XXIX.
»Du kannst das nicht einfach ignorieren.«
»Was soll mir schon passieren? Die Polizei weiß gar nichts. Ich habe ein paar Wohnungen im Allgäu. Na und? Ich bin ein bisschen zu Geld gekommen. Das Mädchen aus kleinen Verhältnissen hat ein paar Euro auf die hohe Kante legen können. Das ist doch nicht strafbar.«
Leuchtenberg griff nach ihrer Hand. »Vergiss Anelli. Er hat dir nicht gutgetan, und es wird dir keine Genugtuung verschaffen, wenn du jetzt versuchst, mit ihm abzurechnen.« Eindringlich fuhr er fort: »Es ist jetzt nicht die Zeit für verletzte Eitelkeit, das habe ich dir schon einmal gesagt. Wir haben jetzt andere Probleme. Und die dulden keinen Aufschub. Wir müssen jetzt handeln.«
»Was heißt wir?« Sie entzog ihm ihre Hand. »Das Ganze ist allein meine Sache. Außerdem kann ich jetzt nicht einfach alles stoppen. Dazu sind wir zu weit gegangen. Und du weißt, dass ich schon sehr nah dran bin am ganz großen Geld.«
»Carina, ich habe dir immer zur Seite gestanden. Das weißt du. Alles, was dich betrifft, betrifft auch mich. Carina, ich, ich liebe dich.«
Ihr unvermittelt lautes Auflachen zog die Aufmerksamkeit der übrigen Hotelgäste auf sich. Neugierig beobachteten sie das ungleiche Pärchen, das nahe am Kamin saß, der allerdings nicht brannte. Die attraktive Blondine in ihrem grauen Seidenkostüm schien sich köstlich über einen Scherz des gewichtigen Mannes zu amüsieren, der sie erst vor wenigen Minuten mit altväterlicher Kavaliersart in die Lounge begleitet hatte.
Leuchtenbergs besorgter Gesichtsausdruck war wie eingefroren.
»Komm, Ferdinand, du weißt, dass das nicht dein Ernst ist.« Sie lachte immer noch ungeniert.
Aus Leuchtenbergs Gesicht war alle Farbe gewichen. »Carina, bitte hör auf damit. Du tust mir weh.«
So abrupt, wie ihr Lachen begonnen hatte, so abrupt endete es. Carina Bauer sah Leuchtenberg nun aus spöttischen Augen an, in denen eine dunkle Farbe schimmerte, die der Anwalt vorher noch nicht gesehen hatte. Wie ein See aus schwarzem Eis.
»Du kannst mich nicht lieben. Ich lasse mich nicht von dir lieben. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Wir können Freunde sein, meinetwegen. Aber wage es nie mehr, diese drei Worte in meiner Gegenwart auszusprechen, Ferdi.«
Ferdinand Leuchtenberg musste mit seiner Enttäuschung und seiner keimenden Wut kämpfen. Das konnte Carina so nicht gemeint haben. Sie war in einer Stresssituation, da sprach man manchmal Dinge aus, die einem im Nachhinein leidtaten. So auch in diesem Fall. Leuchtenberg war sich sicher und zu sehr Anwalt, um sich von seiner Wut überwältigen zu lassen.
»Carina, ich flehe dich an. Wir müssen die Wohnungen schnellstens abstoßen, bevor die Polizei die Staatsanwaltschaft um einen Durchsuchungsbeschluss bittet. Noch ist es nicht zu spät. Wobei, ach –« Er brach ab.
»Sag mal, lieber Ferdinand, was redest du da? Das ist doch Unsinn. Was haben wir mit der Staatsanwaltschaft zu tun? Du wirst alt, mein Lieber. Früher hättest du anders geredet und die Angelegenheit auf deine Weise erledigt.«
Leuchtenberg konnte deutlich die Enttäuschung in ihren Augen sehen – und den Eissee.
»Ich habe ein ungutes Gefühl, und du weißt, dass ich immer ein paar Schachzüge schneller als alle anderen war. Das hat mir oft genug den Hals gerettet und meine Weste sauber gehalten. Du solltest meinen Rat annehmen.«
Carina Bauer setzte sich aufrecht in ihren Sessel. »Ich weiß selbst am besten, was ich zu tun habe. Und jetzt werde ich gehen.«
»Pass auf dich auf, Carina, mehr kann ich jetzt nicht mehr sagen. Und trau keinem Menschen. Du bist in Gefahr. In großer Gefahr.« Dann räusperte er sich und wurde auf einen Schlag ganz geschäftsmäßig. »Wann liefert unser Mann?«
»Die Entscheidung im Bauausschuss fällt in der kommenden Woche. Bis dahin wird er die entscheidenden Stimmen hinter sich gebracht haben. Dann ist auch der Ministeriale aus dem Urlaub zurück. Das ist noch ein Stück Arbeit, aber er weiß, was für ihn auf dem Spiel steht. Du hättest ihn mal erleben sollen. Der hat allein vor seiner Frau schon so viel Angst, dass er alles tun würde, damit die Fotos im Safe bleiben. Ich glaube, dass er uns noch lange zu Diensten sein wird.«
»Irgendwann wird die Schwerpunktstaatsanwaltschaft ihm auf die Schliche kommen.«
»Na und? Er wird auch bei denen nicht den Mund aufmachen und alle Schuld auf sich nehmen. Wie gesagt, der hat mehr Schiss vor seiner Frau als vor ein paar Jahren Knast. Außerdem kochen die in Wuppertal auch nur mit Wasser. Es ist also noch Zeit genug. Aber selbst wenn! Wenn er weg ist, werden wir uns andere suchen. Sobald es um Sex und Geld geht, geht es auch um Macht. Und dieser Versuchung ist noch jeder erlegen.« Sie taxierte Leuchtenberg eingehend. »Du auch.«
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass ich nicht weiß, ob ich dir trauen kann. Aber auch das habe ich dir schon einmal gesagt. Also, sei auf der Hut, überlege gut, was du tust. Du hängst mit drin. In diesem Sinne ist dein ›wir‹ also berechtigt.«
»Du kannst dich auf mich verlassen, Carina.«
»Das hat Anelli auch gesagt.«
»Ich bin nicht wie er, glaub mir.«
»Ihr Männer seid alle gleich. Es geht euch letztlich nur um euren Schwanz.«
Ferdinand Leuchtenberg sah sich unauffällig um. Er wollte sichergehen, dass niemand diese peinlichen Sätze gehört hatte.
