Kapitel 17

Showtime

Um 20 Uhr trafen wir uns alle wieder in unserer Einsatzzentrale. Es stellte sich heraus, dass wir alle fünf von den roten Kügelchen des Usurpators hatten Gebrauch machen müssen. Neben der Angst, wie diese Nacht ausgehen würde, quälte mich nun mein schlechtes Gewissen, seit mir meine Eltern leichthin einen schönen Abend gewünscht hatten. Kurz zuvor hatte ich die Kugel im Wohnzimmer zerdrückt und war dann zur Tür gehastet. Sie schienen nicht müde zu sein, es wirkte eher so, als ob ihnen alles egal wäre. Ähnliches berichteten auch Jemma und Tiffy. Noah weigerte sich, über den Umstand, dass er seine Eltern sediert hatte, auch nur ein einziges Wort zu verlieren. Niemand war zu Scherzen aufgelegt, obwohl unsere Eltern teilweise sehr kurios reagiert hatten. Im Gegenteil. Die Stimmung war mehr als gedrückt, denn wir trauerten alle um Enko. Noah saß schon seit zehn Minuten regungslos herum und guckte einfach nur starr geradeaus. Auch Maél schien nicht richtig bei der Sache zu sein, obwohl wir ihn alle mehr brauchten als je zuvor. Doch ich konnte ihn gut verstehen. Ich würde es Enko nie vergessen, wie sehr er mir beigestanden hatte, als Maél in den Kerkern des Olymps eingesperrt war.

Kurz darauf erschien Ödipus mit den Plejaden im Schlepptau, und es wurde deutlich zu eng in dem kleinen Poker-Hinterzimmer. Wir beschlossen, unser Treffen in das Wohnzimmer des Hinterhauses zu verlegen. Hier stand immer noch, weiß und gebieterisch, der Omphalos zwischen Fernseher und Couch. Der Stein zog mich wie magisch an. Während alle Platz nahmen und sich Getränke einschenkten, stellte ich mich vor den Kultstein und sah ihn ehrfürchtig an. Jetzt, da er so hell war, wirkte er gar nicht mehr bedrohlich. Ich beugte mich gerade vor, um die seltsame Einkerbung im Stein näher zu betrachten, als Nereus erschien. Doch mein Magen krampfte sich unangenehm zusammen, als ich sah, wen er mitbrachte. Die anderen schienen ebenfalls zu erstarren. Alle Gespräche verstummten abrupt, Tiffy wurde sofort wieder kreidebleich.

Der Herr der Unterwelt sah ziemlich mitgenommen aus. Er schien nicht nur um zehn Jahre gealtert, seine Haltung wirkte gebrochen und angespannt zugleich, der Ausdruck in seinen Augen schwankte zwischen tieftraurig und gefährlich gereizt. Diese völlige Unberechenbarkeit, die er an sich hatte, beunruhigte mich noch mehr als sein spontanes Auftauchen. Aber immerhin war er dieses Mal nicht wie eine Naturgewalt durch den Boden gebrochen.

»Ihr habt Besuch«, erklärte Nereus überflüssigerweise. Er gab sich Mühe, möglichst unbeteiligt zu wirken, doch seine Hände zitterten leicht, als er Hades mit einer Geste einlud, das kleine Wohnzimmer zu betreten.

Hades nickte kurz zum Dank.

»Ich muss dann mal los.« Nereus hatte nervöse rote Flecken im Gesicht. »Ich muss …« Er brach ab, nicht sicher, wie viel er vor dem Herrn der Unterwelt erzählen wollte. »Na, ihr wisst schon.« Er schien sichtlich erleichtert, als er herumschwingen und aus dem Raum stürzen konnte. Wir anderen waren ohnehin damit beschäftigt, zu überlegen, was uns diesen furchterregenden Überraschungsbesuch beschert hatte.

»Auf dem Olymp geht das Gerücht herum, dass heute Nacht die Welt untergehen soll. Und da ich mich sowieso für Enkos Tod an Uranos rächen wollte, dachte ich mir, ich sehe mal nach, was die Nymphe so treibt, die meine Söhne ständig in Schwierigkeiten bringt. Wer weiß, vielleicht ist sie ja in irgendetwas verwickelt, das ich wissen sollte?« Sein Blick schoss zu mir.

Ich war starr vor Schreck und obendrein schon wieder viel zu wütend, um zu reagieren.

Hades trat betont locker in die Mitte des Raumes. Dann entdeckte er die Plejaden. »Na, sieh mal an. Und hier haben wir auch schon den Grund, warum der Herr des Himmels so tobt.« Hades verschränkte die Arme vor der Brust. »Was treibst du hier, Nymphe?«

Dann glitt sein Blick weiter zu Hermes. »Und du, Götterbote? Muss ich mich fragen, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wir hätten dich niemals aus deinem Kerker entlassen?«

Hermes, sonst so liebenswürdig und umgänglich, blieb eiskalt. »Was willst du, Hades?«

Hades hob die Arme in einer großartigen Geste. »Wie wäre es mit der Wahrheit?«

Hermes schnaubte. Schließlich war der Herr der Unterwelt für seine Lügen und Tricksereien bekannt.

Tiffy versuchte, sich hinter Maél zu verstecken. Als er es bemerkte, machte er sich noch etwas breiter und schob sie ein weiteres Stückchen hinter sich. Ich lächelte ihn dankbar an, während sich die Stimmung zwischen den beiden Olympiern weiter gefährlich aufheizte. Ich war verärgert und hilflos zugleich. Wir brauchten dringend Zeit, um uns zu besprechen. Die Uhr tickte. Nicht mehr lange und es würde auf Mitternacht zugehen, und bis jetzt hatten wir keinen neuen Plan, wie wir Uranos stoppen konnten.

»Kläre mich auf, was du mit dieser seltsamen Truppe vorhast. Götter, Halbgötter, Nymphen, Menschen und …« Sein Blick glitt zu Ödipus, der sich unauffällig vor die sieben Himmelsnymphen geschoben hatte. »Penner von der Straße.«

Die Plejaden holten simultan erschrocken Luft. Ödipus blieb völlig unbeweglich, als hörte er diese Beleidigung nicht zum ersten Mal.

Magaly, die Sprecherin der Plejaden, schob sich hinter Ödipus hervor. »Warum seid Ihr so ungerecht, Herr der Unterwelt? Der Herr Ödipus ist ein …«

»Jaja, Wahnsinnsgeschichte, Nymphenmädchen«, unterbrach Hades sie betont gelangweilt. »Schreib das in dein Tagebuch, wenn du darüber reden willst. Wir haben andere Sorgen.«

Magalys Augen wurden groß, doch sie wich vor ihm zurück, als hätte er sie bedroht.

»Und die wären?«, ertönte Maéls Stimme.

Hades Blick glitt zu ihm. »Was meinst du, kleiner Rabe?« Wieder mal klang der Kosename schrecklich falsch aus dem Mund des Mannes, der die Unterwelt mit so eiserner Faust regierte.

»Du sagst, du hättest andere Sorgen. Und die wären?«

»Der Tod deines Bruders, zum Beispiel?« Hades' Stimme klang so grollend, dass die Plejaden noch näher zusammenrückten. Tiffy schien komplett hinter Maél verschwunden. Wir anderen hielten immer noch die Luft an.

Maél schwieg.

»Ich spüre, dass Enko in Gefahr ist, begebe mich daraufhin in die Welt der Menschen und wen treffe ich da?« Hades holte aus und zeigte dann anklagend auf uns alle. »Eure lächerliche Truppe, allen voran diese nervige Nymphe. Und da frage ich mich natürlich, was ihr mit Enkos Tod zu tun habt. War er bei euch? Habt ihr Uranos gemeinsam provoziert? Hattet ihr vielleicht einen Plan, der gescheitert ist? Hattet …«

»Enko hat sich ihm freiwillig angeschlossen«, unterbrach ich ihn. »Uranos hat ihn mit Macht und was weiß ich noch allem gelockt. Als Enko einsah, dass er sich falsch entschieden hatte, wollte er uns warnen. Uns irgendetwas über Uranos erzählen. Doch der hat ihn getötet, bevor Enko uns helfen konnte.«

In Hades' Augen blitzten die Tartarosflammen auf. »Nymphe«, stieß er mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Sie sagt die Wahrheit.« Hermes ging ein paar Schritte auf Hades zu, wohl auch, um sich zwischen den Herrn der Unterwelt und mich zu stellen.

»Sie ist für all das verantwortlich. Aus dem Weg, Götterbote, ich werde das jetzt ein für alle Mal klären, und wenn ich die Wahrheit aus ihr herausschütteln muss.«

Mit atemberaubender Geschwindigkeit stürzte Hades an Hermes vorbei auf mich zu. Ich sah die Tartarosflammen in seinen Augen lodern. Gigi schrie auf. Maél ging in Kampfposition. Doch Tiffy war schneller.

»Lass sie in Ruhe!« Ihre riesigen Flügel erschienen hinter ihr. Sie schlug kräftig mit ihnen und katapultierte sich dadurch nach vorn, direkt zwischen Hades und mich. Die anderen duckten sich automatisch vor der Windböe, die die Gardinen vor den Fenstern blähte.

»Lass mich das machen, Maél.« In Tiffys Augen tanzten die gleichen wilden Feuer wie in denen ihres Vaters.

Hades schien einen Moment völlig regungslos, als er es bemerkte. Er ließ die Arme sinken, und sein Raubtierblick fixierte sie wie etwas, das er noch nicht einzuschätzen vermochte. »Und du bist?«

Tiffy starrte ihn nur aus angstgeweiteten Augen an. Sie zitterte zwar, schien aber wild entschlossen, mich zu verteidigen. Mit einem leisen Geräusch verschwanden ihre Flügel wieder.

»Sie ist deine Tochter, Hades.« Hermes' Stimme klang belegt.

Hades lachte bellend auf. »Was für ein Blödsinn. Netter Versuch, Götterbote. Aber mir steht gerade nicht der Sinn nach Witzen.«

»Aber er hat recht.« Maél stellte sich neben Tiffy und mich. »Sie ist so sehr mit dir verwandt, wie ich es nicht bin.«

Einen Moment lang war Hades wie versteinert. »Sag das noch mal.«

»Ich bin nicht dein Sohn.« Maél hielt seinem Blick stand. »Und ich bin mir ganz sicher, dass du es irgendwo tief in dir drin schon immer geahnt hast.«

Hades schluckte und schien für den Bruchteil einer Sekunde verunsichert, doch dann straffte er die Schultern und seine Miene wurde wieder hart. »Was für ein Unsinn. Hat euch das wieder diese irre Nymphe eingeredet?« Er warf mir einen bösen Blick zu. »Ich sollte dich zerquetschen, bis du in einem Blumenregen zerspringst, damit du endlich die Finger von meinen Verwandten lässt.«

»Beleidige sie nicht dauernd.« Maél sah kurz zu mir. »Sie trifft keine Schuld.«

»Ich war es«, sagte Tiffy mit ihrer piepsigen Stimme. »Ich habe dafür gesorgt, dass er es erfährt.«

Hades kicherte, doch es klang ein wenig, als hätte er zu viel getrunken. »Nette Geschichte, Kleine, aber ich bekomme nur Söhne. Sofern du dich also nicht nur als Mädchen verkleidet hast, sind wir garantiert nicht verwandt. Ansonsten bin ich da sehr offen. In meinem Reich kann jeder tragen, was er will. Wenn du auf Kleider stehst, soll es mir recht sein. Es gibt nichts, was ich nicht schon gesehen habe.«

»Ich bin ein Mädchen!« Tiffy verschränkte empört die Arme vor der Brust. Ihre Entrüstung hatte auch etwas Gutes, denn sie vergaß darüber einen Teil ihrer Angst. »Was für eine Unverschämtheit.«

Hades winkte ab. »Schon okay. Interessiert mich sowieso nicht. Ich habe einen Sohn zu betrauern, und ich muss einen Racheplan schmieden. Uranos mag älter und mächtiger sein als ich, aber ich finde schon einen Weg.« Ich sah die Trauer in seinem Blick und wie sehr er mit seinen Gefühlen kämpfte. »Schade, dass ich vom Tartaros aus nicht den Himmel sehen kann«, sagte er leise, und all seine Wut schien plötzlich wie verflogen.

»Vater.« Maéls Stimme klang sanft. »Bitte höre uns an. Es ist wichtig. Es betrifft meinen Prozess. Da ich nicht dein Sohn bin, hätte ich niemals die Macht gehabt, mit Agada die Weltherrschaft an mich zu reißen. Ich wäre niemals eine Bedrohung gewesen, selbst wenn Agada wieder zum Leben erwacht wäre. Aufgrund dieser Tatsache ist die gesamte Prozessgrundlage hinfällig. Ich brauche dich als meinen Fürsprecher.«

Hades überging Maéls Worte. »Sie soll mein Kind sein?« Zweifelnd deutete er auf Tiffy. »Sie ist nicht größer als ein Beistelltisch und viel zu ängstlich. Meine Jungs sind groß gewachsen, und Mut ist ihr zweiter Vorname. Das ist völlig ausgeschlossen.«

Tiffys Schultern begannen unter dieser Beleidigung schon wieder zu beben. »Fahr zur Hölle!«

»Ach, Herzchen, was glaubst du denn, wo ich herkomme?«, erwiderte Hades lässig.

