Kapitel 8

»Ich hab’s!«

Fast drei Wochen vergingen ohne irgendwelche Neuigkeiten. Ich bestand erfolgreich zwei Klassentests und irgendwann hatte sich auch mein Schlafrhythmus wieder eingependelt. Ich vertraute Hermes, und alles, was er berichtete, zeugte von seinem Willen, Maél aus den Kerkern des Olymps zu befreien. Seine Anwesenheit gab mir Kraft und fast so etwas wie Zuversicht. Mittlerweile war das Poker-Hinterzimmer in Flussgott Nereus' chinesischer Reinigung zu so etwas wie unserer »Einsatzzentrale« geworden. Hier trafen wir uns nach der Schule, saßen an dem großen runden Tisch und schmiedeten Pläne. Wir sammelten sämtliche Informationen über Maél und seine Verwandtschaftsbeziehungen zu Nyx, die wir in die Finger bekommen konnten.

Tiffy begab sich jede Nacht unermüdlich in ihrem zweiten Zuhause auf die Suche nach mehr Informationen. Dank ihres Armbands wirkte sie niemals müde, obwohl sie nächtelang im Tempel der Nacht unterwegs war. Nyx hatte Tagebuch geschrieben, das wusste sie. Doch die Göttin schien ihre persönlichen Aufzeichnungen gut versteckt zu haben. Tiffy mit ihrem detektivischen Spürsinn hatte ein Tagebuch aus den 1920ern unter einer Bodenfliese gefunden, in dem Nyx berichtete, dass sie die Papyrusrollen, ihre Tagebücher aus längst vergangenen Zeiten, an einem neuen geheimen Ort in der Bibliothek im Tempel der Nacht verborgen hatte. Tiffy hatte danach gesucht, doch bisher erfolglos. In diesen Schriftrollen sollte es angeblich auch Aufzeichnungen von Hekate geben, in denen sie den Zauber beschrieb, mit dem sie beide Kinder belegt hatte, um ihre Herkunft zu verschleiern. Ich wusste, dass Tiffy in ständiger Angst vor einer Entdeckung durch Hades lebte, doch das schaffte sie ziemlich tapfer zu verbergen. Ich hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, dass ich ihr Geheimnis verraten hatte. Aber Hermes, der oft bei unseren Treffen dabei war, hatte ihr seinen Schutz zugesichert, und das schien sie etwas zu beruhigen.

Gigi und Selkes gingen mittlerweile ganz fest miteinander. Besser gesagt, sie schienen absolut unzertrennlich. Ich freute mich sehr für sie, denn Gigi hatte, als ich sie kennenlernte, noch ihrem Exfreund hinterhergetrauert. Jetzt war sie wie ausgewechselt. Der Sohn des Flussgottes schien mit seiner offenen, unkomplizierten Art ihr perfektes Gegenstück zu bilden. Manchmal, wenn mir nur meine zwei Freundinnen mit ihren beiden Liebsten an dem runden Pokertisch gegenübersaßen, fühlte ich mich ein wenig einsam und wie das fünfte Rad am Wagen. Doch unsere Gruppe war einfach viel zu bunt gemischt, um so ein Gefühl weiter wachsen zu lassen.

Ödipus, der wieder gesund war, war immer für einen Spruch gut, Hermes sowieso ein Sonnenschein und auch Tiffy war so herzlich und lieb, dass es völlig unmöglich war, sie nicht sofort ganz fest ins Herz zu schließen. Ich wollte meine Sehnsucht nach Maél nicht nach außen dringen lassen und den anderen den Optimismus verhageln. Also lächelte ich mit, auch wenn es mich innerlich immer wieder fast zerriss. Die Angst, die Ungewissheit, die Sorge, sie machten mich mürbe. Doch ich riss mich zusammen und sagte mir immer wieder, was für eine großartige Truppe ich um mich hatte. Wenn unsere Runde komplett war und wir über irgendwelchen Papieren brüteten, spielte Evangéline irgendwo in der Luft mit Tiffys Sternenmäusen. Sie schossen durch das Zimmer wie weiße Lichtblitze und vollführten nach einiger Zeit sogar wirklich beeindruckende akrobatische Kunstflüge.

Wenn wir am frühen Abend die chinesische Reinigung wieder verließen, erwartete uns der planetarische Nebel am Himmel. Er war geblieben, und mittlerweile hatte sich die Menschheit an ihn und die frühe Dunkelheit am Nachmittag gewöhnt. Immer wieder wurde von wissenschaftlicher Seite betont, dass keine Gefahr davon ausginge. Die sozialen Medien waren voll von wirklich beeindruckenden farbenfrohen Fotos des Nebels, und schon nach kurzer Zeit gehörte er zum Bild des Firmaments einfach dazu.

Am Abend löschte ich regelmäßig alle Nachrichten von Enko. Obwohl ich damit gerechnet hatte, dass er Tiffy nach unserem Streit verraten würde, hatten wir weder von Hades noch von ihm Besuch bekommen. Er hatte mir auch weder aufgelauert noch mich irgendwie verfolgt. Komischerweise hatte ich das Gefühl, dass ihm wirklich leidtat, dass zwischen uns alles so schiefgelaufen war. Doch ich wollte es nicht riskieren, ihn in unser weiteres Vorgehen einzuweihen. Also beließ ich es dabei, seine Nachrichten ungelesen zu löschen. So manches Mal, wenn ich mein Handy abends auf den Nachttisch legte, fragte ich mich, wie lange er es lediglich beim Nachrichtenschreiben belassen würde.

*

An einem Freitagnachmittag hatten wir uns wieder mal alle in unserer »Einsatzzentrale« bei Flussgott Nereus eingefunden. Gigi turtelte mit Selkes, der gerade vom Rettungsschwimmer-Training gekommen war. Seine Haare waren noch feucht, und sie wuschelte ganz verzückt durch seinen wild gelockten blonden Schopf. Sie hatte wie üblich selbst gebackene Kekse mitgebracht, von denen sich alle schon ausgiebig bedient hatten. Jemma und Noah brüteten über einem alten Tagebuch von Nyx, das voll von irgendwelchen seltsamen Zeichnungen war. Es war wie eine Art kosmisches Bilderbuch gestaltet, und obwohl weder Noah noch Jemma Altgriechisch lesen konnten, hofften sie doch, irgendwelche Informationen daraus ziehen zu können. Ich bewunderte ihren Pioniergeist. Noah hatte in einer halben Stunde noch Bandprobe, und die beiden waren schon dazu übergegangen, ihre Verabschiedung zu zelebrieren. Bei jeder Seite, die umgeblättert wurde, hauchte Noah Jemma ein Küsschen auf die Wange.

Ödipus saß neben Hermes über einer Tupperdose mit Hühnersuppe, nach der er seit seiner Erkältung absolut süchtig zu sein schien. Er berichtete dem Götterboten von einem alten Familienrezept, nach dem er die Suppe nun zubereitete. Hermes nickte wie ein Wackeldackel auf der Hutablage, während er sich an jedes Ohr ein Handy hielt. Zuhören und telefonieren gleichzeitig schien für ihn kein Problem darzustellen. Er hatte komplett zu seiner alten Form zurückgefunden und sah wieder aus wie frisch aus dem Ei gepellt. An jedem seiner Finger prangte ein protzig glitzernder Ring, die Nägel waren sorgfältig manikürt und poliert. Seine Haare waren frisch gesträhnt, und ich wollte ihm nichts unterstellen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er seine Augenschatten mit Concealer hatte verschwinden lassen.

Ich nippte an meinem wirklich köstlichen chinesischen Tee, während Evangéline über den runden Tisch trippelte und versuchte, sich unter den vielen Papieren einzugraben. Als die Tür mit einem Knall aufflog, wurden die Motte und das lose Papier quer durchs Zimmer gewirbelt.