»Bin ich dir auf einmal zu ordinär?« Ihr halblautes Lachen klang kehlig.
»Nein, ich –«
»Ach, schon gut, spar dir deine Erklärung, alter Mann.« Ihr Lächeln erstarb. Der dunkle Eissee hatte sich auf ihrem ganzen Gesicht ausgebreitet.
»Bitte, Carina, bitte.«
»Hör auf mit dem Gesülze. Das widert mich an.« Carina Bauer stand abrupt auf. »Ich nehme mal an, dass ich eingeladen bin.« Im Gehen wandte sie sich noch einmal um. »Und bring mir Anelli.« Mit einem verführerischen Augenaufschlag setzte sie hinzu: »Dann sehen wir weiter.«
Nachdem Carina Bauer das Hyatt verlassen hatte, blieb Leuchtenberg zunächst wie betäubt sitzen. Dann bestellte er einen doppelten Espresso. Er hatte bisher noch immer eine Lösung gefunden. Aufgeben war seine Sache nicht. Während er auf seine Bestellung wartete, zog er sein Mobiltelefon aus der Jackentasche und wählte eine Nummer.
»Ja, hier Bongarts. Lange nichts voneinander gehört. Ich war ein Freund von Wackerzapp.«
Carina Bauer stand mit dem Handy am Ohr am Panoramafenster und sah auf den Rhein hinaus. Dort war wenig Betrieb, der Strom führte mittlerweile kaum noch genug Wasser. Es würde nicht lange dauern, und die Schifffahrt müsste ganz eingestellt werden.
»Wackerzapp? Wer soll das sein? Ich kennen keinen Wackerzapp.«
»Rainer Wackerzapp, manche Leute kannten ihn auch unter dem Namen Kevin.«
»Nie gehört.«
»Hören Sie, ich kenne Sie schon lange. Sie erinnern sich? Wir sind uns schon begegnet. Ich weiß mehr über Sie, als Sie sich im Augenblick vorstellen können. Rainer hat mir viel von Ihnen erzählt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er hat mir Fotos gezeigt.«
»Na und?«
Der Himmel über Düsseldorf war noch tiefblau. Keine Wolke am Himmel. Vom Altstadtufer her leuchteten die Sonnenschirme der Brauereien.
»Fotos aus seinem Schlafzimmer. Die sehe ich mir abends besonders gerne an. Sie sind gut getroffen. Feiner Stoff, ganz feiner Stoff. Schade, dass wir damals nicht so viel Zeit miteinander verbringen konnten.«
Carina hielt die Luft an. Wackerzapp, dieses Schwein. Wann hatte er die Fotos gemacht? Sie konnte sich nicht erinnern, dass er einmal mit einer Kamera herumgefummelt hatte.
»Sind Sie noch da?«
Sie hörte ein meckerndes Lachen.
»Was wollen Sie von mir?«
Am Horizont zeigte sich ein dünner blasser Streifen.
»Ich möchte Sie treffen. Ich habe einiges mit Ihnen zu besprechen.«
»Ich wüsste nicht, was.«
Sie hatte das Gefühl, über dem Rhein waberte schwüle Luft.
»O, es gibt eine Menge, über das wir reden können. Nennen wir es Auffrischen alter Erinnerungen. Oder: eine Fortsetzung Ihres Mandats.«
»Hören Sie auf damit.« Ihr kam ein Verdacht. »Wer schickt Sie?«
»Heißt das, dass wir uns treffen? Gut, gut. Ich merke, Sie verstehen.«
»Das heißt gar nichts. Wer schickt Sie, und was wollen Sie von mir?«
»Wie gesagt, von Angesicht zu Angesicht lässt es sich besser reden. Telefone sind so garstige Dinger. Und keineswegs verschwiegen, wie Sie wissen.«
»Keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
In ihrem Schlafzimmer würde die heiße Luft des Tages stehen bleiben. Ein dünner Schweißfilm bildete sich auf ihrer Haut.
»O, ich glaube sehr wohl, dass Sie mich verstehen. Sehr gut sogar, Frau Bauer. Sie haben doch so manches Telefongespräch Ihrer, wie soll ich sie nennen? Opfer? Nein, ich sage lieber Gesprächspartner, mitgeschnitten oder mitschneiden lassen. Gespräche, in denen es um Geschäfte geht. Interessante Geschäfte. Und um viel Geld. Und darum, wer wen noch ›überzeugen‹ muss und wie das zu gehen hat. Und welche Rolle die Mädchen dabei spielen. Und die Ehefrauen und Vorgesetzten Ihrer Kunden, ja, ich nenne sie jetzt mal ›Kunden‹ oder Klienten, das klingt so schön seriös. Von den Geschäften verstehe ich nichts, wer wem welches Grundstück zu welchem Preis verkauft. Nein, nicht mein Ding. Dafür verstehe ich mehr von den Mädchen. Das ist schon eher mein Ding.«
Carinas Gedanken rasten. Bongarts wusste scheinbar eine Menge über ihre Geschäfte. Nur, woher und von wem? Und was wollte er von ihr? Sie musste Zeit gewinnen. Nachdenken.
»Hören Sie, mir geht es nicht gut.«
Bongarts ließ erneut sein meckerndes Lachen hören. »Das kann ich gut verstehen. Würde mir genauso gehen. Ruhen Sie sich aus. Denken Sie nach. Ich melde mich wieder bei Ihnen.«
Es klickte in der Leitung.
Sie ließ das Mobiltelefon sinken. Im gleichen Augenblick hatte die Sonne den Horizont erreicht. Der glutrote Ball würde in Kürze verschwunden sein.
Das Handy in ihrer Hand klingelte erneut. Carina Bauer zuckte zusammen. Zögernd nahm sie das Gespräch an.
»Ja?«
»Warum so traurig?«
Es war wieder Bongarts.
»Was wollen Sie denn noch von mir?«
»Ich kann dich sehen.«
Sie schrie erschrocken auf und wich vom Fenster zurück. Aus dem kleinen Lautsprecher hörte sie ein blechernes Lachen.
