IX.

»Sie müssen doch zugeben, eine Menge Indizien sprechen gegen Sie. Sie haben auch auf den Bichler-Hof spekuliert, im Mageninhalt von Büschgens wurden Spuren eines Kartoffelgifts gefunden, in den Resten der Schupfnudeln, die Sie Herrn Büschgens serviert haben, um genau zu sein. Das sieht doch alles sehr nach Rache oder Neid aus. Klassische Mordmotive. Sie sollten sich genau überlegen, was Sie jetzt sagen, Herr Mader. Ich denke, Sie brauchen einen Anwalt.« Robert Mayr sah den Wirt eindringlich an.

»Sind Sie wahnsinnig? Das stimmt doch alles nicht! Ich bring doch keine Gäste um! Ich begehe doch keinen Mord! Niemals! Für was denn? Stimmt, ich habe mich für den Hof interessiert. Aber das ist doch nicht strafbar! Ich habe halt Pech gehabt beim Bieten. So ist das im Leben. Deshalb bringt man doch keine Leut’ um! Ich habe mir nichts vorzuwerfen!« Maders dunkle Augen funkelten vor Entsetzen, Empörung und Zorn. »Und außerdem, Ihr Zimmer ist ab sofort belegt. Bitte verlassen Sie mein Haus.«

»Wir werden sowieso zusammen nach Kempten ins Präsidium fahren, Herr Mader. Kein Problem.«

»Hören Sie, das Gift kann doch auf alle möglichen Arten in den Magen des Toten gelangt sein!« Martin Mader versuchte, sich in die Gedankenwelt eines Kommissars hineinzuversetzen. »Vielleicht hat man ihm das Gift ja auch gespritzt. Oder es war ein Unfall, ein unglücklicher Zufall. Das kann doch sein, oder? Kommt das Gift nur in Kartoffeln vor? Nein.« Martin Mader sah Robert Mayr hoffnungsvoll an. »Kann doch sein, dass Büschgens auf dem Weg hierher unterwegs Pommes frites gegessen hat, die verdorben waren? Oder Knödel. Die Raststätten an den Autobahnen sind auch nicht immer astrein. Nicht umsonst hat der ADAC ein Auge darauf. Unsere Kartoffeln sind jedenfalls Eins-a-Qualität. Wir verarbeiten nur beste Zutaten. Die Kartoffeln für die Nudeln waren nicht vergiftet. Nie und nimmer. Darauf wett ich meinen Kopf.«

»Seien Sie vorsichtig mit solchen Äußerungen.« Robert Mayr betrachtete interessiert Maders runden Schädel, um den sich das kurze, fast schwarze Haar wie ein Lorbeerkranz legte. »Ob Büschgens zwischendurch was gegessen hat? Darüber haben wir bisher keine Erkenntnisse. Wir fahren jetzt jedenfalls aufs Präsidium. Ich kann Sie nicht länger hierlassen. Bitte packen Sie ein paar Sachen zusammen. Das Nötigste für die nächsten Tage.« Robert Mayr legte eine Hand auf Maders Arm. »Ich würde Ihnen ja gerne glauben, aber ich das kann im Augenblick nicht.«

Während Martin Mader ungewohnt schwerfällig die Gaststube verließ und im hinteren Teil des Hauses verschwand, hatte Robert Mayr das Gefühl, in dem kleinen Raum keine Luft mehr zu bekommen. Er nickte einem Kollegen zu, was bedeuten sollte »passt’s auf den Mader auf«, und trat vor den Gasthof. Er wollte dem Wirt ein bisschen Zeit geben und ging ein kurzes Stück in Richtung See.

Er roch die Wiesen, das Grün und die Kräuter. Der mächtige Tannenwald sah gesund und dunkel aus. Ab und an hörte man das leise rhythmische Anschlagen von Kuhglocken. Der gleichförmige Klang machte ihn schläfrig. Der Himmel war blau, nur ein paar Wolken waren zu sehen. Aber da war noch etwas anderes in der Luft. Robert Mayr spürte eine kaum merkliche Spannung, die langsam die Hänge des Wertacher Hörnle, der Ellegghöhe und des Grünten herunter und dann über den See auf ihn zuzukriechen schien.

Der Kriminalhauptkommissar verscheuchte den Gedanken. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit Martina heraufzukommen. Sie hatten schon so lange keinen gemeinsamen Ausflug mehr gemacht. Er vermisste sie. Ihr verschwenderisches Lachen und den herben Duft ihres dunklen Haares. Er hätte sie jetzt gerne vor dieser Kulisse umarmt und festgehalten.

Stattdessen tastete er in seiner Jackentasche nach dem Handy.

»Hallo, Dr. Schüssler, ich möchte mich bei Ihnen bedanken für Ihre dann doch schnelle Hilfe. Ihr Spürsinn hat uns direkt zum Täter geführt. Mal wieder, möchte ich sagen. Ohne Ihre Arbeit hätten wir sicher noch Wochen im Moosbacher Nebel gestochert.«

Im Gehen schilderte er in knappen Worten den bisherigen Verlauf der Ermittlungen.

Nicht weit vom Ufer des Rottachsees entfernt, hielt er auf halber Höhe des abschüssigen Weges an und setzte sich auf eine Bank, die am Rand einer Wiese stand. Er drückte die Lautsprechertaste seines Mobiltelefons und legte das Handy neben sich. So konnte er es sich auf der verwitterten Holzbank gemütlich machen, mit Blick auf das gegenüberliegende Ufer, ohne das Telefon ans Ohr pressen zu müssen.