»Oh, meine Götter!«, schrie Tiffy zur Begrüßung.

Die Jungs und Jemma sprangen auf. Gigi sah sie mit großen Augen an, und ich stellte meinen Tee zur Seite. Tiffy kam in einem Wirbel aus Pink und fliegenden Haaren zu unserem Tisch herüber. »Ich habe es!« Sie war so aufgeregt, dass die Schatten ihrer Flügel hinter ihr erschienen.

Hermes richtete seine durcheinandergewirbelten Strähnchen, dann setzte er sein diplomatischstes Lächeln auf. »Hallo, Tiffy, schön dich zu sehen. Ich nehme an, du hast Neuigkeiten?«

Ödipus neben ihm murmelte irgendetwas von »Shirt auswaschen« und hastete aus dem Raum. Offenbar hatte er sich so erschrocken, dass er den halben Inhalt seiner Tupperdose über seinem T-Shirt ausgekippt hatte.

Evangéline schoss auf Tiffy zu, drehte ein paar wilde Kreise um ihren Kopf, und der Sternenstaub in Tiffys Haaren verstand die Aufforderung. Fünf schillernde kleine Raupen schossen aus ihren Haaren hervor und nahmen die Verfolgung auf. Evangéline flog wilde Pirouetten, der Sternenstaub ihr dicht auf den Fersen.

Tiffy ließ ein ganzes Bündel Papyrusrollen auf den Tisch gleiten. »Das sind sie«, verkündete sie feierlich und verschränkte die Arme stolz vor ihrem rosafarbenen Trenchcoat. »Ihr dürft mich offiziell eine Heldin nennen.«

»Ich habe zwar keine Ahnung, wovon du sprichst, aber du siehst definitiv aus wie eine Heldin«, sagte Noah ganz ernst. »Besonders mit diesen Flügeln.«

Tiffy wirkte ein wenig verlegen, und die Schatten der dunklen Flügel verschwanden prompt. »Entschuldigt, es passiert immer noch, wenn ich so aufgeregt bin.«

»Ich nehme an, das sind die Tagebücher, in denen Nyx von dem Tausch der Kinder berichtet?«, kombinierte Hermes messerscharf.

Nun sprang Gigi doch auf. »Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott, das ist ja so spannend! Du hast sie wirklich gefunden? Was steht drin? Nun bedauere ich wirklich, dass ich kein Altgriechisch spreche. Das ist ja so unglaublich spannend. Heißt das, Maél kommt frei?«

Nun wirkte Tiffy nicht mehr ganz so enthusiastisch. »Ich habe die Schriftrollen noch nicht komplett gelesen, aber was ich bisher gesehen habe, sieht vielversprechend aus. Natürlich kann man immer jemandem einen Strick drehen, wenn man das will. Oder Zeus könnte einfach sagen, dass ihm das als Beweis nicht ausreicht. Aber einen Versuch ist es wert. Mehr habe ich definitiv nicht zu bieten. Es sei denn, irgendjemand findet meine Mutter und …« Sie brach ab, sah in die Runde und schluckte. »Na ja, also Nyx. Sie ist ja eigentlich gar nicht meine Mutter.«

Selkes schnaubte, und sein hellblondes Haar wippte im Takt, als er energisch den Kopf schüttelte. »Das ist doch Quatsch, Pinky. Familie ist da, wo das Herz schlägt.« Er klopfte sich mit der Faust donnernd auf die Stelle seines Brustkorbs, unter der sich sein Herz befand. »Ende Gelände. Natürlich ist sie deine Mutter.«

Tiffy lächelte dankbar, trotz des neuen Spitznamens.

Hermes beugte sich über den Tisch und sortierte die Schriftrollen ordentlich nebeneinander. »Wie sollen wir verfahren?« Ich musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass seine Hand tatsächlich zitterte. Er war nervös. Auch wenn er sich sehr viel Mühe gab, sich das nicht anmerken zu lassen. »Wie viele Leute haben wir, die Altgriechisch lesen können?«

Selkes, Tiffy und ich hoben die Hand.

»Wieso du denn?«, wollte Noah von mir wissen.

Ich zuckte die Schultern. »Wiesennymphentalent?«

Gigi und Jemma hatte ich davon erzählt, den anderen schien diese spontane Erklärung zu genügen. Nur der Götterbote sah mich einen Moment fragend an, bevor er sich wieder Tiffy zuwandte.

»Plus Ödipus«, ergänzte er dann. »Wenn der sein T-Shirt wieder sauber bekommt. Und mich natürlich auch eingeschlossen.«

»Dann sind wir fünf Leute, und es sind zwölf Schriftrollen, das sollten wir doch schaffen«, meinte Selkes.

»Mein Altgriechisch ist leider sehr rudimentär.« Noah entrollte vorsichtig eine der Papyrusrollen. »Aber ich würde mich trotzdem anbieten.«

»Schatz, du hast doch gleich Bandprobe«, erinnerte Jemma ihn.

Noah zuckte die Schultern. »Zugunsten solcher Neuigkeiten würde ich sogar schwänzen.«

»Nein, mach das nicht«, warf ich schnell ein. »Enko darf nicht misstrauisch werden. Er weiß, dass wir alle ständig zusammen rumhängen, und wenn du plötzlich fehlst, wird er wissen, dass es irgendetwas Neues gibt.«

Noah schob die Schriftrolle zurück zur Tischmitte und nickte. »Das leuchtet ein. Dann werde ich mich gleich verabschieden.« Ich war froh, dass er das respektierte, denn schließlich waren er und Enko immer noch Freunde.

»Jemma, Gigi, wenn ihr die Notizen anfertigt, würde uns das sehr helfen. Dann könnten wir uns aufs Lesen konzentrieren.« Hermes hielt einen Schwung leere Din-A4-Bögen hoch.

Die beiden waren natürlich sofort einverstanden. Nachdem Noah sich verabschiedet hatte, machten wir uns ans Werk. Ich hatte gerade die erste Schriftrolle auseinandergerollt, als Ödipus zurück ins Zimmer kam. Sein T-Shirt war zwar klatschnass, schien aber hühnersuppenfrei.

»Diese putzigen kleinen Drachen«, schwärmte er. »Stellt euch vor, ich habe mein T-Shirt einfach nur in einen der Bottiche gehalten, und sie haben sich auf die Hühnersuppe gestürzt wie ein Schwarm Piranhas auf eine Kuh. Es schien ihnen gut zu schmecken. Als ich das Shirt wieder herausgenommen habe, haben sie alle ihre kleinen Nasen rausgestreckt und mir traurig hinterhergeguckt.« Er kicherte verzückt, sah auf seine Tupperdose und schien zu überlegen. »Ob sie wohl noch mehr möchten?«

»Das ist gut gemeint, Mann«, sagte Selkes. »Aber das ist hier das Gleiche wie mit den Enten auf dem Stadtparkteich. Fütterst du sie mit etwas anderem als dem, was sie normalerweise essen, dann geht’s so richtig los.« Er machte eine deftige Bewegung, die offenbar auf unerfreuliche Verdauungsprobleme hindeuten sollte.

Gigi schüttelte den Kopf.

Selkes sah kurz zu ihr. »Es ist die Wahrheit. Vater dreht mir den Hals um, wenn einer meiner Freunde seine Drachen mit fettiger Suppe füttert.«

»Ich nehme an, das war ein Nein?«, fragte Ödipus leicht verschnupft.