»Was ist los? Warum bleibst du nicht stehen?«
Erst jetzt bemerkte Carina, dass Bongarts sie duzte.
»Wo sind Sie?«
»Schau, ich winke.«
Carina Bauer zuckte zurück. Um ein Haar wäre sie tatsächlich zurück ans Fenster gegangen. Stattdessen trat sie noch ein Stück tiefer in den Raum zurück.
»Du musst dich mir schon zeigen, Carina.«
Der nächste Schritt zurück war ihr letzter. Sie stand jetzt mit dem Rücken zur Wand. Ihr blieb nur noch, seitlich auszuweichen, in Richtung ihres Büros.
»Siehst du mich? Auf der anderen Rheinseite.«
Carina Bauer hielt den Atem an.
»Keine Angst, Carina. Du hast doch keine Angst, oder?«
Sie hörte erneut dieses blecherne Lachen.
»So ein frisches Weizenbier ist wirklich köstlich.«
Carina überlegte fieberhaft. Bongarts saß vermutlich in einem der Biergärten am Rheinufer. Er konnte ihr nichts tun. Oder hatte er gelogen und stand vor der Haustür? Sie blickte sich nach allen Seiten um. Alle Fenster waren geschlossen. Die Tür ließ sich nur von innen öffnen.
»Ich höre dich gar nicht mehr, Carina.«
Bongarts klang aufgeräumt, geradezu fröhlich.
»Hören Sie auf.« Carina Bauer stöhnte den Satz mehr, als dass sie ihn aussprach. Sie drückte sich gegen die Wand und fühlte sich elend. Über die Jahre hatte sie gelernt, selbstbewusst und unbeirrbar aufzutreten. Das hatte ihr manche Tür geöffnet. Vor Gericht und im Umgang mit ihren ganz speziellen Kunden.
Carina Bauer spürte Angst in sich aufsteigen. Die Männer, die sie unter Druck setzte und die nun versuchten, sich zu wehren, der Angriff Wackerzapps, der inzwischen tot war, Anelli und schließlich die Gewissheit, ganz kurz vor dem Durchbruch in ihrem jüngsten und lukrativsten Geschäft zu stehen: Das war selbst ihr in den vergangenen Wochen zu viel geworden. Und nun der Anruf von Bongarts.
»Mädchen, ich merke schon, mit dir ist heute nicht mehr viel los. Ich werde jetzt gemütlich mein Bier austrinken und dich in Ruhe lassen.«
Carina Bauer hörte jemanden in ihrer Wohnung wimmern. Panisch blickte sie sich um, bevor sie merkte, dass sie selbst es war.
»Eines noch, Carina. Bevor du ins Bett gehst, schau in deinen Briefkasten. Die Fotos sind wirklich gelungen.«
Es klickte in der Leitung.
Obwohl Bongarts aufgelegt hatte, hielt Carina Bauer das Telefon weiter an ihr Ohr gepresst und sank, gegen die Wand gestützt, langsam zu Boden.
Sie hatte das Gefühl, eine Ewigkeit auf dem Boden gehockt zu haben, als sie sich schließlich mühsam aufrichtete. Sie hatte keinen klaren Gedanken fassen können. In ihrem Kopf herrschten Chaos und Leere zugleich. Stöhnend stand sie schließlich an der Tür. Sie traute sich nicht, sie zu öffnen. Was hatte Bongarts gesagt von Fotos in ihrem Briefkasten?
Sie legte ihre Hand auf die Türklinke, aber sie hatte keine Kraft, sie hinunterzudrücken. Was, wenn Bongarts die Tür aufdrückte und sich in ihre Wohnung drängen würde? Sie erinnerte sich an seine Statur. Er war grob und untersetzt, harte Hände, ein feistes Gesicht. Fettiges Haar. Er würde brutal sein.
Aber ihr blieb keine Wahl. Entschlossen zog sie ruckartig die Wohnungstür auf und sah sich um. Der Flur war leer. Hastig rannte sie die Stufen zur Haustür hinunter und öffnete mit fahrigen Händen ihren Briefkasten. Tatsächlich, ein brauner Umschlag. Sie flog fast die Treppe hinauf. Zurück in ihrer Wohnung, schloss sie die Tür und lehnte sich dagegen. Atemlos sah sie den Umschlag an. Dann riss sie ihn auf.
Was sie sah, ließ sie aufschreien.
Es waren ein knappes Dutzend Fotos. Dieses Schwein! Wackerzapp hatte sie beim Sex heimlich fotografieren lassen. Kämen die Bilder an die Öffentlichkeit, könnte sie einpacken. Sie könnte keinem Klienten mehr ins Gesicht sehen. Außerdem würde die bloße Existenz der Fotos belegen, dass sie für Anelli eine Belastung war. Wer unter Beobachtung stand, konnte mit den Italienern keine Geschäfte mehr machen.
Die übrigen Aufnahmen zeigten sie bei einem Empfang in der Staatskanzlei vor einem guten Jahr, in ein Gespräch mit Büschgens vertieft, sie in der Wohnung in Rottach, an einem Tisch mit Kurzius und Dürselen, sie in einem offenen Cabrio, neben sich mehrere Motorradfahrer, darunter Landtags- und Bundestagsabgeordnete, erneut Büschgens sowie eine blonde Frau in knapper Lederkombi.
Carina Bauer rannte ins Bad und übergab sich würgend. Sie starrte lange in den Spiegel und wankte dann ins Wohnzimmer zurück. Erschöpft ließ sie sich auf das weiße Sofa sinken.
Bongarts. Was wusste er? Rainer hatte nie viel über ihn erzählt. Aber er hatte ohnehin nie viel über sich und das, was er eigentlich machte, gesprochen. Ihr war das nur recht gewesen. Sie hatte die schmutzige Seite ihres Geschäftes bisher immer erfolgreich ausblenden können.
Das war ein Fehler gewesen. Sie würde sich mit Bongarts treffen müssen. Sie musste wissen, was er zu sagen und zu verkaufen hatte. Hatte er nur durch Zufall von ihren Geschäften erfahren, wollte er jetzt als Trittbrettfahrer Kasse machen? Oder wusste er mehr? War er nur ein Spanner, ein Psychopath?
