XX.
Der Fraktionsgeschäftsführer sah Frank abwartend an. Er hatte den beiden Ermittlern zwar Kaffee servieren lassen, unter echter Gastfreundschaft verstand er persönlich allerdings etwas anderes. Er hatte auf der Hut zu sein. Das schuldete er seinem Freund und der Partei. Seit Büschgens tot war, klingelte in einer Tour sein Handy. Es gab eine Menge sauber zu halten. Dabei konnte er die Polizei am allerwenigsten gebrauchen.
»Wir haben uns in den vergangenen Tagen eingehend mit dem privaten Ernst Büschgens beschäftigt. Um ehrlich zu sein, wir sind dabei nicht sonderlich überrascht worden. Ihr Parteifreund hat einen untadeligen Ruf genossen, soweit wir das beurteilen können.« Frank räusperte sich. »Und was die politische Karriere betrifft: Da sind wir auch nicht auf Ungereimtheiten gestoßen.« Frank war der Fraktionsobere eine Spur zu glatt. Nicht unsympathisch, aber aalglatt. Außerdem benahm der Mann sich merkwürdig, einen Tick zu beflissen und doch unnahbar.
»Was hatte Sie erwartet, Herr Kommissar? Dass wir Politiker alle Leichen im Keller haben? Oh. Verzeihen Sie in diesem Zusammenhang so eine Metapher.« Bernd Zohren hob entschuldigend die Hände. »Aber ich weiß sehr wohl um das Image unseres Standes.«
Wenigstens hat er nicht »Berufsstand« gesagt, dachte Ecki, dem Zohren ebenfalls suspekt war. »Nun, das ist nicht der Grund, warum wir gekommen sind. Wir wollen keinesfalls in diese Kerbe schlagen. Aber wir fragen uns natürlich, ob wir damit wirklich schon alles über Ernst Büschgens wissen.«
»Die Frage können nur Sie abschließend beantworten.« Zohren lächelte.
Du guckst eine Spur zu unauffällig auf deine Uhr, dachte Frank. Wir werden aber noch eine Weile bleiben. »Das werden wir sicher auch tun. Deshalb ist es wichtig, dass wir Büschgens’ politischen Werdegang noch einmal mit Ihnen gemeinsam durchgehen.« Er sah, dass seine Worte genau das auslösten, was er sich erhofft hatte: Zohren hatte nicht die geringste Lust, jemanden in die Karten seiner Partei blicken zu lassen.
»Ganz wie Sie wollen. Ich kann Ihnen gerne die Daten zukommen lassen. Meine Sekretärin wird das sofort erledigen, Herr Hauptkommissar.«
Frank winkte ab. »Es geht uns nicht um Daten. Uns interessiert vielmehr, was Ernst Büschgens im Sinne der Partei so getrieben hat.«
»Wie meinen Sie das?«
Zohren hatte vergessen, aalglatt auszusehen.
»Woran haben Sie intern gearbeitet? Hat er sich bei der politischen Arbeit, wie immer sie ausgesehen haben mag, Feinde gemacht?« Frank registrierte mit Vergnügen die leichte Veränderung in Zohrens Haltung. Er war auf dem richtigen Weg.
»Jeder Politiker hat sogenannte Feinde. Das gehört zu seinem Job. Leider. Aber damit wissen wir als Demokraten umzugehen. Es steht in unserer Arbeit stets die Sache im Vordergrund. Nennen Sie es ruhig unseren Wählerauftrag und das Wohl der Bürger.«
»Und das Wohl der Partei.«
»Jetzt werden Sie polemisch, Herr Eckers.«
Ecki ließ den Angriff unbeantwortet.
