XXXI.

»Wer ist da?« Ecki glaubte den Namen nicht richtig verstanden zu haben.

»Ein Anwalt aus Düsseldorf. Leuchtenberg heißt er.« Der Kollege von der Leitstelle wirkte leicht genervt.

»Schick ihn rauf, Rainer.«

Kaum zwei Minuten später ging die Tür auf, und der Anwalt schob sich geschmeidig in das Büro der beiden Ermittler.

»Oh, ist Herr Borsch nicht im Haus?«

Leuchtenberg war an der Tür stehen geblieben.

»Was kann ich für Sie tun?«, überging Ecki die Frage.

»Darf ich mich setzen?« Ohne Eckis Antwort abzuwarten, zog Leuchtenberg einen Stuhl zu sich.

Ganz schön dreist, dachte Ecki.

»Schade, dass Herr Borsch nicht zugegen ist.« Der Anwalt zupfte sein Einstecktuch zurecht und zog dann seine Manschetten aus den Jackettärmeln hervor.

Leuchtenberg inszeniert sich wie ein eitler Pfau, dachte Ecki, wie albern.

»Ich möchte eine Aussage machen, die von weitreichender Bedeutung für alle Beteiligten ist. Und daher wäre es mir sehr recht, wenn Sie Ihren Kollegen informieren würden.« Der Anwalt schlug die Beine übereinander.

Oh, Gott, dachte Ecki nur.

»Sie werden vorläufig mit mir vorliebnehmen müssen.« Ecki hob übertrieben bedauernd die Hände.

»Es geht um Frau Bauer.« Ferdinand Leuchtenberg ließ sich nicht anmerken, was er über Ecki dachte.

»Wie gesagt, nur zu. Ich bin ganz Ohr.«

Leuchtenberg seufzte und räusperte sich. »Ich will es mal so ausdrücken: Frau Bauer ist in Gefahr.«

»Es geht um Frau Bauer. Schön. Wissen Sie, wo wir sie erreichen können? Wir haben nämlich noch einige Ungereimtheiten auf unserem Zettel, die wir gerne klären würden.«

»Haben Sie mich nicht verstanden? Es geht um Frau Bauer. Sie schwebt in Lebensgefahr.«

»Und wo?« Ecki hatte die Nase voll von Leuchtenbergs überheblichem Getue.

»Sie sollten sich nicht mit diesem Ich-bin-hier-der-Bulle-Gehabe aufhalten. Dazu ist die Situation zu ernst.«

»Und Sie sollten endlich aufhören, hier den Gentleman zu spielen.« Was bildete sich dieser Winkeladvokat ein?

»Sie sind viel zu emotional, Herr Eckers.« Leuchtenberg lächelte hintersinnig. »Können wir jetzt bitte unser Gespräch aufnehmen. Wir dürfen wirklich keine Zeit verlieren.«

Ecki hob eine Augenbraue, antwortete aber nicht.

»Sehen Sie, Sachlichkeit sollte unsere Zusammenarbeit prägen.«

Ecki musste an sich halten und bemühte sich um einen neutralen Ton. »Frau Bauer ist also in Lebensgefahr. Woher wissen Sie das?«

»Carina hat mich angerufen. Jemand versucht, sie umzubringen.«

»Und wer soll das sein?« Ecki war wenig überzeugt von der Dramatik der Geschichte.

»Heinz Bongarts.«

»Heinz Bongarts? Der Name sagt mir nichts.«

»Heinz Bongarts ist ein Freund von Rainer Wackerzapp gewesen. Eigentlich doch kein Freund, eher ein Komplize.«

Ecki war mit einem Schlag hellwach. »Ja?«

»Heinz Bongarts, genannt Bonny, hat zwei Frauen getötet, außerdem ist er für den Tod von Rainer Wackerzapp und Ernst Büschgens verantwortlich.«

»Moment.« Ecki rief im Archiv an und ließ sich von Schrievers mit Jakisch verbinden. Er wollte nicht warten, bis Frank von der Staatsanwaltschaft zurück sein würde.

»Ich sehe, dass Sie die Situation nun doch richtig einschätzen, Herr Eckers. Das freut mich.«

»Bitte erzählen Sie weiter.« Ecki machte eine einladende Handbewegung. Leuchtenbergs Verhalten war reine Provokation, aber das ließ er sich nicht anmerken. »Warum sollte dieser Bongarts Frau Bauer umbringen wollen?«

»Nun, sie besitzt gewisse Unterlagen.«

»Das scheint mir nicht zwangsläufig ein Mordmotiv zu sein.« Ecki spielte mit seinem Bleistift.

»Wenn es aber Dinge sind, die Bongarts belasten, dann schon.«

»Sie müssen ein bisschen deutlicher werden.«

»Wissen Sie, Wackerzapp mag zwar ein grobschlächtiger Typ gewesen sein, aber er war nicht dumm. Eine Art Bauernschläue, wenn Sie so wollen. Wackerzapp hatte immer einen Plan B.«

»Das heißt?« Bislang konnte Ecki wenig mit Leuchtenbergs Erklärungen anfangen.

»Carina besitzt Unterlagen, sagen wir besser: Fotos, auf denen Bongarts zu sehen ist, zum Beispiel mit Samantha Kurzius, in sehr eindeutiger Situation. Außerdem hat Wackerzapp den Mord an Julia Dürselen fotografiert. Heimlich, ohne dass Bongarts das bemerkt hat. Wackerzapp hat sich wohl gedacht, dass ihm diese Aufnahmen einmal nützlich sein könnten.«

Während Leuchtenberg sprach, hatte Carsten Jakisch den Raum betreten und sich an die Wand gelehnt, von der aus er Leuchtenbergs Mimik beobachten konnte.

Ecki nickte ihm nur kurz zu und wandte sich dann wieder an den Anwalt. »Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Bongarts und Wackerzapp den Mord an Frau Dürselen gemeinsam begangen?«

Leuchtenberg nickte. »Das ist richtig.«

»Und der Mord an Samantha Kurzius?«

»Auch den hat Bongarts begangen.«

»Er war im Allgäu?« Carsten Jakisch schaltete sich in das Gespräch ein.

»Mit dem Motorrad.«

»Kennen Sie diesen Bongarts?« Ecki machte sich einige Notizen. Er würde Frank eine Menge zu erzählen haben.

»Nein. Das heißt, nicht direkt. Ich habe von Carina gehört, dass Wackerzapp ihr einiges über ihn erzählt hat.«

»Carina Bauer hat mit Wackerzapp über diese Dinge gesprochen?«

»Wissen Sie, Herr Eckers, die beiden hatten eine kurze, aber heftige Beziehung. Wackerzapp hat viel erzählt, vermutlich hat er vor Carina geprahlt.«

Ecki sah, dass Leuchtenbergs Augen zuckten, als er die Beziehung erwähnte. Ihm war Carina also nicht egal, dachte Ecki.

»Ein Mann prahlt im Bett mit zwei Morden? Dass er sie begangen hat oder zumindest beteiligt war? Klingt das nicht ein wenig abenteuerlich? Selbst in den Ohren eines Anwalts?«

»Wissen Sie, Carina steht auf, nun ja, eine spezielle Art von Sex. Sie hat die Erzählungen von Wackerzapp als erotische Phantasien gewertet und, nun ja, auch genossen.«

Ecki konnte sehen, dass sich auf Leuchtenbergs Stirn kleine Schweißperlen gebildet hatten. Er fragte sich, welche Phantasien Leuchtenberg in Bezug auf Carina Bauer hatte.

»Wollen Sie damit andeuten, dass Frau Bauer auf Sadomasospiele stand?« Carsten Jakisch stieß sich von der Wand ab und ging zum Fenster. Dort drehte er sich zu dem Anwalt um und sah ihn aufmerksam an.

»Wenn Sie das so nennen wollen.«

Dem Anwalt war das Thema sichtlich unangenehm.

»Das klingt ja alles sehr interessant, aber ist es nicht eher so, dass Frau Bauer die zentrale Figur in diesem mörderischen Spiel ist?«

Ferdinand Leuchtenberg schüttelte energisch den Kopf. »Carina hat mit alldem nichts zu tun.«

»Wer dann? Sie vielleicht?«, fragte Ecki in scharfem Ton.

»Wäre ich dann hier? – Nein. Ich will Carina schützen. Vor Bongarts und vor falschen Verdächtigungen. Sie müssen etwas unternehmen. Carina ist im Allgäu. Und dort ist sie von Bongarts überfallen worden. Es geht um ihr Leben, Herr Eckers.«

»Lieben Sie Frau Bauer?«

Ferdinand Leuchtenberg sah Ecki mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen, Bestürzung und Hilflosigkeit an. »Lieben? Das ist ein großes Wort, Herr Kommissar.«

»Wie würden Sie Ihre Beziehung denn bezeichnen?«

Carsten Jakisch sah, dass Leuchtenberg sein Gewicht auf dem Stuhl von einer auf die andere Seite verlagerte. Die Frage schien ihm mehr als unangenehm zu sein.