Ob nicht gar Anelli hinter Bongarts stand? Zuzutrauen wäre es ihm. Anelli war ein eifersüchtiger Liebhaber gewesen. Von Anfang an. Er hatte nicht akzeptieren wollen, dass sie ihn nur unter »ferner liefen« einsortiert hatte. Wollte er sich nun an ihr rächen? Er hatte eigentlich keinen Grund, dachte Carina Bauer. Sie hatte immer mit offenen Karten gespielt. Im Gegensatz zu ihm. Nicht, wenn es um eine gemeinsame Nacht ging oder um eine schnelle Nummer im Fahrstuhl. Er hatte sie betrogen, was seine Familie und deren Absichten betraf.
Sie hatten sie nur benutzt und dann versucht, sie kaltzustellen. Dabei hatte sie den Löwenanteil der Arbeit geleistet. Und damit auch den Löwenanteil verdient. Leuchtenberg hätte sie nie mit Anelli zusammenbringen dürfen. Dass diese Leute gefährlich waren, hatte sie spätestens nach den Morden in der Duisburger Pizzeria gewusst.
Ihr Entschluss stand fest. Sie würde sich auf ein Treffen mit Bongarts einlassen. Und dann die Sache in die Hand nehmen. Sie konnte keine weiteren Mitwisser gebrauchen. Sie musste für ihre eigene Abrechnung den Rücken frei haben.
Hatte ihr vielleicht Leuchtenberg Bongarts auf den Hals gehetzt? Nein, das würde er nicht wagen. Leuchtenberg war scharf auf ihre Titten. Aber das war auch schon alles.
Carina Leuchtenberg nahm ihr Telefon in die Hand und durchsuchte die Anruferliste. Bongarts hatte seine Nummer natürlich unterdrückt.
Carina Bauer hatte eine unruhige Nacht auf der Couch in ihrem Wohnzimmer verbracht. Am frühen Morgen hatte sie alle Fenster in ihrer Wohnung geöffnet, aber der Durchzug brachte nicht die erhoffte Abkühlung.
Nachdem sie kalt geduscht und gefrühstückt hatte, war sie in ihr Arbeitszimmer gegangen. Zu arbeiten gab es nichts, stattdessen surfte sie ziellos durch das Internet. Sie war unruhig und versuchte die Zeit totzuschlagen, bis Bongarts erneut anrief. Aber nichts geschah.
Gegen Mittag klingelte es an ihrer Tür. Erschreckt und neugierig zugleich, lief sie zur Gegensprechanlage. Die Überwachungskamera zeigte ihr, dass die beiden Kommissare aus Mönchengladbach vor der Tür standen. Kein Bongarts. Sie war erleichtert. Trotzdem zögerte sie, bevor sie den Türöffner drückte.
»Sie?«, begrüßte sie die Ermittler und bat sie mit einer Handbewegung hinein.
»Haben Sie jemand anderen erwartet?« Ecki nahm die Aufforderung, Platz zu nehmen, mit einem Kopfnicken an.
»Nein. Wie kommen Sie darauf?« Carina Bauer setzte sich den Kommissaren gegenüber.
»Sie haben wirklich nicht mit uns gerechnet?«, fragte Frank.
»Nein. Ich habe gedacht, dass ich bereits alle Ihre Fragen beantwortet habe.« Sie lächelte.
»O nein«, Ecki zückte sein Notizbuch, »wir haben noch jede Menge Fragen an Sie, Frau Bauer.«
Carina lächelte Ecki aufmunternd an. »Ich weiß zwar nicht, was ich für Sie tun kann, aber, bitte, nur zu.«
So abgebrüht muss man erst mal sein, dachte Frank anerkennend. Eine toughe Anwältin, mit allen Wassern gewaschen.
»Dann will ich nicht lange um den heißen Brei herumreden. Woher kennen Sie Samantha Kurzius?« Ecki lächelte Carina Bauer an.
»Samantha Kurzius?«
»Aus Mönchengladbach, ja.«
Carina Bauers Gedanken überschlugen sich. Was sollte sie sagen? Natürlich kannte sie Samantha. Natürlich wusste sie, dass sie tot war. Aber das musste dieser Bulle nicht wissen. Hübscher Kerl, nettes Gesicht, harte Muskeln unter dem engen T-Shirt, schade, dass er ein Bulle ist, dachte sie.
»Warten Sie, ich muss nachdenken.« Sie lächelte zurück.
Er nickte verständnisvoll.
»Samantha Kurzius, Samantha Kurzius, ja, jetzt weiß ich’s wieder. Sie ist die Nichte eines Klienten von mir. Wenn ich mich recht entsinne, ging es um eine Erbschaft. Die junge Frau sollte erben. Ja.«
»Sind Sie sich sicher?«
Carina Bauer lächelte jovial. »Mein Gedächtnis ist mein Kapital, Herr Kommissar. Was ist mit Frau Kurzius?«
»Sie ist tot.«
Carina Bauer schaffte es tatsächlich, erschüttert zu wirken. »Um Gottes willen!«
»Die Nachricht scheint Sie mitzunehmen?« Ecki lächelte immer noch. Mal sehen, wie lange sie das Theater durchhält, dachte er.
»Der Tod eines Menschen ist immer eine schlimme Sache, Herr Eckers.«
Besonders für den Betroffenen, dachte Ecki und sah kurz zu Frank.
»Sie haben eine Erbschaftsangelegenheit für sie geregelt, sagen Sie?« Frank sah die Anwältin stirnrunzelnd an. Auch er wollte nicht unnötig lange mitspielen.
»Ja, aber das hat sich ja nun erledigt, fürchte ich. Ich werde mit meinem Mandanten konferieren müssen.«
»Wer ist Ihr Mandant?« Ecki hatte seinen Stift schreibbereit in der Hand.
Carina Bauer lächelte verbindlich. »Das möchte ich Ihnen nicht sagen. Sie wissen, ich bin zur Vertraulichkeit verpflichtet.«
»Samantha Kurzius ist erschossen worden. In Moosbach.« Frank hatte das Katz-und-Maus-Spiel satt.