»Jedenfalls«, fuhr Zohren fort, »glaube ich nicht, dass es zu Unstimmigkeiten gekommen ist.«
»Woran hat Büschgens zuletzt gearbeitet? Er war in der Stadt und in der Baubranche ein einflussreicher Mann. Es muss doch Unterlagen geben. Wenn ich mich nicht irre, hatten es ihm besonders Großprojekte angetan.«
»Herr Borsch, Sie kennen doch unsere Stadt.« Bernd Zohren setzte sein Politikerlächeln auf, mit dem er üblicherweise Seniorenheime enterte. »Großprojekte gibt es hier wahrlich kaum. Und die, die wir haben umsetzen können, sind alle zufriedenstellend und mit allen Vertragspartnern einvernehmlich abgewickelt worden. Wir stellen Ihnen gerne die Akten in Sachen Abriss Stadttheater, Arcaden und Nordpark zur Verfügung.«
»Wenn es nur wenige dieser Projekte gab oder gibt, hat dann Büschgens vielleicht auch in anderen Kommunen Geschäfte gemacht?« Ecki stellte seine Kaffeetasse auf den Tisch zurück. Für Frank das untrügliche Zeichen, dass Ecki kurz davorstand, die Geduld zu verlieren.
»Selbstverständlich hat ein Mann von Büschgens’ Qualitäten auch anderswo seine Geschäfte gemacht. Er war ein gefragter Experte in der Abwicklung von großen Bauprojekten. Aber wo«, Zohren breitete entschuldigend die Arme aus, »er tätig war, entzieht sich meiner Kenntnis. Wir als Partei haben uns nur um unsere innerstädtischen Dinge gekümmert. Klar, wir haben auch mal ein Bier zusammen getrunken, Ernst und ich, aber Privates war bei diesen Gelegenheiten selten bis gar nicht Thema.«
Ich glaube dir kein Wort, dachte Ecki. »Ach, kommen Sie, Herr Zohren, das nimmt Ihnen doch kein Mensch ab. Sie wissen doch sicher, womit sich Ihre Fraktionskollegen gerade beschäftigen.« Politiker sind schließlich Alphatiere, die ständig ihr Revier markieren müssen, schickte Ecki stumm hinterher.
»Ihre Art zu fragen gefällt mir nicht, um ehrlich zu sein. Aber vermutlich tun Sie auch nur Ihre Arbeit.« Zohren lächelte verbindlich.
»So ist es.« Frank nickte. »Also?«
»Auf Ehre und Gewissen, Herr Hauptkommissar, ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich hatte weder Einblick in Ernsts Terminkalender noch in seine wirtschaftlichen Verhältnisse. Ich weiß nur, dass er offenbar auf dem Absprung war. Er wollte sich im Allgäu zur Ruhe setzen. Aber das wissen Sie ja längst, vermute ich mal.«
Ecki hakte nach. »Das ist doch eigenartig: Ein erfolgreicher Geschäftsmann will sich mit einem Mal zur Ruhe setzen. Büschgens war ja erst Anfang 50.«
»Weil er sich einen Traum erfüllen wollte vielleicht? Er wird genug Geld gehabt haben, als Partei- und Fraktionskollege hätte ich seinen Weggang bedauert. Andererseits kann ich ihn auch verstehen. Er hatte Marie kennengelernt, wollte noch einmal ganz von vorne anfangen. Und da ist der Zeitpunkt genau günstig gewesen. Marie Schneiders ist eine liebenswerte und dazu sehr attraktive Frau. Und vermögend. Ernst hatte mit ihr das große Los gezogen.«
»Er muss auch selbst viel Geld verdient haben.«
»Viel Arbeit bedeutet auch schon mal viel Geld. Und Ernst hat viel gearbeitet. Zu viel manchmal.«
»Was meinen Sie damit?«
»Das, was ich sage: Zu viel Arbeit macht die Gesundheit auf Dauer nicht mit.«
»Gilt in der Politik denn nicht auch der Spruch: Wo gehobelt wird, da fallen Späne?«
»In gewissem Sinne, ja. Nur nicht in diesem Zusammenhang, Herr Kommissar.« Bernd Zohren machte ein Gesicht, als wollte er sagen: So leicht kriegst du mich nicht aufs Glatteis. Dafür musst du schon früher aufstehen, mein Lieber.