»Hör auf damit.« Maél legte einen Arm um Tiffy. »Willst du mir wirklich weismachen, du hättest all die Jahre nie etwas bemerkt? Du bist einer der Großen Drei. Du bist mächtiger als die normalen olympischen Götter. Sag mir, hast du nicht ein einziges Mal Risse in Hekates Zauber gesehen?«

»Dieses Miststück«, brummte Hades. »Also war es ihre Signatur, die ich …« Er brach ab und sah Tiffy wieder an. »Beweise es.«

Tiffy sah hilflos zu Maél. Der schien auch keine gute Idee zu haben, schließlich waren ihre beiden Attribute so ähnlich, dass sie allgemeingültig waren für alle dunklen Götter. Hekate hatte ganze Arbeit geleistet, um ihrer beider Herkunft zu verschleiern.

Doch dann fiel mir etwas ein. »Sind nicht die Augen der Spiegel zur Seele? Glaubt man nicht in fast allen Kulturen, dass einem die Augen viel mehr über den Menschen verraten, als Worte es könnten?«

Hades verdrehte die Augen, als wollte er sagen: Musst du dich eigentlich überall einmischen?

Doch ich ließ mich nicht beirren. »Sind es nicht die Feuer des Tartaros, die in den Augen Ihrer Kinder lodern?«

Hades zuckte möglichst unbeteiligt mit den Schultern.

»Maél wusste es selbst nicht«, fuhr ich fort und deutete auf ihn. »Er hat mir gesagt, wenn ich ihm tief genug in die Augen sehe, könne ich diese Feuer erkennen. Doch die Wahrheit ist: Da sind keine Feuer. Bei Ihnen zeigt sich Ihr wahres Ich, wenn Sie wütend sind. Dann lodern die Flammen hoch auf in Ihren Augen. Und genauso war es bei Enko. Bei Maél dagegen zeigt sich sein wahres Ich, wenn er jemanden ansieht, der ihm viel bedeutet.« Ich ging zu ihm hinüber und stellte mich an seine freie Seite. »Bitte, Maél, sieh mich an.«

Maél lächelte, denn er hatte mittlerweile verstanden, worauf ich hinauswollte. Er streichelte meine Wange hinab, und ich konnte zusehen, wie das Grau seiner Augen sich veränderte. Zuerst wurde es heller, dann durchzogen dunkelblaue Schlieren die Iris. Irgendwann waren seine Augen so tiefblau, dass ich das Blitzen der Sternbilder darin sehen konnte. Wunderschöne klitzekleine Lichtpunkte, von denen ich den Blick kaum losreißen konnte.

»Kommt her«, flüsterte ich schnell.

»Du gibst mir keine Befehle, Mädel«, blaffte Hades.

»Hades, ich bitte dich«, warf Hermes sich in die Bresche. »Das hier ist wichtig.«

Hades brummte irgendeine Verwünschung, doch er stellte sich neben mich. Irgendwann drehte Maél den Kopf zu ihm. Hades' Schock war so abgrundtief und so aufrichtig, dass ich ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. Er schüttelte den Kopf, erst langsam, dann immer schneller. »Nein, das kann nicht sein. Das kann nicht …« Er brach ab, und es schien, als käme ihm plötzlich eine Erinnerung in den Sinn. »Da war etwas, das mir von Anfang an komisch vorkam. Hamida, deine Mutter, vertröstete mich über zwei Wochen lang. Sie schob das Wochenbett vor und eine Entzündung, die dich und sie geschwächt hätte. Es kam mir nur im ersten Moment komisch vor, denn warum hätte sie so ein Geheimnis um dich machen sollen? Es ist ein Gesetz, dass ich nur Söhne bekomme. Es gibt keine Ausnahme.«

»Was ist mit Aglaia?«, wandte Hermes ein.

Hades' Blick wurde hart. »Sie ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Ich hätte damals Verdacht schöpfen sollen. Ich hätte es nicht zulassen dürfen, dass Hamida mir einen Besuch verweigert. Doch ich habe sie geliebt und respektiert. Niemals hätte ich ihr so etwas unterstellt.« Er warf noch einen zweifelnden Blick auf Maél.

Ich löste mich von ihm und stellte mich zu Tiffy. »Los, Tiffy, beweisen wir es ihm.« Ich nahm ihre Hand. »Denk daran, dass deine Mutter Nyx entführt wurde und man sie gefangen hält.«

Tiffy ballte die Fäuste, und in ihren Augen leuchteten die Tartarosflammen hell auf.

Hades wirkte erneut schockiert, doch dieses Mal hatte er sich besser im Griff. Er deutete zwischen Maél und Tiffy hin und her. »Sie haben euch vertauscht.«

Die beiden nickten.

»Dann bist du also …« Er sah zu Maél. »Die Nymphe hat von Nyx geredet. Heißt das, du bist ihr Sohn?«

»Ja.«

Hades brauchte einen Moment, um die ungeheuerlichen Neuigkeiten sacken zu lassen. »Ihr wisst von den Gesetzen der dunklen Götter?«

Tiffy holte erschrocken Luft, doch Maél zog sie an sich. »Wehe, du krümmst ihr auch nur ein Haar. Sie ist deine Tochter. Deine einzige Tochter.«

»Geh mir aus dem Weg, Maél«, knurrte Hades.

Maél lachte leise auf. »Du kannst mir nichts. Wir sind keine Blutsverwandten. Olympische Götter können nur ihre eigenen Kinder töten.«

»Aus dem Weg«, befahl Hades ein zweites Mal.

»Bitte nicht«, rief Tiffy. »Ich kann doch gar nichts dafür. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich will einfach nur zurück zu meiner Mutter. Als ich Livia mein Geheimnis erzählt habe, habe ich einfach gehofft, dass sie mir helfen könnte, meine entführte Mutter wiederzufinden. Niemals hätte ich gedacht, dass sie mit demjenigen befreundet ist, gegen den ich ausgetauscht wurde. Es sind alles nur dumme Zufälle.«

Ich, die ich mittlerweile dank der Moiren nicht mehr an Zufälle glaubte, trat neben Maél.

»Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, dass Sie Ihre eigene Tochter töten wollen, nur weil ein paar antiquierte Gesetze es so bestimmen.«

Hades schien ein paar Zentimeter größer zu werden und seine gesamte Haut begann zu glühen. »Verschwindet endlich.« Seine schwarzen Augen loderten auf, als er einen Schritt nach vorne machte und Maél und mich brutal zur Seite stieß. Ich flog in Richtung Couch, wo ich auf Noah und Jemma landete, während Maél so hart gegen Hermes prallte, dass sie beide taumelten.

Ödipus schob die Plejaden unauffällig Richtung Treppe, damit sie sich in den ersten Stock flüchten konnten. Gigi schien komplett unter Selkes' Arm verschwunden, der sich mit wütend blitzenden Augen vor dem Fenster aufgebaut hatte.

Tiffy stand nun ganz allein vor Hades, der langsam beide Hände hob.

»Nein!«, schrie ich und wollte auf die Füße springen.

Im nächsten Moment hatte Hades Tiffy beide Hände um die Schultern gelegt. »Lass dich mal ansehen.«

Tiffy schwankte und verdrehte leicht die Augen. Sie wirkte, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden.

»Du bist noch hübscher, als deine Mutter es war.« Er strich ihr mit einer Hand durch das dunkle Haar.

»Bitte nicht«, flüsterte Tiffy und ihre Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen.

»Ich habe einen Sohn verloren«, murmelte Hades. »Jetzt bekomme ich die Chance, eine Tochter zu haben.« Wieder sah er an Tiffy hinauf und hinab.

Sie war so außer sich, dass hinter ihr erneut die großen schwarzen Flügel erschienen.

Hades' Augen leuchteten. »Was für ein beeindruckendes Attribut. Und so selten. Sie sind außergewöhnlich schön.«

Tiffy starrte ihn mehr oder weniger mit offenem Mund an. Dann sah sie auf seine großen Hände, die rechts und links auf ihren schmalen Schultern ruhten. »Bitte tun Sie mir nichts.«

Hades schüttelte den Kopf. »Du bist eine von uns, jetzt sehe ich es deutlich. Und im Tartaros beschützen wir, was zu uns gehört.«

»Dann …« Sie schluckte. »Dann werden Sie mich nicht auf einem Altar opfern?«

Hades lachte leise. »Ich werde jeden auf einem Altar opfern, der dir auch nur ein Haar krümmt. Diese dämlichen Gesetze sind ab heute hinfällig. Ich bin einer der Großen Drei, und ich werde sie abschaffen. Meinen Brüdern Zeus und Poseidon sind diese uralten Regeln auch schon lange ein Dorn im Auge. Jetzt endlich habe ich einen Grund, ihre Abschaffung durchzusetzen.«

Maél trat zu Hades und packte ihn am Arm. »Danke, Vater.« Er verstummte, als ihm bewusst wurde, dass er den Mann, der eigentlich gar nicht sein Vater war, als solchen bezeichnet hatte.

Hades ließ seine Hände langsam sinken. »Versprich mir, dass du nicht aufhören wirst, mich so zu nennen.«

Maél klappte die Kinnlade auf die Brust. Ich war mir allerdings noch nicht sicher, ob Hades wirklich zu trauen war.

»Deine leibliche Mutter wurde entführt, wenn ich das richtig verstanden habe?«, fragte Hades Maél. »Meine Erinnyen sind ganz gut darin, vermisste Personen aufzuspüren.«

Hermes rang die Hände. »Vergiss nicht, Hades, wir haben hier im Moment ein Problem, das zwar mit der Entführung von Nyx zusammenhängt, aber von noch höherer Priorität ist.«

Hades zog finster die Augenbrauen zusammen. »Diese Geschichte mit dem Weltuntergang, oder? Wisst ihr denn, wann Uranos angreifen wird?«

»Die Planetenkonstellation manifestiert sich genau zur Geisterstunde. Um Mitternacht geht es los, wir rechnen fest mit einem Angriff.«

»Knapp drei Stunden, verstehe.« Hades kratzte sich am Kinn. »Und wie sieht euer Plan aus?«

Wieder sahen alle betreten in die Runde.

Hades zog die Augenbrauen hoch. »Ihr habt doch einen Plan?«

Hermes hob hilflos beide Hände und sah seltsam resigniert aus. »Sagen wir’s mal so: Wir hatten einen Plan. Aber der ist leider nur bedingt aufgegangen.«

Maél warf einen eindringlichen Blick zu Hermes, wohl um ihm in Erinnerung zu rufen, dass man Hades nur bedingt trauen konnte.

»Ich will diesen Irren sowieso zur Strecke bringen.« Hades rieb sich die Hände. »Ich werde meinen Sohn rächen. Ich weiß nicht, warum er sich von mir abgewandt hat, aber er hatte es nicht verdient, zu sterben.«

Maél schluckte, und ich spürte, wie nah ihm Enkos Tod ging, jetzt da er es langsam wirklich realisierte. Wir standen alle permanent so unter Adrenalin, dass keiner von uns bisher echte Trauer hatte zulassen können.

»Alles, was wir wissen, ist, dass Uranos um Mitternacht angreifen wird. Die Planetenkonstellation ist vergänglich, das Zeitfenster beträgt nur wenige Stunden. Er hat uns gedroht, und ich bin mir absolut sicher, dass er es versuchen wird. Er schien nicht im Mindesten eingeschüchtert von uns, und wer weiß, was für ein Ass er noch im Ärmel hat.«

»Klingt, als könntet ihr jede Hilfe gebrauchen, die ihr kriegen könnt.« Hades verschränkte die Arme vor der Brust und sah uns treuselig an. »Und so wie es aussieht, bin ich der Einzige, der eurer wilden Theorie von Planetenkonstellationen und Weltuntergängen glaubt. Der Olymp existiert jedenfalls auch ohne die Erde, und da die meisten Götter Hermes ziemlich ausgelacht haben, steht ihr gänzlich allein da.«

»Wir sind nicht allein. Wir haben uns.« Maél klang vollkommen überzeugt. »Wir sind so weit gekommen, nun schaffen wir den Rest auch noch.«

»Heißt das, ich bin ausgeladen?« Hades' Haut begann schon wieder zu glühen. »Das ist aber nicht nett von euch.«

»Wenn du dich uns anschließen möchtest, steht dir das natürlich frei«, sagte Hermes so diplomatisch wie immer.

»Gut. Dann kombiniere ich die Rettung der Welt mit meiner Rache für Enko. Sie werden mich als Held feiern.«

Maél verdrehte die Augen.