»Ich bin ein Freund von ihr. Eine Art Vaterersatz. So würde ich das bezeichnen, was uns beide verbindet.«

Ecki legte seinen Stift zur Seite. »Lieber Herr Leuchtenberg, um ehrlich zu sein, ich glaube Ihnen Ihre Version nicht.« Bevor er weitersprach, sah er Jakisch an, der erstaunt zurückblickte. Ecki hatte stattdessen Hilfe erwartet. Er war sich nicht sicher, ob er ihre jüngsten Ermittlungsergebnisse preisgeben sollte. Wenn es aber stimmte, dass Bauer nicht in Düsseldorf war – und das schien so zu sein, denn sie hatten sie auch bei einem zweiten Versuch nicht erreicht, zudem hatte ein Anwohner ihnen berichtet, dass Carina Bauer Gepäck in ihren Wagen geladen hatte –, dann konnte er Leuchtenberg ruhig mit den Resultaten ihrer Recherchen konfrontieren.

»Frau Bauer besitzt eine Wohnung in Rottach, richtig?«

Leuchtenberg nickte. »Das wissen Sie doch.«

»Wozu hat sie diese Wohnung benutzt?«

»Soweit ich weiß, hat sie dort Urlaub gemacht.«

»Allein?«

»Soviel ich weiß, ja.«

»Ich dachte, Sie hätten ein väterliches Verhältnis zu Frau Bauer?«, warf Ecki ein.

»Sie ist trotzdem eine erwachsene Frau.«

»Die Kollegen in Kempten haben in der Wohnung von Frau Bauer Fasern gefunden, die zu Frau Kurzius und zu Wackerzapp passen.«

Ferdinand Leuchtenberg sah Ecki schweigend an.

»Was macht Frau Kurzius in der Wohnung Ihrer Freundin, Vertrauten, angenommenen Tochter oder wie auch immer Sie sie nennen wollen?«

Leuchtenberg hatte sich wieder gefasst und strich über seine Weste. »Die Morde an den beiden Frauen haben in der Zeitung gestanden. Es gibt keine Motive, und es gibt bislang keine Täter. Das ist Fakt. Ich versichere Ihnen, dass Bongarts und Wackerzapp die Taten begangen haben. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

»Sie weichen mir aus, Herr Leuchtenberg.« Ecki machte sich Notizen.

»Sie wissen mehr, als Sie uns sagen.« Carsten Jakisch ging zur Wand zurück. Der Tag wurde nun doch noch interessant, dachte er. Heini war ja an sich ein netter Kerl, aber das Chaos in seinem Archiv war schon sehr anstrengend. Heini hatte zwar eine geniale Ordnung, ganz bestimmt sogar, aber in seinen Augen war das dominierende Prinzip Unordnung. Und damit konnte er nur schwer zurechtkommen.

»Sie müssen etwas unternehmen, bald kann es zu spät sein. Wer weiß, wann Bongarts zuschlägt.«

»Sie weichen aus, Leuchtenberg.« Eckis Stimme klang schneidend.

»Carina wird Wackerzapp ihren Wohnungsschlüssel geliehen haben. Das mag ja sein. Möglich, dass Wackerzapp Samantha Kurzius mit ins Allgäu genommen hat. Wollen Sie Carina aufgrund Ihrer Vermutungen eine Mordanklage oder Beihilfe zum Mord anhängen?«

Ecki lächelte Leuchtenberg an. »Das haben Sie gesagt. Ich will nur offene Fragen beantwortet kriegen und offensichtliche Ungereimtheiten verstehen.«

Leuchtenberg merkte, dass er einen Schritt zu weit gegangen war. »Können Sie nicht verstehen, dass ich mir Sorgen um Carina mache?«

»Wo sind diese Unterlagen, die Sie erwähnt haben?«

»Soweit ich weiß, sind die Fotos auf zwei Festplatten gespeichert. Oder auch nur auf USB-Sticks. So wie ich Carina kenne, wird sie sie bei sich haben.«

»Warum ist Frau Bauer ins Allgäu gefahren? Wissen Sie das? Will sie dort Urlaub machen? Das scheint mir wenig schlüssig, denn dann hätte sie sicher diese brisanten Dinge nicht dabei. Oder?«

»Sie kennen sie nicht, Herr Eckers. Carina ist ein Kontrollfreak. Sie überlässt nichts dem Zufall. Nein. In Wahrheit will sie die Wohnung in Rottach aufgeben. Und sich auch von den übrigen Immobilien trennen. Und dazu braucht sie ihre Unterlagen. Sie arbeitet weitgehend papierlos. Daher wird sie alles Wichtige mitgenommen haben.«

»Warum will sie ihre Wohnungen denn verkaufen? Ausgerechnet jetzt?«

Leuchtenberg hatte das Gefühl, dass er die Situation wieder im Griff hatte. Er lächelte verbindlich. »Ich vermute mal, dass sie die Freude an ihren Immobilien verloren hat. Ja, so wird es sein.« Er nickte wie zur Bestätigung.

»Ich habe eher die Vermutung, dass sie Spuren verwischen will.«

Leuchtenberg lächelte weiter. »Das ist Ihr Job, so zu denken, Herr Eckers. Das verstehe ich sehr gut. Aber ich gehe eher davon aus, dass sie sich zur Ruhe setzen will. Sie hat mit ihren Immobiliengeschäften genug verdient.«

»Das hat sie Ihnen so vor ihrer Abreise gesagt? Wann haben Sie sie überhaupt das letzte Mal gesehen?« Carsten Jakisch glaubte dem Anwalt kein Wort.

»Ich weiß nicht genau, aber es ist sicher schon eine gute Woche her.«

»Wissen Sie, dass die Wohnung in Rottach ursprünglich der Familie Dürselen gehört hat?«

Leuchtenberg zuckte mit den Schultern. »Möglich.«

»Ich denke, Sie beraten Frau Bauer?« Ecki wurde ungeduldig. Was wollte Leuchtenberg wirklich? Bauer schützen oder Nebelkerzen werfen?

»Das schon, aber alles habe ich natürlich auch nicht im Kopf.«

»Aber Sie müssen schon zugeben, dass es ein sehr seltsamer Zufall ist, dass Frau Bauer eine Wohnung von einer Familie kauft, deren Tochter von Bauers Liebhaber getötet wurde.«

Leuchtenberg wollte protestieren, aber Ecki hob die Hand.

»Oder von Bongarts. Oder von beiden zusammen.«

»Zufall, Herr Kommissar. Sie sagen es. Zufall.«

»Das glaube ich nicht.« Ecki wünschte sich Frank herbei. Seinem Freund wären sicher noch einige Fragen eingefallen, die Leuchtenberg vielleicht noch weiter aus der Reserve gelockt hätten.

»Wo genau hält sich Frau Bauer jetzt gerade auf?«

Ferdinand Leuchtenberg hob bedauernd die Hände. »Ich weiß nur, dass sie in Sulzberg in einem kleinen Hotel abgestiegen ist.«

»Die Adresse?«

»Sulzberger Hof.«

»Seit wann ist sie dort?«

»Seit zwei Tagen, soviel ich weiß.«

»Seit zwei Tagen? Haben Sie ihr geraten, Düsseldorf zu verlassen?« Carsten Jakisch fixierte den Anwalt aufmerksam.

Ferdinand Leuchtenberg stand auf. »Ich beende hiermit meinen Besuch. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich von Ihnen Hilfe erwarten kann. Ich bin enttäuscht, meine Herren. Guten Tag. Ich werde die Sache wohl selbst in die Hand nehmen müssen.«

Ecki hob seine Stimme. »Sie können jetzt nicht einfach gehen, Herr Leuchtenberg. Nicht nach allem, was Sie uns gesagt haben.«

»Sie wollen mich zurückhalten? Womit? Wollen Sie mir etwas anhängen? Ich bin gekommen, weil Carina in Gefahr ist. Ich habe Ihnen erklärt, warum. Und ich habe ausgesagt, dass Carina mit all den Dingen, die in den vergangenen Wochen passiert sind, nichts zu tun hat.«

Mit einem Seitenblick auf Jakisch stellte Ecki fest, dass sein Kollege Leuchtenbergs Ansicht teilte.

»Sie können gehen, Herr Leuchtenberg. Aber ich bin mir sicher, dass wir uns schon bald wiedersehen. Und dann werden Sie noch viele Fragen beantworten müssen. Wir werden Ihre Angaben überprüfen, Wort für Wort.«

»Tun Sie das. Aber zuerst helfen Sie bitte Carina Bauer.« Mit einer knappen Verbeugung verließ Ferdinand Leuchtenberg das Büro.

»Wir haben echt nichts in der Hand gegen ihn.« Jakisch ging zum Fenster und öffnete es.