»Was mich ein wenig stutzig macht, ist, dass Sie so vehement die Lanze für Ernst Büschgens’ Ehrenhaftigkeit führen.« Ecki ließ den Fraktionsgeschäftsführer nicht aus dem Blick.
Bernd Zohren wandte sich an Frank. »Wie ich schon sagte, Ihr Kollege kann sehr polemisch sein.«
Frank schwieg dazu.
»Jedenfalls hat Ernst keinen dunklen Flecken auf seiner Weste. Im Übrigen empfinde ich dieses Gespräch zunehmend als pietätlos. Ernst Büschgens hat mehr Respekt verdient.«
Ecki musste ein Lachen unterdrücken. Es hätte abfällig geklungen. Dieser Zohren hatte Nerven! Es ging um drei Morde, und dieser Lokalpolitiker meinte allen Ernstes, einen auf Staatsmann machen zu können. Er würde sich auf keinen Fall von Zohren provozieren lassen. »War Motorradfahren auch einer der Träume, die Ernst Büschgens unbedingt verwirklichen wollte?«
»Tun das nicht alle Männer um die 50, Herr Eckers?«
Nun ließ Ecki das Lachen doch heraus. »Ich frage Sie noch einmal, Herr Zohren, woran hat Ernst Büschgens gearbeitet?«
Zohren blieb unbeeindruckt freundlich. »Ich stelle Ihnen gerne die Ausschuss- und Ratsprotokolle zur Verfügung. Vom Rest habe ich keine Ahnung. Da muss ich Sie allein lassen, so leid mir das tut.«
Er hatte sich an den Tisch ganz hinten in dem schlauchartigen Restaurant gesetzt und ein Bier bestellt. Die Tische auf dem Bürgersteig vor dem D’Vine waren alle besetzt, aber er hatte ohnehin kein Interesse daran, erkannt und in Begleitung gesehen zu werden.
Es war ein kleines Restaurant: dunkle einfache Tische, helle Wände, keine überflüssige Dekoration. Wenig auffällig und doch mit dem angesagten reduzierten Chic, genau richtig für unauffällige Treffen im verlängerten Schatten von Landtag und Polizeipräsidium.
Seine Verabredung kam pünktlich.
Der Mann war Mitte bis Ende fünfzig, genau wusste er das nicht zu sagen. Wegen seiner Art zu sprechen und der sparsamen Gesten vielleicht ein Anwalt. Trotz der hohen Temperaturen war der Mann tadellos gekleidet. Zum dreiteiligen grauen Anzug trug er ein unauffälliges Hemd, dazu eine ebenso unauffällige Krawatte und ein dezentes, farblich passendes Einstecktuch. Keine Ringe, lediglich eine Armbanduhr. Der Mann hatte etwas, das ihn an gewisse Schwarz-Weiß-Fotos der frühen Sechzigerjahre erinnerte. Unauffällige Zuarbeiter im Hintergrund von Politik und Wirtschaft. Der Eindruck konnte aber auch Zufall sein.
Sie hatten zunächst jeder ein Glas Weißwein getrunken und einen Salat von der Tageskarte bestellt. Obwohl er mit T-Shirt, Jeans und Turnschuhen nicht eben wie ein Geschäftsmann aussah, fielen die ungleichen Gesprächspartner nicht weiter auf. Sie waren immer noch die einzigen Gäste, die im Restaurant saßen. Die Mehrheit der Düsseldorfer beharrte wohl auf dem mediterranen Flair ihrer Stadt und blieb lieber auf dem Trottoir.
Beim abschließenden Espresso war seine Verabredung zum eigentlichen Thema gekommen.
Er hatte zunächst nicht glauben können, was er da zu hören bekam. Eigentlich hätte es umgekehrt laufen sollen. Er hatte um »Erlaubnis« für seine Pläne bitten wollen. Aber mit jedem Satz war deutlicher geworden, dass es für ihn nicht besser laufen konnte. Er würde sich seines »Problems« entledigen und gleichzeitig ein hübsches Sümmchen verdienen können. Dieser Tag versprach ein überaus ertragreiches Ende zu nehmen! Aber er wollte seine Freude und Genugtuung nicht gleich preisgeben. Vor allem weil er sich davon eine ordentliche Aufstockung seiner Entlohnung versprach.