»Ja, sorry, Bro. Nimm es nicht persönlich. Die kleinen Viecher sind unheimlich empfindlich. Stell dir einfach vor, es sind Kindergartenkinder. In einem modernen Kindergarten gibt es auch nix mehr, was nicht laktose- und glutenfrei ist.«

Das schien Ödipus zu überzeugen. Er lächelte, stellte die Tupperdose sicherheitshalber zur Seite und sah dann neugierig auf die Schriftrollen. »Bahnbrechende Neuigkeiten?«

Wir weihten ihn ein. Ödipus nahm sich auch eine Schriftrolle und entrollte sie vorsichtig. Wir begannen zu lesen, während Evangéline und die fünf Sternenmäuse Ödipus' Tupperdose einer genaueren Inspektion unterzogen.

*

Etwa eine Stunde später blieben meine Augen an einem Wort hängen. So ganz hundertprozentig traute ich meinen Altgriechisch-Kenntnissen noch nicht, doch selbst eine Vermutung war schon erwähnenswert. Ich las das Wort noch mal. Hekate. Ganz eindeutig. Gerade hatte ich noch zerstreut das Bonbon, das eine unserer Küchenfrauen mir durch Jemma hatte zukommen lassen, auf meiner Handfläche hin und her gerollt, nachdem ich es durch Zufall in der Tasche meiner Jeans wiedergefunden hatte. Da bislang niemand »Hier!« geschrien hatte, war ich bereits ein wenig desillusioniert gewesen, dass wir in diesen Schriftrollen wirklich etwas Verwertbares finden würden. Doch jetzt steckte ich das Bonbon hastig zurück in meine Tasche.

»Ich glaube, ich habe etwas«, verkündete ich. »Möchte mal einer von den Göttern oder Halbgöttern überprüfen, ob hier wirklich Hekate steht?«

Selkes und Hermes sprangen gleichzeitig auf. Sie schauten mir rechts und links über die Schulter. Dann gesellten sich auch die anderen dazu.

»Bingo«, brummte Selkes und klopfte mir auf die Schulter. »Das sieht sehr gut aus.«

»Möchte jemand vorlesen?«, fragte ich. Irgendwie traute ich meinen neu erwachten Fähigkeiten noch nicht so ganz.

Selkes deutete mit einer kleinen Verbeugung auf Hermes, der sichtlich geschmeichelt seinen Stuhl zu mir heranzog. »Dann wollen wir mal.« Er überflog den Text, und anhand der Art, wie seine Hände plötzlich wieder zu zittern begannen, ahnte ich, dass wir hier auf etwas Großes gestoßen waren. »Das ist genau die Stelle, nach der wir gesucht haben.« Er klang ein wenig atemlos. »Nyx berichtet darüber, wie groß ihre Gewissensbisse sind, dass sie die ungeschriebenen Gesetze ihrer Gemeinschaft umgeht. Es ist von einem kleinen Jungen, einem Baby mit schwarzen Haaren und grauen Augen die Rede.« Hermes deutete mit dem Finger ganz aufgeregt auf ein paar Zeilen weiter unten. »Und hier schreibt sie, dass der Zufall ihr die Gebete einer jungen Frau zu Ohren kommen ließ. Es geht um eine Geliebte von Hades.« Hermes wippte vor lauter Nervosität auf dem Stuhl hin und her. »Mein Gott, wir haben es. Wir haben es wirklich.« Er sah uns der Reihe nach an. »Das hier ist ein Beweis. Es ist ein Originaldokument aus der Zeit, und die Handschrift von Nyx lässt sich auch eindeutig identifizieren. Sie beschreibt ihr gesamtes Gefühlsleben, aber auch alle Details dieser Vertauschungsaktion.« Er deutete auf eine Stelle in einer anderen Schrift. »Diese Passage ist von Hekate. Sie hat die Komponenten des Zaubers genau beschrieben.«

Nun war es Tiffy, die sich aufgeregt neben mich drängte. »Was soll das heißen?«

Hermes überflog den Text erneut. »Es ist der Zauber, der eure Attribute beschreibt. Solche Zauber sind eine gefährliche Angelegenheit, die viel Erfahrung bedarf. Aber wir können damit den Beweis liefern, dass Maél und Tiffy als Kinder vertauscht wurden.«

»Hermes, damit kannst du doch Maéls Gerichtsprozess stoppen, oder?«, fragte ich aufgeregt.

Wir alle sahen ihn erwartungsvoll an.

»Ich werde es versuchen.« Hermes rollte das Papyrusdokument sorgfältig zusammen. »Wollen wir noch weitersuchen oder gehen wir davon aus, dass es das ist?«

»Ich würde vorschlagen, du begibst dich sofort zum Olymp und legst die neuen Beweise vor. Je schneller, desto besser. Sollten wir in der Zwischenzeit hier noch etwas finden, können wir dich ja kontaktieren und du kannst es nachreichen. Seit ich weiß, dass die Zeit auf dem Olymp langsamer vergeht als bei uns, wird mir noch mal ganz anders, wenn ich an Maéls Lage denke. Also handeln wir bitte sofort.« Ich sah ihn bittend an.

Hermes war schon aufgestanden. »In Ordnung.« Er schnappte sich die Schriftrolle, griff nach seiner Lederjacke und sammelte seine Telefone ein. »Wünscht mir Glück.«

Wir kamen gerade noch dazu, ihm eine Verabschiedung zuzurufen, da stürmte er schon aus dem Zimmer. Wir sahen ihm alle nach. Doch trotz der guten Neuigkeit wagte es niemand, Maéls baldige Rückkehr fest einzuplanen.

*

Eine weitere Woche verging, und nichts geschah. Hermes hatte Zeus die Unterlagen vorgelegt, doch bisher hatte der Herrscher der olympischen Götter natürlich noch keine Zeit gefunden, sich unsere neuen Beweise anzusehen. Schließlich war er »sehr beschäftigt«. Meine Sorge um Maél wurde immer größer. Eine Woche auf der Erde bedeutete einen Monat auf dem Olymp. Maél war nun also schon über vier Monate in den Kerkern gefangen. Wenn ich daran dachte, wie schlecht Hermes nach seiner relativ kurzen Gefangenschaft schon ausgesehen hatte, krampfte sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Hermes war ein olympischer Gott und verfügte über weitaus größere Kräfte als Maél, der immerhin zur Hälfte menschlich war. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, in welcher Verfassung er sich befand.

In der Mittagspause saßen wir an einem der großen runden Tische am Rande der Mensa. Die Stimmung war gedrückt. Selbst Evangéline, die mich wie fast immer zur Schule begleitete, bewegte sich kaum unter meinem Shirt und schien traurig zu sein. Selbst Selkes' Sprüche konnten niemanden so recht aufheitern. Er hatte schon schulfrei und sich frecherweise in unsere Mensa geschummelt, um ein wenig mit Gigi zu knuddeln. Selbst das Pink von Tiffys Haarsträhnen wirkte blass und irgendwie ausgewaschen. Sie tippte mit dem Zeigefinger auf ihrer Hello-Kitty-Tupperdose herum und schien sogar noch deprimierter als ich. Jede Nacht hatte sie ihren Sternenstaub auf die Suche geschickt, doch die kleinen Raupen hatten keine Nymphen mehr aufspüren können. Jedenfalls bis jetzt nicht. So wie es aussah, würden wir auch hier keine weiteren Antworten bekommen. Das Einzige, was mich ein wenig tröstete, waren die Sonnenstrahlen, die mein Gesicht wärmten. Ich schloss die Augen nicht, sondern sah durch das Panoramafenster mir gegenüber direkt in den goldenen Feuerball am Herbsthimmel. Die Strahlen der Sonne kamen mir plötzlich besonders kräftig vor. Ich lächelte, als die Wärme wie ein sanftes Streicheln über meine Haut glitt.