»Hast du gesehen, wie der geschwitzt hat? Der hat noch mehr auf der Pfanne, als wir ahnen.«

Jakisch deutete auf das offene Fenster. »Wenn ich bei der Hitze im Dreiteiler durch die Gegend laufen würde, wäre ich schon nach drei Minuten völlig durchgeweicht.«

Ecki nickte nachdenklich. »Die Sache stinkt. Mag ja vielleicht sein, dass er Angst um seine Freundin hat. Aber nicht nur, weil dieser ominöse Bongarts angeblich hinter der Frau her ist. Leuchtenberg will Bauers Beteiligung an der Mordserie verwischen. Er spürt, dass wir ihr auf den Fersen sind.«

»Er wird vermutlich selbst seinen Anteil an der Sache haben.« Jakisch fächelte sich Luft zu.

»Bislang taucht sein Name aber nirgends auf.«

»Observieren?«

»Wir werden abwarten müssen, mit welchen Ergebnissen Frank von der Staatsanwaltschaft kommt. Ich glaube aber, dass wir zumindest im Augenblick zu wenig in der Hand haben, um bei Carolina eine Observation durchzubekommen.«

»Soll ich vielleicht mal mit ihr reden?«

Nun überschätzt du dich doch ein wenig, dachte Ecki, sagte aber nichts. Stattdessen deutete er auf das Telefon. »Ruf du lieber erst mal deinen Kollegen Mayr an. Er soll nach Rottach fahren und Bauer befragen. Und sich umhören, ob sich in der Umgebung der Wohnung eine zwielichtige Gestalt herumtreibt. Im Augenblick bin ich mir nicht sicher, ob in Leuchtenbergs Geschichte auch nur ein Körnchen Wahrheit steckt. Aber das soll dein Kollege vor Ort klären.«

Carsten Jakisch straffte sich. Leuchtenberg würde ihm Bongarts beschreiben. Und dann würde er seinem Vorgesetzten einen Auftrag erteilen. Heute war tatsächlich ein guter Tag.

Robert Mayr war kaum aus dem Auto gestiegen, als er von hinten angesprochen wurde.

»Ham’S nix zum tun, dass Sie schon wieder da sind? Oder sind’S wegen der Milch gekommen?«

Beim leicht schrillen Ton der Bäuerin war Robert Mayr leicht zusammengezuckt. Diesmal keine Fliegen, sondern die Bäuerin. Na ja.

»Die Milch ist gut. Aber ich bin wegen der Wohnung da. Haben Sie jemanden dort gesehen?«

Die Bäurin hatte auch diesmal wieder ihren Besen dabei, den sie heute wie einen Speer mit Bart trug. »Ich scher mich nicht um andere Leut. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Aber gesehen habe ich niemanden. Da oben is nix. Die Wohnung ist leer.«

Robert Mayr spürte, dass er zu schwitzen begann. Das lag aber tatsächlich eher an der Sonne, die schon ziemlich hoch am Himmel stand und auf seine Schultern und seinen Kopf brannte. Diese Frau war wirklich ein Glücksfall. Wenn sie niemanden gesehen hatte, dann war auch niemand an oder in der Wohnung gewesen. Für einen Augenblick war er versucht, sich zu bedanken und nach Kempten zurückzufahren.

War sowieso eine überflüssige Anfrage aus dem Rheinland. Wenn die ihre Verdächtigen nicht im Auge behalten konnten, wie sollte er sie dann ausgerechnet hier einfangen können? Als hätte er nichts anderes zu tun. Und wie Jakisch sich aufgeführt hatte! Als wäre er der rheinische Polizeipräsident persönlich. Dieser rothaarige Hanswurst. Auf der Stelle beschloss er, ihn doch nicht zu seiner Hochzeit einzuladen. Wenn er es geschickt genug anstellte, würde er Jakisch auf Dauer ins Rheinland abschieben können.

»Haben Sie mich nicht verstanden, da oben ist niemand.« Die alte Frau stieß den Besenstiel bei jedem Wort in Mayrs Richtung.

»Auch nicht einer, der aussieht wie ein Rocker? Ein Motorradfahrer? Oder die Besitzerin der Wohnung? Eine blonde große Frau?«

»Sie, was haben Sie gegen Motorradfahrer?« Die Bäuerin kam einen Schritt auf Robert Mayr zu. Der Bart des Besens schwebte knapp unter seinem Kinn. »Mein Enkel fährt eine schwere BMW. Das ist kein Rocker. Und mein Bruder, Gott hab ihn selig, ist schon im Krieg auf dem Motorrad gesessen, für Volk und Vaterland.«

Robert Mayr hob beschwichtigend die Hände. In Wahrheit wollte er sich den nach Gülle stinkenden Besen vom Hals halten. »Sehen Sie, das muss ein Ganove sein. So viel darf ich verraten. Ein dicklicher, untersetzter Typ. Eher eine schmierige Erscheinung. Jemand, der Böses im Schilde führt. Ob er eine BMW fährt, weiß ich allerdings nicht.« Da die Angriffshöhe des Besens nun fast mit seinem Mund zusammenfiel, beeilte er sich hinzuzusetzen: »Ich gehe aber fast mit Sicherheit davon aus, dass er eine andere Marke fährt.«

Sein Gegenüber ließ sich nicht beirren und hielt den Besen in Position. »Hier ist niemand. Das sage ich noch einmal. Kein dicker Motorradfahrer, keine Städterin. Und eine Milch gibt’s heute auch nicht.«

»Wegen der Milch bin ich nicht da.«

»Tragen die Männer immer weiße Schläuche?«

»Ich verstehe nicht?«

»Sie waren doch da mit den vielen Leuten. Haben Sie nix gefunden?«

Robert Mayr hatte immer noch die Hände oben. Er würde eine Menge tun, aber auf keinen Fall mit ihr über seinen Fall reden. Jedenfalls nicht so genau. »Sie haben mir sehr geholfen. Aber da ich nun mal schon da bin, vertrete ich mir noch ein bisschen die Beine. Ich wollte schon beim letzten Mal der Kirche einen Besuch abstatten.« Er konnte sich gerade noch verbeißen, nicht noch ein »mit Ihrer Erlaubnis« anzuhängen.

»Sie? Sind Sie jetzt unter die Touristen gegangen?«

In den Augen der Bäuerin blitzte es verdächtig.

»Wieso?« Mayr war auf der Hut. Der Besen schwebte immer noch in Kinnhöhe.

»Na, wegen der Lederhosen da.« Der Besen wurde zum Zeigestock. Abrupt drehte sie sich um und ließ Robert Mayr einfach stehen. Umständlich begann sie, die Einfahrt zu ihrem Hof zu fegen.

Die Aussicht von der höher gelegenen Kirche auf die Umgebung war großartig, dachte Mayr und setzte sich auf eine Bank an der Kirchenwand. Er wollte abwarten, bis die Alte verschwunden war und er in Ruhe zur Wohnung würde hinaufsteigen können. In einem Punkt mochte die Tratschen recht haben: Ein Rocker würde in Rottach so auffallen wie eine schwarzbunte Kuh zwischen all dem Allgäuer Braunvieh.

Andererseits: Dieser Bongarts war sicher nicht so blöd, sich hier am helllichten Tag blicken zu lassen. Mayr seufzte und stand auf. Die Kirchenwand speicherte das Sonnenlicht und gab die Hitze an Mayrs Rücken ab. Sei’s drum, dachte er, die Alte werde ich schon verkraften. Allemal besser, als hier in der Sonne zu braten. Ich hätte doch zuerst nach Sulzberg fahren sollen, setzte er sein Selbstgespräch fort. Aber irgendetwas hatte ihn direkt den Berg hinaufgezogen.

Robert Mayr umrundete langsam das Ferienhaus, das einmal ein Bauernhaus gewesen war. Die Jalousien waren heruntergelassen, die Tür natürlich abgeschlossen, der Carport leer, das Kaminholz ordentlich gestapelt, ein Sonnenschirm lehnte zusammengefaltet in einer Mauerecke. Nichts deutete darauf hin, dass jemand vor Kurzem im oder am Haus gewesen war. Enttäuscht war Mayr nicht, er hatte schlichtweg nichts anderes erwartet.

Er setzte sich in einen der weißen Plastikstühle, die aufeinandergestapelt im Schatten der Hauswand standen, und lehnte sich zurück. So sah Glück aus: Schatten, Sommer, die Aussicht auf den Rottachberg und auf eine Halbe beim Mader. Er seufzte zufrieden und besah seine Hände von allen Seiten. Bald würde er einen goldenen Ring tragen. Wie das wohl ausschauen würde?

Nach einer ausgedehnten Verschnaufpause und ohne der Bäuerin noch einmal zu begegnen, fuhr Robert Mayr nach Sulzberg zurück. Wenn er Glück hatte, würde er mit der Befragung der Frau schnell durch sein.

