XXX.
»Bingo?«
»Bingo.« Heinz-Jürgen Schrievers und Carsten Jakisch machten beide ein zufriedenes Gesicht.
»Tretet ihr nur noch gemeinsam auf?« Frank unterdrückte den Zusatz »wie Meister Eder und sein Pumuckl«.
»Was dagegen? Carsten ist mir im Archiv eine große Hilfe. Er hat das Talent zum wahren Supercop. Echt. Das ist nicht übertrieben. Und er teilt vor allem meine Abneigung gegen allzu viel Computerkram.«
Jakisch nickte zustimmend.
In seinem Blick liegt doch tatsächlich eine verklärte Stimmung, bemerkte Ecki erstaunt und grinste breit. »Dann müssen wir uns um unseren Nachwuchs ja tatsächlich keine Sorgen machen.«
»Was gibt’s denn nun Wichtiges?«
Frank war ungeduldig. Die vergangene Woche war ohne Ergebnis einfach nur vorübergegangen. Sie hatten jede Menge Formalkram abgearbeitet, aber die eigentlich wichtigen Analyseergebnisse hatten auf sich warten lassen.
»Die Fasern.« Jakisch präsentierte den billigen grauen Aktenhefter wie die elegante Menükarte eines Fünf-Sterne-Gourmettempels.
»Mach’s nicht so spannend.«
»Wie gesagt: Bingo. Royal Flush. Oder: Das Ergebnis der Untersuchungen ist ›a gmahde Wiesn‹, wie man unten im Bayerischen zu sagen pflegt.«
Frank verdrehte die Augen. »Schrievers!«
»Also, der Heini hat nur die Bedeutung der Spurensicherung unterstreichen wollen.«
Frank zuckte unmerklich mit den Augen. So weit war die Freundschaft, oder sollte man besser schon von einem Verwandtschaftsverhältnis sprechen, dass Jakisch Schrievers »Heini« nennen durfte, was ansonsten die Höchststrafe, nämlich tagelange Nichtachtung durch den so Betitelten, nach sich zog. Schrievers hatte jedenfalls nicht zu erkennen gegeben, dass er verärgert war.
Der Archivar nickte wie zur Bestätigung. »Jungs, entspannt euch. Ein wenig mehr südliche Gelassenheit stünde euch gut zu Gesicht. Aber was rede ich da? Nur in einem gesunden Körper …«
»Es reicht, Heinz-Jürgen.« Frank schlug den Hefter selbst auf und überflog den Bericht des LKA. Dann nickte er. »Volltreffer, Ecki. Die Kollegen in Kempten haben Faserspuren gefunden, die zu unseren passen. Wackerzapp war in der Wohnung in Rottach, zumindest wurden Fasern gefunden, die eindeutig zu der Jeans passen, die er bei seiner unfreiwilligen Seeüberquerung trug. Auch die beiden toten Prostituierten waren in der Wohnung. Von ihnen wurden Haare im Badezimmer der Wohnung gefunden. Damit haben wir ja endlich den Beweis.«
»Das heißt im Umkehrschluss doch: Hätten wir auch eine Vergleichsprobe von Bauer, könnten wir sie mit den Morden in Moosbach in Verbindung bringen.«
»Und den Sack zumachen.« Frank pflichtete Ecki bei. Und zu Schrievers und Jakisch meinte er: »Saubere Arbeit von den Kollegen im Allgäu.«
»Wenn Mayr sich einmal mit einer Sache beschäftigt, also, auf ihn könnt’s ihr euch 100-pro verlassen.«
»Na, dann sollten wir nach Düsseldorf fahren und die saubere Frau Bauer nach einem Haar aus ihrer Haarbürste fragen und um ein paar Flusen ihrer umfangreichen Garderobe bitten.«
»Worauf warten wir noch?« Ecki stand auf.
»Wir kommen mit.« Jakisch war vom Jagdfieber gepackt.
Auch Schrievers schien sich auf die Fahrt nach Düsseldorf zu freuen. Er war schon länger nicht mehr dort gewesen. Sicherlich würden sie am Carlsplatz halten können, um ein paar Düsseldorfer Spezialitäten einzukaufen. Gertrud würde sich sicher freuen.
»Leute, Leute, Moment mal.« Frank blieb sitzen. »Es geht doch nur um ein paar Kleinigkeiten. Das bekommen Ecki und ich schon alleine hin. Wie sieht das denn aus, wenn wir wie mit einem Rollkommando bei der Bauer auflaufen?«
»Carsten und ich können so lange im Wagen warten.« Schrievers stand schon an der Tür.
»Ihr bleibt’s da. Wie man in Bayern sicher auch sagt. Auf geht’s, Ecki.«
Frank stand auf und ließ Schrievers und Jakisch, die verblüfften Brüder im Geiste, einfach im Büro stehen.
Keine Stunde später standen die beiden im Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel vor Bauers Haustür. Aber sie öffnete nicht.
Frank klingelte mehrfach, aber es tat sich nichts. Entweder stand Carina Bauer an ihrer Überwachungskamera und hatte sie längst im Blick, oder sie war nicht zu Hause.
»Und jetzt?« Ecki sah an der Fassade empor. Hinter keinem der großen Fenster war eine Bewegung zu erkennen.
»Vielleicht ist sie ins Freibad.«
»Würde mich bei dem Wetter nicht wundern.« Ecki sah hinüber zum Rhein. »Ich weiß allerdings nicht, ob das nicht doch unter ihrem Niveau ist. Sie wird wohl eher in einem Wellnessclub Abkühlung suchen.«
»Weiß man’s? Auf jeden Fall warten wir noch ein paar Minuten und fahren dann zurück ins Präsidium. Dolce Vita ist für uns aber heute nicht, Ecki.«
»Sklaventreiber«, brummelte Ecki und rückte seine Sonnenbrille zurecht. Dann würde er halt am Abend mit Marion und den Kindern in Brüggen ein Eis essen gehen. Das würde Marion sicher freuen, Nils und Enrica sowieso.
Carina Bauer hatte zu ihrem Auto zurückkehren können, ohne dass ihr jemand begegnet war. Die meiste Zeit war sie gerannt. Immer wieder hatte sie sich voller Angst umgeschaut, ob Bongarts ihr folgte. Aber das Scheusal blieb verschwunden.