»Und ihr habt wirklich keinen Plan?«, vergewisserte sich Hades ein letztes Mal. »Oder werde ich bloß nicht eingeweiht?«

»Hast du denn einen Plan, wie du Enko rächen willst?«

Hades zuckte bloß arrogant die Schultern. »Mir wird schon etwas einfallen, wenn Uranos einen Fuß auf die Erde setzt.«

»Toller Plan«, schnaubte Maél. »Das Problem ist nur, wenn er einen Fuß auf die Erde setzt, ist alles gelaufen. Dann manifestiert er sich wieder als Himmel, breitet sich über die ganze Erde aus und wir ersticken alle in ewiger Dunkelheit.«

»Außerdem steht noch gar nicht fest, in welcher Form Uranos angreifen wird«, gab Hermes zu bedenken. »Es kann auch sein, dass er gar nicht erst seine menschliche Gestalt annimmt, sondern direkt versucht, die Erde zu erdrücken.«

»Und was …«

Im nächsten Moment bebte die Erde. Das kleine Haus ächzte und die Balken bogen sich gefährlich.

»Bei allen Göttern«, schnaufte Hermes und hielt sich an der Couchlehne fest. »Was ist denn das nun wieder?«

In meinem Kopf brandeten die Stimmen der Frauen wieder auf. Ich fühlte, wie sie gegen meine Barrieren schlugen. Ich spürte das Grollen in der Erde, genauso wie es die anderen erwachenden Nymphen überall auf der Welt wahrzunehmen schienen. Die Plejaden sahen sich erschrocken an. Magaly war sogar aufgesprungen.

Noch einmal wackelte das ganze Haus. Selkes stürzte zum Fenster und riss es auf. »Was ist denn los?«, brüllte er hinaus. Ich hörte die Erde stöhnen. Das Geräusch kam von draußen, von den Beeten der Hintergärten. Von den Büschen, die in der dunklen Erde wuchsen. Das Haus schien zu schwanken, als befände es sich auf einem schwimmenden Stück ewigen Eises. Draußen erklang Geschrei. Irgendwo fiel etwas scheppernd in sich zusammen. Im nächsten Moment war es still. So unheimlich still, dass nur unser angespanntes Atmen zu hören war. Maél war aufgesprungen und hatte sich zu mir gestellt. Seine Hand lag beruhigend auf meinem Rücken.

Magaly stand immer noch sehr aufrecht. Ihre Haut leuchtete hell, mehr noch als sonst.

»Ist das Uranos?« Hermes sah ratlos zu Hades, doch der zuckte nur mit den Schultern.

Magaly schüttelte den Kopf und sah fragend zu mir.

»Ich kann sie hören. Sie schreien in meinem Kopf alle wild durcheinander. Überall auf der Welt scheinen die Nymphen etwas wahrzunehmen. Und auch ich spüre etwas.« Ich horchte in mich hinein. »Die Erde hat gestöhnt. Ja, es klang wirklich wie ein Stöhnen. Verzweifelt und ... ängstlich.«

Magaly krampfte ihre Hände ineinander. »Sie spürt es«, sagte sie leise. »Sie spürt, was er vorhat, sie spürt, dass er sich nähert. Und sie wehrt sich dagegen. Sie will nicht, dass er es schafft.«

Nun hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit aller. Draußen erklangen die ersten Sirenen.

»Wer will was nicht?«, fragte Gigi alarmiert. »Haben wir jetzt etwa noch einen Gegner? So langsam verliere ich wirklich jeden Mut. Ich will nicht sterben.«

Selkes schloss das Fenster mit einem Knall und eilte zurück zu seiner Freundin. »Heute Nacht wird nicht gestorben, Cupcake«, sagte er voller Überzeugung.

Ich bewunderte seinen Optimismus, und auch Maél warf ihm einen skeptischen Blick zu.

Ödipus stellte sich mit den verbliebenen Plejaden zu unserer Debattierrunde. »Könntest du das etwas genauer ausführen, meine Liebe?«, wandte er sich an Magaly.

Sie wirkte immer noch höchst beunruhigt. »Es ist die Stimme der Erdmutter. Der Mutter allen Lebens. Der Erdgöttin Gaia.«

Bei der Erwähnung des Namens zitterte das Haus erneut leicht.

»Sie weiß, dass Uranos sich ihr nähert. Und sie wird versuchen, sich gegen ihn zu wehren.«

Zum ersten Mal schaltete sich auch Noah in das Gespräch ein. Seine Augen waren rot geädert vom Weinen. »Sollte das nicht unser Vorteil sein? Wenn wir eine Göttin, die fast so alt ist wie Uranos, auf unserer Seite haben?«

Magaly schüttelte den Kopf. »So einfach ist es leider nicht. Gaia hat ihre menschliche Gestalt schon vor langer Zeit aufgegeben. Sie existiert nur noch in dem, was wir unsere Erde nennen. Sie ist alles, was darauf wächst und lebt. Aber sie kann sich nicht mehr manifestieren und uns mit Schild und Rüstung gegen Uranos zur Seite stehen. Sie wird sich anders wehren. Und das müssen wir auf jeden Fall verhindern.«

»Es ist etwas Schlimmes, richtig?«, fragte Jemma gefasst.

Magaly nickte knapp. »Gaia ist die Natur, und sie wird sich in ihrer schlimmsten Form zur Wehr setzen, mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen … Sie wird alles daransetzen, dass Uranos auf ihr nicht zur Ruhe kommt, ja dass er sich ihr gar nicht erst nähern kann. Sie wird alle Vulkane gleichzeitig auf dieser Erde ausbrechen lassen. Eine Welle der Zerstörung wird über die Menschheit hinwegfegen. Gaia sind die Menschen egal. Und die Natur erholt sich irgendwann. Sei es von Überschwemmungen oder von Vulkanausbrüchen. Der Mensch ist ein viel zu zerbrechliches Konstrukt und seine Vernichtung ist für sie nur ein Kollateralschaden. Das hier eben war nur ein kleiner Vorgeschmack. Gaia hat sich gestreckt, sie ist erwacht aus ihrem Schlaf, mehr war das nicht. Doch je näher die Stunde null rückt, desto heftiger wird ihre Gegenwehr werden.«

»Wie dramatisch«, murmelte Hades ironisch.

Noah ließ den Kopf in beide Hände sinken. »Bitte, kann mich mal jemand aufwecken? Ein uralter Gott von oben. Eine uralte Göttin von unten. Mein Freund Enko ist tot. Wer von uns stirbt als Nächstes?« Er sah in die Runde, und seine Augen schimmerten feucht. »Ist es nicht klüger, zu erkennen, wann etwas aussichtslos ist? Vielleicht sollten wir die drei letzten Stunden wenigstens noch genießen. Wir setzen uns hin, nehmen unsere Liebsten in den Arm und dann ist halt irgendwann Schluss. Warum sollen wir in einem Gefecht sterben? In Asche und Dunkelheit vergehen? Verbrannt werden, ertrinken oder sonst was? Es sind noch drei Stunden, und wir haben keinen Plan. Stattdessen rührt sich nun noch ein weiterer Gegner.« Er sah zu Jemma. »Lass uns nach Hause fahren, Jems. Wir legen uns in mein Bett, halten uns an den Händen und wenn es so weit ist, machen wir die Augen zu. Genauso wie es die Menschen damals beim Ausbruch des Vesuvs in Pompeji getan haben. Sie haben erkannt, dass es zu spät war, um zu rennen. Sie haben die Zeit bis zum Ende bestmöglich genutzt.«

Nun standen auch Jemma Tränen in den Augen. »Nein, Noah«, sagte sie leise. »Ich laufe nicht weg. Das habe ich noch nie getan, und das werde ich auch jetzt nicht tun. Ich weiß, dass alle hier«, sie deutete in die Runde, »bis zum letzten Atemzug kämpfen werden. Und ich werde an ihrer Seite sein. Ich will nicht in einem Bett sterben, sondern aufrecht stehend. Ich werde mich nicht geschlagen geben, bis es nicht anders geht.«

Noah schluckte hart, dann nickte er. »Okay«, sagte er. »Dann will ich bei dir sein.«

»Aber prinzipiell hat Noah recht mit dem, was er sagt.« Selkes hatte mal wieder Gigi an sich gezogen und zupfte an dem flauschigen Stoff ihrer Strickjacke herum. »Das ist wie David gegen Goliath. Wenn wir wenigstens wüssten, wie wir es versuchen könnten. So wie bei der Sache mit dem Omphalos. Da hatten wir ein Ziel vor Augen. Zwar konnten wir da genauso wenig das Risiko kalkulieren wie jetzt, aber immerhin hatten wir einen konkreten Plan. Irgendwie habe ich mich da besser gefühlt.«

Gigi schüttelte den Kopf und musste trotz aller Weltuntergangsstimmung grinsen.

Nachdenklich stellte ich mich vor den Stein, über den Selkes gerade gesprochen hatte, und beugte mich noch mal zu der kleinen Einkerbung vor. »Wie können wir eigentlich herauskriegen, wofür diese Einkerbung gut ist?«

»Was soll das überhaupt sein?«, fragte Hades. »Stellt man sich jetzt Steine ins Wohnzimmer?«

Er bekam eine Kurzfassung von Hermes und schnalzte anerkennend. »Hätte ihn gar nicht wiedererkannt, jetzt, da er die Farbe gewechselt hat.«

»Können wir das bitte klären, nachdem wir die Welt gerettet haben?«, schlug Noah vor. »Ich bin mir sicher, es ist völlig ausreichend, wenn wir es danach erfahren.«

Schon wieder lief ein Zittern durch die Erde. Dieses Mal war es ein seitliches Schwanken, und ich hielt mich automatisch an dem massiven weißen Felsbrocken fest, um nicht zu taumeln. Schon hatte Maél seine Arme um mich gelegt, doch ich stützte mich trotzdem mit der rechten Hand auf der glatt polierten Oberfläche des Steins ab. Im nächsten Moment erwachte mein Ring der fünf Quellen zum Leben. Das Gold war mit einem Schlag ganz warm.

»Huch!« Erschrocken riss ich die Hand weg und realisierte nur Sekunden später, dass ich den Ring nicht mehr am Finger trug. Das Gold war mit der Oberfläche des Steins perfekt verschmolzen. Erst jetzt erkannte ich, wozu die Vertiefungen gut waren. Der Ring hatte seine runde Form fast beibehalten, doch zugleich war er perfekt mit dem Stein verschmolzen. Ein goldfarbenes Geflecht durchzog ihn langsam bis ganz nach unten, wie die Adern eines Lebensbaumes. Als die anderen es bemerkten, sprangen sie auf.

Die Stimmen in meinem Kopf wurden leiser. Ich sah immer noch atemlos auf den Stein. »Er hat mir meinen Ring geklaut!« Auf meinem Finger war ein goldener Abdruck zurückgeblieben, dort wo der Ring tief in meine Haut gesunken war. Als ich ein Schimmern wahrnahm, hob ich die Hand. Eine Spur des Goldes war in meiner Haut zurückgeblieben. Es sah aus, als trüge ich ein goldfarbenes Tattoo um den Ringfinger.

»Die Vertiefung, die Form, alles passt perfekt«, stellte Maél fest. »Vielleicht ist das die neue Aufgabe des Omphalos? Vielleicht solltest du den Ring nur aufbewahren, um ihn seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen?«

»Und die soll jetzt was sein?«, fragte Tiffy. »Ist der Stein ein überdimensionales Schmuckkästchen?«

»Er ist und war schon immer ein Portal«, erklärte Magaly leise. »Das war seine ursprüngliche Aufgabe. Bevor die Machtgier ihn in etwas Böses verwandelt hat. Er ist ein Kommunikationsgerät, genauso wie der Ring der fünf Quellen.«

Vorsichtig legte ich meine Hand erneut auf den Stein. Sofort schwollen die Stimmen in meinem Kopf wieder an. Die Frauen hatten so viele Fragen. Sie waren verunsichert, denn als Naturwesen spürten sie alle Gaias Wut und ihre Entschlossenheit. Einige begannen sogar zu singen. Kinderlieder, mit denen man eigentlich Babys beruhigte. Das Ächzen in der Erde wurde leiser.

»Ich höre die Stimmen der Frauen in meinem Kopf, aber sie werden lauter und deutlicher, wenn ich die Hand auf den Stein lege.«

Magaly trat an meine Seite, warf einen kurzen Blick auf den Ring und dann auf den goldenen Abdruck, den er in meiner Haut hinterlassen hatte. Langsam, ja fast ehrfürchtig, legte sie ihre Finger auf die glatte Oberfläche des Omphalos, wo das Gold ein Muster hinterlassen hatte. Sie schloss die Augen, und einen Moment später lächelte sie.

»Hör genau hin«, flüsterte sie.

Ich ließ meine mentalen Barrieren noch weiter sinken.

Liebe Schwestern, ich spreche über den Omphalos zu euch, der ein mächtiger Stein ist und ein mächtiges Artefakt. Zusammen mit dem »Ring der fünf Quellen«, einem Ring, der uns alle eint, besitzt er die Macht, mit euch allen zu kommunizieren. Mein Name ist Magaly, und ich bin eine der sieben Himmelsnymphen. Bitte antwortet mir, wenn ihr mich hören könnt.

»Ja«, sagte ich laut. Das wirre Durcheinanderreden der Nymphen verstummte, in meinem Kopf hörte ich jetzt deutlich die zustimmenden Antworten Hunderter Frauen.