An der Rezeption erkundigte er sich bei der hübschen jungen Frau im weißblauen Dirndl nach der blonden Dame aus Düsseldorf. Er zeigte dabei seinen Dienstausweis, den die Rezeptionistin aufmerksam studierte. Polizei im Haus war eher selten.

»Frau Bauer ist nicht im Hotel.«

Mayr steckte den Dienstausweis wieder ein. »Wissen Sie, wo sie ist?«

Die Hotelangestellte schüttelte den Kopf. »Bedaure.«

»Ist sie mit dem Auto weg?«

Sie lächelte. »Bedaure.«

»Welchen Wagen fährt sie?« Er sah sie an und nickte dann.

»Ich weiß schon, Sie bedauern.«

Ihr Lächeln blieb.

Robert Mayr überlegte, ob es sich zu warten lohnte. Vermutlich nicht, beschloss er. Dann stellte er doch noch eine Frage.

»Ist Ihnen in den vergangenen Tagen ein Mann aufgefallen? Ich meine jetzt nicht privat, eher dienstlich.« Robert Mayr bedauerte nun seinerseits, dass er nicht gleich zur Sache gekommen war.

»Mir ist niemand aufgefallen. Auch meinen Kollegen nicht, denke ich. Sonst hätten sie mir bestimmt davon erzählt.«

»So ein Rockertyp? Aber ein dicklicher? Kein nettes Gesicht. Der hier herumschleicht.«

Die Rezeptionistin machte einen hilflosen Eindruck. »So einen Gast haben wir nicht. Hatten wir eigentlich noch nie.«

»Kein Gast. Jemand, der umherschleicht und andere erschreckt.«

Sie sah ihn neugierig an und schwieg.

»Verstehe schon. Na ja, kann man nichts machen.« Mayr verabschiedete sich und verließ das kühle Foyer des Sulzberger Hofes. Auf dem Vorplatz standen zwar einige PKW, aber einer mit Düsseldorfer Kennzeichen war nicht darunter. Er würde Jakisch anrufen und von ihm das genaue Kennzeichen und Modell verlangen.

Er legte seine Hand über die Augen und sah sich um. Wo mochte diese Anwältin stecken? In Immenstadt war ein Outlet. Vielleicht war sie dort shoppen? Oder in Kempten? Oder sie war auf der Ruine Sulzberg. Sie konnte überall sein. Jakisch hatte schlampig ermittelt. Das stand fest. Er überlegte: Wenn ich angegriffen worden wäre, falls die Version der Frau überhaupt stimmte, wo würde ich mich anschließend aufhalten? Auf meinem Hotelzimmer oder lieber dort, wo viele Menschen sind? Würde ich nach Hause fahren? Aber wenn ich doch wichtige Geschäfte zu erledigen hätte? Ein verflixt komplizierter Fall.

»Darf ich Sie vielleicht zu einem frischen Weizenbier einladen?«

Robert Mayr zuckte zusammen. Als er sich umdrehte, stand vor ihm das fesche Dirndl und trug ein Tablett mit einem schäumenden Weizenbier.

»Aber Sie sind im Dienst, nicht?«

»Ach, eine kleine Erfrischung kann nicht schaden.«

»Oder soll ich Ihnen lieber eine frische Milch bringen?« Das Dirndl mit dem dekorativen Ausschnitt sah ihn mitleidig an.

»Wo denken Sie hin? I wo.« Robert Mayr nahm das kühle Bier vom Tablett und steuerte eine der Sitzgruppen auf der Terrasse an.

»Sagen Sie, war die Frau Bauer vielleicht seit ihrer Ankunft irgendwie verändert?« Mayr zog mit der Unterlippe genüsslich den Schaum von seiner Oberlippe.

»Sie wirkte ein wenig ängstlich. Schaute ständig zur Tür, blieb nie lange an einem Tisch sitzen. Am Abend ist sie lieber im Haus geblieben, während die übrigen Gäste den Abend auf der Terrasse genossen haben.«

»Was ist Ihnen noch so aufgefallen?«

Die junge Frau deutete vorsichtig auf Mayrs Gesicht.

»Ja?«

Die Hotelangestellte deutete weiter schweigend und mit aufmunterndem Blick auf sein Gesicht.

Mit der Hand fuhr er sich über die Wange. Bierschaum. Und er hatte gedacht, der Besen der Bäuerin hätte doch seine Spuren in seinem Gesicht hinterlassen.

»Was sagt er?« Frank drehte sich zu Carsten Jakisch um, der mit einem Schwung Akten unter dem Arm ihr Büro betrat.

Jakisch hob die Schultern und legte die Unterlagen auf den Aktenbock neben Franks Schreibtisch. »Er hat Bauer nicht angetroffen. Weder im Hotel noch in der Ferienwohnung. Und von Bongarts hat er auch nichts gesehen.«

»Heißt das, er ist unverrichteter Dinge wieder abgezogen?«

»Jedenfalls ist er zum Büro zurück, hat er gesagt. Er will aber dranbleiben.«

»Ach nee?! Er hätte im Hotel auf Bauer warten müssen! Oder die Wohnung beobachten lassen. Das darf doch nicht wahr sein. Hat der Kerl Knödel im Schädel statt Gehirn?«

Jakisch hütete sich, seine Meinung zu Mayr kundzutun. »Er wird halt viel zu tun haben. Auch in Kempten ist die Personalsituation nicht gerade rosig.«

»Unser Fall hat absolute Priorität. Hast du ihm das nicht gesagt?«

»Sicher habe ich das. Aber Mayr hat so seine ganz eigene Auffassung von wichtig und unwichtig.« Jakisch unterstrich seine Überzeugung mit einem bedauernden »Tja«.

»Und jetzt? Wir brauchen Ergebnisse. Auch wenn Leuchtenberg nicht die Wahrheit gesagt oder übertrieben hat, wir müssen diese Fragen klären. – Und was hast du da?« Frank deutete auf die Akten.

»Ich habe mir alles zusammengestellt, was wir über Bauer und Leuchtenberg wissen, außerdem alles, was über ihre Geschäfte zu bekommen war, also: was wo gekauft und verkauft wurde, Grundbuchauszüge usw. Ich habe mich auch umgehört, wie Kollegen und Mitbewerber über sie reden und denken. Du findest eine Reihe von Zeitungsartikeln, die sich mit Immobiliendeals der Landesregierung beschäftigen. Prognosen und Bilanzen zum Immobilienmarkt usw.«

»Und das soll ich alles lesen?« Frank deutete mit dem Finger angewidert auf die Unterlagen, als handelte es sich dabei um höchst infektiöses Material. »Was soll das bringen? Mayr soll uns Bauer liefern, das bringt uns weiter als dieser ganze Immobilienmist.«

Carsten Jakisch mochte das nicht gelten lassen. »Heini meint auch, dass wir durch die Archive müssen, dann würden wir auch fündig werden.«

»Ist schon klar, dass Heini so denkt. Dann macht ihr mal, aber bitte verschont mich.«

»Keine Angst, ich wollte die Akten nur kurz ablegen.«

Ferdinand Leuchtenberg legte das Mobiltelefon zur Seite. Carina war anscheinend völlig durch den Wind. Er hatte sie in Kempten in einem Straßencafé erreicht. Oder jedenfalls hatte sie behauptet, dort zu sein. Sicher war nur, dass er Straßengeräusche gehört hatte. Sie hatte ihm erzählt, dass sie den Tag nicht in Sulzberg verbringen konnte und schon gar nicht alleine im Wald unterwegs sein würde. Sie musste möglichst viele Menschen um sich haben.

Er hatte ihr empfohlen, nach Düsseldorf zurückzukommen, aber das hatte sie kategorisch abgelehnt. Sie wollte nicht zurück. Zumindest vorerst nicht. Sie war nervös gewesen, weil sie immer noch keine Bestätigung über den verabredeten Deal bekommen hatte. Die Fotos schienen wohl doch nicht die gewünschte Wirkung gehabt zu haben. Sie hatte wie ein kleines Kind geflennt. Er hatte sie beruhigen müssen, denn sie hatte immer wieder davon gesprochen, aussteigen zu wollen. Egal, ob sie kurz vor dem großen Deal standen oder nicht. Und egal, was die Italiener angedroht hatten. Sie wollte einfach nur weg und in Ruhe gelassen werden.

Carina wurde in der Tat immer mehr zu ihrem eigenen Sicherheitsrisiko. Sosehr er sie auch schätzte, so wenig wollte er auf das Geld verzichten. Ihr letztes großes Geschäft würde auch ihn endgültig zum sorglosen Mann machen. Carina musste also durchhalten.

Leuchtenberg ging hinüber zu seinem Barwagen und goss sich einen Whisky ein. Nachdenklich beobachtete er, wie die goldgelbe Flüssigkeit ölig in das Glas floss. Dann hob er es kurz gegen das Licht. Am Ende würde ihm keine Wahl bleiben. Zur Not musste er diesen letzten Schritt gehen. Aber selbst das würde er überstehen.