Die Erinnerung an die Begegnung mit Bongarts hatte sie frieren lassen, obwohl die Sonne hoch am Himmel gestanden hatte. Sie hatte die Libellen nicht gesehen, die sie umtanzt hatten, und auch die Mücken nicht bemerkt, die direkt über der Wasseroberfläche auf sie gelauert hatten.
Zurück in ihrer Wohnung, hatte sie sich die Kleider vom Leib gerissen und lange geduscht. Mit einer Nagelbürste hatte sie ihr Gesicht abgeschrubbt, dort, wo Bongarts’ Atem und ranziger Körpergeruch sie getroffen hatten. Länger als üblich hatte sie ihre Körperlotion verrieben und immer wieder frisch aufgetragen. Trotzdem hatte sie noch Stunden nach der Dusche das Gefühl, bis zum Hals in diesem elenden See zu stecken.
In der Nacht war sie mehrfach aufgewacht und hatte lange am Fenster gestanden, sodass sie von unten nicht zu sehen war. Aber Bongarts hatte sich nicht gezeigt. Sie hatte trotzdem geglaubt, dass er sie beobachtete.
Sei keine Närrin, hatte sie sich immer wieder laut ermahnt. Bongarts hat dir nur Angst machen wollen, mehr nicht. Er hat keinen Schlüssel zum Haus, er kann dich nicht sehen, er kann dir nichts tun.
Und trotzdem war die Angst geblieben.
Am Morgen hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie würde die Stadt verlassen. In Düsseldorf war sie nicht mehr sicher. Sie hatte Leuchtenberg anrufen wollen, aber sie erreichte nur seine Mailbox. Sie hatte immer wieder seine Nummer gewählt, aber er blieb für sie unerreichbar. Dabei war er jetzt so wichtig wie schon lange nicht mehr. Er musste ein paar Dinge für sie erledigen. Vor allem würde er Bongarts verschwinden lassen müssen. Koste es, was es wolle. Sie würde jeden Preis zahlen. Selbst wenn sie ihn dafür heiraten müsste, er musste Bongarts eliminieren lassen.
Carina Bauer hatte auf ihrem Sofa gesessen und Bilanz gezogen. Ein Leben mit Leuchtenberg wäre nicht das Schlimmste. Sie würden sich schon arrangieren. Und wer weiß, hatte sie gedacht, vielleicht eröffnete eine neue Zukunft auch eine neue Perspektive. Sie hätte mit Leuchtenberg einen sicheren Hafen, von dem aus sie ihr weiteres Leben planen könnte.
Den restlichen Vormittag hatte sie mit dem Zusammensuchen der wichtigsten Papiere verbracht. Die meisten Unterlagen hatte sie in ihrer Wohnung. Um den Rest in ihrem Banksafe würde Ferdinand sich kümmern.
Die Festplatten mit den Daten und Fakten ihrer Unternehmungen hatte sie problemlos in einer Reisetasche unterbringen können, ebenso wie ihren Laptop. Unter dem umfangreichen Material aus Bildern, Tondokumenten, Listen, Kontonummern, ihrer Kartei mit den Mädchen befand sich auch das eine oder andere, das Leuchtenberg unter Umständen gefährlich werden könnte – wenn sie es denn klug genug anstellte. Auf diese ganz speziellen Unterlagen wollte sie auf keinen Fall verzichten. Sie brauchte immer etwas in der Hinterhand. Solche Überlegungen waren eine lebensversichernde Routine.
Bei der flüchtigen Durchsicht ihrer USB-Sticks und der übrigen Datenspeicher hatte sie nichts gefunden, was sie mit Bongarts in Verbindung hätte bringen können. Was hatte sie übersehen? Oder war Wackerzapp so perfekt gewesen, dass er den wahren Charakter seines Kontakts zu ihm vor ihr hatte verbergen können?
Für einen Augenblick hatte sie beim Packen bestürzt innegehalten. Was, wenn Leuchtenberg und nicht Wackerzapp den Kontakt zu Bongarts gehabt hatte? Nach einigen Minuten verwarf sie den Gedanken wieder, der ihr zum x-ten Mal durch den Kopf ging. Man konnte Leuchtenberg mit allem Möglichen in Verbindung bringen, aber sicher nicht mit so einem Gesindel wie Bongarts. Oder doch? Sollte Bongarts für Leuchtenberg arbeiten, würde sie eben selbst dafür sorgen, dass er verschwand. Und sie würde Leuchtenberg selbst töten müssen.
Je länger sie aber darüber nachdachte, umso weniger wahrscheinlich erschien ihr der Gedanke, dass Bongarts auf Leuchtenbergs Gehaltsliste stand. Er hatte auch gar keinen Grund, sich so einen Typen aufzuhalsen. Sie würde Leuchtenberg trotzdem fragen, welche Rolle Bongarts spielte, hatte sie schließlich entschieden und zu Ende gepackt. Selbst ihre Bankunterlagen hatte sie nicht vergessen einzupacken.
Am frühen Nachmittag hatte sie zunächst von ihrem Fenster aus die Straße beobachtet. Als sie sich sicher war, dass dort keine Gefahr lauerte, hatte sie mehrere Reisetaschen ins Auto gepackt und war losgefahren.
Für die Hitze der Stadt und die Trägheit des Flusses hatte sie keinen Blick gehabt. Auch nicht für den anzüglichen Blick des Mannes vom städtischen Grünflächenamt, der mit seinem Tankwagen die Straßenbäume vor ihrem Haus vor dem Verdursten retten wollte. Als Carina Bauer die Straße Richtung Autobahn hinunterfuhr, wehte eine Staubfahne hinter ihr her.
Auf dem Weg ins Allgäu hatte sie lediglich einen Tankstopp am Hockenheimring eingelegt. Auf dem Rastplatz hatte sie zudem einen schnellen Kaffee getrunken. Sie hatte sich nicht unnötig aufhalten wollen, denn sie wurde das diffuse Gefühl nicht los, Bongarts sei ihr auf den Fersen. Dabei konnte er nicht wissen, dass sie unterwegs nach Rottach war. Selbst wenn er ihre Putzfrau unter Druck setzen würde, käme er nicht weiter. Niemand wusste, wohin sie unterwegs war. Auch Leuchtenberg nicht.