»Ja, was?«, fragte Maél verwirrt.

»Redet ihr mit dem Stein?« Tiffy sah uns neugierig an.

Magaly nickte. »Er scheint seine Aufgabe gefunden zu haben. Es funktioniert wirklich.« Sie winkte die anderen Plejaden aufgeregt zu sich. »Kommt her! Überall auf der Welt erwachen die Nymphenkräfte bei unseren Schwestern. Wir können sie hören, können sie begleiten, ihnen vielleicht sogar die Angst nehmen. Der Ring ermöglicht es uns, mit ihnen zu sprechen. Normalerweise kann nur diejenige, die den Ring erbt, durch ihn mit den Nymphen kommunizieren. Bei jedem anderen Träger funktioniert das nicht. Hier aber verschmelzen Stein und Ring und somit ihre beiden Funktionen. Alle sieben von uns können so ebenfalls mit den anderen Nymphen kommunizieren. Keine Nymphe der Welt muss mehr in Sorge und Unwissenheit aufwachsen. Keine muss sich Fragen stellen, was mit ihr passiert, wenn das Nymphengen drei oder vier Generationen überspringt. Was für ein wunderbares Geschenk.« Sie sah zu mir, während die anderen Plejaden sich um den Stein drängten. Nacheinander legten sie alle die Hand darauf und schienen überrascht und begeistert.

»So können wir den Ring der fünf Quellen universell nutzen. Er ist wie ein Chip, der einem Computer die richtigen Informationen einspeist. Jetzt, da so viele Nymphen zu erwachen scheinen, ist er ein wahrer Segen.«

Ich konnte immer noch nicht glauben, was soeben passiert war. Hatten wir tatsächlich ein Kommunikationsmittel erschaffen, das alle Nymphen dieser Erde einen konnte? Ein Mittel, das von unterschiedlichen Nymphen genutzt werden konnte? So konnte man sich abwechseln, um die vielen Nymphen auf dieser Welt zu betreuen. Es wäre nicht allein meine Aufgabe, worüber ich unendlich erleichtert war, denn das hätte ich nicht bewältigen können. Obwohl mein Finger sich seltsam leer anfühlte, war ich gleichzeitig froh, diese große Verantwortung nun mit meinen Schwestern teilen zu können.

»Wir sind sieben Himmelsnymphen«, sagte Magaly. »Sieben, also für jeden Wochentag eine. Nun, da wir nicht mehr am Himmel leben, brauchen wir eine neue Aufgabe. Jede von uns könnte einen Tag lang mit unseren Nymphenschwestern über den Omphalos kommunizieren. Fragen beantworten. Ihnen bei ihren Aufgaben in der Natur zur Seite stehen. Wir sind die ältesten Nymphen dieser Welt, es gibt kein Problem, von dem wir nicht schon gehört haben. Und Livia, als eigentliche Trägerin des Rings der fünf Quellen, kann mit uns allen kommunizieren, ohne dass sie den Stein berühren muss.« Magaly sah fragend zu mir. »So ist es doch, oder? Du hörst sie trotzdem, wenn du es zulässt. Du bist immer noch die Ringträgerin, das Gold auf deinem Finger beweist es. Es muss die Krone der Nymphen sein, auch wenn ich sie noch nie gesehen habe. So wie die Götter alle Kronensymbole ihrer Reiche besitzen, ist das das Zeichen aller Nymphen. Du bist die Nymphe, die allen fünf Nymphenvölkern vorsteht, so wie es die Geschichte des Rings überliefert. Seit über dreitausend Jahren gibt es Gerüchte über eine Nymphe, die die Kräfte des Rings erwecken und nutzen wird. Früher war er einfach nur ein Schmuckstück. Die mächtigste Nymphe trug ihn zu offiziellen Anlässen, wenn sich alle Nymphenvölker trafen, um sich auszutauschen oder zu beraten. Und in den letzten Jahrhunderten galt er als verschollen.«

»Meine Urgroßmutter hat ihn mir vererbt«, erklärte ich und berichtete den Plejaden in groben Zügen von der Uhr meiner Urgroßmutter und dem Verbandskasten, der mir durch die Moiren zugespielt worden war.

»Alle Stränge des Schicksals verweben sich perfekt ineinander.« Magaly klang vor Aufregung ganz atemlos. »Genau so sollte es eintreten. Du erfüllst dein Schicksal, Livia. Genau so perfekt sollten alle Zahnräder der Geschichte ineinandergreifen.«

»Absolut perfekt«, bestätigte Jemma. »Ich würde mich ja auch mit Livia freuen, wäre da nicht dieses winzig kleine Problem mit Uranos.«

Die Stimmung schien zu kippen, wie Joghurt, der zu lange in der Sonne gestanden hatte.

Hermes sah ausweichend auf sein Handy, während Magaly leise seufzte.

Tiffys Blick war immer noch fest auf den Omphalos gerichtet. »Wenn die Moiren ihre Finger im Spiel haben, dann muss der Omphalos ein Werkzeug sein, das uns bei diesem Problem helfen kann. Denkt alle mal scharf nach. Es muss so sein.«

Schon wieder bebte der Boden. Ödipus besaß tatsächlich die Nerven, den Fernseher einzuschalten. Ein Nachrichtensender zeigte Bilder erster Naturkatastrophen, die wir allerdings nur ausschnittweise erkennen konnten, da der Omphalos mitten im Weg stand. In Japan hatte es eine Überschwemmung gegeben. Ein Vulkan der Inselgruppe Hawaii spuckte Aschefetzen in die Luft. In Grönland hatte sich eine riesige Felsspalte aufgetan. Von überall auf der Welt kamen ähnliche Meldungen. Zerstörung, Verwüstung und eine verängstigte Bevölkerung. Laut Nachrichtensender sollte in Paris und einigen anderen Städten sogar der Ausnahmezustand ausgerufen werden. Die Leute wurden angewiesen, in ihren Häusern zu bleiben. Alle öffentlichen Gebäude, Museen und Behörden waren bereits geschlossen worden. Die letzten Metros liefen in den Bahnhöfen ein. Die Menschen in den Geschäften und Büros wurden aufgefordert, sich nach Hause zu begeben. Es war die Rede von Militär, das mit schwerem Geschütz die Einhaltung der Gesetze sichern sollte. In einigen Teilen Südafrikas hatte es bereits Plünderungen gegeben.

Wir starrten alle entsetzt auf den Bildschirm.

Doch dann schnippte Tiffy mit dem Finger. »Leute, strengt eure grauen Zellen an. Die Zeit drängt.«

Ich warf ihr einen bewundernden Blick zu, denn so energisch kannte ich sie gar nicht.

»Wo steckt eigentlich dein Vater, Selkes?«, fragte Maél.

»Er ist auf einer Krisensitzung. Er hat sich wohl in irgendeinem Gespräch verquatscht, und nun sind alle Bewohner der Flüsse dieser Erde in heller Panik, dass sie sterben werden. Nicht nur die Bewohner, die die Menschheit kennt – auch solche wie Fluse.«

Sofort hatte ich das Bild vor Augen, wie Fluse sich godzillagleich aus den Fluten erhob.

»Oha«, sagte Ödipus. »Wie unangenehm.«

»Genau. So richtig unangenehm. Vater betreibt ein wenig Schadensbegrenzung und versucht alle zu beruhigen. Er hat sämtliche Leute mobilisiert, die er nur kriegen kann, denn wir können es echt nicht gebrauchen, dass jetzt auch noch das Loch-Ness-Monster an Land krabbelt, um irgendjemandem vor Angst auf den Schoß zu springen.«

»Ach, das gibt es wirklich?« Noah hatte plötzlich ganz glänzende Augen. »Ein Freund und ich haben da nämlich diese Theorie, dass …«

Selkes warf ihm einen vielsagenden Blick zu, und Noah verstummte.

»Wahnsinn«, murmelte er dann leise. »Absolut unglaublich.«

»Wenn Uranos nicht die Erde berühren darf, dann muss man ihn vorher stoppen«, überlegte Maél. »Von einem hohen Gebäude aus.«

»Das höchste Gebäude hier in Paris ist der Eiffelturm, oder?« Gigi sah aufgeregt in die Runde.

»Wer sagt uns überhaupt, dass er hier in Paris zuschlagen wird?« Ich sah kritisch in die Runde.

»Guter Einwand. Wir müssen ihn anlocken«, überlegte Maél laut. Sein Blick glitt zu den Plejaden. »Und wir haben etwas, das er sicher gern wiederhaben will.«

Magaly und die anderen wurden zwar blass, nickten aber tapfer. »Gebt uns ein Zeichen, wenn ihr am Eiffelturm seid, und wir werden uns bemerkbar machen.«

»Danke. Ihr seid wirklich mutig.« Ich lächelte sie an, dann fiel mein Blick auf den Omphalos. »Vielleicht ist aber auch unser Kultstein des Rätsels Lösung. Warum haben die Moiren dafür gesorgt, dass er uns in die Hände fällt?«

Wieder lief ein Grollen durchs Haus, und die Dachbalken ächzten. Magaly legte eine Hand auf den Stein und summte leise ein Lied.

»Ja, singt mit mir«, flüsterte sie dann. »Das ist wunderschön.«

Ich summte unwillkürlich mit, denn die Melodie war simpel und irgendwie einladend. Das Grollen verstummte abrupt.

»Was hast du da gerade gemacht, Magaly?«, fragte Tiffy. »Und warum hast du gesungen?«

»Das haben wir oben am Himmel jeden Tag getan. Wir singen alle gerne. Ich habe die anderen Nymphen gebeten, mit mir zu singen. Der Klang von Schlafliedern wird allgemein als beruhigend empfunden und …« Sie brach ab, im gleichen Moment, in dem es auch mir wie Schuppen von den Augen fiel.

Ich riss die Augen auf und sah auf den Stein.

»Oh«, keuchte Magaly. Sie sah zu ihren Schwestern. »Oh.«

»Das ist es«, flüsterte ich. »Das ist es, wofür wir den Omphalos brauchen. Wofür wir den Ring der fünf Quellen haben.«

Die meisten anderen sahen mich an, als hätten sie keinen blassen Schimmer, wovon ich redete.

Hades sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. Ich war mir sicher, er wusste, worauf ich hinauswollte, doch er sagte nichts.

Erneut bäumte der Boden sich unter uns auf, und das Laminat zu unseren Füßen quietschte bedrohlich.

»Mach es noch mal«, bat ich Magaly.

Wieder legte sie die Hand auf den Stein, summte eine Melodie und bat die anderen Nymphen, sich ihr anzuschließen. Ich sang leise mit. Im nächsten Moment legte sich das Grollen.

»Es funktioniert. Es funktioniert wirklich.« Magaly lachte, und es klang erleichtert und glücklich.

»Ähm, können jetzt auch mal alle Leute ohne magische Kräfte eingeweiht werden?«, fragte Noah. »Ich meine, es ist mir eine Ehre, euch dabei zuzusehen, aber ich wüsste schon gerne, warum alle so aufgeregt sind.«

»Wir Nymphen sind Naturwesen«, erklärte Magaly. »Wir spüren Gaias Gefühle, wir tragen einen Teil von ihr in uns. Und auch sie kann uns wahrnehmen. Wir sind miteinander verbunden, und unsere Gesänge beruhigen sie. Ein einzelner Gesang oder zwei oder drei reichen nicht, um ihre Wut zu mildern. Doch über den Omphalos können wir Nymphen auf der ganzen Welt erreichen. Es spielt keine Rolle, ob sie ihre Kräfte schon voll ausgebildet haben. Oder ob ihre Kräfte bisher blockiert waren. Die Macht, Gaia zu erreichen, liegt tief in uns. Sie ist die Natur, und wir sind Naturwesen. Wir singen für sie, und sie beruhigt sich. So können wir sie ein wenig kontrollieren.« Magaly strahlte und fügte hinzu: »Wenn wir noch viele mehr sind, können wir wahrscheinlich sogar erreichen, dass sie wieder komplett einschläft. Das ist wirklich ein Wunder.«

Tiffy lächelte triumphierend. »Das heißt also, wir können Gaia im Zaum halten. Durch eure Gesänge und die Lieder der Nymphen aus aller Welt. Eure Gesänge sind stärker als ihre Wut. Richtig?«

»Das hoffe ich.«

»Dann können wir wenigstens einen der uralten Götter in Schach halten. Das ist doch schon mal ein Riesenschritt nach vorn.« Tiffy lächelte in die Runde, und ihr Blick sollte eindeutig motivierend wirken. Ich bewunderte ihre Verwandlung – von dem schüchternen verängstigten Mädchen, das seine Mutter suchte, zu einer entschlossenen Hadestochter, die nicht aufgab, ehe sich alles zum Guten wendete.