Er seufzte und trank das Glas in großen Zügen leer. Zunächst musste er mal dafür sorgen, dass Bongarts gefasst wurde.

Robert Mayr stemmte sich aus der Sitzgruppe auf und ging hinüber zur Rezeption.

»Guten Tag, Frau Bauer. Ich habe Sie schon vermisst.«

Die so Angesprochene trat einen Schritt zurück und nahm ihre Sonnenbrille ab.

Robert Mayr streckte ihr seine Hand entgegen. »Mayr. Kriminalpolizei. Wir hätten da ein paar Fragen an Sie.«

»Bitte?« Carina Bauer war verunsichert. Wo kam der Bulle jetzt auf einmal her?

»Wollen wir uns setzen? Kaffee?«

»Ich, eigentlich wollte ich gerade wieder gehen. Ich habe eine Verabredung. Worum geht es bitte?« Sie gab ihm die Hand. Und die fühlte sich trocken und leicht an.

»Es dauert nicht lange.« Ohne seine Frage zu wiederholen, bestellte Mayr zwei Kaffee bei der jungen Frau, die ihm am Tag zuvor wie ein Engel mit dem rettenden Bier erschienen war.

Carina Bauer versuchte, sich in Sekundenschnelle auf die neue Situation einzustellen.

»Ich weiß nicht, habe ich eine Verkehrsregel missachtet?« Sie versuchte ein Lächeln.

Verkauf mich nicht für dumm, dachte Robert Mayr und erwiderte freundlich: »Sie haben eine etwas unschöne Begegnung gehabt im Wald, oder?«

Woher wusste dieser Kriminalkommissar davon? Carina Bauer sah zur Rezeption hinüber, aber die war nicht besetzt. Hatte etwa das Hotelpersonal die Polizei gerufen? Nein. Sie war sich sicher, dass sie nach Bongarts’ Überfall ungesehen ihr Zimmer erreicht hatte. Wenn es die Angestellten nicht waren, musste Leuchtenberg dahinterstecken! Was für ein Arschloch!

»Unschöne Begegnung?« Sie musste Zeit gewinnen.

»Wir haben aus Mönchengladbach und Düsseldorf den Hinweis bekommen, dass Sie hier oberhalb vom Rottachsee überfallen worden sind.«

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Da wird wohl jemand übertrieben haben. Es war eine unschöne Begegnung, wie Sie sagen. Mehr nicht. Mir geht es gut, ich habe keinen Schaden genommen.«

Carina Bauer machte Anstalten aufzustehen.

»Bitte bleiben Sie sitzen, der Kaffee kommt gerade.« Mayr nickte der jungen Frau zu. »Wissen Sie, wir hier im Allgäu lassen der Zeit ihre Zeit. Nix ist so eilig wie die Uhr. Lassen Sie sie rennen.« Er trank einen Schluck. »Ihr Freund hat sich große Sorgen um Sie gemacht. Er hat uns gesagt, dass wir Sie möglicherweise in Sulzberg antreffen.«

»Mein Freund? Sie meinen sicher Ferdinand Leuchtenberg. Ein väterlicher Freund.« Sie lächelte kokett.

Mich täuschst du nicht, lächelte Mayr zurück. »Er war jedenfalls sehr besorgt.«

»Ferdinand neigt dazu, die Dinge zu dramatisieren. Ich hätte ihn besser nicht angerufen. Dann hätten Sie sich nicht die Mühe machen müssen hierherzukommen.« Sie schenkte ihm einen weiteren Augenaufschlag.

»Oh, das macht nichts. Ich hatte sowieso in der Gegend zu tun. Der Mann, dem Sie, nun ja, begegnet sind, heißt Heinz Bongarts.«

Carina Bauer runzelte die Stirn, als denke sie angestrengt nach.

»Ein eher dicker Mann, etwas schmierig, sagen die rheinischen Kollegen. Ein Foto kann ich Ihnen leider nicht vorlegen. Er soll aber einen sehr ungepflegten Eindruck machen.«

»Ich bedaure.«

Nicht schon wieder, dachte Mayr. In diesem Hotel schien das Bedauern im Preis inbegriffen zu sein. »Überlegen Sie in Ruhe, vielleicht erinnern Sie sich.«

»Ich weiß wirklich nicht, wie der Mann ausgesehen hat. Er kam plötzlich aus dem Dickicht und war ebenso schnell wieder verschwunden. Es ging alles so schnell. Es war ein Mann in Schwarz, vielleicht ein bisschen dick, ja. Ungepflegt? Ich habe nicht genau hingesehen, Herr Kommissar. Das verstehen Sie sicher.« Sie lächelte ihn an.

Mayr nickte. »Opfer von Straftaten sehen oft nur das, was ihnen ihr Gehirn erlaubt. Reiner Selbstschutz. Manchmal sind es unbedeutende Kleinigkeiten.«

Sie musste Mayr irgendetwas bieten, damit er sie endlich in Ruhe ließ. »Der Mann hatte Mundgeruch.«

»So nahe war er Ihnen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Das ist alles, woran ich mich wirklich erinnern kann.«

Mayr nickte erneut verständnisvoll. »Na ja, wenn das so ist.«

Carina Bauer wollte nicht länger als nötig mit dem Kommissar zusammensitzen. »Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.« Sie wollte entspannt wirken und lehnte sich zurück. »Sie haben es hier im Allgäu wirklich schön. Dieses Grün, diese Ruhe, die braunen Kühe, der blaue Himmel. Einen himmlischeren Arbeitsplatz kann ich mir kaum vorstellen. Wenn ich dagegen an Düsseldorf denke – zu laut, zu staubig, zu groß.«

»Hätten Sie vielleicht ein Haar für mich?«

»Bitte?«

»Ein Haar. Ein kleines reicht. Es kann aus Ihrer Haarbürste sein.«

»Ich verstehe nicht?« Carina hatte gerade ihre Kaffeetasse in die Hand genommen, setzte sie aber abrupt wieder ab.

»Die Kollegen haben mich darum gebeten.« Robert Mayr lächelte sie über den Rand seiner Tasse an.

»Was hat das mit dem Vorfall im Wald zu tun?«

»Sie fragen zu Recht. Nichts hat das mit der Sache im Wald zu tun. Oder vielleicht alles. Kann ich jetzt bitte eine Haarprobe bekommen? Gut wären auch Fasern Ihrer Garderobe.«

»Ich wüsste nicht, warum?« Ihre Gedanken rasten. Was war da bloß los? Leuchtenberg musste wahnsinnig geworden sein. Was hatte er denen erzählt? Was wollten die Bullen mit der Haarprobe? Was wussten oder ahnten sie? Sie mussten schon etwas gegen sie in der Hand haben. Haarprobe? Faserprobe? Wollte Leuchtenberg sie ans Messer liefern? Sie hatte es gewusst, Leuchtenberg würde sie eines Tages auffliegen lassen – zu seinem eigenen Vorteil. Sie musste reagieren. Aber für den Moment zwang sie sich zur Ruhe.

»Das ist leicht erklärt. Die Kollegen möchten sicher sein, dass Sie sich – regelmäßig – in Ihrer Ferienwohnung aufgehalten haben. Außerdem gibt es weitere Ermittlungen, für die diese Informationen wichtig sein können.«

Carina Bauer wurde schwindelig. Sie hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Sie legte ihre Unterarme fest auf die Sessellehnen. Hörte das denn nie auf? Erst Bongarts, nun dieser Mayr.

»Sie wissen, dass ich dazu nicht verpflichtet bin?«

»Und Sie wissen, dass eine freiwillige Kooperation immer ein besseres Bild macht, oder? Sie sind doch Anwältin.«

Sie musste auf jeden Fall Zeit gewinnen. Und sie musste ihren Abgang vorbereiten. Nach Düsseldorf zurück. Egal, was dieser Bulle von ihr dachte. Leuchtenberg, das Schwein.

Carina Bauer stand auf. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht umzukippen. »Sie haben recht, ich bin Anwältin. Von daher weiß ich ziemlich genau, was ich tue. Bitte lassen Sie mich jetzt gehen. Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen.«

Robert Mayr blieb sitzen und schwieg. Carina Bauer war eine gefährliche Person. Aber sie würde ihm nicht schaden. Sie hatte sich gerade selbst auf den Misthaufen gesetzt.

»Wir haben Besuch.« Ecki hielt die Bürotür auf und ließ Ferdinand Leuchtenberg den Vortritt.

Frank sah erstaunt auf. Mit dem Anwalt hatte er nicht so schnell wieder gerechnet.

»Meine Herren, ich muss Sie dringend sprechen.« Leuchtenberg setzte sich, ohne auf die entsprechende Aufforderung zu warten.