»Wie kannst du nur direkt da hochgucken, ohne zu blinzeln?«

Ich wandte kurz den Blick ab und sah zu Jemma. Sie hatte eine Hand über die Augen gelegt. »Soll ich mal den Hausmeister bitten, dass er die Jalousien ein bisschen herunterfährt? Ich sehe meinen eigenen Teller nicht mehr.«

»Nein, bitte nicht«, sagte ich schnell und drehte mein Gesicht wieder der Sonne zu. »Es tut so gut.«

»Ich habe ja nichts gegen Sonnenlicht, aber wenn ich nur noch weiße Lichtblitze sehe, hört es irgendwie auf. Mach doch wenigstens die Augen zu, oder willst du blind werden?«

Ich schüttelte einfach nur den Kopf. Tiffy, die rechts neben mir saß, zog wortlos eine Sonnenbrille hervor und setzte sie sich auf. Der ganze Tisch lachte.

»Hast du zufällig noch eine?« Jemma lehnte sich an mir vorbei zu ihr.

Sie unterhielten sich weiter, doch ich hörte nicht mehr zu. So schön, dachte ich und sah wieder hoch zum Himmel. Leider würde mein Vergnügen jedoch bald ein Ende finden. Eine dunkle Wolke wanderte auf die Sonne zu. Draußen war es trotz des schönen Wetters stürmisch. Blätter wirbelten umher, und Wolkenfetzen jagten fast wie auf einer Autobahn über den Himmel. Oh nein, dachte ich. Verschwinde. Ich brauche die Sonne doch. Ich sah hinauf zum Himmel. Im nächsten Moment schien die Sonne noch ein wenig heller zu werden, und die Wolke wich ihr aus, als hätte sie nie vorgehabt, ihren Weg zu kreuzen. Ich riss die Augen noch weiter auf. Was war denn nun passiert? Schon wieder näherte sich ein Wolkenfeld. Es war noch ein Stückchen entfernt, und deshalb beschloss ich, die letzten Sonnenstrahlen so gut wie möglich zu nutzen. Ich ließ die Wärme durch meine Haut dringen. Mittlerweile war mir das Gefühl vertraut, auch wenn ich es nie direkt auf die Sonne bezogen hatte. Diese Wärme, die sich in meinem Inneren ausbreitete, wenn ich Kraft brauchte. Das Gefühl von Zuversicht und Mut. Ich hielt meinen Blick fest auf den Feuerball am Himmel gerichtet. Meine Pupillen zogen sich so sehr zusammen, dass ich es als Stich in meinen Augen spürte. All die feinen Härchen auf meinen Armen richteten sich auf. Die Wolken kamen näher. Nein, dachte ich. Keine Wolken. Noch mehr Sonne … bitte, dein Strahlen tut mir so gut. Wieder schien es, als würde die Sonne für einen kurzen Moment noch heller strahlen. Die Wolken zerstoben wie Nebel. Ich presste beide Handflächen flach auf den Tisch und hielt für einen Moment die Luft an. Einmal hätte es Zufall sein können, aber zweimal?

»Was passiert eigentlich, wenn die ganze Geschichte aufgeklärt wird?«, fragte Selkes ziemlich laut in die Runde.

Ich erschrak und wandte meinen Blick vom Himmel ab. »Wie bitte?«

»Was passiert denn, wenn die ganze Geschichte rund um die vertauschten Kinder geklärt wird? Tiffy, ziehst du dann zum Beispiel in die Unterwelt?«

Tiffy wand sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. »Ich weiß es nicht. Das kann ich mir eigentlich gar nicht vorstellen. Ich bin den Himmel gewöhnt. Diese unendlichen Weiten, die Stille, das leise Singen der Sternbilder. Glaubst du, Maél würde es am Himmel gefallen?« Sie sah mich an.

»Ich weiß gar nicht, wie er da hinkommen soll. Soweit ich weiß, hat er keine Flügel.«

»Benutzt du denn deine Flügel, um zum Himmel zu kommen? Sieht man dich dann nicht ständig?« Gigi hatte neugierig den Kopf schief gelegt.

»Ich benutze die Flügel schon, aber sobald ich in die Luft abhebe, bin ich für menschliche Augen nicht mehr sichtbar. Die Geschwindigkeit ist einfach zu groß.«

»Könnt ihr euch Maél mit Flügeln vorstellen?« Jemma legte ihr Besteck zur Seite. »Ich meine, er kann so schon furchteinflößend genug sein. Stellt euch vor, er hat auch noch Flügel.«

»Nicht alle Götter, die am Nachthimmel leben, haben Flügel«, erklärte Tiffy. »Eigentlich sind es eher Attribute der Unterweltgötter.«

»Also mehr so Richtung Drachen und so?«, fragte Selkes.

»Dämonen. Aber im Prinzip hast du recht. Nyx zum Beispiel besitzt keine Flügel. Doch wie gesagt, es gibt auch Götter am Nachthimmel, die Flügel besitzen. Von daher ist es nicht ungewöhnlich, dass Kinder von Göttern der Nacht auch mit Flügeln geboren werden.«

»Wie kommt er denn ohne Flügel da rauf?« Selkes hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und beide Arme hinter dem Kopf verschränkt. Zum Glück war es in der Mensa so laut, dass wir keine ungebetenen Lauscher hatten. »Bei uns ist es ja so, dass alle Fluss- und Meeresgötter einen Fischschwanz haben. Der erscheint nicht automatisch, wenn wir mit Wasser in Berührung kommen, wir können also auch baden und ins Freibad, ohne mit der Fischnummer alle zum Kreischen zu bringen …« Er grinste, und Gigi verdrehte die Augen. »Andererseits gibt es keine Wassergötter, die keinen Fischschwanz besitzen. Versteht ihr?«

Ich war mir nicht ganz sicher, was er uns damit erklären wollte.

»Nicht alle Kinder von Zeus können Blitze werfen. Viele haben diese Kraft, manche haben aber auch einfach nur Macht über Unwetter, die ganz ohne Blitze auskommen.« Tiffy nahm die Sonnenbrille ab und legte sie ordentlich vor sich auf den Tisch.

Wir alle nickten, aber schlauer waren wir trotzdem nicht. Wir spekulierten nur.

»Aber noch mal zurück zum Thema«, sagte Selkes.

Jemma neben mir seufzte. Offenbar waren alle außer Selkes das Raten leid.

»Stellt euch vor, das Ganze wird aufgelöst und Maél will seine Mutter besuchen. Sollte sie wieder auftauchen.«

Tiffy neben mir schluckte deutlich hörbar.

»Wie kommt er dann hoch an den Nachthimmel?«

»Er ist doch bei Hades aufgewachsen«, sagte ich. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Hades mit ihm automatisch die Unterweltgötter-Kräfte trainiert hat: Dunkelheit heraufbeschwören, mit Feuerbällen schmeißen und so weiter und so fort. Er wird doch sicherlich nicht spezifische Fähigkeiten der Nachtgötter mit ihm trainiert haben. Wer sagt uns also, dass Maél nicht über Kräfte verfügt, von denen er gar nichts weiß? Weil sie einfach nicht ausgebildet wurden. Weil er noch nie auf die Idee gekommen ist, dem Tempel der Nacht einen Besuch abzustatten. Vielleicht besitzt er diese Kräfte und erkennt ihre Macht, wenn er sie nutzen will. Versteht ihr, was ich meine? Manch einer weiß zum Beispiel gar nicht, dass er ein Talent für Zahlenrätsel hat, weil er am liebsten nur Belletristik liest.«

»Das leuchtet ein«, brummte Selkes.