»Du hast recht.« Ich musste sie einfach spontan umarmen. »Wie toll, dass du einfach nicht lockergelassen hast.«

Irgendwie waren wir plötzlich alle so sentimental und gerührt, dass wir uns nacheinander umarmten. Hades rollte mit den Augen angesichts dieser kitschigen Szene, schien aber ebenfalls beeindruckt von den neuen Erkenntnissen. Wir machten aus, dass die Plejaden ab sofort die Nymphen in aller Welt koordinieren würden, damit Gaia nicht weiter erwachte. Sie sollten mit ihren Gesängen dafür sorgen, dass sie nicht weiter versuchen würde, sich Uranos entgegenzustellen. Es blieb zwar immer noch das Risiko, dass die Himmelsnymphen nicht genügend andere Nymphen erreichen würden, dass die Macht ihrer Gesänge nicht groß genug sein würde, um Gaia zu jeder Zeit ruhigzustellen. Doch es war besser als gar nichts. Hauptsache, es brachen nicht noch mehr Vulkane aus und nicht noch mehr Erdteile überfluteten. Und wenn es besonders vonnöten war, konnte ich aufgrund meiner Nymphenkrone telepathisch mit den anderen Nymphen Kontakt aufnehmen und so um Hilfe bitten. Es fühlte sich gut an. Endlich war klar, dass auch wir Nymphen eine wichtige Rolle neben den Göttern spielten.

Ich sah kurz auf mein Handy. Sofort sank meine Stimmung wieder etwas. Es war 22:45 Uhr. Kaum mehr als eine Stunde und es würde ernst werden.

Noah fing meinen Blick auf. »Wie viel Zeit bleibt uns noch?«

»Eine gute Stunde.«

Noahs Blick blieb skeptisch. »Wir marschieren jetzt also auf gut Glück los und hoffen, dass wir Uranos auf dem Weg zur Erde ein Bein stellen können? Das klappt doch niemals.«

Ich gab ihm stumm recht. »Ist Uranos noch nie besiegt worden? Er hatte die Erde doch schon mal umschlungen, und sie konnte ihn vertreiben. Wie hat sie das gemacht?«

»Das hatten wir doch schon mal besprochen, oder?« Maél kratzte sich am Kinn. »Sie hat ihre Kinder losgeschickt, um gegen den eigenen Vater zu kämpfen. Die sind nur leider alle dabei gestorben.«

Das klang nicht gerade ermutigend, aber ich zückte einem inneren Impuls folgend mein Handy. Vielleicht hatten wir uns verrannt, weil wir uns hauptsächlich für Uranos interessiert hatten. Was, wenn Gaia die Lösung war? Unsere Lage schien so aussichtslos, dass wir wirklich nach jedem Strohhalm greifen mussten. Ich überflog einen Eintrag in einem Lexikon der griechischen Mythologie. Meine Augen blieben an einem Wort hängen, das ich nicht kannte: »Adamantium«. Es sollte sich hierbei um ein von Gaia erschaffenes Metall handeln, aus dem sie ihren Kindern Waffen schmiedete, um gegen Uranos zu kämpfen. Laut des Eintrags wusste niemand, wo diese Waffen nach dem Kampf verblieben waren. Sicher war nur, dass Gaia danach nie wieder Adamantium erschaffen hatte. Das klang alles nicht gerade positiv, trotzdem erzählte ich den anderen, was ich gerade gelesen hatte.

»Das Adamantium ist ein Gerücht«, sagte Hermes sofort. »Niemand hat es je gesehen oder je wieder davon gehört. Das wird uns nicht helfen.«

Hades biss die Zähne aufeinander, und sein Mund wurde ein gerader Strich. Er schien mit sich zu ringen, sagte dann aber doch nichts.

Noah seufzte. »Also bleibt es dabei? Planlos zum Eiffelturm?«

Plötzlich schien Hades sich einen Ruck zu geben. Er ließ seine Stimme betont lässig klingen, als er sagte: »Der Plan ist gar nicht so schlecht, denn das Adamantium im Eiffelturm könnte tatsächlich im Kampf gegen Uranos behilflich sein.«

Wir starrten ihn alle an.

Hermes blinzelte nervös. »Könntest du das etwas genauer ausführen, Herr der Unterwelt?«

Hades zuckte die Schultern. »Ich dürfte gar nicht mit euch darüber reden, denn es ist ein Geheimnis, das nur wir göttlichen Drei – Zeus, Poseidon und ich – kennen. Uranos' Eifersucht auf uns Olympier ist hinlänglich bekannt, ebenso wie seine Wut auf Gaia, weil sie ihn besiegen konnte. Als Sicherheitsmaßnahme haben wir heimlich in dem jeweils höchsten Bauwerk der Städte, in denen wir gelebt haben, Adamantium verbauen lassen, um Uranos den Weg zu uns abzuschneiden. Im Koloss von Rhodos in Griechenland, im Petersdom in Rom, im Eiffelturm. Am höchsten Punkt befindet sich immer eine Adamantlegierung, gefertigt aus einer der Waffen, mit denen Gaia gegen Uranos kämpfte.«

Wieder zuckte er die Schultern. »Adamantium kann Uranos vielleicht stoppen, aber als Waffe nützt es uns nichts, denn wir Götter können das Metall nicht berühren, da es von einem viel älteren Gott stammt. Wir haben menschliche Handwerker bestochen und beauftragt, die Waffen zu schmelzen und das Adamantium für uns anzubringen.«

»Das fällt dir jetzt ein, Vater?«, brüllte Maél. »Dass hier mitten in Paris eine Waffe versteckt ist, mit der man gegen Uranos kämpfen kann?«

Den anderen stand vor Überraschung und Schock der Mund offen. Ich hätte mich gern spontan hingesetzt, war aber gleichzeitig viel zu nervös, um still auf einem Fleck zu sitzen. Hermes bekam rote Flecken im Gesicht und machte sich in einer fahrigen Bewegung den obersten Hemdknopf auf.

»Ich sagte doch«, wiederholte Hades halsstarrig, »Götter können es nicht …«

»Und was ist mit Halbgöttern?« Maél schien wirklich um Fassung zu ringen. »Das darf doch wohl nicht wahr sein …«, murmelte er in meine Richtung.

Hades blieb nervtötend gelassen. Er schien ernsthaft zu überlegen. »Nun, das könnte klappen.«

Maél schien kurz davor, auszuflippen, weil Hades so ruhig schien. »Dass das hier so was wie ein Notfall ist, ist dir aber schon klar?«

»Ich hatte kurz daran gedacht, als ich meine Rache gegen Uranos geplant habe, es aber schnell wieder verworfen, weil ich es nicht …«

»Ich fasse es nicht!«, brüllte Maél erneut.

»Ich verstehe deine Wut sehr gut, Maél.« Hermes schoss einen Blick zu Hades. »Aber wir müssen uns jetzt auf das Wesentliche konzentrieren.«

»Und wie funktioniert das mit dieser Waffe?«, fragte Selkes. »Hängt die irgendwo da oben? Und wer von uns kann mit so was umgehen?«

»Ich«, sagte Maél sofort.

»Eine Waffe dort oben aufzuhängen wäre wohl etwas zu auffällig.« Hades sah Selkes an, als besäße der kein Gehirn. »Das Adamant ist in der Legierung versteckt, wie ich schon sagte.«

»Super«, gab Selkes zurück. »Das klingt echt praktisch.«

In Hades' Augen züngelten schon wieder die Flammen hoch.

»Wenn der Olymp vermutet, dass Uranos durch das Adamantium aufgehalten wird, dann ist ja vielleicht etwas daran.« Gigi sah hoffnungsvoll in die Runde. »Vielleicht braucht es ja gar keine Waffe oder einen Kampf, wenn das Metall ihn auf seinem Weg hierher ausbremst.«

»Weiß er, dass es das Adamantium auf der Erde noch gibt?«, fragte ich.

»Entweder, er ahnt es und lässt es darauf ankommen, oder er weiß nichts davon. Wir wissen im Umkehrschluss aber auch nicht, ob es ihn aufhält. Gaias Kinder waren riesige Wesen mit großer Kraft. Gegen sie sind wir Olympier nur niedliche kleine Handpuppen.« Hades kicherte über seinen eigenen Witz.

»Leute, es geht bald los.« Tiffy deutete auf ihre Armbanduhr. »Noch eine gute halbe Stunde. Was ist jetzt der Plan?«

Sie hatte recht. Für Spekulationen blieb keine Zeit mehr.

»Wir brauchen von hier aus etwa zehn Minuten zum Eiffelturm«, sagte Maél. »Ich mache mich auf zur Spitze, werde mir irgendwie diese Waffe zusammenbasteln und dann versuchen, Uranos das Ding irgendwo rein zu rammen, wo es wehtut. Sofern wir nicht Glück haben und die Sternbilder ihn so geschwächt haben, dass das Adamant ihn auf seinem Weg aufhält.«

»Das hier wird kein Alleingang.« Ich sah zu Maél. »Ich komme mit dir.« Ich rief nach Evangéline, und sie schoss hervor. »Außerdem brauchen wir Evangéline, damit sie die Legierung abtragen kann.«

Evangéline saß auf meiner Hand und schwenkte die Fühler, als wollte sie sagen: »Genau!«

Hades starrte die Motte fasziniert an, sagte aber nichts.

»Selkes und Gigi, ihr behaltet mit Hades und Hermes die Lage im Blick. Jemma, ich schicke Evangéline zu dir, sobald sie die Legierung abgetragen hat. Passt gut auf sie auf.«

Jemma und Noah nickten.

»Tiffy, du versuchst nur im Notfall, zu helfen. Wir können nicht einschätzen, wie Uranos auf dich reagiert.«

»Okay.«

»Kannst du uns nach oben bringen?«, fragte Maél an Hermes gewandt.

Der schüttelte den Kopf. »Mein Talent ist die Geschwindigkeit, aber ich kann mit meinen Schuhen nur mich selbst beschleunigen. Die Kraft würde für mehrere Personen nicht ausreichen.«

»Was ist mit mir?« Hinter Tiffys Rücken waren die Schatten ihrer großen schwarzen Flügel erschienen.

Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.

»Bist du sicher, dass du mich tragen kannst?«, fragte Maél kritisch.

Ich teilte seine Bedenken, denn er wog etwa doppelt so viel wie sie.

Tiffy zuckte die Schulter. »Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um es auszuprobieren. Wo genau wollt ihr denn hin? Auf der Spitze kann man nicht stehen.«

»Es gibt diese Wartungsplattform«, warf Selkes ein. »Sie ist für Besucher nicht zugänglich, aber sie befindet sich ziemlich weit oben. Dort kann man noch stehen, aber viel mehr auch nicht.«

»Kannst du uns dahin bringen?« Maél warf Tiffy erneut einen skeptischen Blick zu.

»Klar.« Tiffy klang so sicher, dass ich ihr glaubte.

»Perfekt. Geht’s dann los?«, fragte Hades, als wäre nichts Besonderes passiert.

Maél schüttelte noch mal fassungslos den Kopf. Ödipus klopfte ihm beruhigend auf die Schulter.

»Ich fahre den Bulli.« Hermes klimperte bereits mit den Schlüsseln. »Die Damen Plejaden bleiben hier und kommunizieren über den Omphalos mit den anderen Nymphen. Versucht, so gut es geht, Gaia ruhig zu halten.«

»Das machen wir«, versprach Magaly.

Ich musste mich zusammenreißen, um vor den anderen zuversichtlich zu wirken. Schließlich wollte ich sie nicht noch mehr beunruhigen. Doch innerlich schien ich vor Angst zu zerfließen. Was, wenn das Adamant Uranos nicht aufhielt? Was, wenn die Legierung sich nicht automatisch zu einer Waffe zurückformte? Was, wenn wir dort oben scheitern würden?

Maél nahm meine Hand, und ich lächelte ihn an. Doch innerlich war mir eiskalt vor Panik.

*

Die Straßen waren fast menschenleer. Natürlich patrouillierten an jeder Ecke Polizeiwagen, und hin und wieder hörte man aus der Ferne die Sirene der Feuerwehr. Doch ansonsten kamen wir problemlos durch.

Hermes parkte den Bulli so nah am Eiffelturm wie möglich.

Meine Schritte wurden immer schwerer, je mehr wir uns dem riesigen Gebilde aus Stahl näherten, das trotz des Ausnahmezustands hell illuminiert und so hübsch anzusehen war wie immer. Nur der grausam tobende Himmel darüber trübte die Idylle. Niemand von uns sagte etwas. Normalerweise redeten wir alle durcheinander, doch jetzt schien niemand die richtigen Worte zu finden.

Als mein Handy piepte, zog ich es überrascht hervor. Wirkte das Beruhigungsmittel des Usurpators nicht mehr? Waren meine Eltern nun in unendlicher Sorge um mich? Doch die Nachricht kam von jemandem, mit dem ich gar nicht mehr gerechnet hatte: Aphrodite. Sie hatte auf keinen meiner Kontaktversuche mehr reagiert. Ich sah mir das Foto an, das sie mir geschickt hatte. Sie im Arm von Adonis mitten im Grünen. Darunter der Text: Haben den ewigen Bund geschlossen und machen Flitterwochen im Garten der Hesperiden. Die Welt muss leider ohne uns untergehen. Gruß und Kuss!