»Da sind wir gespannt.« Frank warf einen kurzen fragenden Blick zu Ecki. Aber der hob nur eine Augenbraue.

»Ich hoffe, Sie haben Bongarts inzwischen dingfest machen können.« Der Anwalt zog sein Einstecktuch hervor und wischte sich die Stirn.

»Bisher haben unsere Kemptener Kollegen keinen Erfolg gehabt. Sie bezweifeln eher, dass Bongarts sich noch im Allgäu aufhält bzw. jemals dort war. Frau Bauer hat den Vorfall, den Sie als Mordversuch geschildert haben, als unbedeutenden Zwischenfall abgetan.«

Leuchtenberg nahm die Auskunft ohne erkennbare Regung zur Kenntnis. »Ich möchte mich selbst anzeigen.«

»Wie meinen Sie das?« Ecki stieß sich von der Wand ab, an die er sich gelehnt hatte, und setzte sich. Mit einer erwartungsvollen Geste schlug er sein Notizbuch auf, das auf dem Schreibtisch lag.

»Sie müssen zuerst wissen, dass Carina unschuldig ist. Das dürfen Sie nicht vergessen.«

Frank sah kurz zu Ecki. »Sind Sie sich dessen sicher, was Sie da gerade tun?«

»Völlig.« Leuchtenberg steckte das Tuch in seine Brusttasche zurück.

»Gut. Also: Worum geht es?« Frank konnte sich nicht vorstellen, dass Leuchtenberg gekommen war, um die Morde zu gestehen.

»Sie ermitteln seit einigen Wochen im Mordfall Büschgens und im Fall der beiden Prostituierten sowie in Sachen Wackerzapp.« Der Anwalt räusperte sich. Er musste behutsam vorgehen, damit seine Argumente verstanden wurden.

Frank und Ecki nickten.

»Dabei ist Frau Bauer in Ihr Blickfeld geraten.«

Die beiden nickten erneut.

»Meine Herren, ich möchte nicht grundsätzlich Zweifel an Ihrer Arbeit anmelden, nur liegt in diesem Fall die Sache ein wenig anders, als Sie denken.«

Frank und Ecki schwiegen.

»Frau Bauer hat mit all dem nicht das Geringste zu tun. Sie ist gänzlich unverschuldet in Ihr Fadenkreuz geraten.«

»Das sagten Sie bereits. Wir sind gespannt auf etwas Neues.« Frank gab keinen Cent auf Leuchtenbergs Vorbemerkung.

»Es stimmt, dass sie Wackerzapp kannte. Aber das war nur eine, ähm, Bettgeschichte. Wie gesagt, Carina steht nun mal auf Männer, die ein wenig, wie soll ich sagen, animalische Züge haben. Sie verliert dann gerne einmal die Kontrolle. Aber das geht nicht so weit, dass sie sich in ein Verbrechen hineinziehen lassen würde.«

Frank sah, dass Leuchtenberg bereits wieder ein Schweißfilm auf der Stirn stand.

»Wackerzapp hat sie für seine, zugegeben, bizarren Sexspielchen benutzt. Ebenso wie die beiden Prostituierten. Sie hat einen Fehler gemacht, als sie dazu ihre Wohnung zur Verfügung gestellt hat. Sie hat für diesen Fehler bezahlen müssen. Wackerzapp hat immer mehr von ihr gewollt, immer ausgefallenere Rollenspiele. Sie hat sich nicht von ihm lösen können. Er hat sie verfolgt und bedroht, hat dazu auch Bongarts benutzt. Dieser Bongarts ist in Wackerzapps Händen ein willfähriger Laufbursche gewesen. Für Carina waren die vergangenen Wochen die Hölle.«

»Und da hat sie Wackerzapp getötet, um ihn loszuwerden.« Ecki nickte.

»Auf keinen Fall. Carina ist unschuldig. Ich vermute, dass Bongarts durchgeknallt ist und von Wackerzapps Geschäften nicht genug bekommen hat.«

»Geschäften?«

»Wackerzapp hat mit gestohlenen Motorrädern gehandelt. Europaweit. Vor allem BMWs. Er hatte die besten Beziehungen, überallhin. Seine Kunden haben ihm vertraut. In dieser Hinsicht war er ein zuverlässiger Partner. Zuverlässig, aber eben brutal und rücksichtslos, wenn es um Frauen ging.«

»Und das sollen wir Ihnen glauben?« Frank zog die Stirn in Falten. Die Geschichte wurde immer bunter. Sie hatten bisher keinen Hinweis darauf, dass Wackerzapp ein Hehler war. Das Ganze war die alte Leier: die eigenen Verfehlungen und Taten einem Toten anlasten, der sich nicht mehr wehren konnte. Er hätte nicht gedacht, dass Leuchtenberg eine dermaßen billige Nummer versuchen würde.

»Aber so war es. Carina hat mir davon erzählt.«

»Und wer hat dann die Prostituierten getötet?«

»Bongarts. Der Handlanger. Dumm wie Bohnenstroh, einer, der für Geld alles macht. Einer, der Anerkennung sucht. Selbst wenn er dafür töten muss. Jedenfalls kommt er mir nach Wackerzapps Schilderungen so vor.«

»Beweise für Bongarts’ Täterschaft?«

»Es gibt Fotos.«

»Und wo sind die?«

»Auf Carinas Rechner. Wie bereits gesagt.«

»Lächerlich.« Auch Ecki wurde die Geschichte zu bunt.

»Ich habe lange mit Carina darüber gesprochen. Sie wollte zunächst die Fotos löschen. Und die ganze Sache vergessen. Aber ich habe ihr so lange zugeredet, bis sie eingesehen hat, dass diese Fotos eine Lebensversicherung für sie sind. Und dann hat Bongarts offenbar Wind davon bekommen und ist ihr seither auf den Fersen.« Leuchtenberg wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich habe ihr mit meinem Rat nur helfen wollen! Hätte sie die Fotos doch nur vernichtet! Ich habe sie in Gefahr gebracht! Mein Fehler kann sie das Leben kosten!« Er schlug die Hände vor das Gesicht.

Du Heuchler, dachte Frank. Was zum Teufel bezweckte Leuchtenberg mit seinem Schmierentheater?

»In welcher Beziehung standen Sie zu Wackerzapp?« Ecki hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und die Arme hinter dem Kopf verschränkt.

»Ich habe nichts mit ihm zu tun. Ich kenne ihn, weil einer meiner Mandanten einmal, aber das ist schon sehr lange her, eine Maschine von ihm gekauft hat. Und dieser Mandant war der Meinung, es wäre eine gute Idee, mich mit ihm zusammenzubringen. Ich bin eine Zeit lang Motorrad gefahren, müssen Sie wissen.«

»Und Sie haben sich auf Anhieb so sympathisch gefunden, dass Sie viel Zeit miteinander verbracht haben.«

»Ich verstehe Sie nicht, Herr Eckers.«

»Der Name Ihres Mandanten?«

Leuchtenberg hob die Hände: »Bedaure.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort.«

»Aber das ist die Wahrheit. Gut, ich habe Wackerzapp das eine oder andere Mal getroffen. Er hat in verschiedenen Dingen meinen Rat gesucht. Und gut dafür bezahlt.«

»Was für Dinge waren das?«

Ferdinand Leuchtenberg wand sich auf seinem Stuhl. »Wissen Sie, es gibt juristische Grauzonen. Und die habe ich für ihn ein wenig aufgehellt. Außerdem wusste er, dass ich im Immobiliengeschäft tätig bin. Er hat investieren wollen, um genau zu sein.«

»Geldwäsche?«

»Ein unschönes Wort, Herr Kommissar.« Der Anwalt lächelte sein Theaterlächeln.

»Ihre schmutzigen Geldgeschäfte werden die Kollegen vom Betrug interessieren. Uns interessieren die Morde. Und Carina Bauer.«

»Sie ist absolut unschuldig. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Der eine Mörder ist tot, der andere läuft noch frei herum. Finden Sie Bongarts, und Sie haben Ihre Fälle gelöst. Aber das habe ich Ihnen auch schon gesagt.«

»Ich finde Ihre Aussagen auch diesmal wenig glaubwürdig, Herr Leuchtenberg. Sie überzeugen mich nicht.« Frank schüttelte den Kopf und sah Ecki an, der ebenfalls den Kopf schüttelte.

»Wie haben sich Frau Bauer und Herr Wackerzapp kennengelernt?«

»Na, durch mich. In meiner Kanzlei. Ich habe an jenem Tag mit Wackerzapp Einzelheiten über ein Immobilienprojekt besprochen, als Carina unerwartet aufkreuzte. Sie wollte mich zum Essen einladen.«

»Und von da an waren Sie aus dem Rennen?«

Der Anwalt sah Ecki fragend an.

»Nun, Sie waren doch selbst scharf auf Frau Bauer. Und dieser Neandertaler hat Ihnen Carina ausgespannt.«

Leuchtenbergs Gesicht lief rot an.