»Das ist ja furchtbar. In Moosbach, sagen Sie? Das ist im Allgäu, richtig? Sulzberg-Moosbach.«
»Sie haben mehrere Wohnungen im Allgäu. Ihre Geschäfte müssen ja blendend laufen.« Ecki schrieb etwas auf, das Carina Bauer nicht sehen konnte.
»Man muss frühzeitig etwas für den Lebensabend tun, Herr Kommissar. Als Selbstständige habe ich ja keinen Anspruch auf Rente. Leider.«
»Die Wohnungen sind alle vermietet?«
Sie zögerte mit der Antwort. »Ja? Ist das wichtig?«
»Waren Sie mit Samantha Kurzius in Moosbach?«
»Nein.«
Ihre Antwort klang eine Spur zu entschieden, fand Ecki und setzte nach. »Sind Sie sich da ganz sicher?«
»Selbstverständlich.« Sie musste auf der Hut sein. Am besten würde die Flucht nach vorn sein, dachte sie. »Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Tod der jungen Frau – ausgerechnet in Moosbach! – und meinen Immobilien?«
»Sagen Sie es mir.« Ecki lächelte sie erneut an. Diese Anwältin war hübsch, das musste er sich eingestehen.
»Natürlich gibt es keinen Zusammenhang.« Sie lehnte sich in ihrem Sofa zurück und beugte sich sofort wieder vor. »Ich habe gar nicht gefragt, ob Sie etwas trinken wollen.«
Die Kommissare winkten ab.
»Wir sind der Meinung, dass da sehr wohl ein Zusammenhang bestehen könnte.« Frank ließ Carina Bauer nicht aus den Augen. »Sie kennen Ernst Büschgens?«
Carina Bauer runzelte die Stirn. »Wer soll das sein, bitte?«
»Jemand, der auch in Immobiliengeschäften unterwegs war und der ebenfalls in Moosbach zu Tode gekommen ist.«
Carina Bauer lachte auf. Sie musste Zeit gewinnen. Worauf wollten die Bullen hinaus? Was wussten sie? »Moosbach scheint kein guter Ort zum Leben sein.«
»Sie kannten ihn?«
Die Anwältin sah für einen Augenblick zum Fenster hinaus. Irgendwo dort lauerte Bongarts. Erst die Fotos und nun die Bullen. Leuchtenberg hatte recht gehabt. Sie hatten sich keine Zeit gelassen. Nun musste sie an zwei Fronten hundert Prozent geben.
»Büschgens? Das ist doch dieser Lokalpolitiker aus Mönchengladbach. Ja, ich kenne ihn, kannte ihn. Aber was heißt schon ›kannte‹. Ich habe ihn ein paarmal auf Terminen gesehen. Gesprochen habe ich ihn nie. Ich weiß nur, dass er an großen Rädern drehte.«
»Das muss ein interessanter Kontakt für Sie gewesen sein.« Frank lächelte nun seinerseits verbindlich.
»Wie meinen Sie das?« Carina Bauer war wirklich erstaunt. »Nein, um ehrlich zu sein, er hat mich nicht interessiert. Weder als Mann noch als Mitbewerber, wenn Sie das meinen, Herr Borsch.«
»Das hat Leuchtenberg auch erzählt.«
»Sie haben mit Ferdinand gesprochen?«
»Das wissen Sie doch längst.«
»Ferdinand ist ein väterlicher Freund. Aber ich habe ihn schon eine ganze Zeit nicht mehr gesehen. Er scheint sehr beschäftigt zu sein. Er ist viel unterwegs, in ganz Europa, müssen Sie wissen.«
»Was genau macht er?«
»Investieren, vermitteln, beraten.«
»Immobilien?«
»Vor allem Immobilien.«
»Woran arbeitet er gerade?«
»Im Augenblick? Da fragen Sie ihn besser selbst, Herr Eckers.«
Frank hob die Hand. »Um es ganz deutlich zu sagen: Wir sind der Meinung, dass ein Zusammenhang zwischen Ihnen, Ihren Wohnungen und den Morden besteht. Sie besitzen doch eine Wohnung in Rottach?«
»Sie sind gut informiert, Herr Borsch.«
»In die Wohnung ist über die Jahre die Familie Dürselen gefahren. Sie kommt auch aus Gladbach.«
Carina Bauer zuckte mit den Schultern. »Mag sein. Das muss vor meiner Zeit gewesen sein, davon weiß ich nichts.«
»Sagt Ihnen der Name Julia Dürselen denn nichts?«
Die Anwältin hob erneut die Schultern. »Keine Ahnung, wirklich. Ich möchte Ihnen ja gern helfen, aber ich muss passen. Leider.«
»Julia Dürselen ist in ihrer Wohnung erschlagen worden. In Mönchengladbach. Sie war eine Prostituierte. Wie Samantha Kurzius.«
»Nicht in Moosbach, aha.«
Carina Bauer wusste nicht weiter. Die Bullen waren nah dran. Ganz nah. Sie musste sie aus der Wohnung bekommen, ehe Bongarts wieder anrief. Und sie musste Leuchtenberg anrufen. Er musste ihr diese Bullen vom Hals schaffen.
»Und was habe ich mit alldem zu tun?«
»Sagen Sie uns das, Frau Bauer.« Eckis Stimme klang jetzt scharf und unnachgiebig.
»Nichts.« Carina Bauer lächelte. Die hatten nichts gegen sie in der Hand. Nichts als Vermutungen.
»Sie können Ihre Verantwortung nicht einfach mit einem Lächeln beiseiteschieben.«
»Hören Sie, Herr Borsch, ich kann verstehen, dass Sie einen Fall oder mehrere Fälle zu klären haben, aber ich kann Ihnen dabei nicht helfen. Leider.«
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Frau Bauer.« Franks Stimme war leise, aber umso eindringlicher. »Vier Morde in kurzer Zeit, und in jedem Fall stoßen wir früher oder später auf Ihren Namen. Das ist kein Zufall. Sie haben mit diesen Morden zu tun.«
»Das sagen Sie.«
»Sie sind der Schlüssel zur Lösung all dieser Fälle.«
»Zu viel der Ehre, Herr Kommissar.«
»Sie haben keinen Grund zur Ironie. Sie stehen unter Mordverdacht, Frau Bauer.«
Carina Bauer stand auf. »Nun ist es aber genug, Herr Borsch. Ich muss Sie bitten zu gehen. Ihre Anschuldigungen sind ungeheuerlich. Ich werde von nun an gar nichts mehr sagen.«
Frank nickte. »Das ist Ihr gutes Recht. Sie brauchen einen Anwalt, Frau Bauer. Einen guten Anwalt.«
Carina Bauers Handy klingelte. Sie griff danach und sah auf das Display. Die Rufnummer war unterdrückt. Ihr wurde heiß. Das konnte nur Bongarts sein.