Trotzdem hatte sie von ihrem Sitzplatz aus aufmerksam jedes einfahrende Auto gemustert. Außerdem hatte sie die LKWs im Blick behalten, falls Bongarts ihr auf dem Beifahrersitz eines Transporters gefolgt war. Obwohl er nirgends zu entdecken gewesen war, hatte sie sich nicht entspannen können. Zu ihrer Angst waren noch Kopfschmerzen gekommen, die immer stärker wurden.
Der Verkehr war über weite Strecken dicht gewesen, aber sie war trotzdem zügig vorangekommen. Dabei hatte sie immer den Rückspiegel im Blick behalten. Erst als sie am Autobahnkreuz Crailsheim auf die A 7 abbog, spürte sie Erleichterung. Bongarts konnte ihr nicht gefolgt sein.
Die Stunden auf der Autobahn hatte sie dazu genutzt, über die vergangenen vier Wochen nachzudenken. An welchem Punkt war ihr Leben aus den Fugen geraten? Welche Warnsignale hatte sie übersehen, was war passiert, dass ihr Gespür für Gefahr sie verlassen hatte?
War es die Beziehung zu Wackerzapp gewesen, die sie aus der Bahn geworfen hatte? Oder Anellis Kaltschnäuzigkeit?
Kilometer um Kilometer hatte sie zurückgelegt, aber der Erkenntnis war sie nicht einen Millimeter näher gekommen. Immer wieder war sie die Ereignisse durchgegangen, die ihr Leben unumkehrbar verändert hatten. Zuerst der Tod von Dürselen und Kurzius. Das Schicksal der Frauen war ihr völlig egal gewesen. Ihr Leben hatte nicht gezählt. Sie hatten sich weggeworfen, indem sie für Geld die Beine breit gemacht hatten. Was sollte sie sich da um die Mädchen kümmern? Sie waren für ihre Dienste bezahlt worden, und sie hatten sicher auch ihren Spaß gehabt. Wenigstens in der Zeit, die sie im Allgäu hatten verbringen dürfen.
Und doch hätte sie schon damals wissen müssen, dass sie sich mitschuldig gemacht hatte. Mitschuld durch Unterlassung. Sie hätte den Mord an den Frauen verhindern müssen. Sie hätte ahnen müssen, dass Wackerzapp durchdrehen würde. Sie ein bisschen unter Druck setzen, okay. Damit wäre sichergestellt gewesen, dass sie die Klappe hielten. Carina Bauer war immer noch wütend, wenn sie daran dachte. Sie hätte die Frauen anders zum Schweigen bringen können. Zur Not mit ein bisschen Geld. So hatte Wackerzapp sie mit an den Abgrund gezerrt.
Die Frauen aus dem Weg räumen wie lästiges Gerümpel? Das hatte niemals gut gehen können. Warum hatte sie nur die Augen verschlossen? Weil sie wusste, dass im Grunde auch sie sich für Geld weggeworfen hatte? Und froh war, dass sie nicht einem ähnlichen Schicksal ausgesetzt war? Oder hatte sie gehofft, dass mit dem Verschwinden der Frauen ihre eigene Unzulänglichkeit getilgt würde?
Je länger sie nachdachte, umso stärker wurde das Gefühl, sich im Kreis zu drehen. Sie war daher froh und erleichtert gewesen, als endlich von Weitem die Spitze des Grünten mit der Sendeanlage auf dem Gipfelgrat des Überhorn in ihren Blick rückte.
Kurz vor der Autobahnabfahrt Durach hatte sie sich entschieden, nicht zu ihrer Rottacher Wohnung zu fahren. Die Angst vor Bongarts hatte sie trotz der mehr als 600 Kilometer, die nun zwischen ihr und Düsseldorf lagen, nicht ganz verdrängen können. Sie konnte nicht einschätzen, ob Bongarts diese Adresse kannte. Außerdem wollte sie nicht auffallen, wenn sie allein die Wohnung aufsuchte. Das Dorf hatte überall Augen und Ohren. Das hatte sie in den vergangenen Jahren zu spüren bekommen, wenn man sie bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen sie und die Mädchen in der Umgebung zum Einkaufen unterwegs gewesen waren, neugierig gemustert hatte. Einmal war sie sogar von einer angeblichen »Nachbarin«, einer alten Bäuerin, dreist auf ihren Beruf und ihre »Feiern« angesprochen worden. Die Alte hatte sie dabei mit abwertenden Blicken bedacht. Carina Bauer hatte damals von geschäftlichen Besprechungen und Verhandlungen gesprochen, die von der Abgeschiedenheit des Allgäus profitierten.
Die Bäuerin hatte darauf nur mit einer gezischelten Bemerkung reagiert, die sie zwar nicht wörtlich verstanden hatte, deren Sinn sie aber erahnt hatte. Schon damals hätte sie die Konsequenzen ziehen und die regelmäßigen Treffen in eine andere Gegend verlegen müssen. Aber das war ihr irgendwie überzogen erschienen. Wie sollte ihr eine einfältige Bauersfrau gefährlich werden? Nicht einmal der Gedanke war ihr gekommen. Damals.
An der Kirche folgte sie der Hauptstraße Richtung Moosbach und nahm sich ein Zimmer im Sulzberger Hof. Dort würde niemand sie vermuten.
Nach dem Abendessen saß Carina Bauer auf der Hotelterrasse noch eine Weile bei einem Glas Rotwein. Sie war müde von der langen Fahrt und erschöpft von den Gedankenspielen, die sie jetzt wieder beschäftigten.
Die sanften Wiesen lagen saftig grün in der Abendstimmung. Die nahe Burgruine wirkte noch verwunschener als bei Tageslicht. Nur wenige Autos störten die abendliche Stille, die durch das Zirpen der Grillen noch eindringlicher wurde. Aber Carina Bauer hatte an diesem Abend keinen Blick für die Natur.