»Ich bin mir sicher, dass die Indizien ausreichen, um Mader zu überführen. Das Solanin in seinen Schupfnudeln hat nicht nur für Büschgens’ Tod gelangt, es wird auch für Maders Verurteilung reichen.« Robert Mayr war zufrieden. Selten war ein Fall so schnell gelöst wie diesmal. Er freute sich auf Martina.

»Herr Mayr?« Die Stimme des Mediziners klang diesmal nicht ganz so abgeklärt. »Herr Mayr, ich mache mir Sorgen, dass Sie vielleicht doch ein bisserl vorschnell handeln. Aber das liegt weniger an Ihrem Ermittlungseifer.« Schüssler räusperte sich. »Das liegt eher an mir.«

Mayrs Zufriedenheit war mit einem Schlag dahin. »Was meinen Sie damit? Sagen Sie jetzt bloß nicht, Sie haben sich geirrt.«

»Nein, geirrt habe ich mich nicht. Wir haben im Mageninhalt eine Überdosis Solanin gefunden, das stimmt so. Allerdings«, der Gerichtsmediziner räusperte sich erneut, »allerdings macht mich mittlerweile eines stutzig, und zwar die überaus hohe Konzentration des Giftes.«

»Geht das ein bisschen genauer, Herr Doktor? Noch verstehe ich kein Wort, um ehrlich zu sein.« Robert Mayr hatte jetzt keinen Blick mehr für die schroffe Schönheit des Grünten. Angespannt presste er sein Telefon wieder ans Ohr.

»Mich hat die ganze Zeit die Frage beschäftigt: Wie konnte das Solanin in so hoher Dosis verabreicht werden? Ich habe extra noch einmal die einschlägigen Fachleute hinzugezogen, ich kenne da einen Kollegen am Bodensee, wissen Sie.«

Nein, Robert Mayr wusste nicht.

»Gut, ich hätte vielleicht eher darauf kommen müssen. Jedenfalls ist dieser Kollege davon überzeugt, dass Solanin in tödlicher Konzentration nur in einem äußerst schwierigen chemischen Prozess herzustellen ist. Dazu müssen Sie Experte sein und über ein spezielles, umfangreiches und technisch hochgerüstetes Labor verfügen. Geschweige denn, dass man das Zeug irgendwo kaufen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein einfacher Koch brauen kann.«

Robert Mayr richtete sich kerzengerade auf. »Und das bedeutet?« Er wollte es einfach nicht glauben.

»Finden Sie’s heraus, Herr Mayr. Sie sind der Ermittler. Ich kann nur sagen, dass selbst eine geringe, extrem konzentrierte und damit absolut tödliche Dosis Solanin nur sehr schwierig herzustellen ist.«

Scheiße, dachte Mayr, warum kam Schüssler erst jetzt mit dieser Information? »Okay, danke.« Er war verärgert und wollte schon die Verbindung trennen.

»Herr Mayr?«

Was denn noch? »Ja?«

»Da ist noch etwas.«

Nun mach schon, dachte Mayr. »Ich höre!«

»Büschgens muss sehr salzig gegessen haben. Entweder hat der Koch zu tief in den Salztopf gegriffen, oder der Tote hat nicht nur Schupfnudeln gegessen.«

»Und was könnte das sonst gewesen sein?«

»Auf jeden Fall noch irgendetwas aus Kartoffeln. Denn andere Lebensmittel als die schon genannten habe ich nicht in Büschgens’ Magen gefunden.«

Die Schupfnudeln waren sicher nicht versalzen gewesen. Das hätte Büschgens bestimmt gemerkt und sich bei Mader beschwert. »Knödel?«

»Ja, vielleicht, aber unwahrscheinlich. Eher könnten es Pommes frites gewesen sein.«

»Büschgens muss also vorher schon etwas gegessen haben, das aus Kartoffeln hergestellt wurde.«

»Oder nachher.«

»Kann ich die Leiche freigeben? Büschgens’ Freundin hat schon ein paarmal angerufen. Sie möchte endlich die Beerdigung ausrichten.«

»Ich habe nichts dagegen. Alle Proben sind genommen.«

Robert Mayr vernahm ein dunkles, kaum hörbares Grollen. Es kam nicht aus seinem Telefon. Er blickte zum Himmel und sah, dass sich hinter dem Grünten Wolken wie zu einem Angriff ballten. Ein Gewitter braute sich zusammen. Er musste schleunigst zurück. Nicht nur wegen der Tropfen, die bereits vereinzelt fielen.

Auf dem Weg zum Gasthof versuchte Mayr sich darauf zu konzentrieren, was er als Nächstes tun sollte. Mader konnte also doch unschuldig sein. Oder er hatte sich das Zeug über dunkle Kanäle besorgt? Vielleicht sollte er auf dem Großmarkt ermitteln. Oder es gab sogar eine Verbindung zur Mafia. »So ein Unsinn«, meinte Robert Mayr halblaut zu sich selbst, seine Phantasie fuhr gerade Achterbahn. Aber hatte Mader nicht erzählt, dass er sich gerne in Südtirol aufhielt? Angeblich bei einem guten Freund.

Das Gebimmel der Kühe ging ihm jetzt auf die Nerven.