»Wollen Sie das Gespräch nicht annehmen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bitte gehen Sie. Sie strapazieren meine Gastfreundschaft. Ich muss mir das nicht länger anhören. Nichts als Unterstellungen und Vermutungen. Sie sind auf dem besten Weg, sich lächerlich zu machen, meine Herren. Guten Tag.«
Ecki hielt Frank zurück, als er in den Dienstwagen steigen wollte. »Die Bauer hat recht. Wir haben nichts gegen sie in der Hand. Wir hätten so nicht zu ihr fahren sollen. Jetzt ist sie gewarnt.«
Frank schüttelte Eckis Hand ab. »Unsinn. Sie weiß schon Bescheid. Leuchtenberg wird ihr längst von unserem Besuch erzählt haben.«
»Und nun?« Ecki ging hinüber zur Beifahrerseite.
»Wir haben sie aufgescheucht. Sie wird einen Fehler machen. Ich werde die Düsseldorfer Kollegen bitten, ein Auge auf sie zu haben.«
»Ich weiß nicht, Frank. Aber ich fürchte, dass sie viel zu clever ist, um sich von uns Angst machen zu lassen.«
»Das glaube ich nicht. Hast du ihr Gesicht gesehen? Sie ist längst nicht mehr die souveräne eiskalte Schönheit. Sie hat schlecht geschlafen, weil sie Angst hat.«
Carina Bauer sah sich um, ging auf den vereinbarten Treffpunkt zu und setzte sich. Wie sollte sie Bongarts erkennen? Sie hatte ihn sehr lange nicht gesehen. Eine Kellnerin kam sogleich an ihren Tisch und nahm ihre Bestellung auf.
Bongarts hatte sich mit ihr an einem »unauffälligen Ort« treffen wollen und ein Café in Nettetal-Breyell vorgeschlagen. Sie hatte nicht lange suchen müssen, denn es war das einzige Café im Ortskern. Carina Bauer war der einzige Gast an diesem Vormittag. Sie hatte sich wie besprochen draußen vor dem Café einen Platz gesucht, im Schatten des alten Kirchturms.
Carina Bauer war nicht zum ersten Mal in Breyell, aber das erste Mal in dem Café. Leuchtenberg hatte sie schon ein paarmal nach Nettetal geschleppt, weil er die Seenlandschaft so mochte. Ihr war diese Naturseligkeit von Anfang an auf den Wecker gefallen, aber sie hatte Leuchtenberg damals keinen Grund geben wollen, sie fallen zu lassen. Sie hatte seine Hilfe und seine Kontakte gebraucht, da hatte sie über diese Marotte notgedrungen hinweggesehen.
Dieses Breyell hatte nichts, was ihr in irgendeiner Weise attraktiv erschienen wäre. Ein verschlafenes und vom Rest der Welt vergessenes Kaff an der Durchgangsstraße nach Holland. Kaum dass man auf der Autobahn die Abfahrt passiert hatte, war man auch schon daran vorbei. Einzig der alte Kirchturm bot einen Hauch von Kultur.
Während Carina Bauer auf Bongarts wartete, nervte sie zunehmend der Krach des Baggers, der auf der anderen Straßenseite gerade die Fassade eines schmalen Hauses einriss. Soweit sie sich erinnerte, war in dem Haus einmal eine Bäckerei mit Café und Eisdiele untergebracht gewesen.
Während sie den Kaffee trank, ließ Carina Bauer ihre Augen ungeduldig über den Marktplatz schweifen. Bongarts hatte darauf gedrängt, pünktlich zu sein. Und nun ließ er sie warten.
Sie würde sich auf nichts einlassen. Sie hatte sich geschworen, Bongarts nur anzuhören und dann zu gehen. Sie würde ihn hinhalten, was immer er von ihr wollte. Sie würde das Problem von Leuchtenberg lösen lassen. Zur Not würde sie ihn dafür auch noch einmal ranlassen.
Carina Bauer schloss die Augen und ließ den warmen Wind, der aufkam, über ihr Gesicht streichen. Bongarts würde dann nicht mehr als eine vorübergehende Unpässlichkeit sein. Ferdinand war Wachs in ihren Händen. Ein Anruf würde genügen. Aber vorher musste sie wissen, was gespielt wurde. Das hatte sie von Leuchtenberg gelernt: immer auf dem neuesten Stand sein, nur so konnte sie sich einen Vorsprung verschaffen.
Sie musste an Büschgens denken. Sein Tod war vermeidbar gewesen. Eine kleine Erpressung hätte vollkommen ausgereicht, um ihn auf Linie zu bringen. Büschgens hätte seine politische Karriere an den Nagel hängen können, wenn Leuchtenberg und sie die Unterlagen den einschlägigen Medien zugespielt hätten. Die Boulevardblätter hatten quasi darauf gewartet, von ihr mit Informationen über die eigentlichen Drahtzieher seiner diskreten Immobiliengeschäfte beliefert zu werden. Der saubere, ach so bescheidene Lokalpolitiker, der im Hintergrund das ganz große Rad drehte und vor dem selbst Minister in die Knie gingen, wäre ganz nach ihrem Geschmack gewesen. Das Ganze zusätzlich garniert mit einer hübschen Auflistung seiner diversen Konten in der Schweiz und in Liechtenstein! Bauer nickte unwillkürlich. Büschgens hatte immer schon gewusst, wie er seine Weste sauber halten konnte. Selbst seine Freundin hatte keine Ahnung. Sie kannte nur das Bild des charmanten Immobilienmaklers und aufrechten Politikers.