Ich war sprachlos. Wortlos hielt ich Maél das Display hin. Er drückte mich sanft, als er die Nachricht las, doch auch ihm gelang es nicht, seine Überraschung und Resignation zu verbergen.

Hermes, der sich kurz umgesehen hatte, wirkte genauso geknickt wie ich. »So wie es aussieht, sind wir tatsächlich die Einzigen. Der Olymp wird uns nicht zur Seite stehen. Sie glauben einfach nicht, dass Uranos tatsächlich eine Bedrohung für uns sein kann. Sie sind überzeugt, dass seine Kraft im Laufe der Jahrtausende zu schwach geworden ist. Und von der besonderen Planetenkonstellation wollen sie ja erst recht nichts wissen.« Er ließ die Schultern hängen und schüttelte leicht den Kopf. »Wie kann man nur so ignorant sein?«

»Ich helfe euch.« Hades sah beifallheischend in die Runde. »Und ich bin definitiv ein Olympier.«

Tiffys Uhr piepte. »Eine Viertelstunde noch.«

»Dann gebe ich jetzt den Plejaden Bescheid, dass sie Uranos hierher locken sollen.« Über meine mentale Verbindung durch den Ring der fünf Quellen gab ich Magaly ein Zeichen. Kurz darauf begannen ihre Gesänge.

»Es geht los.« Mein Herz setzte kurz aus. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Plötzlich kam ein scharfer Wind auf. Ich legte schützend eine Hand auf Evangéline unter meinem Halstuch, Jemma hielt ihre Haare fest und Gigi duckte sich unter Selkes' Arm.

Der hell erleuchtete Eiffelturm war prachtvoll anzusehen und wirkte riesig, jetzt, da wir direkt unter ihm standen. Von dort oben sollten wir uns so einem übermächtigen Gegner entgegenstellen. Ich sah kurz zu Maél, dessen Blick ebenfalls auf den Eiffelturm gerichtet war. Der Wind schien noch mal Fahrt aufzunehmen. Es war ein surrealer Moment.

Da standen wir nun und starrten hinauf in den immer schwärzer werdenden Himmel. Wir waren so weit gekommen, und nun rüsteten wir uns für die letzte Schlacht. Komme, was wolle. Ich ließ den Blick über meine Freunde gleiten. Jemma und Noah standen so nah nebeneinander, dass sich ihre Schultern berührten. Sie wirkten wie eine Einheit. Jemma in ihrer unerschütterlichen Beständigkeit und Noah ruhig und gelassen wie schon lange nicht mehr. Daneben Gigi und Selkes. Der blonde Hüne mit den breiten Schultern und den durchdringend türkisblauen Augen hielt Gigi in seinen Armen, die furchtlos gen Himmel sah. Ödipus stand neben Tiffy, grimmig und leidenschaftlich durch den jahrtausendelangen Schmerz, den er zu all dieser Wut und Entschlossenheit kanalisierte. Tiffy hatte die Augen zusammengekniffen und den Mund abschätzig verzogen. Ihr Haar wirkte wie schillernde Flammen, die lautlos um ihren Kopf züngelten. Hades stand ein wenig abseits, immer noch voller Trauer und doch so wütend, dass das Gras um seine Füße zu Asche verglomm.

Ich spürte meine eigene feurige Kraft in mir emporsteigen.

»Sind wir soweit?«, fragte Maél.

»Klar sind wir bereit.« Selkes sah sich zu Maél um. »Wir sind eine verdammte Gang, Mann.«

Maél lachte dunkel. »Wir sind eine Gang.« Er sah zu Tiffy. »Brechen wir auf?«

In dem Moment fegte eine so heftige Windböe über uns hinweg, dass die zierliche Tiffy Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.

Maél betrachtete sie stirnrunzelnd. »Vielleicht warten wir doch lieber noch kurz ab, ob der Wind sich legt.«

Er schnippte mit dem Finger, und um ihn herum wallte Dunkelheit auf wie eine alles verschlingende Flut. »Jetzt machen wir ihn fertig.« Er sah zu mir.

Ich wandte mich ihm mit meinem ganzen Körper zu, und seine Dunkelheit hüllte mich ein.

Ich liebe dich.

Ich hörte seine Worte, obwohl er sie nicht ausgesprochen hatte. Ich fühlte sie durch unsere Verbindung, ich schmeckte sie auf meiner Zunge.

Ich liebe dich … Ich liebe dich … dich für immer, schon immer, immer nur dich …

Ich schloss die Augen, nur für einen kurzen Moment, und ließ es zu, wie high seine Worte mich machten.

Ich liebe dich auch.

Wir umklammerten uns noch fester, Maéls Wange presste sich gegen meine Schläfe, sein rasendes Herz schlug gegen meines.

»Egal, was kommt, wir werden damit fertig«, flüsterte er.

Ich nickte. »Für Agada, die an die Schicksalsgöttinnen geglaubt hat.«

Er schluckte schwer, dann löste er sich von mir.

Es wurde ganz still. Es fühlte sich an, als hätte jemand den Wind einfach ausgeknipst. Der Erde jedes Geräusch entzogen. Die Wolken am Himmel standen alle still.

Tiffys Uhr piepte wieder leise. »Noch fünf Minuten.« Sie schlug ungeduldig mit ihren schwarzen Flügeln. Die Stunde null hatte fast begonnen.

»Es wird Zeit, Maél«, drängte ich. »Wir müssen aufbrechen!«

Im nächsten Moment riss die Wolkendecke auf, als öffnete sich der Vorhang einer Theaterbühne. Zum Vorschein kam der tiefschwarze Nachthimmel.

Hades sagte nur drei Worte, doch in seiner Stimme schwang so viel mehr mit. »Da ist er.«

»Er schafft es«, flüsterte Hermes. »Oh weh, Olymp, was habt ihr euch verrechnet.«

»Aber er ist zu schwach, um überall gleichzeitig anzugreifen.« Hades sah immer noch in den Himmel. »Das da ist lediglich ein kleines Portal. Das könnte eine Chance sein.«

Maél neben mir zuckte zusammen, als die »Rune des Verräters« am Himmel erschien. Nein, das hatte Enko nicht verdient. Ich drückte Maéls Hand.

Ein Grollen lief durch die Erde, und der Boden wackelte leicht. Gaia hatte ebenfalls gemerkt, wer auf dem Weg war. Ich konnte nur hoffen, dass Magaly ihr Bestes tat – und dass die erwachenden Kräfte aller Nymphen dieser Welt ausreichen würden, um Gaia zu beruhigen.

Schon wieder wackelte die Erde.

»Wenn das so weitergeht, wird uns der Eiffelturm entgegenfallen.« Selkes hatte mit einer Hand seine Augen abgeschirmt und sah skeptisch zum Turm hoch.

In meinem Kopf hörte ich, wie Magaly zu den anderen Nymphen sprach und versuchte, Ordnung ins Chaos zu bringen.

Irgendwo in der Nähe krachte es, und es klang so, als hätte sich eine Erdspalte aufgetan. Die Erde schien sich immer noch zu wehren. Dann hoben die Gesänge an. Erst leise und unsynchron, doch dann schienen die Nymphen ihre Stimmen zu finden. Das Lied klang plötzlich harmonisch, obwohl sie es in Dutzenden Weltsprachen sangen. Auch ich kannte die Melodie, ganz intuitiv, als wüsste mein Nymphenerbe, was Gaia hören wollte, um wieder einzuschlafen. Es war surreal, mit dem strahlenden schwarzen Nachthimmel über mir und diesem Chor an Frauenstimmen in meinem Ohr, der immer mehr an Macht zu gewinnen schien.

Die Schwärze über uns schien sich mehr und mehr zu verdichten. Dann ballte sie sich endgültig zusammen und explodierte in einem Strudel, der irgendwann eine Spitze auszubilden begann.

»Ein Wirbelsturm?«, keuchte Noah atemlos.

»Wie sollen wir bei dem Wetter nach oben kommen?« Maél sah zu mir. »Das schafft Tiffy doch nicht.«

Darauf wusste ich keine Antwort.

Wir beobachteten, wie sich einzelne Tropfen aus dem Strudel lösten. Drei, vier dicke schwarze Tränen, die kontinuierlich zur Erde sanken.

»Haltet sie auf!«, brüllte Hades. »Nichts davon darf die Erde berühren. Es wird sie reizen, und dann können wir Gaia endgültig nicht mehr aufhalten. Sie wird sich wehren.«

»Ich fasse die Dinger nicht an!«, schrie Selkes.

»Wartet!« Hermes machte eine Geste, und die beiden goldenen Schlangen erschienen im Ausschnitt seines Oberhemdes. Sie glitten an seinem Körper entlang und wurden kontinuierlich größer. Die Tropfen kamen immer näher. Die Schlangen reckten sich und schafften es, alle vier Tropfen aufzufangen. Es zischte und brodelte, als sie in ihren goldenen Körpern verschwanden, doch sie schienen ihnen keinen Schaden zuzufügen.

»Hier ist noch einer«, rief Selkes und stürzte nach rechts. Gigi schrie auf, doch es war zu spät. Der Tropfen war kleiner als die, die die Schlangen verschlungen hatten. Trotzdem schrie Selkes jämmerlich auf, als das tiefschwarze Tröpfchen seine Haut berührte. Er wurde bleich, dann fiel er zu Boden und bewegte sich nicht mehr. Gigi stürzte auf ihn zu, und wir anderen folgten ihr.

»Macht Platz.« Hermes drängte sich zwischen uns durch. »Lasst meine Schlangen zu ihm durch.« Die zwei goldenen Reptilien schlängelten auf Selkes zu.

Ich presste die Hand vor den Mund, als sie beide ihre Mäuler aufrissen und die Fangzähne bleckten. Gigi wollte die Schlangen aufhalten, doch Hermes ließ es nicht zu. Die beiden Tiere schlugen ihre Reißzähne in Selkes' Fleisch.

Irgendwo hinter mir hörte ich Jemma schluchzen. Es vergingen nur Sekunden, dann schien das Leben in Selkes zurückzukehren. Die Schlangen ließen von ihm ab, und er richtete sich auf. Ich hätte nie gedacht, dass sie solche Heilkräfte besäßen.

»Alter …« Er rieb sich über die Stirn. »Was für ein Trip. Mannomann …«

»Alles okay?« Gigi strich ihm besorgt über die Stirn.

»Ja, alles gut.« Schon drückte er sich vom Boden wieder hoch. »Was ist passiert?«

Wir wechselten Blicke untereinander, dann sah Maél wieder nach oben.

»Das erklären wir dir später.« Hermes pfiff seine Schlangen zurück zu sich.

»Da kommen noch mehr«, rief Maél. »Ich glaube nicht, dass deine Schlangen die alle stoppen können.«

Hermes sah verzweifelt auf seine zwei kleinen goldenen Helfer, die sich schon wieder bereit machten. »Wir bräuchten ein riesiges Tuch oder eine Art Zelt, das wir aufspannen können, damit die Tropfen nicht die Erde berühren.«

»Ich habe eine Idee. Es gibt hier doch diesen Park mit dem Wasserbecken …« Selkes presste beide Hände an die Schläfen und schien sich zu konzentrieren.

Die Tropfen sanken immer tiefer.

Da erschien wie aus dem Nichts ein Teppich aus Wasser. Er schwebte unter Selkes' Anweisung heran, und die Tropfen fielen zischend in das Wasser, doch sie durchdrangen es nicht. Kein Tropfen berührte die Erde.

»Wahnsinn. Du kannst das Wasser manipulieren!«, schrie Noah. »Das ist ja so was von Percy Jackson.«

Auf Selkes' Stirn bildeten sich Schweißtropfen, doch er rang sich ein schiefes Lächeln ab. »Na klar. Und genau wie er kann ich die Aquaman-Sprüche nicht mehr hören.«

»Wie beeindruckend«, meinte Jemma. »Ich wusste gar nicht, dass du solche Kräfte hast, Selkes.«

»Flussgott halt«, erwiderte Selkes bescheiden. »Wasser ist mein Ding.« Er zwinkerte Gigi zu, die immer noch ziemlich blass um die Nase schien.

»Vorsicht«, brüllte Hermes in diesem Moment. Offenbar hatten wir einen Tropfen übersehen, der nun direkt auf Jemma und Noah zuraste. Hermes aktivierte seine Flügelschuhe und war in der nächsten Sekunde bei ihnen und riss sie zur Seite. Selkes machte eine schnelle Handbewegung nach rechts, und der Wasserteppich dehnte sich so weit aus, dass er auch diesen Tropfen aufhalten konnte.

Wieder mal griffen die Fähigkeiten all meiner Freunde wie Zahnräder ineinander. Wir funktionierten wie ein Uhrwerk. In diesem Moment war ich mir noch sicherer als jemals zuvor, dass es der Plan der Moiren gewesen war, dass wir Uranos gemeinsam aufhalten sollten.

Doch dann nahm der Wind Fahrt auf, und plötzlich segelten unzählige Tropfen vom Himmel. Selkes versuchte, seinen Wasserteppich noch zu strecken, doch irgendwann brach seine Macht und das Wasser klatschte zu Boden.

Die Tropfen näherten sich unaufhaltsam dem Boden. Wir würden sie nicht aufhalten können.

