Kapitel 4
Shopping mit Phänomenen
Ich lag bis mittags im Bett. Gestern Abend hatte ich mich noch aufgerafft und tatsächlich alle meine Hausaufgaben erledigt. Irgendwann war ich auf einer Interpretationshilfe eingeschlafen und erst am frühen Morgen kurz aufgewacht. Im Halbdunkeln hatte ich meine Schulsachen aus dem Bett geschoben. Ich wurde erst wieder wach, als Mom an meine Tür hämmerte.
»Seit wann schließt du dich ein?«
Ich antwortete nicht sofort, sondern sah nur kurz auf den Wecker auf meinem Nachttisch. 11:30 Uhr. Du liebe Zeit!
»Ich bin wach«, murmelte ich.
Mom brummelte ärgerlich irgendwas, verschwand aber wieder. Evangéline schien ebenfalls aufgewacht zu sein, denn ich fühlte ihre Bewegungen in meinem Haar, wo sie sich ein kleines Nest gebaut zu haben schien. Ich tastete nach meinem Handy und knipste es an. Sechs neue Nachrichten, alle von Tiffy. Die eine um kurz nach Mitternacht, die zweite um zwei Uhr, dann eine um 2:30 Uhr, eine um vier und eine um 5:30 Uhr. Die letzte war irgendwann um zehn Uhr eingetroffen. Ich überflog sie. Es ging um unsere Verabredung zum Shoppen heute. Ich schrieb ihr kurz zurück und wollte das Chatfenster schließen, als eine Antwort von Gigi erschien. Auch sie bestätigte die vereinbarte Zeit. Jemma hatte schon heute Morgen um kurz nach acht zugesagt. Im nächsten Moment kam noch eine Nachricht von Gigi. Nicht im Chat natürlich.
Schläft Tiffy eigentlich nie? Dahinter drei Smileys mit weit aufgerissenen Augen. Ich vermutete, dass Tiffy schlimmes Heimweh hatte. Da ich zu faul war zum Tippen, schickte ich Gigi ein Sprachmemo. Wir brachten uns kurz auf den neuesten Stand. Ich erzählte ihr von Enkos Hilfe, aber auch, dass ich befürchtete, ihn verletzt zu haben. Gigi berichtete von ihrem Spaziergang mit Selkes, der wohl sehr schön gewesen war. Seine unkomplizierte, direkte Art schien sie zu begeistern. Sie waren heute Abend beim Konzert von Harpya verabredet. Gigi klang aufgekratzt. Sie schien es kaum erwarten zu können, Selkes zu sehen, und mich freute es, dass sie so glücklich war.
Gigi fand, dass es eine geniale Idee sei, dass wir uns mit einem Bummel durch Paris ablenken, denn die Niederlage mit Zeus hatte uns ziemlich getroffen. Ich stimmte ihr zu. Da wir uns schon um ein Uhr treffen wollten, hatte ich keine Zeit mehr zum Grübeln, ich musste mich beeilen. Ich entwirrte Evangéline aus meinen Haaren und ließ sie auf meinem Bett zurück, weil sie Wasser nicht besonders zu mögen schien. Dann schlurfte ich ins Bad. So richtig wach war ich noch nicht. Kaum, dass ich unter der Dusche stand, fühlten meine Hände sich plötzlich seltsam an. Ich sah darauf. Filigrane Schwimmhäute spannten sich zwischen meinen Fingern.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein.« Ich befühlte meinen Hals. Unglaublich! Ich hatte sogar wieder Kiemen bekommen.