Tiffy lächelte. »So habe ich das noch gar nicht gesehen. Aber das könnte wirklich stimmen. Wer weiß, was ich noch für coole Unterweltkräfte an mir entdecke?«

Der ganze Tisch fing an zu spekulieren, was für fürchterlich-schauerliche Kräfte Tiffy an sich entdecken würde, sollte sie der Unterwelt tatsächlich mal einen Besuch abstatten. Irgendwann drifteten meine Gedanken wieder ab, und ich wandte den Kopf hinauf zum Himmel. Der Schein der Sonne hüllte mich ein wie ein angewärmtes Badehandtuch. Ich neigte leicht den Kopf. So schön …

»Und dann hat er voll die krasse Bluttransfusion bekommen. Das war so krass. Wie das ganze Blut in ihn hineingelaufen ist!«

Ich drehte den Kopf zur Seite und erhaschte einen Blick auf drei Jungs aus der Neunten, die sich mit ihren Tabletts hinter mir aufgestellt hatten und darauf warteten, dass ihr Tisch frei wurde.

»Marc, verdammt, kannst du aufhören zu spoilern? Ich hinke total hinterher, seit meine Mutter die Donnerstagsabende zu ›Spielabenden mit der Familie‹ ausgerufen hat. Also halt den Rand oder das hier wird hässlich.«

Nun fiel der Dritte noch ein. »Mann, die Szene musst du dir unbedingt mehrfach angucken. Er war danach wie ausgewechselt. Ich meine, der Typ war vorher die totale Flachzange, und jetzt ist er voll der Superheld. Und dann das ganze Blut!«

Der Junge befand sich wohl im Stimmbruch, denn seine Stimmlage wechselte zwischen tief und einem kindlich hohen Gekreische. »Das war so mega krass.«

Ich wollte gerade überlegen, ob das Thema »Bluttransfusionen« unbedingt das beste Thema fürs Mittagessen war, als mir ein überwältigender Gedanke kam. Wieder sah ich hoch zum Himmel. Die Sonne schien unter meinem Blick leicht zu brodeln. Mehr, dachte ich. Noch mehr, noch mehr! Das Strahlen wurde heller. Um mich herum fingen die Leute an, die Hände über die Augen zu legen. Irgendjemand sprang auf, und es fielen die Worte »Hausmeister« und »Sonnenblenden«. In unserer hochmodernen Schule ließen sich die Sonnenblenden nur per Fernbedienung bedienen. Und über die wachte der Hausmeister.

Bluttransfusion. Das Wort hallte in meinem Kopf wider. Irgendetwas war passiert. Irgendwie fühlte ich mich wie magisch angezogen von dem Feuerball am Himmel. Irgendwie fühlte sich die Sonne plötzlich an wie ein Teil von mir. Wie ein Funken, der sich tief in mir verwurzelt hatte und nun zu einem Feuer anwuchs. Bluttransfusion. Ich schob die Ärmel meiner Strickjacke hoch. Die Wunden, die das Rankenarmband und das Efeu hinterlassen hatten, waren komplett verheilt. Doch seitdem fühlte ich mich verändert, und so langsam konnte ich das nicht mehr ignorieren. Vor meinem inneren Auge sah ich meine Handabdrücke im Metall von Maéls Schreibtisch. Die Hitze, die in meinen Fingern prickelte, war real. Ich dachte an die Situation mit Carly. Dachte daran, wie ich sie einfach weggeschickt hatte. Wie sie mir gehorcht hatte. Ich dachte an die vielen anderen kleinen Situationen, in denen ich mir inbrünstig etwas gewünscht hatte, und es war genau so geschehen. Aber ich glaubte nicht an Zauberei. An die Kunst, Leute mental zu beeinflussen. Gehörte das nicht in die Welt der Fantasie? Doch was in meinem Leben gehörte plötzlich nicht mehr in die Welt der Fantasie?

Wieder sah ich hoch zur Sonne. Hör auf. Weniger, weniger, wir werden uns verraten … Ein dickes Wolkenband schob sich vor die Sonne, und um mich herum hörte ich erleichtertes Geseufze, als alle ihre Arme sinken ließen.

»Na endlich«, brummte Jemma. »Diese tief stehende Herbstsonne ist echt kaum zum Aushalten.«

Sonne und Zauberkraft. Sonne und Zauberkraft. Ich sah starr geradeaus ins Nichts. Zwei Namen tanzten vor meinem inneren Auge. Zwei Namen, die mir schrecklich vertraut vorkamen. Zwei Namen, die in Verbindung zu Agada standen. Der Frau, mit der ich mein Blut geteilt hatte. Was war in den Katakomben wirklich geschehen? Ich betrachtete meine Hände. Nicht aufregen, dachte ich, jetzt bitte nicht aufregen. Trotzdem fühlte ich, wie Wärme in meinem ganzen Körper explodierte. Ganz vorsichtig berührte ich die Plastiktischplatte. Sofort sank mein Finger ein Stück darin ein. Ich erschrak, und die Wärme erlosch, als hätte jemand die Flamme einer Kerze erstickt. Um mich herum unterhielten sich die anderen quer über alle Tische hinweg, weil eine der Jalousien offenbar klemmte. Sie gab mechanisch quietschende Geräusche von sich, was ausreichte, um einer gesamten Mensa voller Schüler ein Unterhaltungsprogramm zu bieten.

Hekate und Helios. Agada hatte von beiden Kräfte besessen. Hekate, die mächtige Göttin der Zauberkraft. Hekate, mit ihren Kräften, die so groß waren, dass sie sogar andere Götter täuschen konnte. Und Helios, der Sonnengott, der auf seinem feurigen Wagen über den Himmel ritt. Helios, der die Kraft der Sonne in sich trug, ihre positive Energie, ihr Feuer, ihr Strahlen. Hermes' Worte fielen mir wieder ein: Du hast von innen heraus gestrahlt. Die Situation mit Mrs Lewitzky lief wieder von meinem inneren Auge ab wie ein Film. Nein, nicht ich, hatte ich sie beschworen, als ich meine nicht angefertigten Hausaufgaben vorlesen sollte. Mrs Lewitzky war einen Moment wie erstarrt gewesen, dann hatte sie sich zu Gigi gedreht, als hätte sie meine Anwesenheit komplett vergessen. Konnte das wirklich sein? Konnte Agada mir ihre Kräfte vermacht haben? Hatte sie mir ihr schreckliches Erbe weitergegeben? Sofort fielen mir sämtliche Horrorgeschichten ein, die Maél mir zu Agadas Schicksal erzählt hatte. Ihre Angst, ihre Verzweiflung, ihre ungewollte Macht, durch die geerbten Kräfte zweier Götter an der Seite von Hades die Weltherrschaft an sich reißen zu können. Hatte ich unbewusst ihr schreckliches Erbe angetreten? Hatte ich ihre beiden Kräfte geerbt? Würde ich nun, genau wie Agada, in ewiger Angst vor Hades und seinem Nachwuchs leben müssen?

Ich sprang auf. »Leute, ich muss mal eben aufs Klo.« Während ich davonstürzte, sah ich auf mein Handy. Keine neuen Nachrichten von Hermes. Ich unterdrückte ein Schluchzen. Ich brauchte Maél. Er würde wissen, was zu tun wäre. Agada und er hatten sich so gut gekannt.

Ich musste Hermes anrufen, jetzt sofort. Da ich in den Toilettenräumen zu viele Zuhörer fürchtete, lief ich hinaus in Richtung des Sportplatzes. Dort war zwar aufgrund des schönen Herbstwetters auch viel los, aber die Gefahr, dass man mich belauschte, war wesentlich geringer. Ich verzog mich an einen Platz unweit der Ausgänge der Umkleidekabinen und hatte so einen guten Ausblick auf die Tribünen und den dahinterliegenden Sportplatz. So würde ich sehen und hören, sollte sich mir jemand nähern.