»Hören Sie, das ist nicht so einfach. Die Stadt wimmelt von Bullen, und das Dorf ist in heller Aufregung. Wie stellen Sie sich das vor?«
»Ihr Problem, Kevin.« Er sagte es, wie er die Frage der Kellnerin nach einem Nachtisch verneint hatte, beiläufig und ohne Emotion.
»Sie stellen sich das zu einfach vor. Ich kann nicht einfach in das Wohnzimmer dieser Staatssekretärin spazieren und ›peng‹. Es gibt zu viele Leute, die uns zusammen gesehen haben.«
»Ihr Pech. Sie mussten ja unbedingt mit ihr ins Bett. Das war nicht Ihr Auftrag. Ich hatte Sie für schlauer gehalten.«
Kevin musste grinsen bei dem Gedanken an ihre erste Nacht. Er hatte es bisher noch jeder ordentlich besorgt. »Sie hat es nicht anders gewollt.«
»Sie spielt in einer anderen Liga.«
Kevin zuckte mit den Schultern. Frauen standen auf seine offenen Hemden und seine Schlangenlederschuhe. Aber was hatte er mit den Gefühlen der Schicksen zu schaffen?
»Wie auch immer. Sie wird einigen Geschäftspartnern zu gefährlich. Und sie kann auch Ihnen gefährlich werden. Meinen Sie nicht?«
Was konnte sie schon wissen?
»Sie weiß mittlerweile, wer Sie wirklich sind.«
»Das kann gar nicht sein.«
Sein Gegenüber blinzelte spöttisch. »Ich sagte es ja bereits: Sie spielt in einer anderen Liga.«
Was hatte das zu bedeuten?
»Hören Sie, mein Lieber, Sie können sich gerne ›Kevin‹ nennen, vor wem, von wem und wann auch immer. Aber glauben Sie im Ernst, dass Frauen wie sie einfach nur die Beine breit machen? Diese Dame hat eine Menge Verantwortung und im Zweifelsfall eine Menge zu verlieren. Solche Frauen sind von Natur aus vorsichtig. Sie hat sich erkundigt. Nun weiß sie Bescheid und ist damit eine echte Gefahr.«
Kevin begann zu schwitzen. Was ging hier bloß vor?
»Jetzt machen Sie sich keine Sorgen. Erledigen Sie den Auftrag, und alles ist wieder gut.«
Jetzt blinzelte Kevin. Und zwar vor Nervosität. Er hatte in den vergangenen Monaten vergeblich versucht, die wahre Identität des Anzugträgers aufzudecken. Es war ihm nicht gelungen. Er war ihm ein paarmal gefolgt, aber spätestens auf Höhe des Landtages hatte er ihn jedes Mal verloren. Sosehr er sich auch bemüht hatte, mehr als eine Personenbeschreibung hätte er nicht abliefern können. Er wusste nicht einmal zu sagen, welchen Fahrzeugtyp sein Gegenüber bevorzugte. Und nun saß er hier und war ihm ausgeliefert. Kevin beschlich das Gefühl, dass die Sache zwei Nummern zu groß für ihn war. Wenn er ehrlich war, hatte er das bereits zu Beginn ihrer »Partnerschaft« gespürt.
In Kevins Kopf rasten die Gedanken. Was hatte das zu bedeuten? Er sollte sie töten. Gut. Seinetwegen. Der Auftrag kam allerdings zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Ausgerechnet jetzt hatte er seine eigenen Probleme. Er brauchte Zeit und Raum, um mit der Tussi abzurechnen, die ihn so eiskalt hatte am Telefon abservieren wollen. Und auf dieser Rechnung stand sicher auch der Name dieses »Anwalts«. Sie würde ihm den Namen nennen, bevor er ihr seine Rechnung präsentierte. Und woher wusste dieser Typ, wer er, Kevin, wirklich war?