Sie nippte an ihrem Glas. Bevor sie ins Bett ging, wollte sie die kommenden Tage planen. Sie würde mit einem Sulzberger Makler den Verkauf der Rottacher Wohnung in die Wege leiten. Am besten den Verkauf aller Wohnungen. Danach würde sie weitersehen. Nach Düsseldorf wollte sie vorerst nicht zurück. Irgendwann würde Leuchtenberg sich melden, dann konnte er in ihrem Sinne handeln. Hoffte sie.
Sie fuhr sich über die Augen. Die Begegnung mit Bongarts lag nun schon zwei Tage zurück, und trotzdem meinte sie immer noch das Seewasser zu riechen. Auch Bongarts’ feiste Fratze hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt. Carina Bauer schüttelte sich. Sie winkte müde lächelnd ab, als eine Serviererin, die sie anscheinend beobachtet hatte, sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei.
Carina Bauer rieb sich über die Oberarme. Ein leichter Wind war von Moosbach oder Ottacker heruntergekommen. Sie sah den Berg hinauf, aber ihr Blick blieb bereits hinter der Wiese im dichten Nadelwald hängen. Sie versuchte sich zu erinnern. Dort oben lag der Rottachsee. Sie war ein paarmal mit einem Mountainbike das Ufer abgefahren. Dabei hatte sie sich unbeschwert, ja sogar glücklich gefühlt. Damals, als Anelli sie noch auf Händen getragen hatte. Sie schnaubte. »Auf Händen getragen«, wie billig das heute klang. Was hatte er schon getan? Sie hatte sich von ihm vögeln lassen. Das war alles, was er getan hatte. Und geredet hatte er. Aber meist nur über sich selbst, seine Erfolge und seine Firma.
Carina Bauer fuhr sich erneut über die Augen. Es hatte sie damals nicht gestört, dass alles, was Anelli betraf, nur hohles Geschwätz gewesen war. Anelli war für sie damals nur ein Zeitvertreib gewesen.
Mit einem Mal fühlte Carina Bauer sich nur noch schmutzig. Schmutzig von ihrer Welt, die nichts gemein hatte mit der Natur um sie herum, die ihr zu anderen Zeiten als rein und unschuldig erschienen war.
Sie trank mit großen Schlucken ihr Glas leer und wollte gerade aufstehen, als ihr Mobiltelefon klingelte. Erschreckt ließ sie sich in den Korbsessel zurückfallen, sah ängstlich auf das Display und drückte dann hastig die grüne Taste.
Es war Leuchtenberg. Endlich.
»Wo bist du? Warum meldest du dich nicht?«
Leuchtenberg klang verwundert. »Ich hatte den ganzen Tag Termine. Warum? Was ist los?«
Carina Bauer atmete tief durch, bevor sie antwortete. »Du hattest recht. Ich trenne mich von der Wohnung. Ich will auch die übrigen Immobilien verkaufen.«
»Wo bist du? Du klingst wahrlich nicht entspannt.«
»Ich bin unterwegs.« Carina Bauer wollte vorerst ihren Aufenthaltsort für sich behalten.
»Geht es dir gut?«
In Leuchtenbergs Stimme lag ein lauernder Unterton. Sie beschloss, wachsam zu bleiben.
»Mir geht es gut. Ich bin lediglich müde. Die vergangenen Wochen waren doch ein bisschen viel.«
»Habe ich dir das nicht gesagt, dass du dich übernimmst? Auch in Sachen Duisburg haben wir noch Zeit genug. Carina, du arbeitest zu viel. Du musst auf dich aufpassen.« Leuchtenberg klang ehrlich besorgt.
Was sollte sie ihm erzählen? Konnte sie ihm vertrauen?
»Pass auf, Ferdinand. Ich muss für ein paar Tage verschwinden. Ein paar Sachen regeln.«
»Sag endlich, was los ist. Du bist im Allgäu, stimmt’s?«
»Woher weißt du das?« In Bauers Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken.
»Das sagt mir mein Gefühl. Rottach ist der einzige Ort, den du aufsuchen würdest, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.«
»Red keinen Blödsinn. Woher weißt du das?« Leuchtenberg kannte sie offenbar besser, als sie geahnt hatte. Sie hatte ihn unterschätzt. All die verfluchten langen Jahre hatte sie ihn unterschätzt.
»Nun reg dich nicht auf, Carina. Es ist nur eine Vermutung gewesen. Aber nun weiß ich ja, wo du bist. Ist jemand bei dir?«
Bauer sah Gänsehaut auf ihren Armen wachsen. »Was weißt du über Bongarts?«
Auf der anderen Seite herrschte Stille. Nur Leuchtenbergs gleichmäßiges Atmen war zu hören. Also doch, durchfuhr es sie.
»Warum hetzt du mir dieses Schwein auf den Hals?« Carina Bauer hatte das Gefühl, laut schreien zu müssen.
»Carina, bitte beruhige dich. Soll ich vorbeikommen? Ja, ich komme. Wo bist du? Bist du in der Wohnung?«
»Du bleibst, wo du bist. Ich will dich hier nicht sehen.« Sie sprang auf. Ihr Puls raste. Noch vor wenigen Stunden hatte sie das Gefühl gehabt, nur Leuchtenberg könne ihr noch helfen. Mühsam drehte sie ihr Gesicht zur Seite. Die Kellnerin sollte sie so nicht sehen.
»Entschuldige, wenn ich dir das jetzt so sage, aber du machst einen völlig fertigen Eindruck auf mich, Carina. Was ist passiert? Du musst es mir sagen, sonst kann ich dir nicht helfen.«
Ich weiß nicht mehr, ob ich mir von dir helfen lassen will, dachte sie. Sie musste nachdenken. Sie musste Zeit gewinnen. Sie hatte das Gefühl, auf dieser Terrasse wie ein Reh im Büchsenlicht zu stehen.