Als die Luft rein war, suchte ich Hermes' Nummer heraus. Mittlerweile besaß ich sogar zwei seiner schwer geheimen Telefonnummern. Auf beiden erreichte ich ihn nicht. Verdammt. Ich ließ das Handy sinken. Hermes hatte bei mir eindeutig irgendwelche seltsamen Kräfte bemerkt, was bedeutete, dass andere Götter das auch bemerken würden. Sogar Enko hatte irritiert und überrascht gewirkt, aber nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Ich erinnerte mich an die rot verfärbte Haut an seinem Kinn und die Blasen, die sie geworfen hatte. Mir wurde klar, dass ich Enko tatsächlich einen Sonnenbrand verpasst hatte. Nur mit der Kraft meiner Hände.

Ein Schauer lief durch meinen Körper, und wieder ließ ich mein Handy Hermes' Telefonnummern anwählen. Erfolglos. Immer sprangen nur die Mailboxen an. Doch ich wollte ihm keine Sprachnachricht schicken. Schließlich konnte ich nicht wissen, wer gerade neben ihm stand und zuhörte. Hermes war in letzter Zeit so viel auf dem Olymp unterwegs gewesen, dass ich befürchtete, er könnte die Nachricht mitten in irgendeiner Art diplomatischer Verhandlung abhören. Keine Ahnung, was dann passieren würde.

Ich ließ das Handy sinken und lehnte mich an die kühle Wand des Schulgebäudes. Götterkräfte! Ich konnte es nicht fassen. Sollte ich wirklich richtig liegen, wäre das eine absolute Ungeheuerlichkeit. Nicht nur, dass ich eine Nymphe war, war ich nun etwa unbemerkt zu einer Halbgöttin geworden? Ich sah auf meine Hände, die immer noch genauso aussahen wie vorher. Wie konnte Agada es nur zulassen, mir so ein Erbe aufzubürden? Ob sie es absichtlich getan hatte? Ich erinnerte mich an ihre geflüsterten Worte. Vertraue auf die Schicksalsgöttinnen, so wie ich ihnen vertraue. Agada hatte die Verantwortung für ihr Tun abgegeben. An Göttinnen, die ich weder kannte noch von deren Existenz ich bisher irgendetwas mitbekommen hatte. Vermutlich waren sie genauso verschollen wie Hekate oder hatten sich komplett von der Gemeinschaft abgewandt wie die meisten der Götter, die noch älter waren als das olympische Geschlecht. Super. Ich würde mal wieder richtig leicht an Antworten kommen.

Mit der freien Hand tastete ich die Taschen meines Rocks ab. In dem weit schwingenden Modell mit den vielen großen Falten fiel es mir gar nicht leicht, die Taschen auszumachen. Dann endlich war ich erfolgreich. Ich fand meine Honiglippenpflege. Zum Glück besaß ich unzählige Töpfchen davon, die ich in praktisch jedem Kleidungsstück mit mir herumtrug. Ich öffnete es und hielt es mir unter die Nase wie ein Riechsalz. Tief sog ich den Honigduft in meine Nase.

Ruhig bleiben, ganz ruhig bleiben. Bisher hat niemand die richtigen Schlüsse gezogen, nicht mal du selbst. Es wird schon nicht so sein, dass im nächsten Moment Hades erscheint und dich verschleppt, um dich zu zwingen, deine Kräfte mit ihm zu bündeln und die Götter- und Menschenwelt zu bedrohen. Niemand weiß davon. Verhalte dich einfach ganz normal, so lange, bis du die Chance bekommen hast, mit Hermes zu reden. Er wird einen Rat wissen. Er ist der Götterbote, er ist das diplomatische Ass in unserer Gang. Er ist der Älteste von uns, der Weiseste, derjenige, der am ehesten einen kühlen Kopf bewahrt. Er wird sich melden, er wird zurückrufen, er wird dich nicht hängen lassen. Und bis dahin wirst du einfach so tun, als wäre nichts geschehen.

Ich holte lange und tief Luft, immer wieder, bis mein Puls sich irgendwann in einem angenehmen Bereich befand. Seufzend lehnte ich mich zurück an die Mauer. Meine Sehnsucht nach Maél war plötzlich wieder so groß, dass ich für einen kurzen Moment die Augen schloss. Wenn er doch bloß an meiner Seite wäre. Wenn ich ihn endlich wieder in den Arm nehmen könnte. Der Gedanke, dass er auf dem Olymp genauso litt wie Hermes, ließ mich erzittern. Er war verwundet, und nun hatte er niemanden mehr, der sich um ihn kümmerte. Mein Inneres krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ich musste es einfach schaffen, dass man ihn freiließ. Ich war die Einzige, die ihm bedingungslos glaubte. Ich würde ihn niemals aufgeben. Zeus, dieser arrogante Kerl, hatte sich mehr oder weniger über uns lustig gemacht und Hermes und mich nicht wirklich ernst genommen. Vor Wut ballte ich die Hände zu Fäusten. Das Bild von Zeus tauchte vor meinem inneren Auge auf. Selbstgefällig, gelangweilt, überheblich. Ich ballte meine Fäuste noch etwas fester. Ein scharfer Schmerz durchfuhr mich, doch ich achtete nicht darauf, sondern konzentrierte mich auf meine Wut über Zeus.

Lass ihn frei. Ich dachte die Worte so inbrünstig, dass ich sie in meinem Kopf hörte wie meine eigene Stimme. Dann sah ich Zeus, wie er vor den Fernsehern saß und sich den Bauch kratzte. Ich meinte sogar, den hölzernen Rahmen einer Standleitung zu sehen, doch er war so durchsichtig, als würde er nur aus Rauch und Nebel bestehen. Lass ihn frei, Zeus, lass ihn gehen. Entlasse ihn aus dem Gefängnis, damit ich mich um ihn kümmern kann. Gemeinsam werden wir dir schon beweisen, dass Maél niemals böse Absichten hatte. Lass ihn frei, lass ihn endlich frei … Zeus hob den Kopf ruckartig. Er schaute in meine Richtung, doch er schien mich nicht sehen zu können. Seine Augen wirkten glasig. »Maél …« Er flüsterte seinen Namen. »Ich muss …«

Dieses Mal war der Stich so heftig, dass mir ein Schmerzenslaut entkam. Das Bild verschwand. Ich zuckte zusammen und betrachtete meine linke Handfläche. Zuerst konnte ich mir den Schmerz nicht erklären. Es hatte sich angefühlt, als hätte ich einen Stachel in der Handfläche stecken. Doch da war nichts zu sehen. Ich hob die Hand und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Etwas schimmerte hell und irisierend wie Perlmutt. Es sah aus wie der Splitter einer Muschel, der unter meine Haut gedrungen war. Warum hatte ich ihn nicht bemerkt? Und wo kam er …

Ich holte scharf Luft. Die Standleitung bei Nereus. Das Telefon hatte sich in eine Muschel verwandelt. Als sie zerbrochen war, musste sich ein scharfer Splitter des Perlmutts unter meine Haut gebohrt haben. War dieser Splitter dafür verantwortlich, dass ich Zeus noch mal vor mir gesehen hatte? Nun konnte ich mitansehen, wie das Schimmern verschwand. Sekunden später war meine Haut makellos, nicht mal ein Fleck blieb zurück. Was war da gerade passiert? Hatte ich mir die Szenen vielleicht nur eingebildet, weil ich so sauer auf Zeus war? Ich starrte auf meine Hand. Wie konnte das sein?