Auf der Innenfläche meiner linken Hand leuchteten die drei Wellenbögen. Blasser als gestern, aber immer noch deutlich sichtbar. Vermutlich würde ich noch ein Weilchen mit diesen Special Effects aufwarten können, bis die Wellenkrone verblasste und Nereus' Einfluss nachließ. Ich betete inständig, dass ich in den nächsten Tagen nicht in einen Regenschauer kommen würde, denn sonst könnte es echt peinlich werden. Schwimmhäute! Ich spreizte erneut die Finger, um die zarte, bläulich schimmernde Membran zu betrachten. Dann schnappte ich mir mein Honigshampoo. Okay, einen Vorteil hatten sie allerdings. Als ich mir die Haare einschäumte, produzierte ich doppelt so viel Schaum. Ich schwebte im Honighimmel …
*
Um 13 Uhr trafen wir uns an der Metrohaltestelle »Champs-Élysées«. Jemma mit einem neuen bordeauxfarbenen Schal, Gigi mit dem Grinsen, das nur Verliebte so ungeniert zur Schau tragen konnten und ich zum Glück ohne Kiemen und Schwimmhäute. Wer nicht erschien, war Tiffy. Die ersten zehn Minuten vergingen wie im Flug, weil wir Gigi ausführlich über Selkes ausfragten. Sie bekam knallrosa Wangen, was ich für ein gutes Zeichen hielt. Als sie endlich gestand, dass sie vorgestern aus Nereus' Pokerzimmer geflüchtet war, weil Selkes' Spruch, gepaart mit seinem tollen Aussehen, sie total aus der Fassung gebracht hatten, wurden sogar ihre Ohren rot. Und natürlich zogen wir sie damit auf.
Irgendwann sah Jemma auf ihre Uhr. »Ernsthaft? So macht man sich aber keine neuen Freundinnen.«
Ich war gerade dabei, Tiffy zu texten, als der große silberne Mercedes am Straßenrand hielt. Tiffy kugelte heraus wie ein pinkfarbener Flummi. »Es tut mir so leid, Mädels«, sagte sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass die Straßen so voll sind.« Sie drehte sich kurz um. »Bye, Dad!«
Ihr Vater winkte uns durch die geöffneten Fenster zu. Er sah nett aus mit seinem blonden Haar und dem weich geschnittenen Gesicht. Interessant war nur, dass er kein bisschen wie Tiffy aussah. Wir winkten alle freundlich zurück.
»Dein Vater scheint nett zu sein«, sagte Gigi höflich. Trotzdem fanden wir es, glaube ich, alle ein wenig seltsam, sich von seinen Eltern zu einem Treffen mit Freundinnen kutschieren zu lassen. Es war ja schon peinlich genug, wenn meine Eltern mich mit Jacques losschickten. Tiffy hingegen schien das nicht seltsam zu finden. Sie strahlte uns alle an.
»Er ist super. Ich komme zum Glück gut mit meinen Eltern klar.« Sie strich sich durch die Haare, und wieder schimmerten sie, als hätte sie sie mit gemahlenen Diamanten bestäubt. »Ich bin schon so gespannt. Wie lieb von euch, dass ihr mich mitnehmt. Und bitte entschuldigt noch mal, dass ich zu spät bin.«
Jemmas Blick wurde sofort weicher. »Um ehrlich zu sein, hatte ich schon gedacht, du kommst nicht mehr. Aber jetzt bist du ja da.«
Tiffy lächelte uns dankbar an. »Kommt nicht wieder vor. Wo gehen wir als Erstes hin?«
Jemma deutete mit dem Kopf auf Gigi. »Sie ist unsere Expertin für Klamotten und überflüssigen Tand. Wenn du dir einen begehbaren Kleiderschrank aufbauen willst, halte dich an sie.«
Ich musste grinsen, Gigi jedoch schien sich über das zweifelhafte Kompliment zu freuen.