Sie zwang sich, ruhiger zu atmen und setzte sich wieder. Es sollte wie ein normales Gespräch über Geschäfte klingen. »Ich treffe mich mit einem Makler. Ich werde ihm die Vollmacht geben, alle meine Immobilien zu verkaufen.«
»Carina, das ist doch nur die halbe Wahrheit. Ich merke doch, dass du vor irgendetwas oder vor irgendjemandem Angst hast. Vertrau mir, Carina, Schatz.«
»Sieh zu, dass du die restlichen Unterlagen bereithältst, wenn der Makler sich meldet. Wie gesagt, er hat dann alle Vollmachten. Und nenn mich nicht Schatz.«
»Das klingt ganz so, als wolltest du – untertauchen?«
»Frag nicht, tu, was ich dir sage.«
»Du bist doch auf der Flucht! Vor wem?«
Sie sah sich um. Inzwischen hatte man die Terrassenbeleuchtung eingeschaltet. Das Licht blendete sie, sodass sie nicht mehr viel weiter als bis zur Hoteleinfahrt sehen konnte. Was in der Dunkelheit dahinter passierte, blieb ihr verborgen. Jeder konnte dort stehen und auf sie anlegen: Bongarts, Leuchtenberg, wer auch immer. Trotzdem war sie wie gelähmt.
»Hast du mir Bongarts geschickt?«
»Bongarts? Warum Bongarts?«
»Du kennst ihn also. Hast du ihn geschickt?« Sie sprach eindringlich und etwas zu laut in ihr Mobiltelefon. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass die Kellnerin erneut aufmerksam geworden war. Auch das noch. Während sie das Telefon weiter an ihr Ohr hielt, winkte sie sie herbei und bestellte mit einer Handbewegung noch einen Wein. Die junge Frau entfernte sich mit einer knappen Verbeugung.
»Carina, ich weiß nicht, was dir passiert ist. Aber ich habe Bongarts nirgends hingeschickt. Ich habe nichts mit ihm zu tun. Ja, ich kenne ich. Das heißt, ich weiß, dass Wackerzapp ihn kannte. Aber ich habe nie direkt mit ihm zu tun gehabt. Dazu bestand auch überhaupt kein Anlass. Was ist passiert, Carina?«
Sie schwieg zunächst und brach schließlich in Tränen aus. Mit stockender Stimme berichtete sie ihm von ihrer Begegnung am De-Witt-See, dem Besuch der beiden Ermittler und ihrer überstürzten Flucht. Zwischen den einzelnen Passagen wischte sich Carina Bauer mit einem Tempo die Tränen aus dem Gesicht. Am Ende ihrer Schilderungen schluchzte sie nur noch.
»Carina«, klang es samtweich an ihr Ohr. »Meine kleine Carina, bitte weine nicht. Alles wird gut. Ich werde dir helfen, keine Frage.«
Sein leiser Tonfall hatte eine unerwartet beruhigende Wirkung. Sie fühlte sich mit einem Mal in ihre Kindheit zurückversetzt, damals, als ihr Leben noch unberührt von all den Lügen, dem Schmutz, den Erpressungen und diesen widerlichen Morden gewesen war.
»Du musst mir glauben, Carina, ich habe mit alldem nichts zu tun. Ich kann mir das nur so erklären, dass Wackerzapp sein Maul zu weit aufgerissen hat. Wer weiß, was er Bongarts alles erzählt hat. Auf alle Fälle so viel, dass der meint, sich jetzt ein Stück vom Kuchen holen zu können.«
Bauer schnäuzte sich und nahm dankend das Glas Wein entgegen.
»Ich werde sehen, was als Erstes zu tun ist. Ich fürchte nur, mein Liebes, dass du in Düsseldorf hättest bleiben sollen. Die Polizei wird deine unerwartete Abreise möglicherweise falsch deuten, sollte man dich noch einmal aufsuchen wollen. Und ich fürchte, das wird man tun. Vor diesem Hintergrund wäre es auch nicht klug, die Wohnungen jetzt auf den Markt zu werfen. Zumal es Wochen dauern würde, bis die Verträge unter Dach und Fach sind. Carina, wir dürfen jetzt nichts überstürzen. Wir müssen in Ruhe überlegen, was zu tun ist.«
Vielleicht hat er ja recht, dachte sie, vorausgesetzt, er war nicht der Drahtzieher der ganzen Sache. Aber was halfen diese Gedanken jetzt? Sie hatte keine Wahl, agieren konnte sie jetzt nicht. Nur reagieren. Sie musste auf ihre Chance warten, Licht in die Sache zu bringen.
»Was schlägst du also vor?«
»So gefällst du mir, meine Kleine, schon fast wieder die Alte. Mit einem kühlen Kopf lassen sich selbst dunkle Gedanken in positive Energie verwandeln.«
»Was zum Teufel schlägst du vor?«
»An deiner Stelle würde ich mich ruhig verhalten. Fahr auf keinen Fall in die Wohnung. Wer weiß, ob die Bullen nicht längst die Polizei vor Ort aufgescheucht haben. Such dir ein kleines unauffälliges Hotel und warte. Hast du genug Geld?«
Sie nickte unwillkürlich, obwohl er sie nicht sehen konnte. »Es wird eine Zeit lang reichen.«
»Das ist gut.«
»Nichts ist gut.«
»Ich weiß, aber die einzige Chance ist jetzt, Ruhe zu bewahren. Den Gegner beobachten und kommen lassen. Und dann zuschlagen. Ich werde mich um Bongarts kümmern. Versprochen. Ich denke, ich weiß, wo ich ihn finden kann. Und wir müssen wissen, was die Bullen tun. Was sie wissen und vorhaben. Ich kenne da jemanden im Präsidium. Jemand, der unzufrieden ist, weil er sich bei einer Beförderung übergangen fühlt. Solche Gemüter sind dankbare Informationsquellen. Höchst dankbare.«
»Ich will weg von allem. Ich halte das nicht mehr aus, Ferdinand. Ich will verschwinden und woanders neu anfangen. Egal, wo.«
Sie hörte, dass er lächelte.
»Keine Sorge, es ist bald vorbei. Nur noch diese eine kleine Sache. Und auch die ist bald überstanden. Denk nur, über WDR 2 haben sie heute Nachmittag verbreitet, dass bald auch die Liegenschaften in Solingen von der LEG aufgekauft und vermarktet werden. Die Franzosen werden leer ausgehen. Das ist doch schon mal ein Erfolg. Demnach hat unser Mann unsere Warnungen und ›Arbeitsaufträge‹ richtig verstanden. Er wird auf jeden Fall dichthalten. Nach allem, was wir über ihn haben. Ich finde, das ist doch mal eine gute Nachricht, nicht wahr? Die Italiener werden zufrieden sein.«
Sie wusste nicht mehr, was sie denken, fühlen oder sagen sollte.