»Habe ich Sie verwirrt?«
Kevin schüttelte langsam den Kopf. Er versuchte cool zu bleiben.
»Nun, dann sind wir uns ja einig. Bezahlung wie immer. Diesmal direkt von mir. Ich melde mich bei Ihnen. Ihr Zielobjekt kennen Sie ja.«
Da war es wieder, dieses spöttische Zwinkern.
»Wann und wo? Ich meine, die Bullen.«
»Sie werden es schon richten.« Er straffte sich unmerklich in seinem Dreiteiler. »Sie werden sie schon richten. Zu Ihrem eigenen Vorteil. Da bin ich ganz zuversichtlich.«
Er wusste, dass er keine Chance auf eine höhere Bezahlung hatte. Aber er probierte es trotzdem.
»Ich brauche Zeit. Und ich brauche Geld. Ich muss sie so verschwinden lassen, dass es wie ein Unfall aussieht. Das ist teuer. Bonny wird mehr verlangen.«
»Bonny ist ein kluger Kopf. Er wird wissen, dass er keine Ansprüche stellen kann.«
Er hatte die Anspielung verstanden und schwieg.
»Sehen Sie, wir haben uns verstanden.« Der andere stand gelassen auf. »Ich kann mich auf Sie verlassen. In Ihrem eigenen Interesse.« Im Gehen wandte er sich noch einmal um und machte eine vage Handbewegung. »Sie übernehmen die Kleinigkeit hier doch sicher großzügig, oder? Und grüßen Sie Bonny von mir.« Er deutete einen Gruß an und nickte im Hinausgehen der Bedienung hinter dem Tresen zu. Der Kellner wollte etwas sagen, konzentrierte sich dann aber auf das Polieren eines Weinglases.
Kevin fühlte sich, als wäre er auf seinen Stuhl genagelt. Er saß in der Falle. In meinem eigenen Interesse! Was hatte das zu bedeuten? Er ahnte, wenn sie erst tot war, konnte er der Nächste sein. Er starrte auf den leeren Platz gegenüber. Der »Anwalt« war noch anwesend, obwohl er längst weg war.
Kevin hatte nur eine einzige Chance. Er musste wissen, wer dieser Mann war, der ihn gerade unter den Galgen gestoßen hatte. Und er musste rauskriegen, was Bonny wusste.
Die Angst würgte ihn. Seine Unterarme klebten auf der Tischplatte.
»Haben Sie noch einen Wunsch?« Die rothaarige Kellnerin blieb abwartend einen Schritt vor dem Tisch stehen.
»Wissen Sie zufällig, wer der Mann war, der gerade das Lokal verlassen hat?«
Die junge Frau schüttelte verwundert ihre roten Locken und lachte. »Ich dachte, Sie seien Freunde.«
»Bonny, alter Kumpel, wir müssen uns sehen!«
Heinz Bongarts hielt überrascht den Hörer ein Stück von seinem Ohr weg. Warum schrie Kevin so eine überschwängliche Begrüßung ins Telefon? So kannte er ihn nicht.
»Das ist im Augenblick schlecht, Kevin. Ich bin im Augenblick nicht allein. Du verstehst.«
»Mann, dann vögel sie zu Ende, und komm dann ins Messajero. Ich warte auf dich. Es gibt einiges zu besprechen. Und jede Menge Kohle zu verdienen.«
»Was ist, Putzi? Wer ist am Apparat?« Sie fuhr mit ihrer Hand Bonnys Oberkörper entlang. Kurz unterhalb des Bauchnabels hatte sie ihr Ziel erreicht.
Bonny beendete mit einem Tastendruck die Verbindung. »Ist nicht wichtig.« Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. »Nur das ist jetzt wichtig.«
Als er in ihr kam, wusste Bonny auf einmal, was er in Kevins Stimme noch gehört hatte: Angst.