»Folgt mir.« Sie hob den Arm hoch über ihren Kopf, als wäre sie die Führerin einer Reisegruppe. »Und immer schön dicht zusammenbleiben.«
Natürlich hatte Gigi unsere Shoppingtour exakt durchgeplant. Zuerst besuchten wir die kleinen Boutiquen, dann holten wir uns jede ein überbackenes Sandwich und dann ging es ab in die Filialen der großen Modeketten. Viereinhalb Stunden später war Jemma kurz davor, zu kapitulieren. Nicht nur, dass sie die Hälfte unserer Tüten trug, sie schien auch mental so erschöpft, dass sie aussah, als müsste sie sich setzen. Sie hing über einem der großen Ständer bei H&M und schloss kurz die Augen. »Leute, ich kann keine Oberteile und Hosen mehr sehen. Und der Nächste, der mir irgendein Kleid unter die Nase hält, sollte sich bereitmachen, in diesem Fummel beerdigt zu werden.«
Ich tätschelte mit der freien Hand mitfühlend ihre Schulter, während ich mich weiter durch die ersten herbstlichen Röcke wühlte. Gigi und Tiffy kicherten und schienen nur wenig beeindruckt. Sie hatten während der viereinhalb Stunden festgestellt, dass sie einen ähnlichen Modegeschmack besaßen, der sich nur dadurch unterschied, dass Tiffy grundsätzlich alles mochte, das rosa oder pink war. Mittlerweile quatschten sie miteinander, als würden sie sich schon ewig kennen. Ich schenkte Jemma einen verständnisvollen Blick.
»Wir machen nicht mehr lange. Das Konzert fängt um acht Uhr an und wir müssen uns immerhin noch umziehen, vorher vielleicht noch ein bisschen ausruhen, uns aufhübschen und da hinkommen.«
»Und ich brauche vorher noch eine Gehirnwäsche, sonst träume ich heute Nacht von Kleidchen und passenden Söckchen.« Jemma war ihrem Stil treu geblieben. Sie hatte eine hellblaue Röhrenjeans erstanden und ein paar schlicht geschnittene Shirts, dazu einen grauen Pullover aus Wolle. Ihr einziges Zugeständnis an die bereits herbstlichen Temperaturen.
Ich wollte gerade etwas erwidern, als es um uns herum plötzlich laut wurde. Irgendwo schrie jemand auf, und ich hörte die Leute hektisch miteinander flüstern. Immer mehr von ihnen drängten in Richtung Ausgang. Wir sahen uns an. Gigi hängte das Kleid weg, das sie gerade Tiffy unter die Nase gehalten hatte. »Was ist da los?«
»Lasst uns nachsehen.« Jemma ging voraus, wir folgten ihr. Vor dem Eingang drängten sich so viele Menschen, dass wir Mühe hatten, uns nach draußen durchzukämpfen.
Erst dann fiel es mir auf. »Warum ist es so dunkel?« Wir traten hinaus auf die Straße. Es war kurz nach 17 Uhr, doch obwohl es bereits Herbstanfang war, hätte es nicht so dunkel sein dürfen.
»Wow«, stieß Gigi hervor. »Was ist das denn?« Sie zeigte in den Himmel auf ein Gebilde, das etwas links von uns lag. Das hatte ich noch gar nicht entdeckt. Millionen von Sternen schienen sich zu einer Art Galaxie zusammengefunden zu haben. Irgendwo neben uns sagte ein Mann: »Das ist ein planetarischer Nebel.« Er klang total perplex. »Aber die liegen normalerweise alle so weit entfernt, dass man sie nur mit dem Teleskop betrachten kann.« Bei genauerem Hinsehen zeigten sich immer wieder kleine, gleißend helle Eruptionen. Sie stiegen auf wie die Blasen in einer kochenden Suppe.
Der Mann sagte zu seiner Frau: »Die Eruptionen sind Plasmaströme. Unglaublich, sie so aus der Nähe zu sehen!«
Gigi wurde ganz blass. »Geht die Welt jetzt unter?« Ihr Handy klingelte. »Ja, Mom, ich bin’s. Alles in Ordnung, wir stehen hier draußen vor dem H&M. Ja, ich bewege mich nicht, alles klar. Bis gleich.« Sie drehte sich zu uns. »Sie sind in der Nähe und holen uns ab.«
Überall klingelten Telefone. Auch ich zückte mein Handy und entdeckte einen verpassten Anruf meiner Eltern. Angst kroch in mir hoch. Es war so dunkel, und am Himmel war dieses seltsame Gebilde erschienen. Ich drückte auf die Kurzwahl von Moms Handynummer.