»Bongarts. Er ist der Teufel.«
»Ich habe dir gesagt, ich kümmere mich um ihn. Verlass dich auf mich.«
Wenn ich das nur könnte, dachte sie.
»Das wird vielleicht ein, zwei Tage dauern. Ich sage außerdem für dich den Termin bei dem Makler ab. Schick mir seine Nummer auf mein Handy. Und bleib der Wohnung fern. Versuch lieber, dich ein wenig zu entspannen. Geh wandern, die frische Luft wird dir guttun. Das Allgäu wird dir die nötige Ruhe schenken. Ich melde mich sehr bald wieder bei dir.«
Nachdem Leuchtenberg aufgelegt hatte, drehte sich alles in ihrem Kopf. Vielleicht lag es aber auch nur am Wein. Sie trank das Glas leer und ging auf ihr Zimmer.
Sie war froh, die Tür hinter sich abschließen zu können, und fiel bald in einen unruhigen Halbschlaf, aus dem sie immer wieder aufschreckte. In ihren Träumen sah sie ihre Eltern, mit denen sie zusammen an einem gedeckten Kaffeetisch saß und lachte. Es war ein schlechter Traum, denn immer wenn sie die Hände der Eltern greifen wollte, fühlte sich nichts.
Mitten in der Nacht wachte sie von einem ohrenbetäubenden Knall auf. Sie fuhr erschrocken aus ihren Kissen hoch und blieb atemlos auf dem Bett sitzen. Sie wusste nicht gleich, was passiert war. Das Fenster war geschlossen, die Tür ebenfalls, stellte sie mit einem schnellen Blick fest. Erst als vor dem Fenster mehrere Blitze über den nachtschwarzen Himmel zuckten und gleich darauf mit lautem Krachen irgendwo in der Nähe einschlugen, wusste sie, dass sich über ihrem Kopf ein schweres Gewitter entlud. Der Regen prasselte in dicken Tropfen gegen die Scheibe.
Carina Bauer stand auf und stellte sich ans Fenster. Aber es regnete nur noch. Lediglich in der Ferne sah sie ein paarmal ein kurzes Wetterleuchten.
Am Morgen, nach einem späten Frühstück, sah das Allgäu so unschuldig und grün aus wie stets zu dieser Jahreszeit. Carina Bauer hatte lange auf der Terrasse gesessen und bei Semmeln und Orangensaft das Unwetter vergessen. Zu ihrem eigenen Erstaunen fühlte sie sich ausgeschlafen und ruhig. Düsseldorf, Bongarts, Wackerzapp und Leuchtenberg waren ein Stück von ihr weggerückt.
Die Luft war noch ein wenig kühl vom Regen der Nacht, und es roch nach frisch geschlagenem Holz. Als die Kellnerin, die sich am Abend zuvor um sie gekümmert hatte, abräumte, erzählte sie, dass in der Nacht der Blitz in die Spitze der nahen Kirche Heiligste Dreifaltigkeit gefahren sei. »Aber dem Herrgott hat’s nix ausgemacht«, hatte sie lächelnd hinzugefügt. Und: »Mir im Allgäu stehen unter seinem besonderen Schutz.«
Unschlüssig hatte Carina Bauer erst auf ihre Uhr gesehen und dann hinüber zur Burgruine. Dann stand sie auf und sog die Allgäuer Luft tief ein. Sie würde nach Moosbach hinauffahren und um den See wandern.
Sie stellte ihren Wagen am Sportplatz ab und blickte auf den See hinunter. Seine Oberfläche sah aus wie dunkelgrün lackiert. Im Hintergrund stellten sich das Wertacher Hörnle, die Ellegghöhe und der Grünten ins Bild.
Carina Bauer spürte den Impuls, übermütig die Wiese hinunterzulaufen und sich laut jauchzend ins Wasser fallen zu lassen. Auf dem Weg würde sie übermütig die Kleidung von sich werfen und nackt in den See eintauchen. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Woher kam bloß mit einem Mal diese Unbekümmertheit? Sie hob für einen Augenblick den Kopf und spürte die Sonne auf ihrem Gesicht.
Am Moosbacher Ufer hatten einige Badegäste ihre Decken ausgebreitet. Gegenüber in Petersthal lag ein Dutzend Segelboote vertäut im kleinen Hafenbereich.
Carina Bauer suchte mit den Augen nach dem alten Pestfriedhof, der außerhalb von Petersthal lag. Sie fand ihn nicht gleich. Nur das dunkle Mauerband aus Bruchsteinen, das sie auf dem helleren Grün wahrnahm, zeigte ihr die Stelle an. Sie würde dem Denkmal auf ihrem Weg um den See einen kurzen Besuch abstatten.
Gemächlich wanderte sie los und passierte schon bald die Mariengrotte. Ihre Schritte knirschten leise auf dem Schotterweg. Ansonsten war es still. Tief in ihre Gedanken versunken, die nichts mit den Erlebnissen der jüngsten Zeit zu tun hatten, folgte sie dem Weg, der meist am See entlangführte, ab und an aber auch ein Stück den Berg hinauf.
Niemand begegnete ihr. Nicht einmal ein Radfahrer oder ein einsamer Jogger. Sie war mit sich und der Natur alleine.
Die Wiesen waren weitgehend gemäht, auf einigen Weiden standen Kühe im Schatten alter riesiger Tannen, die sich gelegentlich zwischen oder an schrundigen Felsbrocken aus zusammengebackenen Kieselsteinen zu kleinen Gruppen zusammengefunden hatten. Immer wieder blieb sie stehen, um den Kühen beim Wiederkäuen zuzusehen, den Vögeln zu lauschen, die in den Bäumen und Sträuchern saßen, oder den Blick über den See zu genießen. Sie streckte dann ihre Arme aus und reckte sich. So wohl hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.