»Jetzt lasst mal den Profi ran«, rief Hades. Er brüllte einen Befehl in einer gutturalen Sprache. Seine Söhne erschienen, und zur gleichen Zeit bohrten sich unzählige Skelette durch den Boden. Manche trugen altmodische Trachten, andere Uniformen aus römischer Zeit, manche sogar nur Felle. Doch sie alle waren bewaffnet. Es war eine Armee der Toten. Seine Söhne schienen sie zu koordinieren, und zwei von ihnen erkannte ich sogar wieder, denn ich hatte sie in den Katakomben bereits kennengelernt. Maurice deutete eine spöttische Verbeugung in meine Richtung an. Dann waren die Tropfen plötzlich gefährlich nah, und die Skelette stürmten los. Sie fingen die schwarze Flüssigkeit mit ihren Knochenkörpern auf, wo sie wirkungslos verpuffte.

Es schien tatsächlich, als wäre diese Gefahr vorerst gebannt. Doch die Tropfen waren nur Vorboten.

»Wir müssen endlich nach oben«, rief ich. »Wir brauchen die Waffe, wenn Uranos sich manifestiert!«

Unter unseren Füßen bebte erneut die Erde. Wieder hoben die Gesänge der Nymphen an, wurden lauter und leidenschaftlicher. Das Grollen verklang.

»Tiffy, schaffst du das?«, rief ich.

»Probieren wir es aus.« Im nächsten Moment hatte sie Maél ihre Arme um die Taille geschlungen, und schon hoben sie ab.

Über uns nahm der Tornado aus Dunkelheit Fahrt auf.

Tiffy und Maél stiegen immer höher, und irgendwann konnte ich sie kaum noch erkennen.

»Unglaublich«, murmelte ich.

»Das ist meine Tochter.« Hades klang so stolz, wie ein Vater nur klingen konnte. »Sie kommt ganz nach mir.«

Hermes verdrehte die Augen.

Wenig später war Tiffy wieder da. Sie wirkte zwar etwas außer Atem, aber nicht entkräftet. »Jetzt du?«, fragte sie lächelnd.

Ich nickte. Sie fasste auch mich um die Taille, und im nächsten Moment zerzauste der Flugwind mir die Haare. Paris von oben war trotz des Weltuntergangs atemberaubend schön.

»Unglaublich!«, rief ich erneut.

Sie lachte einmal kurz auf, und schon waren wir am Eiffelturm entlang nach oben geflogen. Maél kauerte auf der Plattform, die wirklich winzig war. Ich bedankte mich bei Tiffy, während sie mich absetzte, und nahm ihr das Versprechen ab, keine Dummheiten zu machen und auch darauf zu achten, dass die anderen nicht die Helden spielten. Als sie verschwunden war, hielt ich mich an dem Geländer fest und drehte mich zu Maél. Es war so niedrig, dass er nur gebückt stehen konnte, wenn er sich daran festhielt. Es war nicht mal ein durchgehendes Geländer angebracht, nur Streben, die sich hin und wieder kreuzten. Dazwischen war nichts als freier Raum, durch den man hinabstürzen konnte. Ich fröstelte, und Angst stieg in mir auf. Ein falscher Schritt, und ich würde mich im freien Fall befinden. Maél tastete nach meiner Hand, als wolle er mir dadurch Halt geben.

Und nun? Er sah mich ratlos an.

Ich ließ den Blick schweifen. Paris bei Nacht war wirklich wunderschön. Die Seine schlängelte sich wie eine riesige Schlange durch das Lichtermeer der Häuser. Ob ich es das letzte Mal sehen würde?

»Komm her.« Ich zog Maél noch näher zu mir.

»Die Stadt der tausend Lichter.« Er legte seinen Kopf auf meine Schultern. »Sie hat mich vom ersten Moment an fasziniert.«

Ich drehte mich zu ihm um. »Wir werden sie retten. Damit wir für immer in ihren Straßen spazieren gehen können.«

Er lächelte mich an. »Du bist das mutigste Wesen, das mir je begegnet ist.«

»Und danach falle ich immer in Ohnmacht.«

Maél wollte etwas erwidern, doch dann glitt sein Blick an mir vorbei und er wurde ganz bleich. Langsam drehte er mich an den Schultern um. Wir befanden uns nun so hoch oben, dass wir den Wirbelsturm besser sehen konnten. Von hier aus wirkte er wie eine rotierende Wasseroberfläche. Es war ein beängstigender Anblick.

Ich rief mental nach Evangéline. Ihre Flügel zitterten im Wind, als sie auf meine Hand krabbelte. Ich streichelte sie kurz. Nun war ihre große Stunde gekommen. Holst du uns das Adamantium, kleine Motte? Es befindet sich oben an der Spitze.

Evangéline schoss davon, und ich sah ihr in dem wirbelnden Wind nach. Ich betete, dass sie unversehrt zu uns zurückkehren würde.

Noch mal schwankte der Eiffelturm, und Maél und ich hielten uns mühsam am Geländer fest. Es schien ewig zu dauern bis Evangéline wieder da war. Sie schüttelte ihre Flügel, und etwas Glänzendes formte sich aus dem rieselnden Metallstaub. Es fiel klappernd zwischen unsere Füße. Maél hob den Dolch auf und wog ihn prüfend in der Hand. Wir sahen uns an und teilten denselben Gedanken. Ziemlich klein, um damit gegen den Himmel zu kämpfen.

Maél ließ die Klinge zwischen seinen Fingern tanzen. Ich schickte Evangéline nach unten und sah ihr nach, bis sie außer Sichtweite war. Ich konnte nur hoffen, dass sie sicher bei Jemma und Noah ankam.

Noch mehr Wind kam auf und presste mir meinen Mantel eng um den Körper. Über uns wurde das Rauschen des Wirbelsturms lauter, dann sank er tiefer, bis er sich ungefähr auf unserer Höhe befand. Maél schob mich hinter sich und nahm Kampfposition ein. Eigensinnig stellte ich mich zurück neben ihn. Wärme wallte in meinem Körper auf und strömte durch meine Glieder. Ich würde mich nicht verstecken. Wir würden gemeinsam kämpfen. Wir konnten jetzt erkennen, dass sich im Auge des Sturms eine Vertiefung formte. Und genau aus dieser Vertiefung schien sich nun etwas zu erheben.

Ein Kopf tauchte aus dem wirbelnden schwarzen Sturm auf. Ich erkannte ihn, obwohl er wieder nur durchscheinend wie eine Astralprojektion wirkte.

Uranos, der Herr des Himmels.

Gaia bäumte sich auf. Der Eiffelturm stöhnte und schwankte. Maél und ich schrien beide auf, was uns wohl die Aufmerksamkeit des Himmelsgottes einbrachte.

Es war ein faszinierendes Schauspiel. Er schien sich aus der wirbelnden Dunkelheit zu formen. Erst jetzt erkannte ich die schimmernden Lichtpunkte darin. Er würde sich aus einem Teil des Firmaments manifestieren.

Maél rief alle seine Kräfte an. Ich spürte die Schatten und wie er ihre Kraft bündelte. Das heiße Feuer der Sonne jagte durch meine Adern wie ein Weckruf für all meine Zellen, als plötzlich direkt neben uns ein Lachen erklang. Es schien, als wäre der Wirbelsturm näher an den Eiffelturm herangerückt. Uranos wirkte bedrohlich, nun da er bereits zur Hälfte seine menschliche Gestalt angenommen hatte.

»Ihr kommt zu spät.«

Maél knurrte. »Du wiederholst dich.«

Wir hielten uns an den Streben fest, denn wieder schwankte der Eiffelturm bedenklich. Ich musste eine Hand über die Augen legen, so eisig kalt war der Wind, der von dem schwarzen Wirbelsturm ausging.

Der ganze Turm wankte hin und her, dieses Mal so stark, dass meine Sohlen fast wegrutschten. Ich rief mental nach Magaly am Omphalos. Wir brauchen Hilfe! Gaia muss sich beruhigen oder der Turm wird einstürzen. Auch ich bat meine Schwestern um Hilfe, und sofort schwollen die Gesänge der Nymphen noch mehr an, und Sekunden später beruhigte sich die Erde ein wenig. Es war beeindruckend mitzuerleben, wie viel Macht die Nymphen gemeinsam über Gaia zu haben schienen.

Uranos sah mir direkt in die Augen. »Ihr könnt mich nicht aufhalten. Egal, wie laut deine Schwestern auch singen. Bald werden sie nur noch für mich singen, genau wie die Plejaden.«

»Du wirst niemanden mehr quälen!«, rief ich. »Wir schicken dich dahin zurück, wo du hingehörst.«

Uranos lachte erneut. Mittlerweile war seine Gestalt fast vollständig aus dem Wirbelsturm aufgetaucht. »Dann sing mal schön weiter, Nymphe!«

Erst da wurde mir bewusst, dass er offenbar gar nicht bemerkt hatte, dass ich auch eine Halbgöttin war.

Uranos streckte sich theatralisch. Er wirkte so siegessicher, dass es mir gewaltige Angst hätte einjagen sollen. Stattdessen dachte ich immer noch darüber nach, warum er so reagiert hatte. Ob es ihn beunruhigt hätte, wenn er in mir die Halbgöttin erkannt hätte, die ich war?

Ich sah zu Maél. Er war der Sohn der Nachtgöttin. Einer Göttin, die – ebenso wie der Sonnengott Helios – dem Firmament, dem Himmel, Leben einhauchte. Ohne diese beiden und die vielen anderen Götter wäre der Himmel nur eine unbelebte Atmosphäre, die uns vom Weltraum trennte.

Er hält mich nicht für eine Bedrohung. Er weiß nicht, wer ich bin. Irgendwo im Hinterkopf hörte ich die drei Küchenfrauen, aka die Moiren, leise kichern.

Uranos kam noch näher. Maél warf ihm seine Schatten entgegen, doch er lachte nur. Sie hatten ihn kaum getroffen. Am Boden hörte ich die anderen schreien, weil sich immer mehr tödliche schwarze Tropfen aus dem Wirbel lösten. Wie lange würden sie sie noch aufhalten können, ohne dass jemand ernsthaft zu Schaden käme? Früher oder später würden sie die Erde berühren und Gaia würde endgültig in Panik ausbrechen.

Uranos war nun so nah, dass ich jede Narbe auf seinem Gesicht erkennen konnte. Der wirbelnde Nebel gab ihm einen letzten Aufwind, und da stand er auf einer Plattform aus schwarzem Eis. Manifestiert in einer menschlichen Gestalt, knapp zwei Meter groß und mit der Figur eines Straßenkämpfers.

Er drehte sich spöttisch einmal um sich selbst. Auf seiner Haut schimmerten Dutzende Sternbilder. »Na? Gefalle ich euch?«

Er schien uns eindeutig nicht für eine Bedrohung zu halten. Spöttisch salutierte er und wollte sich dann wieder abwenden. »Wir sehen uns in meinem neuen Reich!«

Er hatte uns nicht mal angegriffen! Für so wenig bedrohlich hielt er uns also. Eine Welle der Resignation traf mich wie eine kalte Dusche.

Maél hatte die Kiefer vor Wut zusammengepresst. »Uranos!«

Der Herr des Himmels drehte sich zu ihm zurück, ein geringschätziges Lächeln im Gesicht.

»Ich fürchte, daraus wird nichts.« Maél ließ die Klinge herumwirbeln.

Uranos lachte wieder. »Wenn du dein Mädchen beeindrucken willst, geh mit ihr Eis essen. Das ist weniger gefährlich.«

Im nächsten Moment flog Maél ihm schon entgegen und zielte mit dem Dolch auf sein Herz. Uranos wirkte für einen Moment überrascht. Er starrte das Metall an, doch dann hatte Maél ihn schon erreicht. Er schaffte es, Uranos zu Boden zu reißen. Ich musste zur Seite springen, als die beiden auf die Plattform rollten.

Es gelang Maél, Uranos mit der Klinge am Oberarm zu verletzen. Pechschwarzes Blut quoll hervor. Der Herr des Himmels schlug nach Maél, doch er verfehlte ihn. Maél gewann kurz die Oberhand. Er hob die Klinge und zog sie quer über die Brust seines Gegners. Uranos brüllte auf, ob vor Schmerz oder lediglich Wut, vermochte ich nicht zu sagen. Er traf Maél mit der Faust in den Bauch, rollte sich über ihn und schien ihn mit seinem Gewicht erdrücken zu wollen.

Doch Maél war ein zäher Kämpfer. Er bekam die Hand mit der Waffe frei und rammte sie Uranos in die Seite. Noch mal holte er blitzschnell aus und traf den Himmelsgott ein weiteres Mal. Dort, wo das Adamantium ihn getroffen hatte, begannen die Wunden nun zu zischen und zu brodeln. Maél starrte darauf, genau wie ich, und war so einen Moment abgelenkt.

Uranos legte die Finger um Maéls Handgelenk und drückte brutal zu.

Maél schrie auf, doch er ließ nicht los.