»Was bedeutet das denn?«, fragte Gigi. »Wie kann plötzlich etwas zu sehen sein, das so weit weg ist?«
Der Mann schien ihre Frage wohl zu hören, denn er drehte sich zu uns. Er war ganz blass. »Bisher ist nichts über wandernde Nebel bekannt, also kann es nur eins bedeuten: Der Himmel rückt näher.«
Ich holte erschrocken Luft, und wie automatisch schob ich meinen Arm unter Gigis. Jemma telefonierte leise. Sie war wie immer die Ruhe selbst. Mein Blick fiel auf Tiffy. Sie stand neben uns, aufrecht, die Schultern nach hinten gereckt und den Blick fest auf den Himmel gerichtet. Ich erkannte viele verschiedene Emotionen, die sich auf ihrem Gesicht spiegelten. Wut, Trauer, Neugier und Überraschung. Aber keine Angst.
Endlich nahm Mom ab. »Wo bist du? Rühr dich nicht von der Stelle. Wir kommen dich holen.«
»Gigis Eltern fahren uns nach Hause«, sagte ich und erzählte ihr, wo wir waren.
»Das kommt nicht infrage. Wir kommen dich holen.«
»Aber es werden Dutzende Leute jetzt in die Innenstädte fahren, um ihre Familien abzuholen. Gigis Eltern sind in der Nähe. Sie sind gleich schon da, und …«
»Da sind sie«, rief Gigi. »Los, kommt, sie halten da hinten.«
»Bin gleich zu Hause, Mom«, versprach ich. »Mach dir keine Sorgen.« Dann legte ich auf.
Jemma folgte bereits Gigi, und auch ich machte mich bereit, mir meinen Weg durch die Menge zu bahnen. Ich sah mich zu Tiffy um. »Na los, komm mit, Tiffy!«
Sie stand immer noch da und sah wie versteinert in den Himmel, Wut und Trauer in ihrem Blick, aber immer noch fehlte jede Panik, jede Angst.
»Tiffy?«
Sie blinzelte, dann sah sie zu mir.
»Gigis Eltern sind da. Sie fahren uns nach Hause, jetzt komm schon.« Mittlerweile wurde ich ein wenig ungeduldig.
Sie zog ihr Handy hervor und warf einen Blick aufs Display. »Mein Vater kommt mich holen«, sagte sie schnell. Zu schnell, um irgendeine Nachricht gelesen zu haben. »Ich warte hier. Es ist lieb, dass ihr mich mitnehmen wollt, aber ich warte auf ihn. Er macht sich sonst Sorgen.«
»Was ist denn bei euch los?«, schrie Gigi ein gutes Stück entfernt. »Auf geht’s!«
Schon wieder klingelte mein Handy. Enko. Ich machte eine letzte auffordernde Geste Richtung Tiffy, doch sie winkte ab und zeigte auf ihr Telefon. Gut, wie sie wollte. Also drehte ich mich um und nahm das Gespräch an, während ich hinter Gigi und Jemma herlief.
»Wo bist du?«, brüllte er.
»Wir sind gleich im Wagen von Gigis Eltern. Sie waren zufällig in der Nähe und fahren uns nach Hause. Wo bist du?«
Enkos Tonfall normalisierte sich etwas. »Im Wohnheim, ich musste lernen.«
»Was ist das da oben?«
Enko zögerte. »Keine Ahnung, aber das sieht nicht gut aus.«
Ich musste mein Telefon nah ans Ohr pressen, um ihn durch den Lärm noch zu hören. »Was soll das heißen, das sieht nicht gut aus? Du bist über tausend Jahre alt«, rief ich deutlich zu laut, doch es war mir völlig egal, dass um mich herum alle Leute zuhören konnten. Es war höchst unwahrscheinlich, dass jemand in dem allgemeinen Tumult und Geschrei darauf achtete, was ich in mein Handy brüllte. »Solltest du dich nicht mit Naturkatastrophen jeglicher Art auskennen? Wenn es ein Asteroid ist, werden wir alle sterben?«
»Nein. Asteroiden sehen eindeutig anders aus, sie haben einen langen Schweif. Das kennt man doch aus dem Fernsehen.«
»Und was ist es dann?«
»Hör mal«, sagte er und klang tatsächlich genervt. »Ich studiere Philosophie und Literaturwissenschaften. Sehe ich aus wie ein Weltraum-Experte?«
»Wieso eigentlich nicht? Du hättest doch irgendwann mal Astronomie studieren können.«
Enko seufzte tief. »Es interessiert mich einfach nicht. Naturwissenschaften sind nicht meins. Ich mag die schönen Künste und …«
Mittlerweile war ich am Wagen der Familie O’Mally angekommen. Gigis Vater war schon ausgestiegen und öffnete uns die Türen. Wir schlüpften auf die Rückbank, während Enko immer noch über seine »schönen Künste« redete, ich aber so gut wie nichts verstand, weil sich nun alle lautstark begrüßten. Gigi stellte mich vor, und ich sagte ihren Eltern kurz Hallo.