Carina Bauer bedauerte immer noch, dass die Chance vertan war. Sie hätte Büschgens’ Konten abräumen können, ohne dass Büschgens imstande gewesen wäre, es zu verhindern. Aber dann war das Ganze aus dem Ruder gelaufen. Wackerzapp war über das Ziel hinausgeschossen. Ein bisschen einschüchtern, ja. Aber doch kein Mord! Wer weiß, was Wackerzapp für sich hatte abzweigen wollen bei der Sache. Seit diesem Vorfall hatte sie ihn beobachtet. Und je länger sie das tat, umso mehr hatte sie sich darüber geärgert, für ihn die Beine breit gemacht zu haben. Wackerzapp war es nicht wert gewesen, dass er sie hatte vögeln dürfen. Sie hatte keine guten Erinnerungen an ihn. Und das nicht erst seit seinem Überfall im Wald bei Schloss Rheydt. Allein bei dem Gedanken an seinen heißen Atem auf ihrem Gesicht wurde ihr übel.
Sie öffnete die Augen. Wo blieb Bongarts bloß?
Gerade als sie ihr Mobiltelefon zur Hand nahm, um Leuchtenberg anzurufen, klingelte es.
»Setzen Sie sich ins Auto, und fahren Sie Richtung Leuth. Kennen Sie den De-Witt-See? Fahren Sie dort auf den Parkplatz.«
Noch bevor Carina Bauer etwas erwidern konnte, hatte Bongarts wieder aufgelegt.
Sie wurde wütend. Sie war kein kleines Mädchen, das man nach Belieben hierhin und dorthin schicken konnte. Kurz war sie versucht, aufzustehen und zurück in ihre Wohnung zu fahren. Dann besann sie sich. Die Fotos durften niemals in falsche Hände kommen. Schon gar nicht in die der Polizei. Carina Bauer zahlte also und fuhr am Friedhof vorbei zum De-Witt-See.
Der Parkplatz war um diese Tageszeit nahezu leer. Carina Bauer schritt die wenigen Wagen ab. Keiner hatte ein Düsseldorfer Kennzeichen. Was noch nichts zu bedeuten hatte. Bongarts konnte mittlerweile auch aus jeder anderen Stadt kommen. Unschlüssig blieb sie einen Augenblick stehen und ging dann auf das Strandrestaurant zu, auf dessen Terrasse lediglich zwei Tische besetzt waren. Vier Pärchen im Rentenalter hatten Kuchen und Kaffee geordert. Unter den aufmerksamen Augen eines älteren Kellners unterhielten sie sich angeregt von Tisch zu Tisch. Carina Bauer ging an der Terrasse vorbei bis an das Ufer des Sees. Im Hintergrund verharrte ein kleines Segelboot in der Flaute. Das großflächige Wasser lag ruhig vor ihr. Kein Wind kräuselte die Oberfläche, die silbrig glänzte. In Ufernähe schwammen zwei Blesshühner vorbei.
Aber Carina Bauer hatte keinen Blick für die Idylle. Sie hielt das Handy in der Hand und wartete ungeduldig auf den Anruf. Trotzdem zuckte sie zusammen, als das Telefon klingelte.
»Ich hoffe, du bist schon da.«
Carina Bauer nickte unwillkürlich.
»Bist du da?«
»Was wollen Sie von mir?«
»Am See vorbei gibt es einen Weg zur Leuther Mühle.«
»Hören Sie, ich kenne mich hier nicht aus.«
»Du biegst vom Parkplatz links ab.«
»Bongarts?«
Er hatte schon aufgelegt.
Carina Bauer fasste ihre Handtasche fester. Der Spuk würde bald ein Ende haben. Sie drehte sich um und ging zurück. Kurz vor dem Parkplatz bog sie ab. Sie folgte dem sandigen Weg, der streckenweise direkt am See vorbeiführte. An einigen Stellen ragten rechts von ihr schmale Stege in den See hinein. Links lagen einige Wochenendhäuser. Außer ihr war niemand unterwegs. Der Weg führte an Schilfzonen vorbei, einige abgestorbene Baumstämme lagen im Wasser.
Der Pfad wurde zunehmend schmaler. Sie blieb einen Augenblick stehen und sah in das Wasser, das an dieser Stelle klar war. Aber außer einer Colabüchse und einigen modrigen Ästen sah sie nichts. Carina Bauer überlegte, wie weit es noch bis zur Mühle sein würde und ob sie nicht doch lieber zum Auto zurückkehren sollte. Die Stille um sie herum wurde ihr zunehmend unheimlich. Sie blickte den Weg entlang, aber nicht weit von ihr entfernt machte der eine Kurve. Sie meinte, in der Ferne einen Kuckuck zu hören.
»Schön, dass du gekommen bist.«
Carina Bauer fuhr herum.
»Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Woher?« Mehr brachte sie nicht hervor.
Heinz Bongarts deutete in seinen Rücken. »Das Schilf ist ein idealer Ort zum Warten. Schön ist es hier, nicht? Ich liebe die Netteseen.«
Carina Bauer fasste ihre Tasche fester. »Machen wir es kurz. Was wollen Sie?«
»Du kannst mich ruhig duzen. Ich hoffe, die Fotos haben dir gefallen?«
»Wie viel?« Die Anwältin versuchte die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Sie drehte sich so, dass sie jederzeit flüchten konnte. Mit einem Blick hatte sie Bongarts’ Kondition abgeschätzt. Sie würde ihm vermutlich entkommen können.
Sie hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen, aber er war nicht sonderlich verändert. Der Mann vor ihr war nicht sehr groß, sein runder Kopf saß nahezu ansatzlos auf einem massigen Körper. Das Haar war fettig. Bongarts hatte sicher mehr als zehn Kilo Übergewicht. Über seinem gewölbten Bauch hatte er ein enges schwarzes T-Shirt achtlos in seine unförmige Jeans geschoben, die von einem schmalen schwarzen Gürtel gehalten wurde.
»Wie viel?« Bongarts grinste. »Immer gleich die harte Anwältin, was? Keine Gefühle zeigen, was?« Er strich sich über sein schütteres Haar. »Über Geld reden wir später. Dazu ist später noch Zeit genug.«
»Ich habe aber keine Zeit. Also, wie viel?«
Heinz Bongarts trat einen Schritt auf sie zu, Carina Bauer wich erschrocken einen Schritt zurück und stand nun unmittelbar an der Wegkante. Direkt hinter ihr begann der See.