»Heinz-Jürgen, nun lass uns nicht hängen.« Frank sah dem Archivar ungeduldig zu, wie er umständlich in einem seiner Stahlschränke kramte.
»Dass du in diesen Mengen von Papier nicht untergehst.« Carsten Jakisch hatte sich immer noch nicht von dem Anblick der stählernen Phalanx erholt, die sich ihm bereits an der Tür in den Weg drängte. Graue Schränke, Aktenberge, ein Schreibtisch, der unter der Flut der Ordner und Mappen nur noch zu erahnen war. Und über allem ein Bergmassiv in Öl mit Hirsch und Almhütte, daneben ein Landschaftsbild, das von einer Windmühle dominiert wurde, davor lagen alte Fischerboote in einem kleinen Hafenbecken vertäut. Er war aus seiner Kemptener Behörde einiges gewohnt, aber so ein Chaos hatte er noch nirgends gesehen und am allerwenigsten hier in der alten Polizeikaserne nahe der Innenstadt vermutet.
Heinz-Jürgen Schrievers hatte trotz seiner Suchbemühungen bemerkt, dass Jakischs Blick an der Windmühle hängen geblieben war.
»Gertrud und ich sammeln alte Sachen. Die Dachböden in unserem Dorf bergen noch so manchen Schatz. Wenn die Zeit es erlaubt, gehen wir am Wochenende mit Taschenlampe und kleinem Geldbeutel auf Schatzsuche. Du glaubst ja gar nicht, was die Leute alles auf ihren Speichern horten, ohne den Wert der Sachen zu kennen.« Er sah Jakisch nun ein wenig von oben herab an. »Als Archivar hat man einfach einen anderen Blick auf den Wert mancher Dinge. Wenn die Bilder ein paar Wochen hier gehangen haben, tausche ich sie regelmäßig aus. Sie geben mir das Gefühl, dass die Welt nicht nur aus Akten besteht. Wenn du verstehst, was ich meine. Wenn ich mich recht entsinne, waren wir auch schon auf dem Dachboden deiner Großeltern.«
»Ich –«
Weiter kam Jakisch nicht.
»Mann, Schrievers!«
Der Archivar drehte sich zu Frank um. »Sklaventreiber! Du solltest froh sein, wenn ich überhaupt etwas finde.« Er warf Ecki einen verschmitzten Blick zu, bevor er weitersprach. »Hast du eigentlich deine Bluesmusik archiviert?«
»Du weißt, dass ich dazu keine Zeit habe. Und mir außerdem die Geduld dazu fehlt.« Heini hatte einen wunden Punkt in seiner Seele gefunden. Er war nicht der Ordnungsmensch, der er im Grunde eigentlich sein wollte. Er wusste nur zu gut, dass er oft viel zu lange nach bestimmten Bluesstücken suchte. Aber so war das nun mal.
Schrievers hatte an Franks Blick erkannt, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Er sprach nun Jakisch an. »Und du, denke nur ja nicht, dass ich im Chaos versinke. Wenn du das ernsthaft als Chaos bezeichnen wolltest, hast du keinen blassen Schimmer von der Ordnung eines Genies.«
Jetzt dreht er völlig durch, dachte Frank.
»Und du, Borsch, denk nicht mal, was du denkst. Du hast auch keine Ahnung. Und, Jakisch: Du wirst den Vorzug meines Ordnungsprinzips noch schätzen lernen. Mit meiner Archivarbeit schlage ich jeden Computer. Brauchst gar nicht so zu gucken. Auf meine Stahlschränke lass ich nix kommen. Da steckt mehr drin als in jeder dieser Plastikbüchsen.«
Schrievers deutete mit dem Daumen auf den dunklen Bildschirm des einzigen PCs im Raum und schlug dann gegen einen der Stahlschränke, dass es nur so krachte.
»Können wir jetzt endlich zum Thema kommen?« Frank hatte genug vom Exkurs über die Schrievers’sche Sicht der Dinge.