Enko redete immer noch. »Okay, dann kontaktiere irgendjemanden, der sich damit auskennt«, unterbrach ich ihn. »Bitte. Oder hat es etwas mit dem Olymp zu tun?«
Wir waren bereits losgefahren, aber Gigis Mom drehte sich auf dem Beifahrersitz um und sah mich fragend an. Ich lachte, und es klang ein wenig schrill.
»Äääähhh … das ist für ein Referat«, erklärte ich schnell. »Über die griechischen Götter. Wir müssen am Montag abgeben, und wir haben ein bisschen … na ja, Panik … wir sind noch nicht ganz fertig … und so.« Ich lachte noch mal, denn sollte die Welt gleich durch einen Kometen pulverisiert werden, war das Referat sicher mein kleinstes Problem. Dann riss ich das Handy zurück ans Ohr. »Ich melde mich später.« Ich ließ es in meinen Schoß gleiten. Meine Hände zitterten.
»Ja, ja.« Jemma knuffte mich freundschaftlich. »Du bist immer so spät dran.«
»Verstehe. Dann viel Erfolg.« Gigis Mom schien beruhigt, obwohl es ihr eigentlich komisch vorkommen sollte, dass ich in der Stunde des Weltuntergangs an ein Schulreferat dachte.
Der Verkehr war leicht chaotisch, doch trotzdem kamen wir gut voran. Da auch Gigis Eltern keine Ahnung hatten, was das Spektakel am Himmel zu bedeuten hatte, hörten wir Radio und googelten gleichzeitig wie verrückt auf unseren Handys, um etwas Genaueres zu erfahren. Fakt war wohl, dass es sich tatsächlich um einen planetarischen Nebel handelte, der aus welchen Gründen auch immer wie aus dem Nichts nah an die Erde gerückt war. Forscher vermuteten hier einen Zusammenhang mit der unverhältnismäßig früh aufgetretenen Dunkelheit, nämlich dass der planetarische Nebel einen guten Teil der Sonne verdeckte. Man sah eigentlich nur den aktiven Kern, also die hellen Strahlen, während das große dunkle Feld, das den Nebel umgab, von der Erde aus nicht erkennbar war. Die Dunkelheit schien nur die europäische Zeitzone zu betreffen und sollte verschwinden, sobald die Erde sich ein Stückchen weitergedreht hatte. Der planetarische Nebel wurde nicht als Gefahr eingestuft, höchstens als Naturphänomen, genauso wie eine Sonnenfinsternis oder ein Asteroidenschauer. Das beruhigte uns alle ein wenig. Ich textete Mom die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, damit sie sich nicht noch größere Sorgen machte.
Zu Hause lief der Fernseher, was bei uns tagsüber nie der Fall war. Es herrschte also im wahrsten Sinne des Wortes Ausnahmezustand. Mom und Dad saßen davor, und draußen wurde es bereits wieder heller.
»Das ist ja unglaublich.« Dad starrte gebannt auf den Bildschirm, über den gerade diverse Aufnahmen aus den Großstädten liefen. Menschen, die in Panik durch die Straßen hasteten, in manchen Vororten war sogar der Notstand ausgerufen worden, weil Geschäfte geplündert wurden.