Dann war da etwas, das Echo einer Erinnerung, und ich sah auf meine andere Hand. Zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hatte ich immer eine kleine weiße Narbe besessen. Die Katze einer Freundin hatte mich dort mal mit einer Kralle erwischt, und die Wunde hatte sich entzündet. Meine Hand war dick angeschwollen, und ich hatte sogar Antibiotika nehmen müssen. Die Narbe hatte mich immer gestört, weil sie ein wenig auflag. Ich untersuchte meine Hand und dann zur Sicherheit noch die andere, falls mein Verstand mir einen Streich gespielt haben sollte. Die Narbe war verschwunden. Die Haut schien makellos glatt. Ich ließ beide Hände sinken. Die Narbe war verschwunden, genau wie bei Maél alle Wunden, die er sich im täglichen Leben zuzog, innerhalb weniger Tage komplett verheilt waren. Übernatürlich schnell, göttlich schnell. Ich tastete nach der Stelle, an der mir mal ein Ohrring ausgerissen war beim Sport. Ich hatte die kleine harte Stelle am Ohrläppchen immer noch unter der Haut spüren können. Doch auch hier war nichts mehr zu ertasten als zarte weiche Haut.

Ich war schon wieder versucht, nach meiner Lippenpflege zu suchen. Alle meine Narben waren verschwunden. Wieso war mir das nicht eher aufgefallen? Aber wenn meine Narben verschwanden, bedeutete das dann etwa …? Der Gedanke war so abstrus, dass sogar dieser seltsame Zwischenfall mit dem Muschelsplitter in den Hintergrund rückte. Die Seelen von Halbgöttern waren unsterblich. Deshalb heilten ihre Körper schneller und effizienter und behielten keine Narben zurück. Mir wurde heiß und kalt zugleich. War ich nun etwa auch unsterblich und würde immer wiedergeboren werden?

»Hier bist du!« Jemma kam auf mich zugelaufen. »Du hast die Zeit vergessen, Mäuschen. Politik geht jetzt los.« Sie hatte meinen Rucksack dabei. »Ist alles okay?«

Ich brauchte einen Moment, um zu reagieren. Das war gerade etwas zu viel auf einmal.

»Alles okay?«

»Ja.« Ich nickte fahrig.

»Wirklich?«

»Ich erreiche Hermes nicht, muss aber unbedingt mit ihm sprechen.«

Jemma hielt mir meinen Rucksack hin. »Ist etwas mit Maél?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, mit mir.«

Ich fing Jemmas forschenden Blick auf. Ihr konnte ich vertrauen. Sie würde mich nicht verraten. Und ganz gewiss hatte sie kein Interesse an irgendwelchem Machtgerangel der Götter. Ich schluckte einmal, dann sah ich ihr fest in die Augen.

»Ich glaube, Agada hat mich zu einer Halbgöttin gemacht. Und ich glaube, ich benutze meine Kräfte schon intuitiv.«

Einen Moment lang erwiderte Jemma überhaupt gar nichts. Ich sah, wie ihr Verstand arbeitete. »Aber sie hat dich nicht zu der Halbgöttin gemacht, die der ganze Hades-Clan in die Finger bekommen wollte, um mit ihrer Hilfe die Welt zu kapern?«

»Doch, das hat sie.«

Jemma sah sich um, als rechnete sie jeden Moment mit einem Angriff. »Das darf doch wohl nicht wahr sein«, flüsterte sie. »Los, komm rein ins Gebäude. Herrgott, warum ist Hermes nie zu erreichen, wenn man ihn braucht? Wir machen jetzt einfach alles genau wie zuvor. Hier in der Schule, im Unterricht bist du sicher. Was soll schon groß passieren? Wir gehen jetzt zu Politik und tun so, als wenn alles ganz normal wäre. Weiß es irgendjemand?«

Wir liefen los.

»Ich glaube nicht. Ich habe es ja selber gerade erst kapiert. Ich meine, Enko hat irgendetwas gemerkt, er hat so ein paar komische Bemerkungen gemacht. Aber ich bin mir sicher, er weiß es nicht. Nicht wirklich. Hermes hat konkreter nachgefragt, vermutlich weil er älter und erfahrener ist. Deshalb wollte ich jetzt auch mit ihm sprechen. Bevor ich hier Panik verbreite, verstehst du?«

»Das ist sicherlich eine gute Idee, aber trotzdem solltest du versuchen, alles so normal wie möglich weiterlaufen zu lassen. Vielleicht sind es auch nur noch Nachwirkungen.«

»Wir haben unser Blut geteilt«, sagte ich. »Ich habe immer angenommen, sie hätte sich für mich geopfert, weil sie doch irgendwie sterben wollte. Sie hat die Chance ergriffen, sich selbst zu erlösen und gleichzeitig noch etwas Gutes zu tun, indem sie mich wiederbelebt. Das dachte ich, doch jetzt bin ich echt skeptisch.«

Wir liefen durch den langen Gang und die Treppe hinauf in den ersten Stock.

»Ich habe keine Veränderung an dir bemerkt«, sagte Jemma. »Und da es auf dieser Schule zum Glück nur eine andere Halbgöttin gibt …«

»Ach ja, Tiffy … richtig. Tiffy hat ebenfalls etwas bemerkt, aber auch sie konnte es nicht genau benennen.«

Jemma blieb abrupt stehen. »Tiffy ist eine Tochter von Hades«, sagte sie tonlos.

Ich sah sie an. »Stimmt, Tiffy hätte dadurch die Macht, mich für ihre Zwecke zu benutzen. Aber sie ist auf unserer Seite. Sie wird mir nichts tun.«

Nein, das wollte ich nicht glauben.

»Und wenn es ist wie mit Vampiren? Sie sind die ehrenwertesten und nettesten Freunde, und dann sehen sie plötzlich einen blutenden Finger und ticken total aus. Weißt du, was ich meine? Was, wenn sie die Gelegenheit erkennt und einfach ihre menschliche Seite komplett vergisst?«

»Tiffy ist nicht als Hadestochter erzogen worden. Sie weiß vermutlich nicht mal von der Macht dieser Konstellation. Nein, ich glaube nicht, dass Tiffy mir so etwas antun würde, selbst wenn sie davon wüsste.«

»Und was ist, wenn ihr skrupelloser Daddy sagt, dass er sie nicht umbringt, wenn sie sich dich schnappt und ihm zuliebe die Welt in Schutt und Asche legt? Quasi als Feuerprobe zur ordentlichen Hadestochter?«

Ich schüttelte immer noch energisch den Kopf. »Nein, hör auf damit. Du machst mir ja noch mehr Angst, als ich sowieso schon habe.«

»Sorry. Diese Neuigkeit hat mich irgendwie umgehauen.« Jemma legte einen Arm um mich, aber eigentlich mehr, um mich weiterzuziehen, denn es hatte schon zum zweiten Mal geklingelt. Wir mussten dringend zusehen, dass wir in unseren Politik-Kursraum kamen.

»Belassen wir es dabei«, meinte Jemma. »Du verhältst dich genauso normal wie vorher und wartest darauf, dass Hermes sich zurückmeldet. Er geht vermutlich davon aus, dass wir zu dieser Tageszeit im Unterricht sitzen. Wir sagen Tiffy erst mal gar nichts, heute haben wir sowieso keinen Unterricht mehr mit ihr. Nur Gigi ist noch bei uns im Kurs. Sie weihen wir ein, während du versuchst, möglichst ruhig und unauffällig zu bleiben. Tiffy bleibt außen vor. Es tut mir leid für sie, aber ich würde es als reine Vorsichtsmaßnahme betrachten.«

»Okay.«

Jemma reagierte immer so rational und vom Verstand gelenkt, dass ich mich in diesem Moment einfach auf sie verließ. Ich war viel zu durcheinander, um meinen eigenen Entscheidungen in diesem Moment zu trauen.

Wir betraten den Kursraum, und Mr Hallmark warf mir einen bösen Blick zu, als er mein Handy sah. Mr Hallmark war ein erklärter Handygegner. Ein kurzer Blick aufs Display in seinem Unterricht und man riskierte einen Verweis und langes Nachsitzen. Schnell steckte ich das Telefon in die vordere Tasche meines Rucksacks und zog den Reißverschluss energisch zu. Mr Hallmark nickte wohlwollend, während ich auf meinen Platz glitt. Dann schloss ein anderer Schüler die Tür, und die Stunde ging los.

