben. Obwohl ich mich bemühte, es nicht zu zeigen, so wünschte ich mir doch inständig, Maél wäre wieder da.

Hermes schien meine Gedanken lesen zu können. »Wo bleibt er denn nur? So schön ist das Wetter nun auch wieder nicht.«

Ich zuckte die Schultern, immer noch viel zu sehr in den Gedanken gefangen, die mich so sehr beunruhigten. War es wirklich alles geplant worden? Aber was war die Absicht dahinter? Was bezweckten die Moiren mit ihrem Spiel?

Als ich Maél kennenlernte, hatte ich immer wieder das Gefühl gehabt, dass ich nur ein kleines Zahnrädchen wäre. Ein winzig kleines Teilchen, das keine Ahnung hätte von dem großen Ganzen, zu dem es gehörte – zu Maéls Spiel, das er sein Leben und die Suche nach Agada nannte. Was, wenn sogar Maéls viele Geheimnisse nur ein winzig kleines Zahnrad waren, das das große Geheimnis um mein Leben auf irgendein Ziel zusteuerte?

*

Maél kam nicht zurück. Sein Kaffee wurde kalt, es begann zu regnen und draußen erschien wieder der planetarische Nebel am Himmel. Hermes fuhr mich nach Hause. Während der Fahrt schickte ich Maél eine Nachricht, in der ich ihn bat, in all seiner Wut sich auf gar keinen Fall an Hades zu wenden. Ich wies ihn noch mal auf die Gefahr hin, die vom Herrn der Unterwelt ausging, und hoffte einfach nur auf sein Verständnis. Darauf bekam ich eine knappe Antwort, die auch eine Entschuldigung dafür beinhaltete, dass er immer noch Zeit für sich brauchte. Ich war nicht böse, auch wenn ich enttäuscht war, dass ich nicht mehr Zeit mit ihm hatte verbringen können. Doch all die Neuigkeiten hatten auch mir einiges abverlangt. Insbesondere Hermes' Denkanstoß machte mir schwer zu schaffen.

Ich erinnerte mich gerade noch rechtzeitig daran, ihn zu bitten, mich an der Metro-Haltestelle rauszulassen. Hermes fuhr einen schnittigen Sportwagen und war mit seinen Mitte dreißig eindeutig zu alt, um mich wie nach einem Date nach Hause zu fahren. Ich wusste, dass unser Portier Fabrice mit meinen Eltern in Kontakt stand, und auf dieses Frage-und-Antwort-Spiel hatte ich keine Lust.

Hermes versprach, unauffällig nachzuforschen, und versicherte mir, dass ich mich Tag und Nacht bei ihm melden könne, solle irgendetwas passieren. Dank seiner Flügelschuhe könne er innerhalb von Sekunden bei mir auftauchen. Ich solle also keine Angst haben.

*

Evangéline war von all den Emotionen so verschreckt und verschüchtert gewesen, dass sie sich die ganze Zeit überhaupt nicht gerührt hatte. Erst zurück in meinem Zimmer krabbelte sie wieder hervor, setzte aber nicht zu ihrem üblichen Rundflug an. Ihre Fühler hingen auf Halbmast. Sie zu trösten vertrieb meine Angst ein wenig.

Meine Eltern, die annahmen, ich käme von einem Date mit Maél zurück, hatten mir ein Abendessen zurechtgemacht. Ich schaffte es, eine halbe Stunde mit ihnen fernzusehen und Normalität vorzugaukeln.

Zurück in meinem Zimmer beschloss ich, ein Bad zu nehmen, in der Hoffnung, dass die Hitze mich müde machen würde. Von Maél hatte ich nichts mehr gehört, und meine letzte Nachricht war nicht mehr zugestellt worden. Ich vermutete, dass er sich in den Katakomben aufhielte. Vielleicht hatte er sich mit seinen alten Freunden Raphael, Clément, Arthure und Maxim getroffen, seinen »Cataphile-Brüdern«, wie er sie nannte. Auch sie mussten sich große Sorgen um ihn gemacht haben. Vielleicht suchte auch er nach Möglichkeiten, um sich abzulenken. Ich wollte nicht daran denken, dass er mich dafür offensichtlich nicht geeignet hielt. Ich ließ einen gefühlten halben Liter Honigöl ins Badewasser laufen. Der intensive Honiggeruch beruhigte mich, so wie er es immer tat. Ich zündete ein paar Kerzen an, löschte das Licht und versuchte, mich zu entspannen. Es wirkte tatsächlich.