Mom riss mich an sich und ließ mich auch nicht los, als ich mich zwischen die beiden auf die Couch setzte. Ich ließ meine Einkaufstüten einfach davor auf den Boden gleiten. Auch etwas, das es bei uns normalerweise nicht gab. Mom war ordnungsfanatisch genug, solche Ausrutscher nur schwer zu verzeihen. Heute aber schien sie es nicht mal zu bemerken.
»Ich bin so froh, dass du wieder hier bist«, flüsterte sie mir ins Ohr und strich dann über mein Haar. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
Dad tätschelte meine Schulter. »Wie schön, dass Gigis Eltern in der Nähe waren. Wir sollten sie zum Dank mal zum Essen einladen.«
»Das ist eine gute Idee«, pflichtete Mom ihm bei. »Dr. O’Mally sitzt im Vorstand der ›PharmaSana AG‹, es wäre also sowieso gesellschaftlich angemessen, wenn wir ihn und seine Frau persönlich kennenlernen würden.«
Ich verdrehte die Augen. Mom und ihr gesellschaftlicher Standesdünkel. Ein Fass ohne Boden.
Ein Nachrichtensprecher berichtete von einer kleinen Zahl von Leichtverletzten, Tote gab es zum Glück keine. Danach wechselte das Bild zu einem wissenschaftlichen Bericht, bei dem ein Forscherteam einer der führenden Hochschulen für Astronomie in Deutschland interviewt wurde. Die Wissenschaftler bemühten sich darum, zu versichern, dass planetarische Nebel für die Erde keine Gefahr darstellten. Sie würden in unserer Atmosphäre verglühen, sollten sie sich unserem Planeten zu stark nähern. Sie wurden auch hier als ein Naturphänomen beschrieben, ähnlich der Polarlichter in den nordischen Ländern. Die Experten schoben die Dunkelheit ebenfalls auf den dunklen Nebel, der den aktiven hellen Kern umgab. Man wolle versuchen zu erforschen, warum der Nebel Richtung Erde wandere.
Ich war erleichtert. Das Spektakel war beeindruckend und auch beängstigend gewesen, und ich war froh, aufatmen zu können. Doch dann erinnerte ich mich an Tiffy, und mich beschlich wieder ein komisches Gefühl. Ich war mir sicher, dass sie gewusst hatte, um was es sich handelte. Dass sie gewusst hatte, dass dieses Phänomen nicht wirklich eine Gefahr für uns darstellte. Ich hatte ihr Gesicht immer noch genau vor Augen. Sie hatte wütend gewirkt und traurig, aber kein bisschen ängstlich. Sie verheimlichte uns definitiv etwas.
*
Als die Welt erfuhr, dass es sich nur um ein harmloses Naturphänomen handelte, ebbte die Panik ab. Zwar hatten nun Verschwörungstheoretiker und Weltuntergangsenthusiasten ihren großen Auftritt in den sozialen Netzwerken, doch weitere Hysterie in der Bevölkerung blieb zum Glück aus. Je näher der Abend rückte, desto mehr verblasste der Nebel am Himmel. Um kurz vor sieben kam noch ein letztes Mal die Sonne hinter den Wolken hervorgebrochen. Ihre Strahlen empfand ich als herrlich beruhigend. Ich hatte in meinem Zimmer auf der breiten Fensterbank Platz genommen und sah über die Dächer von Paris hinaus auf den leuchtend orangefarbenen Ball am Himmel. Noch war unklar, ob der planetarische Nebel weiter wandern würde oder ob wir mit diesem Phänomen nun an jedem späten Nachmittag rechnen mussten. Was jedoch mittlerweile sicher war: Der Nebel wanderte am Planeten Erde vorbei und bewegte sich nicht auf uns zu. Mich hatte das beruhigt und auch Mom und Dad, die mehr auf nüchterne Informationen als auf Panikmache setzten.