»Du hast einfach keinen Respekt vor ehrlicher Archivarbeit. Polizeiarbeit ist Köpfchenarbeit. Arbeit, bei der du deine Seele brauchst, deinen Spürsinn, deinen Instinkt. Der Rest ist Archivarbeit.« Schrievers stand jetzt mit ausgebreiteten Armen in seinem Reich.
Pavarotti könnte nicht dramatischer aussehen, dachte Ecki, hütete aber seine Zunge.
»Nun, großer Meister, dann mal los.« Frank hatte seine Arme vor dem Oberkörper verschränkt.
Urplötzlich wurde aus Schrievers’ Siegermiene ein bekümmertes Knautschgesicht. Knapp 120 Kilo sanken auf einen Bürostuhl.
»So richtig werde ich aus Büschgens nicht schlau.« Schrievers streckte seine Beine aus und betrachtete das Karomuster seiner Filzpantoffeln. »Es gibt einige Dossiers über ihn, die ihn als ehrenwerten Geschäftsmann erscheinen lassen. Und es gibt Gerüchte. Aber selbst die können wenig am Lack des Politikers Büschgens kratzen. Offenbar wollte er in der Tat seine Zelte am Niederrhein abbrechen und ins Allgäu ziehen. Zusammen mit Frau Schneiders. Büschgens’ Biografie ist, so gesehen, eine unauffällige Allerweltsbiografie. Eine schnurgerade Karriere, dazwischen nur ein paar kleine Abzweigungen, nichts Aufregendes.«
»Was sind das denn für Gerüchte?«, hakte Jakisch nach.
»Es gibt Pläne, im Duisburger Hafen ein Landesarchiv zu bauen. Dazu sollen alte Getreidespeicher genutzt und erweitert werden. Backsteinarchitektur, aufgemotzt durch Auf- und Anbaue aus Glas und Stahl. Die Idee ist an sich reizvoll, sage ich jetzt mal so als Archivar. Quasi das Gedächtnis eines Bundeslandes an einer zentralen Stelle.«
»Ja, und?« Frank verstand nicht.
»Nun ja, wie soll ich sagen? Wie das so ist bei derartigen Bauvorhaben, es muss schon bei den ersten Gesprächen auf höchster Ebene eine undichte Stelle gegeben haben.«
»Mach’s nicht so spannend.«
»Also: Wenn du mitkriegst, dass ein Grundstück in dem Augenblick Gold wert ist, in dem die öffentliche Hand Interesse signalisiert, und sie dabei auch noch durchblicken lässt, dass sie das Vorhaben unbedingt realisieren will, dann wärst du doch schön blöd, wenn du nicht versuchen würdest, das Grundstück zu bekommen, bevor das öffentliche Interesse öffentlich wirst.«
»Verstehe kein Wort.« Ecki runzelte die Stirn.
Carsten Jakisch hatte Schrievers längst verstanden. »Wenn ein Allgäuer Bauer eine Wiese zum Verkauf anbietet, weil er zu alt für die Arbeit ist, du aber weißt, weil du gute Kontakte zum Liegenschaftsamt der Gemeinde hast, dass genau diese Wiese wertvoller Baugrund wird, dann kratzt du doch sofort dein Geld zusammen und kaufst dem Alten die Wiese ab. Oder? Und dann wartest du ab, bis der Wert der Wiese durch die Kaufabsichten der Gemeinde steigt.« Jakisch grinste. »Das wird bei euch nicht anders sein als im Allgäu.«
»Das sind doch illegale Insidergeschäfte.« Nun hatte auch Ecki verstanden.
»Solange das keiner spitzbekommt, ist das ein höchst einträgliches Geschäft. So lukrativ, dass du sogar noch deine undichte Stelle im Amt oder sonst wo schmieren kannst.«
»Und was hat das nun mit Büschgens zu tun?«
»Genau da liegt der Hase im Pfeffer.« Schrievers hatte das Studium seiner braunen Pantoffelkaros beendet. »Wie gesagt: Gerüchte. Büschgens soll gute Kontakte zur Landesregierung gehabt haben. Aber das allein macht ihn noch nicht verdächtig.«
»Haben sich Schneiders und Büschgens nicht bei einem Empfang der CDU im Landtag kennengelernt?« Ecki blätterte eifrig in seinem Notizbuch.