Als ich später in meinen Schlafanzug schlüpfte, fühlte ich mich angenehm erschöpft. Ich kramte meine Schulsachen hervor und beschloss, dass ich die Zeit bis zum Schlafengehen genauso gut dazu nutzen konnte, meine grauen Zellen etwas anzustrengen. Das würde mich ganz sicher vom ewigen Grübeln ablenken. Und auch davon, alle zwei Sekunden auf mein Handy zu starren, um zu sehen, ob Maél mir endlich geantwortet hatte.

Um zehn Uhr verbannte ich die Schulbücher aus meinem Bett und löschte das Licht.

Maél hatte nichts mehr von sich hören lassen. Ich war traurig deswegen, doch ich versuchte, dieses Gefühl nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Es war sein gutes Recht, das mit dem Alleinsein. Ich hatte Verständnis dafür, dass diese Nachricht ihn umgehauen hatte. Und ich wollte ihm nicht böse sein deswegen, denn ich zweifelte nicht an seinen Gefühlen für mich.

Evangéline schwirrte in der Dunkelheit umher. Sie hatte tagsüber zu viel geschlafen und schien nun unternehmungslustig und wach. Ich überlegte, das Licht noch mal anzumachen, um etwas mit ihr zu spielen, doch ich war einfach zu müde. Wenn ich diesen Punkt überschreiten würde, würde ich vermutlich heute Nacht gar nicht mehr schlafen können. Also ließ ich das Licht aus, schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, dass morgen auch noch ein Tag war. Ein weiterer Tag, der neue Erkenntnisse bringen würde. Ein weiterer Tag mit Maél in Freiheit. Ein weiterer Tag mit ihm an meiner Seite. Und nur das zählte.

*

Mitten in der Nacht war ich plötzlich hellwach. Die kleine Lampe auf meinem Schreibtisch warf lange Schatten in den Raum. Ich war mir sicher, das Licht gelöscht zu haben, als ich mich ins Bett gelegt hatte. Dann sah ich ihn. Er saß in dem Korbstuhl, auf den ich abends immer meine Sachen legte. Er saß da, wo er schon mal nachts gesessen und mich im Schein des Lampenlichts betrachtet hatte. Meine Klamotten hatte er ordentlich gefaltet auf dem kleinen Beistelltisch abgelegt.

»Ich konnte nicht schlafen.« Seine Stimme klang rau. Er lächelte nicht, wirkte eher etwas schuldbewusst.

»Träume ich?« Mein Mund war ganz trocken, und ich schluckte einmal krampfhaft. »Ich meine, bist du in meinem Kopf? Ist das alles nicht real?«

»Ich habe dir versprochen, dass das nie wieder passieren wird.« Immer noch kein Lächeln.

»Okay.« Ich richtete mich ein wenig auf. »Wie bist du hier reingekommen? Das ist der sechste Stock.«

»Über das Dach.«

Das warf nun die Frage auf, wie er bis dorthin gekommen war und wie er die siebte Etage überwunden hatte, ohne in die Tiefe zu stürzen. Plus, wie er mein Fenster aufgebrochen hatte. Und das ohne ein einziges lautes Geräusch.

Ich seufzte. »Will ich mehr wissen?«

Endlich malte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. »Nein.«

In diesem Moment schien auch Evangéline wach geworden zu sein. Ich hörte, wie sie irgendwo hinter mir auf dem Kissen aufgeregt ihre Flügel schüttelte, dann schoss ein weißer Fellball an mir vorbei. Evangéline flatterte um Maéls Kopf und führte eine Art euphorischen Begrüßungstanz auf. Er lachte, und es war das Lachen, das ich so liebte. Tief und dunkel, aus dem Bauch heraus und völlig ungezwungen. »Hey, kleines Mottentier. Ja, ja … ich freue mich auch, dich zu sehen. Ist ja gut. Ja, ich freue mich. Du bist ja vielleicht wild. Und das um diese Uhrzeit.«

Evangéline flog einen scharfen Kreis um Maéls Kopf herum, bevor sie sich in seine langen Haare stürzte und sie mit ihren Flügeln aufbauschte. Maél kniff die Augen zu, aber das Lachen ebbte nicht ab.

Ich setzte mich auf, bevor mir einfiel, dass ich meinen Harry-Potter-Schlafanzug trug. Den mit Harrys Brille, ein paar Blitzen und jeder Menge Zaubertrankfläschchen. Total bequem, total cool, allerdings nicht geeignet für Herrenbesuch, weil … Ja, warum eigentlich? Ich schlief sowieso nie im Negligé, und vermutlich hätte Maél sich eher schlappgelacht als große Augen zu bekommen, wenn ich in einem knallroten Hauch Plastikspitze aus den Decken hervortauchte. Also ließ ich die Decke sinken und beschloss, dass ich Fangirl genug war, um Maél in »Harry aus Frottee« zu empfangen.