Enko schrieb auf WhatsApp, dass das Konzert von Harpya trotzdem stattfinden würde. Für mich sprach nichts dagegen – mir war es relativ egal, ob Nordlichter oder ein planetarischer Nebel da oben funkelten, solange uns nicht der Himmel auf den Kopf fallen würde. Mom war zunächst skeptisch gewesen, als ich sie auf das Konzert angesprochen hatte. Doch da es dieses Mal am Louis-le-Grand-Gymnasium stattfinden sollte, hatte sie schließlich eingewilligt. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie mich nicht ein zweites Mal in die Katakomben zu einem Konzert hätte gehen lassen. Sie bestand allerdings wieder auf der peinlichen Nummer mit Jacques. Mit anderen Worten: Ich sollte hingebracht werden wie ein Baby und abgeholt werden wie ein Baby. Irgendwann kapitulierte ich, damit ich überhaupt aus dem Haus gehen durfte.
*
Um 20 Uhr traf ich mich vor der Louis-le-Grand mit Jemma, Noah, Gigi, Selkes und Tiffy.
»Ich bin so aufgeregt«, zwitscherte Tiffy. »Ich war noch nie auf einem richtigen Rockkonzert. Und du bist also der Drummer?«
Sie sah in Richtung Noah, und die Skepsis in ihrem Blick war nicht zu übersehen. Jemma und ich grinsten uns an, Noah nickte in seiner bekannten Ernsthaftigkeit. »Ich habe mit fünf Jahren mit Schlagzeugunterricht begonnen«, erzählte er. »Ich war auf der Suche nach einem musischen Ausgleich. Immer nur Fußball, Tennis und Volleyball war mir zu eintönig.«
Tiffys Augen weiteten sich leicht, dann ließ sie den Blick über Noahs akkurat gebügeltes Oberhemd, die helle Jeans und die ordentlich geputzten Lederschuhe wandern und wieder hinauf bis in sein Gesicht. »Verstehe«, murmelte sie schließlich. Sie sah zu mir, und ich las die stumme Frage in ihrem Blick: Er ist ein Rockmusiker?
»Warte, bis du Enko kennenlernst«, flüsterte ich ihr zu. »Er macht alles doppelt und dreifach wett.«
Tiffy wirkte wenig überzeugt.
»Oh Mann, ich liebe Rockmusik. Dazu kann man so richtig krass abhotten.« Selkes ließ seine Hüfte einmal kreisen und stupste dann Gigi an. »Stimmt’s, Cupcake?«
Cupcake? Hatte ich etwas verpasst? Jemma sah fragend zu mir. Ich zuckte unauffällig die Schulter.
»Auf jeden Fall«, hauchte Gigi und sah zu Selkes hoch. Offenbar war sie mit dem Spitznamen einverstanden. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie ihm auch dann zugestimmt hätte, wenn er sie gefragt hätte, ob sie gerne Perlentaucherin auf Bali geworden wäre. Selkes grinste wie ein Honigkuchenpferd, als er auf sie hinuntersah. Die beiden schien es schwer erwischt zu haben. Auch wenn Selkes mal wieder nur in Shirt und kurzen Hosen unterwegs war, hatte er doch zumindest die Flip-Flops gegen ein Paar Chucks eingetauscht. Ich, die bereits in ihrem Übergangsmantel fror, schenkte ihm einen neidvollen Blick. Noahs Handy piepte, und er sah kurz darauf. »Leute, seid mir nicht böse. Ich muss wieder reingehen und beim Aufbau helfen. Die anderen lynchen mich sonst. Zum Glück habe ich einen kleinen Jemma-Bonus.«
Wir entschieden uns, ihm ins Gebäude zu folgen. Es war ein scharfer Wind aufgekommen, und ich fror ja sowieso schon. Im Vorraum der kleinen Theaterbühne, die zur Schule gehörte, hatten ein paar Leute der Schülervertretung eine provisorische Bar aufgebaut und schenkten Softdrinks aus. Die zwei breiten Doppeltüren zur Bühne waren noch geschlossen, deshalb holten wir uns alle etwas zu trinken und warteten, dass wir eingelassen wurden. Natürlich wurde überall nur über den planetarischen Nebel gesprochen.
Als wir eingelassen wurden, lief leise Musik im Hintergrund, und die Bühne war hell erleuchtet. Enko war in die Hocke gegangen, um vom Bühnenrand aus bereits Autogramme zu geben. Tiffy neben mir blieb abrupt stehen, als wäre sie vor eine unsichtbare Wand gelaufen. Sie starrte in Richtung Bühne, und nun sah ich wirklich Angst in ihrem Blick.