Nach gut eineinhalb Stunden hatte sie das eine Ende des Sees erreicht. Von da an ging es auf der Petersthaler Seite weiter. Kurz bevor sie in ein Waldstück einbog, kam ihr ein alter grauer Traktor entgegen, der von einem Mann in kurzen Lederhosen und breitkrempigem Filzhut gesteuert wurde. Auf einem kleinen Holzpodest hinter seinem Sitz lag ein weißer Schäferhund und sah sie aufmerksam an. Der Mann grüßte sie im Vorbeifahren freundlich.
Carina Bauer schmunzelte. War sie also doch nicht alleine! Sie hatte noch die tiefen Töne des gleichmäßig laufenden Motors in den Ohren, als sie in den Schatten des Waldes kam, der zwischen ihr und Petersthal lag. Tief atmete sie den würzigen Duft ein. Irgendwo musste geschlagenes Holz liegen.
Für einen Augenblick dachte sie daran, ihre Wohnung in Rottach doch nicht aufzugeben.
»Carina. Liebes. Da bist du ja endlich. Ich habe lange auf dich warten müssen.«
Im Unterholz hinter ihr knackte es mehrfach laut.
Die Anwältin fuhr herum.
»Nein. Nein.« Mehr brachte sie nicht über die Lippen.
Ihr Gehirn musste ihr einen bösen Streich spielen. Sie wollte es nicht glauben. Vor ihr stand Wackerzapp.
»Nein!« Sie schrie laut und schüttelte ihren Kopf. Sie wollte rennen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht.
»Habe ich dich etwa erschreckt?« Er lachte übermütig. »Hast du gedacht, du könntest mir entkommen?«
Die Stimme! Das war nicht Wackerzapp! Carina Bauer blinzelte angestrengt. Sie zwang sich, einen Schritt vorzutreten, aber ihre Beine waren wie gelähmt.
»Carina. Nun reiß dich mal zusammen. So schlimm wird es ja wohl nicht sein.«
Sie fuhr sich über die Augen. Wackerzapp war verschwunden. Bongarts stand vor ihr und grinste sie an. Der Teufel. Er musste der Teufel sein.
»Wir haben eine Verabredung. Erinnerst du dich?«
»Was wollen Sie?« Ihr Atem ging rasselnd. Sie hatte das Gefühl, die Tannen würden über ihr umstürzen und das Gewicht der Stämme sie erdrücken.
Bongarts trat auf den Weg. »Gut schaust du aus. Ich sehe, das kleine Bad hat dir nicht geschadet.« Er lachte meckernd. Abrupt verstummte er wieder, und seine Augen wurden zu schwarzen Löchern. »Du Schlampe, du kannst mich nicht verarschen. Hast wohl gedacht, du könntest mir entwischen? Pah!«
»Ich habe hier kein Geld.« Carina Bauer breitete die Arme aus. Eine lächerliche Geste, dachte sie gleichzeitig.
»Ach, nee. Wirklich nicht?«, neckte er sie.
»Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich –« Sie nahm die Arme wieder herunter.
Sie musste an ihm vorbei! Nein, sie musste zurücklaufen. Vielleicht kam ja auch der freundliche Traktorfahrer zurück. Der Schweiß rann ihr den Rücken hinunter, außerdem brannte er in ihren Augen.
»Nun beruhige dich doch, bist doch sonst immer die coole Anwältin. Hier hast du keine Chance. Der Bauerntrottel auf dem Traktor wird dir nicht helfen.«
Bongarts schien Gedanken lesen zu können.
Carina Bauer hatte das Gefühl, ihre Beine würden ihren Dienst versagen. Sie meinte zu schwanken. Wo war ein Stein oder ein Baumstumpf? Sie musste sich setzen. Alle Kraft, die sie noch vor wenigen Minuten gespürt hatte, alle Lebensfreude, die zurückgekommen schien, war verflogen.
»Hältst du mich für blöd? Ja, sicher hältst du mich für blöd! Du Drecksschlampe. Du Opfer. Meinst du, ich wüsste nicht, dass du die Kohle hier nicht spazieren führst?«
»Was, was wollen Sie dann von mir?« Sie würde gleich zusammenbrechen.
»Nun«, Bongarts schlug einen vertraulichen Ton an, »ich wollte mich nur in Erinnerung bringen. Damit du unsere Abmachung auch ja nicht vergisst.«
Sie flüsterte jetzt nur noch: »Nein. Nein.«
»Sagtest du schon«, bestätigte er ironisch.
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Hast du allen Ernstes gedacht, ich würde dich aus den Augen lassen? So blöd kannst du doch nicht sein. Du bist meine Lebensversicherung. Dazu noch eine hübsche.«
Carina hatte das Gefühl, sie stünde nackt vor ihm.
»Ich, ich warte noch auf die Entscheidung. Sie muss jeden Augenblick kommen. Ich rufe Sie dann an. Sicher.«
Seine Blicke wurden intensiver. »Ich weiß nicht. Das klingt mir alles zu sehr nach Wischiwaschi. Vielleicht sollten wir die nächsten Tage einfach zusammenbleiben? Was meinst du? Nur wir beide? In deinem hübschen kleinen Hotelzimmer.«
Sie schluckte.
»Ich habe dich beobachtet. Feine Manieren hast du. Aber«, er trat einen Schritt auf sie zu, »die sind nur einen Dreck wert. Ich weiß, was du tust, und ich weiß, dass du das Leben anderer Menschen in den Dreck ziehst. Das kannst du selbst mit deinem vornehmen Getue nicht überpinseln.«
Er tänzelte vor ihr auf und ab und spreizte dabei einen kleinen Finger ab.
»Sie, Sie sind mir gefolgt?« In ihrem Kopf spulte sie die Bilder der Fahrt und des Tankstopps im Schnelldurchlauf noch mal ab. Sie konnte Bongarts darauf nicht entdecken.
Bongarts grinste böse. »Ich habe mir gedacht, ein bisschen Luftveränderung tut ganz gut.«
»Sie haben mich beobachtet?« Carina Bauer fühlte sich mit einem Mal wieder schmutzig.
»Was denkst du?«
Ihn schien die Angst zu amüsieren, die er in ihren Augen sehen konnte.