Als ich den Kopf hob, bemerkte ich, dass er mich schon wieder beobachtete.

»Wingardium leviosa«, sagte er ganz ernst und machte eine Bewegung, die vermuten ließ, dass er meine Bettdecke nach oben schweben lassen wollte.

»Hey …« Ich spielte mit, entzückt darüber, dass er sich mit Harry-Potter-Zaubersprüchen auskannte. »Du Spanner!« Ich tat so, als wollte ich die Bettdecke festhalten.

Er grinste schief. »Ich hätte gerne ein bisschen mehr von dem Muster gesehen. Es gefällt mir.«

Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, das ist privat.«

Maél rieb sich das Kinn und versuchte ernst zu gucken. Es war ein wenig schwierig, da Evangéline sich immer noch enthusiastisch durch seine Haare wühlte. »Du gehst also mit Harry ins Bett?«

»Es ist nicht das, wonach es aussieht.«

Jetzt mussten wir beide lachen, bis mir meine Eltern einfielen und ich den Zeigefinger vor die gespitzten Lippen drückte. Ich schloss zwar jetzt immer ab, aber meine Eltern vor der Tür konnte ich jetzt trotzdem nicht gebrauchen.

Wir prusteten unterdrückt weiter, bis Maél Evangéline behutsam aus seinen Haaren zupfte und sie auf seiner hohlen Hand absetzte. Er sah zu mir, und in seinem Lächeln lag so viel Wärme, dass mein Herz einen kleinen Satz tat. »Jetzt geht es mir wieder besser.«

Das Kichern erstarb in meiner Kehle. »Hast du eigentlich Albträume?« Ich zögerte, die Frage wirklich auszusprechen. »Wegen dem, was sie mit dir gemacht haben? Sind es die Erinnerungen, die dich quälen?«

Er betrachtete Evangéline, die sich in seiner Handfläche niedergelassen hatte. Einen ihrer langen Fühler hatte sie um seinen Daumen geschlungen. »Lass uns nicht darüber reden.«

»Manchmal hilft es, zu reden.«

Er hob den Kopf. »Ich möchte nicht, dass du von solchen Grausamkeiten weißt. Du hast ein liebes, reines Herz. Was weißt du schon von Schlechtigkeit und Gewalt? Ich werde nicht derjenige sein, der dir so etwas zeigt. Und sei es nur, indem ich dir davon erzähle. Das, was du hast, Livia, ist ein kostbarer Besitz. Er ist es wert, ihn zu schützen. Und das werde ich.«

Ich wusste, würde ich darauf bestehen, würde er mir alles erzählen. Doch zuerst würde er versuchen, alles Übel von mir fernzuhalten. So wie er es immer getan hatte. »Die Neuigkeit heute Nachmittag hat dich umgehauen.«

Er nickte und rieb sich dann mit der Hand über die Augen. »Es tut mir leid, dass ich einfach abgehauen bin. Ich hatte irgendwie das Gefühl, ich ersticke.«

»Ist schon okay. Möchtest du jetzt darüber reden?«

Er schüttelte einfach nur den Kopf.

»Wo warst du? In den Katakomben?«

»Ja. Ich war in dem Raum …« Er sah zur Seite. »Du weißt schon, wo das alles mit Agada passiert ist. Der ganze Boden war noch voll von getrockneten Efeublättern und Blut. Es war wie ein Déjà-vu. Ich war da, um all das aufzuarbeiten. Um zu sehen, ob da noch etwas ist … von ihr. Um vielleicht Antworten zu bekommen, warum sie dir ihre Kräfte vererbt hat. Aber da war nichts. Nur Verwüstung und der Geruch von Blut. Selbst nach dieser ganzen Zeit kann ich es immer noch riechen. Ich bin Hals über Kopf getürmt. Eigentlich wollte ich Agada etwas dalassen. Vielleicht eine kleine Figur oder etwas, das daran erinnert, dass sie da gewesen ist. Dass sie nicht vergessen wird. Aber dann bin ich einfach weg, ohne mich noch mal umzudrehen. Etwas später habe ich mich mit den Cataphiles getroffen und ihnen von einem »Unfall« erzählt. Sie waren alle echt betroffen und haben total super reagiert. Ich habe mich wie der letzte Lügner gefühlt, aber so ist das nun mal bei uns.« Er sah zu mir. »Wir leben mit Geheimnissen, die uns zwingen, zu lügen.«

Bei diesen Worten fiel mir ein, dass ich ihm dringend noch etwas erzählen musste. »Wie wäre es mit noch mehr Geheimnissen?«

Maéls Blick wurde wachsam. Er setzte sich in dem Korbstuhl etwas auf. »Was ist passiert?«

Ich erzählte ihm von den Moiren, dem Ring und dem Tagebuch. Maél warf nur einen kurzen Blick auf das Schmuckstück, als ich die Hand in seine Richtung hielt.