»Das heißt doch nix. Solche Anlässe sind selten dazu da, um politische Geschäfte zu machen. Schon gar nicht illegale. Das sind einzig und allein Anlässe, um sich öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. Was du meinst, findet eher in unscheinbaren Büros unscheinbarer Gebäude statt, an einem Wochenende weit weg von den politischen Schaltzentralen, auf privaten Feiern oder beim gemeinsamen Saunabesuch.«
»Oder im Puff.« Jakisch griente.
»Schau an, unser Alpenromantiker kennt sich auch im Horizontalen aus.« Frank schüttelte den Kopf.
»Moment.« Ecki schlug sein Büchlein zu. »Jakischs Gedanke ist gar nicht so blöd. Vielleicht sollten wir auch die Motorradklubs durchleuchten. Denk an Bittner. Er hat gesagt, dass die Prostituierten auch Motorradfreaks waren. Und Büschgens ist nachweislich BMW gefahren. Sogar mit Politikerfreunden von der Landesebene. Ein Bikerwochenende ist der geeignete Anlass, um bei Bier und Würstchen unbeobachtet Geschäfte zu machen. Wir müssen herausfinden, wer da mit wem ausgefahren ist.«
Jakisch nickte. »Und wer dabei wem welche Nutte empfohlen hat. In diesem Gewerbe gibt es ja die unglaublichsten Verbindungen.«
Frank sah den Kemptener Kollegen schräg von der Seite an. »Du hast im Allgäu bei der Sitte gearbeitet?«
»Nee. Das habe ich in der Ausbildung gelernt.« Carsten Jakisch steckte zufrieden die Hände in die Hosentaschen.
»Büschgens taucht aber nicht auf der Liste von der Dürselen auf.«
»Wäre trotzdem ein logischer Ansatz.« Ecki nickte. »Wer weiß, vielleicht lief er bei den Damen unter einem anderen Namen.«
»Dagegen spricht, dass die übrigen Namen auf der Liste Klarnamen sind.« Frank mochte nicht so einfach glauben, dass Julia Dürselen ausgerechnet für Büschgens einen Tarnnamen benutzt oder einen besonderen Code verwendet hatte.
»Wir sollten uns trotzdem in der Szene umtun. Und wir müssen uns das Umfeld von Samantha Kurzius ansehen. Willst du das übernehmen, Carsten?« Ecki sah den »Allgäuer Pumuckl« auffordernd an.
Jakisch nahm überrascht die Hände aus den Taschen. Mit so viel Vertrauen hatte er nicht gerechnet. »Klar, mache ich gerne. Wo hat diese Frau denn gewohnt?« In Gedanken legte er bereits den Katalog von Fragen an, die er den Angehörigen stellen wollte beziehungsweise den Nutten, denen er bei seinen Recherchen begegnen würde.
Wenn Mayr wüsste, was man ihm hier am Niederrhein zutraute! Aber das würde er ihm schon noch unterjubeln, bei passender Gelegenheit. Was tat Mayr inzwischen eigentlich, um die beiden Moosbach-Fälle voranzubringen? Er würde seinen Chef anrufen. Es konnte immerhin sein, dass es auch im Allgäu Hinweise auf die Lösung der Fälle gab. Jedenfalls ließen das die bisherigen Ermittlungen vermuten: ein betrügerischer Bauskandal mit mehreren Toten, der bis ins Allgäu reichte. Wenn das nicht sein Sprungbrett war! Seine Karriere würde künftig nicht mehr von solchen Typen wie Kuhlinger und Mayr abhängen, das war mal sicher.
Schrievers sah Frank an. »Denkt an Frau Schneiders. Vielleicht kann sie euch Hinweise darauf geben, mit wem Büschgens sich in letzter Zeit getroffen hat.«