»Ich muss hier raus«, sagte sie mit stockender Stimme. »Ich … ich muss gehen.«
»Was? Aber was ist …«
Sie stürzte davon, gerade als Enko auf der Bühne die Hand in meine Richtung hob. Ich grüßte zurück, deutete dann aber auf Tiffy und stürzte hinterher. Gigi, Jemma und Selkes, die sich immer noch über das Planetenphänomen unterhalten hatten, sahen verdutzt zu uns.
»Tiffy!«, rief ich ihr hinterher. »Tiffy, jetzt bleib doch mal stehen.«
Doch Tiffy hörte nicht auf mich. Sie war erstaunlich schnell. Mühelos hängte sie mich in der Menge der Wartenden in dem kleinen Vorraum ab, und ich nahm an, dass sie nach draußen verschwunden wäre. Also folgte ich ihr durch den Ausgang. Die Louis-le-Grand lag in einem gutbürgerlichen Stadtteil, in dem man zur Abendstunde bereits, bildlich gesprochen, »die Bürgersteige hochgeklappt« hatte. Auf der Straße war nichts los. Selbst die Blumen in den ordentlich getrennten Vorgärten schienen zu schlafen. In der Ferne sah ich die Rücklichter eines Busses, der vermutlich an der Haltestelle direkt vor der Schule angehalten hatte. Ob Tiffy es noch bis in den Bus geschafft hatte? Das konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen. Ich ging ein Stück die Straße hinab. Bei den meisten Häusern waren die Rollläden schon hinuntergelassen oder Lampen schimmerten in den Fenstern hinter Gardinen. Der Himmel war wolkenverhangen, weshalb es dunkler war als eigentlich für diese Uhrzeit üblich. Auf den Straßen war nichts los, vermutlich waren die meisten Leute doch aus Sicherheitsgründen zu Hause geblieben.
»Tiffy!«, rief ich, bekam aber keine Antwort. »Tiffy!« Ich blieb vor einer schmalen Gasse stehen. Hier befand sich nur der ehemalige Personaleingang einer Jugendstilvilla, der zugemauert worden war. Ein Müllhäuschen schmiegte sich an die Hauswand, und jemand hatte Blumentöpfe daran entlang aufgereiht. Die Gasse schien zum gemeinsamen Garten der zwei Häuser zu führen. In einem der Schatten sah ich etwas aufblitzen.
»Tiffy, was ist denn bloß los? Kann ich dir irgendwie helfen?«
Ein unterdrücktes Schluchzen erklang. Ich kam näher. Tiffy hatte sich hinter einem Rhododendronbusch versteckt. Ihre Schultern bebten. Sie hielt ihr Handy in der Hand.
»Ich habe mir ein Taxi bestellt«, stieß sie hervor. »Ich muss nach Hause.«
»Ist etwas mit deiner Familie?«
Sie schüttelte den Kopf, und wieder bebten ihre Schultern. Schnell drehte sie mir den Rücken zu, als wäre es ihr peinlich, wenn ich sie weinen sah. »Ich muss einfach schnell weg von hier.«
»Was ist denn los, Tiffy? Haben wir etwas falsch gemacht?«
»Nein.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Livia, bitte … bitte geh, ich kann das hier nicht.«
»Aber, Tiffy …« Ich kam so nah, dass ich ihr sanft meine Hand auf den Rücken legen konnte. In der nächsten Sekunde schwang sie herum.
»Ich hab gesagt, du sollst gehen!«, schrie sie mich an.
Und da waren sie wieder. Die riesigen nachtschwarzen Schwingen hinter ihrem Rücken. Sie waren so nah, dass ich den Luftzug spürte, so nah, dass ich erkennen konnte, dass sie nicht mit Federn bedeckt waren, sondern mit riesengroßen, ledrig glänzenden Schuppen. Voller Entsetzen sah ich ihr mitten ins Gesicht. In ihren Augen tanzten Flammen.