»Wissen Sie, ich habe Carina vor vielen Jahren kennengelernt. Ich bin immer so etwas wie ein Vater für sie gewesen. Das habe ich Ihnen doch schon erklärt. Natürlich war von meiner Seite aus irgendwann auch mehr da als nur ein väterliches Gefühl. Carina ist schließlich eine sehr attraktive und erfolgreiche Frau. Aber ich habe stets meine Grenzen gekannt und akzeptiert.«

Lügner, dachte Frank. »Vielleicht haben Sie mit Wackerzapp einen lästigen Konkurrenten aus dem Weg geräumt?«

»Um Gottes willen. Ich kann keinem Menschen Leid antun. Ich hasse jede Art Waffe.«

»Ihre Waffe ist das Gesetzbuch.«

»Wenn Sie so wollen.« Leuchtenberg lächelte verkniffen.

»Wenn das denn alles stimmen sollte, was Sie uns hier auftischen: Welche Rolle spielte dann Büschgens?«

»Büschgens? Der Immobilienmakler. Ja, ja.« Leuchtenberg zog die Stirn kraus. »Ich bin mir nicht so sicher. Soviel ich weiß, war er ein paarmal mit Wackerzapp zusammen. Er und Büschgens sind zusammen Motorrad gefahren. In einer losen Clique. Ich weiß gar nicht, ob Büschgens von seinen Geschäften wusste. Waren ja meist alles honorige Männer, die da zusammen gefahren sind. Viele Landespolitiker. Firmenchefs. Ärzte. Aber auch Arbeiter. Die Liebe zum Motorrad hat sie alle gleich gemacht. Sie kennen das bestimmt: born to be wild. Die Straße ist die Freiheit.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass Wackerzapp Büschgens ermordet hat?«

Leuchtenberg nickte.

»Welches Motiv soll er denn gehabt haben?«

»Wackerzapp war sehr eifersüchtig.«

»Wie soll ich das jetzt wieder verstehen?«

»Nun ja, Carina war ein paarmal mit auf diesen Treffen. Kann doch sein, dass Büschgens ein Auge auf sie geworfen hat. Das wird Wackerzapp auf keinen Fall gefallen haben.«

»Mord aus Eifersucht?«

»Möglich wäre es. Carina und Büschgens kannten sich zwar, so wie die meisten Immobilienmakler sich untereinander kennen, andererseits glaube ich aber nicht, dass sie sich nahegekommen sind. Aber ausschließen kann ich das nicht.«

»War Büschgens bei den Sexpartys dabei?«

»Sexpartys! Ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist, Herr Eckers.«

»Vielleicht wollen Sie das ja nicht so sehen, weil Sie eifersüchtig sind. Aber eine andere Bezeichnung habe ich nicht für die Treffen in Bauers Ferienwohnung, nach allem, was ich bisher weiß.«

»Wurden dort auch Geschäfte gemacht?«

Leuchtenberg sah Frank schweigend an.

»Kommen Sie, Sie müssen doch wissen, ob Bauer dort nur gevögelt hat.« Frank ließ Leuchtenberg nicht aus den Augen. Ihm war bewusst, dass er den Anwalt mit seiner Bemerkung gereizt hatte.

»Ich war nie dabei.«

»Weil Sie den Anblick nicht ertragen hätten?«

»Weil mich derartige Zusammenkünfte nie interessiert haben.« Leuchtenberg wischte sich erneut über die Stirn.

Frank holte tief Luft, bevor er sprach. »Sie haben uns mit Ihrem Besuch und Ihren Aussagen eine Menge Anregungen gegeben. Aber ich bin ganz offen zu Ihnen, ich glaube Ihnen kein Wort. Ich bin eher davon überzeugt, dass Carina Bauer sehr viel mit diesen Morden zu tun hat. Wenn sie nicht selbst zur Waffe gegriffen hat, dann hat sie zumindest die Mordaufträge gegeben.«

Ferdinand Leuchtenberg stand auf. Langsam, wie jemand, der in Minuten um Jahre gealtert war. Ein müder alter Mann. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Mehr kann ich nicht tun. Carina hat genauso wenig wie ich mit den Morden zu tun.«

»Wir nehmen Ihre Aussage zu Protokoll. Setzen Sie sich bitte wieder.«

»Heißt das, Sie glauben mir, Herr Eckers?«

»Wir nehmen Ihre Aussage zu Protokoll.« Ecki zog die PC-Tastatur zu sich.

Ecki lehnte an seinem Rad. Er hatte sich bereits umgezogen und sah nun aus wie ein Radprofi auf dem Weg zur Dopingkontrolle. Der Besuch von Leuchtenberg ließ ihm keine Ruhe. »Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht doch die Wahrheit sagt.« Ecki zurrte seinen Fahrradhelm fest.

»Der hat doch nur Angst um seine Carina. Dabei lässt sie ihn nicht einmal ran. Ein seltsamer Kerl. Nein, Ecki. Ich denke, dass Bauer die Richtige ist. Wir müssen dranbleiben. Mayr muss diesen Bongarts finden und der Bauer unsere Ermittlungsergebnisse präsentieren. Dann wird sie schon reden. Im Grunde bringt Leuchtenberg sich selbst in die Bredouille. Er muss doch wissen, dass er sich mit jedem Satz nur noch verdächtiger macht.«

Ecki trat auf die Pedale, um sie in eine bequeme Aufstiegsposition zu bringen. »Wir haben nichts in der Hand. Zumindest nichts, das für einen Haftbefehl reicht.«

»Mayr muss sie vorladen.«

»Das wird wenig bringen.«

»Jakisch soll das mit ihm klären. Und wir sprechen mit unserer Staatsanwältin. Carolina wird schon was einfallen. Wir brauchen die Daten auf Bauers Laptop.«

Ecki nickte zustimmend. »Stimmt. Vielleicht ist alles viel einfacher, als wir jetzt denken. Mag sogar sein, dass Carina Bauer froh ist, wenn wir ihr helfen, ihr Gewissen zu erleichtern. Und wenn wir die Daten haben, können wir klären, ob ihr Anwalt die Wahrheit gesagt hat.«

»Und du willst tatsächlich bei dieser Hitze mit dem Rad heimfahren?« Frank deutete auf die schmale Rennmaschine.

»Besser als Motorradfahren. In der Kombi gehst du bei der Hitze ein.«

Frank wollte in den Schatten zurück. »Wie auch immer. Bauer sitzt tief im Dreck. So oder so. Und ich glaube, dass sie versuchen wird, aus eigener Kraft da rauszukommen. Sonst hätte sie die Fotos längst rausgerückt. Sie hat ihr eigenes Ding vor. Vorausgesetzt, die Story mit ihr und Bongarts stimmt.«

»Die Dame ist mit allen Wassern gewaschen, wie mir scheint.« Ecki schwang sich auf sein Rad, hob zum Abschied die Hand und rumpelte über das Kopfsteinpflaster Richtung Schranke.

Carsten Jakisch machte ein zufriedenes Gesicht. »Man muss eben auch mal Glück haben.«

»Schieß los.« Frank war nach Eckis Abfahrt noch einmal an seinen Schreibtisch zurückgekehrt. Ihn trieb eine Unruhe ins Büro zurück, die er sich nicht erklären konnte. Vielleicht lag es daran, dass Carolina angerufen und unbequeme Fragen nach dem Stillstand der Ermittlungen gestellt hatte. Leicht genervt hatte sie erklärt, dass sie sie bislang »über Gebühr unterstützt« habe und nun umso dringender Ergebnisse brauche. Vielleicht lag seine Unruhe aber auch daran, dass Lisa seit Tagen eine Entscheidung verlangte. Seine Freundin hatte keine Lust mehr, länger nach einem gemeinsamen Haus zu suchen. Sie hatten sich ein Haus angesehen, aber Frank hatte mehr Fragen gestellt als Begeisterung gezeigt. Frank konnte sich nicht freien Herzens entscheiden. Lisa behauptete, dass er gar keine Entscheidung treffen wolle. Dass sie damit, zumindest teilweise, recht hatte, das hatte er nicht zugegeben.

»Hörst du mir überhaupt zu?« Jakisch sah Frank zweifelnd an.

»Was? Ja, es geht um ein Haus.« Frank nickte irritiert.

»Ein Haus? Frank, es geht um viel, viel mehr als nur um ein Haus.«

Wie recht Jakisch doch hatte, ohne es zu ahnen, dachte Frank. »Natürlich. Entschuldigung. Ich war nicht ganz bei der Sache. Bitte mach weiter.«

»Ich glaube, ich fange noch einmal von vorne an.« Carsten Jakisch zog einen schmalen Ordner zu sich. »Es geht doch in allen Fällen irgendwie um Immobilien. Um Ankauf, Verkauf, Vermittlung, um Spekulation, um Wettbewerb, Konkurrenz, um viel Geld. Das waren jede Mengen Akten, durch die ich mich gewühlt habe. Na ja, mithilfe von Heini.«

»Bitte, nicht bei Adam und Eva anfangen.« Frank lächelte müde. Jakisch konnte manchmal ganz schön anstrengend sein.