»Was sagt Hermes dazu?«

»Wir wollen herausfinden, warum die Moiren es ausgerechnet auf mich abgesehen haben und was sie vorhaben.«

Maél sah aus, als wollte er aufspringen, irgendetwas umwerfen und sich dabei fürchterlich aufregen. Die Knöchel seiner Finger traten weiß hervor, so sehr umklammerte er die Lehnen des armen Korbstuhls. Irgendwann gelang es wohl seinem rationalen Verstand, sein Temperament davon zu überzeugen, dass weder Ausflippen noch Panikmachen mir helfen würden. Er holte tief Luft, entließ die ächzenden Lehnen aus dem Würgegriff und sah mich dann eindringlich an. »Wir halten uns an Hermes. Sein Plan ist gut, und dass er deine Kräfte trainieren will, gefällt mir. Die Moiren sind dafür bekannt, dass sie Schicksale über Jahrhunderte hinweg verweben. Das muss nicht immer schlecht ausgehen.«

Wir sahen uns an. Mir war klar, dass er hatte optimistisch klingen wollen. Und ihm war wohl klar, dass er ein miserabler Schauspieler war. Er sah zur Seite, und ich betrachtete den Ring.

Minuten vergingen, in denen wir beide unseren eigenen Gedanken nachhingen. Irgendwann seufzte ich. »Möchtest du einfach nur dasitzen?« Ich sprach die Worte aus, bevor mir klar wurde, dass ich keine Ahnung hatte, welche Alternative ich ihm anbieten könnte, sollte er verneinen.

»Ja.« Die Antwort kam schnell und klang sehr bestimmt. »Oder stört es dich? Dann verschwinde ich. Oder soll ich das Licht ausmachen? Du weißt, ich sehe auch im Dunkeln ganz gut. Oder …«

»Nein, bleib.« Ich lächelte. »Wenn dir das nicht zu langweilig wird.«

»Niemals.« Er schüttelte den Kopf. »Ich will dich einfach nur ansehen. Wissen, dass es dir gut geht. Wissen, dass ich bei dir bin.«

Die Ernsthaftigkeit, mit der er mich ansah, ließ meinen Bauch kribbeln. Wieder einmal konnte ich es kaum glauben, dass er wirklich hier war. Dass ich ihn wiederhatte, hier bei mir. Dass wir nicht mehr getrennt waren. Getrennt durch mythologische Grenzen und Gesetze, durch Angst und Trauer, Ungerechtigkeit und Wut. Ich ließ mich zurück in die Kissen sinken und zog die Decke hoch.

Er lächelte. »Kleine Nymphe.«

Aus einem Impuls heraus streckte ich die Hand aus. »Setz dich zu mir.«

Maél wirkte zunächst völlig überrascht, dann saß er wie der Blitz in dem Korbstuhl neben mir am Bett. Ich drehte mich auf die Seite, ihm zugewandt, und legte meine Hand über seine. Das Gefühl, ihn so nah bei mir zu wissen, war wunderschön. Seine Haut war warm, und obwohl wir uns kaum berührten, beruhigte mich seine Gegenwart. Ich warf einen letzten Blick auf Evangéline. Sie hatte es sich in seiner anderen Handkuhle bequem gemacht und ihre Flügel eng angelegt. Vermutlich schlief sie schon wieder.

»Schlaf schön«, flüsterte er.

»Du auch«, wisperte ich und schloss die Augen. Ich stellte mir noch vor, was für ein Bild wir wohl abgaben. Ein Junge, ein schwarzer Fleck in einem weißen Zimmer, in einem Korbstuhl sitzend, in einer Hand eine schlafende weiße Riesenmotte, die andere verschlungen mit den Fingern eines Mädchens in rotem Harry-Potter-Schlafanzug, das die Decke fast bis zur Nasenspitze hochgezogen hatte. Innerlich musste ich lächeln. Dieses Bild gefiel mir …