»Wie sind Sie mir gefolgt?« Carina Bauer konnte keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder schoben sich die Gesichter von Wackerzapp, Dürselen, Kurzius und Leuchtenberg vor ihre Augen. Wie Gespenster. Sie versuchte, sie abzuschütteln, brachte aber nur ein Zittern zustande.
»Kalt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Entspann dich, Mädchen. Wir haben schließlich Sommer.« Er deutete auf die Bäume. »Hübsch, nicht? Haben wir in Düsseldorf nicht.«
»Wie?«
Er verschränkte die Arme. »Lass mal überlegen. Wie habe ich das angestellt?« Er legte einen Finger an die Lippen. »Tja, war ganz einfach.«
»Bitte!«
»Ich war immer in deinem Nacken. Das muss dir genügen, Carina-Mäuschen. Immer.«
»Lassen Sie mich gehen.«
»Halte ich dich etwa fest?« Bongarts tat verwundert. »Wir können zusammen ein Stück gehen. Ich begleite dich zu deinem Hotel zurück. Dann trinken wir zusammen ein Glas Wein. Du kannst mir sicher einen guten Tropfen empfehlen. Und dann zeigst du mir dein Zimmer.«
»Bitte! Bitte.« Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten.
»Ich lasse dich nicht mehr aus den Augen. Begreif das endlich. Ich bin so etwas wie dein Beschützer. Ich bestimme, wohin du gehst, was du tust und wen du triffst.« Bongarts drehte sich um seine eigene Achse. »Du gehörst mir.« Er trat auf sie zu und bot ihr seinen Arm an. »Komm.«
Carina Bauer würgte es. Sie würde Bongarts auf keinen Fall anfassen. Sie zuckte zurück. Bongarts war wie ein toter Fisch, schleimig, aufgedunsen und mit blinden Augen.
»Was ist?«
Mit einer letzten Kraftanstrengung stieß sie sich vom Waldboden ab und federte nach vorne. Mit einem kräftigen Stoß trieb sie ihm ihre Arme in den Oberkörper. Verblüfft taumelte Bongarts mit einer kurzen Drehung ein Stück zur Seite. Weit genug, sodass sie an ihm vorbeikam.
Sie rannte den Weg entlang Richtung Petersthal und hörte Bongarts’ Schritte und sein Keuchen hinter sich.
Schon nach wenigen Metern bekam sie Seitenstechen. Sie würde gleich stehen bleiben müssen! Doch ihre immer größer werdende Angst trieb sie an und mobilisierte ihre letzten Reserven. Ohne Blick für die Umgebung floh sie auf der Höhe des Hügels zur Abbiegung Richtung Petersthal. Bergab ging es leichter.
Sie traute sich nicht, sich umzudrehen. Immer noch hörte sie Bongarts keuchen. Auch er war nicht trainiert, im Gegensatz zu ihr deutlich übergewichtig und auch ein ganzes Stück älter.
Längst hatte sie den dunklen kühlen Wald hinter sich gelassen. Für eine Sekunde spielte sie mit dem Gedanken, zum See hinunterzulaufen, um Bongarts schwimmend zu entkommen. Aber sie wusste nicht, ob sie es bis zum Ufer gegenüber schaffen würde. Das unbekannte Wasser machte ihr nun zusätzlich Angst.
Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass Bongarts den Abstand zu ihr verringert hatte. Warum kam ihr niemand entgegen? Wo war der Mann mit dem Traktor? Carina Bauer lauschte auf die Geräusche um sie herum, aber da war kein Motor!
»Du entkommst mir nicht, du Schlampe!« Bongarts schrie und keuchte gleichzeitig.
Sie spürte, wie ihre Kraft schwand.
»Bleib stehen!« Bongarts war noch näher gekommen.
Carina Bauer hatte das Gefühl, keinen Zentimeter mehr voranzukommen. Ihre Füße waren schwer wie Blei, die Lunge brannte, ihr Brustkorb fühlte sich an wie von einer Eisenklammer umschlossen und wie kurz vor dem Platzen. Ihre Ohren schmerzten.
»Hab dich gleich!«
Ihr wurde schwarz vor Augen, sie taumelte mehr, als dass sie rannte.
»Carina!«, schrie Bongarts.
Sie drehte sich im Laufen nach ihm um. Das brachte sie aus dem Tritt. Sie stolperte noch ein paar Schritte und fiel dann hin.
In nächsten Augeblick war Bongarts über ihr. Er warf sich keuchend und mit dem ganzen Gewicht seines Körpers auf sie und presste sie an den Boden. »Hab ich dir nicht gesagt, dass du mir nicht entkommen kannst!«
Carina Bauer keuchte und meinte zu ersticken. Instinktiv schloss sie die Augen. Sie wollte nichts mehr sehen und nichts mehr fühlen. Plötzlich gab der Druck auf ihren Körper ein wenig nach. Sie schaffte es, ihre Arme schützend vor ihren Kopf zu heben. Sie hörte, dass sie wimmerte.
»Vergiss das nie!« Bongarts drückte sich endgültig von ihrem Körper ab. Er spukte auf ihre Bluse. »Sieh zu, dass du die Kohle ranschaffst.« Er warf ihr einen abschätzigen Blick zu. »Den Rest hole ich mir später.« Sein Blick ließ keinen Zweifel daran, was er meinte.
»Denk daran, ich bin bei dir, wenn du unter der Dusche stehst, ich liege neben dir, wenn du schläfst, und ich bin bei dir, wenn du isst.«
Bongarts holte mit dem Fuß zu einem Tritt gegen ihren Körper aus, ließ es aber bleiben. Stattdessen zog er sein T-Shirt zurecht und stieg über den Zaun, von dem aus sich eine leere Weide den Hügel hinauf erstreckte. Mit langen Schritten lief er auf den Hügelkamm zu.
Carina Bauer drehte den Kopf zur Seite und legte ihre Wange auf den Schotter, der spitz in ihre Haut stach. Sie spürte keinen Schmerz. Ihre Augen starrten auf das Grau des Wanderwegs. Ihr Atem verließ rasselnd ihre Lungen. Ihr Mund war trocken. Als sie den Kopf leicht hob, sah sie am Wegrand einen hohen verwitterten Baumstumpf, von dem der Rest eines knorrigen Astes wie eine Nase abstand.
Sie wollte am liebsten sterben.