Die Gedanken in meinem Kopf drehten sich um alles, nur nicht um Politik. Wie sollte ich es bloß aushalten, eine Stunde lang nicht auf mein Handy zu sehen?

*

Jemma hatte es irgendwie geschafft, Gigi noch während der Unterrichtsstunde per Zettelchen auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. Sie hatte immer wieder völlig perplex an Jemma vorbei zu mir gesehen. Ich hatte jedes Mal nur hilflos die Schultern gezuckt. Mr Hallmark ermahnte Gigi, als er sie dabei erwischte, wie sie wild zu mir herüber gestikulierte. Daraufhin beschränkten wir uns auf eindeutige Blicke, denn Mr Hallmark war nicht nur ein Handygegner, sondern auch ein Choleriker. Eine Standpauke von ihm wollte sich niemand anhören müssen. Außerdem wurde in dieser Schule wegen jeder Kleinigkeit bei den Eltern angerufen. Und da meine Eltern immer noch an dem altmodischen Erziehungsmodell mit Namen »Hausarrest« festhielten, wollte ich einen Verweis nicht riskieren. Immerhin hatte die Schule schon mal bei mir zu Hause angerufen. In meiner vorherigen schulischen Laufbahn war ich nie mit Lehrern aneinandergeraten, geschweige denn, dass sich irgendjemand bei meinen Eltern über mich beschwert hätte, und ich wollte kein zweites Mal unangenehm auffallen. Meine Eltern würden die Welt nicht mehr verstehen und mich sicherheitshalber überhaupt nicht mehr aus dem Haus lassen. Jacques würde mich wieder zur Schule kutschieren und abholen wie ein Baby. Es hatte mich ziemlich viel Mühe gekostet, meine Eltern zu überzeugen, dass ich in Paris gefahrlos mit der U-Bahn zur Schule fahren konnte, ohne dass ich verloren ging.

Es hatte bereits geklingelt, doch Mr Hallmark überzog gerne. Er dozierte stoisch weiter und beobachtete die Klasse mit Argusaugen, nur um jemanden dabei zu ertappen, dass er ihm nicht einhundert Prozent seiner Aufmerksamkeit schenkte. An der Internationalen Schule waren die Klassen so klein, dass man das als Lehrer mühelos hinbekam. Endlich klappte er sein Buch zu. »Wir sehen uns nächste Woche.«

Damit waren wir entlassen. Und fast zu knapp dran, um noch die Etage zu wechseln. Zu knapp, um pünktlich zur letzten Doppelstunde des Tages beim schönen Henry zu sitzen, unserem modelmäßigen Biologielehrer Mr Rogers.

Erst auf dem Gang kam ich dazu, die Fronttasche zu öffnen und mein Handy hervorzukramen. Gigi neben mir plapperte atemlos über die unglaublichen Neuigkeiten zum Thema »Halbgöttin«, doch mein Blick blieb wie paralysiert am Display meines Handys hängen. Fünf verpasste Anrufe von einer unbekannten Nummer. In diesem Moment klingelte das Handy erneut.

»Hallo?«

Keine Antwort. Ich presste das Handy noch näher ans Ohr. Das Gemurmel und Gelächter meiner Mitschüler im Gang kam mir unendlich laut vor.

»Livia«, war alles, was er sagte. Seine Stimme klang heiser, rau und viel zu weit entfernt. Doch ich erkannte sie sofort. Dann brach ich in Tränen aus. Ich presste meine freie Hand vor den Mund, meine Schultern bebten. Sofort waren Gigi und Jemma neben mir.

»Es geht mir gut«, sagte Maél. »Es geht mir gut.«

Ich konnte immer noch nicht sprechen, stattdessen schluchzte ich in meine geballte Faust.

»Ich habe mir gerade dieses Handy gekauft und bin auf dem Weg zu deiner Schule.«

Ungläubig ließ ich die Faust sinken. »Ich komme dir entgegen. Jetzt sofort.«

»Ich komme aus Richtung der Station ›Bonne Nouvelle‹. Bis gleich.« Er legte auf.

Ich stand wie gelähmt da. Mein Herz dröhnte dumpf in meinen Ohren. Bitte lass das hier kein Traum sein.

»Was ist denn los?« Gigi schüttelte mich leicht. »Was ist passiert?«

Ich erzählte es ihnen.

»Du solltest dich vorsehen«, gab Jemma zu bedenken. »Was, wenn es eine Falle ist? Was, wenn sie ihn gezwungen haben, das zu sagen? Wenn er es gar nicht ist? Was, wenn doch jemand mitbekommen hat, dass du jetzt diese besondere Halbgöttin geworden bist?«

»Das glaube ich nicht.«

Ich hatte keine Angst, und meine Sehnsucht nach Maél war sowieso größer als alles andere. Für ihn würde ich mich in jede Gefahr stürzen.

Gigi und Jemma wirkten immer noch nicht überzeugt. Jemma sah mich eindringlich an. »Es ist echt toll, dass er frei ist. Aber wenn er zur Schule kommt, könntest du doch auch in deinen letzten Unterricht gehen. Du darfst nicht einfach fehlen. Oder melde dich wenigstens im Sekretariat ab. Sag, dir ist schlecht geworden oder was weiß ich.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss jetzt gehen, ich muss ihn sehen, sofort.«

Die beiden schienen zu begreifen, dass mit mir nicht mehr zu verhandeln war. Gigis Blick war deutlich resigniert.

»Gut, dann können wir dir ab diesem Punkt nicht mehr helfen.«

»Es ist lieb, dass ihr euch Sorgen macht, aber ich glaube nicht an eine Falle. Ich muss ihn sehen. Jetzt sofort.«

Sie gaben den Weg frei. »Halt uns auf dem Laufenden …«, rief Gigi hinter mir her, »und bitte pass auf!«

Ich drehte mich noch einmal um. »Das mache ich.« Dann stürmte ich die Treppe hinunter Richtung Ausgang. Ich machte keinen Halt an meinem Spind, was bedeutete, dass haufenweise schwere Schulbücher an meinen Schultern hingen. Doch ich merkte nichts davon. Ich lief die Straße hinunter in Richtung der Metrostation, von der Maél erzählt hatte.

Wieder gab mein Handy einen Ton von sich. Eine neue Nachricht von Hermes: Maél ist überraschend auf Kaution freigekommen. Der Prozesstermin steht jedoch weiterhin.

Ich antwortete nicht, sondern steckte das Handy schnell weg, um meine Schritte wieder zu beschleunigen. Es war früher Nachmittag, und auf den Straßen war es nicht sonderlich voll. Die meisten Schüler waren noch in der Schule, die meisten Angestellten saßen noch brav hinter ihren Schreibtischen in ihren Büros. Ich sah ein paar Mütter mit ihren Kinderwagen und ein paar Rentner, die auf Bänken in der Sonne saßen. Meine Gedanken rasten. Sollte ich wirklich Zeus mental beeinflusst haben? War der Splitter in meiner Hand unsere Rettung gewesen? Nur durch ihn hatte ich Blickkontakt zu Zeus herstellen und ihn beeinflussen können. Was für eine glückliche Fügung des Schicksals. Was für …

Und dann sah ich ihn.

Alle Furcht, alle Anspannung schien wie ein Knoten zu platzen. Meine Gedanken an meine neuen Kräfte verstummten schlagartig, meine Angst vor Zeus und den möglichen Konsequenzen rückte in den Hintergrund.

Er war es wirklich. Er war allein, es war keine Falle.

Auch Maél hatte mich entdeckt und kam mit schnellen Schritten auf mich zu.

Dann begann er zu rennen.