»Auch das Paradies ist eine Immobilie. Eine göttliche, gewissermaßen.«

»Jakisch, bitte. Unter ›Paradies‹ laufen meist Puffs oder zwielichtige Bars.«

Jakisch räusperte sich theatralisch. »Wie auch immer. Ich habe mir gedacht, wo Geschäfte gemacht werden, laufen auch krumme Geschäfte. Und deshalb habe ich dann gestern mit den Wuppertalern telefoniert. Die Schwerpunktstaatsanwaltschaft wusste nix von Leuchtenberg oder Bauer. Aus deren Sicht sind die beiden sauber. Genauso wie Büschgens. Und dann«, Jakisch schlug die Hände zusammen, »zack, geht eben das Telefon, und schon sieht die Welt ganz anders aus.« Jakisch grinste breit.

»Wie das Leben so spielt.«

»Am Vormittag ist bei der Wuppertaler Staatsanwaltschaft ein anonymes Schreiben eingegangen. Besser gesagt, eine umfangreiche Akte. Eine detaillierte Zusammenstellung illegaler Geschäfte, Namen, Daten, Kontonummern, Gesprächs- und Sitzungsprotokolle. Ganz großes Kino. Das Ganze sieht nach einer riesengroßen Schweinerei aus, die da auf eurer Landesebene gespielt wird und wurde. Und mittendrin Leuchtenberg und Bauer. Und einige prominente Namen von Unternehmern, Politikern und Landesbediensteten, bis hinauf in höchste Regierungsämter.«

»Anonym, sagst du?«

»Okay, die Kollegen stehen erst am Anfang. Aber wenn die Ermittlungen erfolgreich sind, wird es ein Erdbeben geben, sagen die Kollegen. Einen Riesenknall.«

»Anonyme Schreiben haben den Nachteil, dass der Absender nicht bekannt ist.«

»Das, was die Kollegen nun in Händen halten, muss von jemandem kommen, der an exponierter Stelle in der Landesregierung, in einer der Baubehörden oder so was Ähnlichem sitzt.«

»Kennt man schon den Grund, warum es abgeschickt wurde?«

Jakisch nickte. »Dieser Jemand wollte sein Gewissen erleichtern. Er hat einige ›Ausrutscher‹ im Privaten gebeichtet, für die er erpresst wurde. Er wollte reinen Tisch machen. Vor allem mit seiner Frau. Er hat es nicht länger ausgehalten, diesen Erpressungsversuchen ausgesetzt zu sein. Er hat sogar die Fotos dazugelegt, die ihn zur ›Kooperation‹ bewegen sollten.«

»Und?«

»Die üblichen Fotos von Sexpartys in verschiedener Besetzung, meist mit jungen Frauen und nicht ganz so appetitlichen Praktiken. Sagen die Kollegen. Ich habe um ein paar Kopien gebeten.«

»Jakisch!«

»Quatsch. Aber vielleicht erkennen wir Einzelheiten, die uns etwas über den Ort der Aufnahmen verraten. Die Kollegen haben aber schon gesagt, dass das dauern kann. Sie wollen die Dokumente erst selbst auswerten.«

»Wie auch immer. Wir werden sehen. Auf den ersten Blick klingt das Ganze, als habe da jemand die Angst vor seiner Frau verloren, was?«

»Oder Pflichtgefühl hat über Angst gesiegt. Oder derjenige hat sich einfach nur befreien wollen. Die Moral hat jedenfalls gesiegt.«

»Jetzt wirst du aber pathetisch. Was steht denn nun genau in diesem anonymen Schriftsatz?«

»Das klingt geradezu unglaublich simpel. Hier zum Beispiel –« Jakisch fuhr mit dem Finger über die Zeilen. »Die Kollegen haben mir auf die Schnelle was zusammengestellt. Sie sprechen in mehreren Fällen von unternehmerischen Pflichtverstößen. Wenn ich das richtig verstehe, geht es darum, dass bei einigen Immobilienprojekten Häuser verkauft und nach der Renovierung zurückgemietet wurden. Dabei sollen der Verkaufspreis deutlich zu niedrig und die vereinbarte Miete viel zu hoch angesetzt worden sein. Angehörige von Behörden und Firmen sollen gemeinsam zu besonderen Partys geflogen worden sein, auf denen besondere Damen, an den Handgelenken mit speziellen Bändchen nach besonderen Farben sortiert, für besondere Dienste zur Verfügung gestanden haben sollen. In den Dokumenten ist von Sexpartys in verschiedenen Villen die Rede. Als Beweis sind sogar abgehörte Gespräche zwischen Frauen beigefügt, die dabei waren. Du solltest dir die Liste mal ansehen. Alles akribisch dokumentiert. Hier. Dutzende Abhörprotokolle. Das müssen schon ganz spezielle Herrenabende gewesen sein.«

Frank nickte. »Und diese Unterlagen sollten den anonymen Mittäter weich klopfen. Weiter?«

»Es sind sogar Sonderkonten aufgeführt, auf denen sich Geld befand, um diese Frauen zu bezahlen. Einige sollen sogar mit kleinen Wohnungen für ihre Dienste entlohnt worden sein.«

Frank nickte. »Unser anonymer Informant muss dann wohl auch selbst noch sehr genau recherchiert haben. Vor allem muss er die Möglichkeiten dazu gehabt haben. Jemand, der weit oben in diesem Netzwerk aus Firmen und Behörden steckt.«

»Vielleicht hat er zunächst versucht, Material gegen seine Erpresser zu sammeln, um sie damit abwehren oder sich freikaufen zu können. Das ist wie bei einem Zimmerbrand. Zuerst glaubt man, dass man das alleine in den Griff bekommt, und dann brennt die Bude doch lichterloh.«

»Da wundere ich mich, dass er nicht längst tot ist. Klingt nämlich alles sehr nach organisierter Kriminalität. Russen oder Italiener.«

Jakisch nickte eifrig, als er fortfuhr. »In den Firmen und Baubehörden soll jede Menge Schmiergeld geflossen und über die Jahre Geld veruntreut worden sein.«

»Gibt’s auch schon was Konkretes?«

»Angeblich zum Beispiel Ungereimtheiten beim Neubau des Landesarchivs, bei der Erweiterung eines Polizeipräsidiums, bei der Umsiedlung einer kompletten Hochschule. Und beim Ankauf eines Bürohauses für irgendeine Behörde.«

»Landesarchiv?«

Jakisch blätterte in den Unterlagen. »Hm. Hier, genau. Da ist irgendwann eine Art Zwischenhändler oder -käufer auf den Plan getreten, der das vom Land ausgeguckte Grundstück angekauft und dann für viel Geld an das Land weiterverkauft haben soll. Dadurch ist dem Steuerzahler, wenn es denn so ist, ein Schaden von fast 30 Millionen Euro entstanden.«

»Ein Zwischenhändler?«

»Ein Insider muss, noch ehe das öffentlich wurde, verraten haben, dass das Land beabsichtigt, das Grundstück im Duisburger Hafen zu kaufen. Für schlappe zwei Millionen. Kurz vor dem Notartermin taucht dann der neue Käufer auf, zahlt 3,8 Millionen Euro. Und von ihm kauft das Land dann das Grundstück für 30 Millionen.«

»Unglaublich.«

»Möchtest du noch mehr hören?«

Frank nickte. »Wenn’s interessant ist.«

»Firmen sollen nach Ende von Ausschreibungspflichten noch die Chance bekommen haben, ihr Angebot nachzubessern. Jemand muss ihnen also die Angebote der Mitbewerber verraten haben.«

Frank hob die Hand. »Das genügt mir erst mal. Der Landesrechnungshof wird seine Freude haben. Welche Rolle spielen nun Leuchtenberg und Bauer in der ganzen Sache?«

»Carina Bauer soll die Frauen besorgt haben. Sie soll als Kupplerin aufgetreten sein.«

»Die Sexpartys könnten in Rottach gelaufen sein.«

»Genau. Deshalb wollte ich möglichst schnell die Fotos haben.«

»Und Leuchtenberg? Wie passt der ins Bild?«

»Der soll für die wasserdichte Abwicklung der Deals gesorgt haben. Die Verträge sollen in seiner Kanzlei ausgehandelt worden sein. Er soll auch die Konten verwaltet haben, über die die, ähm, Dienstleisterinnen bezahlt wurden.«

»Damit haben wir ihn also endlich am Haken. Dein Kollege Mayr muss Bauer festnehmen.«

»Der Informant hat die Flucht nach vorn angetreten, weil ihm gefälschtes Beweismaterial untergeschoben werden sollte. Kinderpornos.«