Die beiden kämpften noch einen Moment um die Waffe, bis Uranos in Gelächter ausbrach, so als könnte er sich einfach nicht mehr zurückhalten. Er hatte uns die ganze Zeit nur verhöhnt.

Im nächsten Moment war schon alles vorbei. Uranos gewann mühelos die Oberhand, dann schlug er Maél mit voller Kraft ins Gesicht. Blut spritzte, und ich hörte meinen eigenen Schrei wie aus weiter Ferne. Der Dolch glitt aus Maéls Hand.

Einen ewigen Moment schien ich wie paralysiert, gefangen von der Sorge um Maél, doch dann fiel mein Blick auf den Dolch. Ich stürzte mich darauf, griff ihn mir, doch Uranos stand schon wieder auf seiner dunklen Plattform. Maél regte sich nicht mehr. Tränen schossen in meine Augen.

»Fahr zur Hölle!«, brüllte ich und schleuderte Uranos den Dolch entgegen. Ich hatte so etwas noch nie gemacht. Uranos lachte erneut und deutete wieder eine spöttische Verbeugung an. In dem Moment streifte der Dolch seinen Oberarm. Ich sah den Schmerz in seinem Gesicht, und dann brandete Wut in seinen Zügen auf. Wir starrten uns an. Innerlich war ich bereit, vor Angst zu sterben, doch ich musste um jeden Preis verhindern, dass er sich der Erde weiter näherte.

»Und jetzt?«, sagte Uranos. »Singen wir gemeinsam ein bisschen?«

Ich wollte etwas erwidern, doch da schwang die Plattform zurück zu dem Wirbelsturm und eine Treppe erschien darin.

»Wir sehen uns, Nymphe!« Über ihm begann sich die wirbelnde Dunkelheit zu schließen. Er war auf dem Weg zur Erde.

Ich hörte die Nymphen verzweifelt singen, Gaia vor Wut stöhnen, meine Freunde am Boden schreien. Ich hatte es nicht geschafft. Hatte den Plan der Moiren nicht durchschaut. Ich hatte versagt.

Maéls lebloser Körper rollte hin und her, während der Eiffelturm gefährlich schwankte. Ich stürzte zu ihm. Sein Kopf blutete stark.

»Maél«, rief ich verzweifelt. »Maél, bitte …« Ich tätschelte hektisch seine Wange. »Bitte, Maél …«

Er rührte sich nicht.

Wieder schwankte der Eiffelturm.

Ich wurde panisch. Der Wind riss an meinen Haaren, und in meinem Kopf hörte ich die Nymphen singen.

»Maél, bitte …« Wieder streichelte ich seine Wange.

Das Metall der Streben ächzte, als der Eiffelturm von innen heraus zu stöhnen schien. Lange würde er uns nicht mehr tragen.

»Maél!« Ich schüttelte ihn leicht. Tränen rannen über meine Wangen. Der Wind war so eiskalt, dass es sich anfühlte, als würde er auf meiner Haut sofort gefrieren. Intuitiv rief ich nach den Kräften von Helios, und seine Wärme duchströmte mich.

»Bitte …«

Es schien ewig zu dauern, bis Maéls Augenlider flackerten.

»Wo ist er?«, murmelte er, kaum dass er die Augen aufgeschlagen hatte.

»Wie geht es dir? Sei vorsichtig, dein Kopf blutet.« Ich schob meine Hand in die Tasche meiner Jeans, in der Hoffnung ein Taschentuch zu finden … und ertastete etwas Knisterndes. Ich zog es hervor. Auf meiner Hand lag ein altmodisch verpacktes Colabonbon. Das Bonbon, das die Moiren mir hatten zukommen lassen. Wie hatte ich es vergessen können?

Der Wind pfiff in meinen Ohren, meine Hände zitterten leicht. Unter uns war Uranos auf dem Weg zur Erde. Unaufhaltsam, grausam, zerstörerisch.

Das hier wird ihre Kräfte bündeln. Der Satz hallte seltsam bedeutungsschwer in mir nach.

Kräfte bündeln. Was sollte das bedeuten? War es Zufall, dass ich in einer so ausweglosen Situation wie dieser ausgerechnet jetzt nach diesem Bonbon griff? Einem Bonbon, das bloß ein kleines Klümpchen aus Zucker und Aroma war? Dennoch … der Gedanke ließ mich nicht los. Was hatte das ausgerechnet in diesem Moment zu bedeuten?

Bei allen Göttern … Sie hatten es gewusst. Die Moiren hatten gewusst, dass wir zwei uns Uranos im finalen Kampf stellen würden.

Ich sah zu Maél. »Vertrauen wir den Moiren.«

»Was?« Mühsam setzte er sich auf. Ich sah die Ratlosigkeit in seinem Blick.

Wieder schwankte der Eiffelturm, und wir klammerten uns Halt suchend aneinander.

Doch Stück für Stück setzten sich die Fragmente des Plans in meinem Kopf zusammen. Das Colabonbon, klein, harmlos und sogar irgendwie romantisch, könnte der letzte Hinweis sein. Ich war eine Tochter von Helios. Maél war der Sohn der Nachtgöttin. »Wir sind Tag und Nacht, Maél«, erklärte ich aufgeregt. Mir fiel ein, was ich Enko über uns erzählt hatte. »Wir beide sind Licht und Schatten. Wir existieren nicht ohne einander.«

Maél sah fragend auf das Bonbon und schien immer noch nicht zu verstehen.

»Zusammen sind wir das, was Uranos ausmacht. Tag und Nacht. Licht und Dunkelheit. Eine Tochter des Sonnengottes, der am Tage regiert. Und ein Sohn der Nachtgöttin, die bei Nacht regiert.« Ich sah ihn eindringlich an. »Alle anderen Götter des Himmels sind verschwunden. Entführt, vielleicht sogar getötet. Wir sind die eigentliche Macht. Uranos ist nur unser Spielplatz. Wir sind es, die den Himmel lebendig machen. Wir haben eine viel größere Macht als er, und wir sind die Letzten, die ihn aufhalten können.«

»Aber wie nutzen wir unsere Kräfte? Ich habe es versucht, und es hat ihn nicht mal gekitzelt.«

Zusammen kamen wir auf die Füße und sahen nach unten, wo der Tornado breiter wurde und sich immer mehr der Erde näherte.

»Nicht mehr lange und er setzt einen Fuß auf die Erde.« Maél klang resigniert.

Als hätte Gaia uns gehört, brach unweit des Champs de Mars der Boden auf. Ich hörte die Schreie der anderen von unten. Sollte es wirklich schon zu spät sein?

Verzweifelt versuchte ich mich zu konzentrieren. Das Bonbon … es musste mehr sein als nur ein Hinweis … Es musste … Ich stockte. Es musste uns helfen.

Dann wurde mir alles klar. Ich wickelte das Bonbon aus und schob es mir in den Mund.

Maél sah mir ungläubig zu. Wer lutschte schon im Angesicht des Weltuntergangs noch schnell ein Bonbon?

Süß und sauer zugleich schmolz es auf meiner Zunge. Ich zog Maél zu mir. »Es wird unsere Kräfte bündeln. Nur so können wir ihn stoppen!«

Maél sah mich einfach nur an.

Aus der Erdspalte im Boden hörten wir knisternd Feuer und Magma emporsteigen. Gaia holte zu einem vernichtenden Schlag aus. Unsere Freunde und alle, die wir liebten, würden sterben in diesem Kampf, den die Erdgöttin und der Herr des Himmels gerade begannen.

»Vertrau mir.«

Der Eiffelturm schwankte. Wir hielten uns aneinander fest. Das hier war unsere letzte Chance.

Ich sah Maél an. Ich wollte ihn nie wieder verlieren, das durfte einfach nicht passieren. Doch selbst, wenn unsere Seelen untersterblich waren, wie sollten wir …? Ein weiteres bedrohliches Grollen unterbrach meine Gedanken. Keine Zeit mehr für Fragen.

Maél lächelte, und die Galaxien tanzten in seinen Augen.

Keine Zeit mehr …

Ich küsste ihn.

Wir teilten uns das Colabonbon, das schon fast vollständig geschmolzen war.

Ich spürte seine Dunkelheit, noch bevor mir klar wurde, dass es funktionierte. Maéls Lippen waren ganz warm geworden. Licht und Schatten prallten funkensprühend aufeinander. Die strahlende Helligkeit der Sonne schmiegte sich an die Schwärze der Nacht.

Wir schaffen das, flüsterte ich durch unsere mentale Verbindung, unsere Lippen immer noch untrennbar miteinander verschmolzen.

Wir schaffen das, flüsterte er zurück. Ich liebe dich, vergiss das niemals. Er hielt mich noch fester. Ich schloss die Augen.

Wir lehnten uns gemeinsam zur Seite, bis die Schwerkraft sich unserer Körper bemächtigte.

Wir fielen. Fielen hinein in den schwarzen Wind, in die kreisende Schwärze, in den Wirbel aus Himmel, zu dem Uranos mittlerweile geworden war.

Eiskristalle rissen an meiner Haut, tanzende Lichtpunkte brannten wie Nadelspitzen. War es schon zu spät?

Wir finden uns wieder, hörte ich Maéls Stimme in meinem Kopf. Ich verspreche dir, wir finden uns wieder.

Ich spürte Uranos mehr, als dass ich ihn sah. Wir prallten mit ihm zusammen, mit dem, was er jetzt war, und doch empfand ich keine Schmerzen. Wir verschmolzen miteinander, und unsere Kräfte rangen um die Oberhand. Uranos stieß Maél hart von sich, und ich spürte, wie mir ein Stück Dunkelheit entrissen wurde. Er hatte ihn erneut verletzt.

Doch ich gab nicht auf. Ich tauchte mitten hinein in das, was Uranos ausmachte. Die Schwärze, die Wut, die ungezügelte Kraft eines uralten Gottes. Ich spürte meinen eigenen Körper nicht mehr, schien nur noch aus den Kräften von Tag und Nacht zu bestehen. Maél neben mir rappelte sich irgendwie auf.

Livia.

Ich erschrak, als mir klar wurde, dass es nicht Maéls Stimme war.

Livia, ich bin hier.

Ein Funkeln, der Hauch einer Erinnerung, das Echo eines selbstsicheren Lachens, fliegende weißblonde Haare.

Enko! Ich hätte nicht sagen können, ob ich seinen Namen laut gerufen hatte.

Wir sind alle hier. Wir helfen euch. Ihr habt Uranos mit der Klinge verletzt und dadurch so geschwächt, dass wir ihn nun angreifen können.

Uranos brüllte auf, als er verstand. Enko gab einen Schmerzenslaut von sich.

Die Sternbilder waren überall. Ich sah einen Bären und den wilden Steinbock. Den Drachen, wie er die Zähne bleckte. Durchscheinend, definiert von ihren Sternen, aber doch seltsam real. Sie rissen ganze Stücke aus Uranos, und dort, wo sie ihn verletzten, quoll noch mehr Schwärze hervor.

Uranos wollte sich wieder manifestieren. Er hatte begriffen, dass er in seiner menschlichen Gestalt mächtiger war und auch seine Sternbilder besser kontrollieren konnte.

Etwas in meiner Nähe pulsierte. Dumpf, hohl und bedrohlich.

Wieder schrie Uranos auf, als die Sternbilder ihn angriffen. Er verdichtete sich immer weiter. Irgendwo sah ich eine Hand, deren Finger sich streckten. Ein Bein begann sich zu formen.

Ich griff nach dem pulsierenden Etwas. Mein Atem stockte, als mir klar wurde, was ich dort berührte.

Uranos' Herz.

Ein schwarzer Klumpen aus Hass und ewiger Leere. Ein Gefäß, das um die Bedeutungslosigkeit seines Seins wusste. Ohne uns war Uranos ein Nichts. Wir waren sein Leben. Und wir würden über sein Schicksal entscheiden.

Uranos brüllte auf. Mit einem seiner bereits verwandelten Arme griff er nach mir, doch er bekam mich nicht zu fassen.

Maél! Ich rief nach ihm.

Plötzlich spürte ich ihn neben mir. Ich bin hier.

Uranos' Herz war riesig, scharfkantig und schwer. Es pulsierte so stark, dass ich es kaum halten konnte.

Maél legte seine Hände über meine, er hatte verstanden.

Danke, Enko, danke euch allen!

Zu zweit hielten wir sein Herz.

Wir schaffen das.

Ich spürte Maél, seine Liebe, seine Loyalität, sein blindes Vertrauen. Gefühle, die ich genauso für ihn empfand. Dort, wo Maél und ich einander berührten, schossen unsere Kräfte von einem Körper zum anderen. Wir verbanden uns. Licht und Schatten. Tag und Nacht. Seine Dunkelheit umarmte mich. Meine Helligkeit hüllte ihn ein. Unsere Kräfte verschmolzen. Wir wurden eins.

Uranos' Herz stand einen Moment lang still.

Ruhe. Frieden. Irgendwo das leise Lachen der Moiren.

Dann zersprang sein Herz zwischen unseren Händen wie eine Nagelbombe.

Kälte.

Schmerzen.

Dunkelheit. So viel Dunkelheit.