»Entspann dich mal.« Bongarts hustete heiser. »Sorry, zu viele Zigaretten. Also, ganz ruhig. Geld ist jetzt nicht so wichtig. Lass mich dich ansehen. Du bist in natura noch viel schöner als auf den Bildern. Hatte ich fast vergessen.«
Carina Bauer drehte sich bei dem Gedanken, dass Bongarts sie nackt gesehen hatte, der Magen um.
»Ich habe nicht so viel Geld verfügbar. Ich werde das erst regeln müssen.«
»Jetzt hör endlich auf, von Geld zu sprechen.«
Sein barscher Ton machte ihr Angst. Ihre Hände schwitzten. Sie spürte, dass auch ihr Rücken feucht wurde. Sie presste die Lippen fest aufeinander.
»Schöne Frau, lass uns ein Stück gehen.« Bongarts’ Stimme hatte einen schmeichelnden Klang angenommen.
Carina Bauer war unfähig, sich auch nur einen Meter zu bewegen.
Er griff nach ihrer Hand, die sie aber noch rechtzeitig zurückzog.
»Sei mal nicht so garstig. Los, gib mir deine Hand. Was sollen die Leute denken, wenn sie uns hier so sehen.« Er beobachtete ihr Gesicht. »Ich weiß genau, was du jetzt denkst. Aber du wirst es nicht wagen zu schreien.« Heinz Bongarts hatte urplötzlich ein kurzes Messer in der Hand.
Sie zuckte zusammen.
»Siehst du, ich wusste es.« Bongarts schien ihre Angst zu amüsieren. »Guter Trick, nicht? Möchtest du ihn noch einmal sehen?«
Carina Bauer schüttelte stumm den Kopf. Warum kam denn niemand? Wie hatte sie so blöd sein können, alleine hierherzukommen? Sie hätte Leuchtenberg mitnehmen sollen.
»Wenn Sie jetzt kein Geld wollen, was wollen Sie dann von mir?«
»Es ist schön, dich so unbeholfen zu sehen. Du schaust wie ein kleines Mädchen. Rainer hat mir erzählt, dass du so hübsch und intelligent gucken kannst. Weiß ich doch, hab ich mir damals gedacht. Aber dein Gesicht jetzt mag ich viel lieber. Und, na ja, das auf den Bildern natürlich.«
Carina Bauer war versucht, noch einen Schritt zurückzuweichen, aber sie spürte die weite Wasserfläche unmittelbar in ihrem Rücken.
»Rainer?«, presste sie mühsam hervor. Selbst der feste Griff um den Bügel ihrer Handtasche gab ihr keinen Halt.
»Willst du mehr über ihn wissen?« Sein Lachen klang keckernd wie das Rufen der Blesshühner. »Du kennst ihn besser als ich. Zumindest in gewissen Situationen.«
Sein Blick rann an ihr herunter wie ranziges Fett.
Sie blieb stumm.
»Hör zu, du kleine geile Schlampe, ich werde dich ficken. Aber nicht, wie du denkst. Die Bilder interessieren mich nicht, auch nicht deine Titten. Du wirst mich an deinen Geschäften beteiligen. Das ist der größte Fick, meine Kleine: dein Geld.«
Sie hatte nicht die Kraft, sich zu bewegen. Sie begriff seine Worte nicht gleich, aber sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, dass Bongarts sie geradewegs in einen Albtraum zerrte.
»Mein Geld?«
Heinz Bongarts hob seine Hand und berührte mit den Fingerspitzen ihre Wange. Sie spürte den Stahl des Messers und hörte das kratzende Geräusch, mit dem es über ihre andere Wange strich. Eine falsche Bewegung konnte tödlich sein.
»Du hast mich schon verstanden, Schätzelein. Ich kenne deine Geschäfte, und ich keine deine Geschäftspartner.« Seine Augen waren jetzt ganz nah. »Dabei kann von ›Partner‹ ja eigentlich nicht die Rede sein. Die haben alle nie anders gekonnt als zu zahlen. Und auch jetzt können sie nicht anders. Sie tun mir fast ein wenig leid, sie haben sich in dich verliebt, und du hast sie ausgesaugt wie die Kreuzspinne ihre Beute. Du bist die Spinnenfrau im Netz. Wenn sie das erkannten, war es längst zu spät.«
Carina Bauer schluckte. Bongarts wusste eine Menge. Wackerzapp musste ihm alles anvertraut haben.
»Du gehörst jetzt mir. Du wirst für mich arbeiten. Du wirst diese Staatsdiener vor meinen Augen aussaugen. Und du wirst dafür sorgen, dass mich deine Auftraggeber an dem köstlichen Saft beteiligen.«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Das war so einfach. Wackerzapp hat mich für einen Idioten gehalten, einen einfältigen Spinner, der alles tut und alles glaubt, was der ›große Meister‹ verlangt. Ich habe die Rolle gut gespielt, oder? Sag ruhig, dass ich die Rolle gut gespielt habe. Er hat nichts gemerkt und noch weniger begriffen. Stundenlang hat er mir seine dummen Geschichten erzählt, damit angegeben, wie clever er ist. Nächtelang habe ich mit ihm zusammengesessen und ihm zugehört. Er hat sich an seinen eigenen Worten besoffen, und als er endgültig zu war, weg in seinem Phantasialand, habe ich alle Informationen aufgesammelt und zu dem wirklichen Bild zusammengesetzt. Es war so einfach. Er hat sich selbst ans Messer geliefert, mein ach so cooler Motorradkumpel und Blondinenstecher. Der Dumme war am Ende er, nicht Heinz Bongarts. Denn einen Heinz Bongarts darf man niemals unterschätzen. Merk dir das.«
Carina Bauer spürte die Drohung hinter jedem einzelnen Wort. Dazu das Messer, das gefährlich nahe an ihre Kehle gerutscht war. Sie musste hier weg.
»Welche Auftraggeber meinen Sie eigentlich?«
Das Schaben auf ihrer Haut wurde härter.
»Verarsch mich nicht, Kleines. Sonst –«
»Hören Sie, ich, die Geschäfte sind noch nicht so weit, wie Sie denken.« Sie machte eine Pause. Sie musste Zeit gewinnen.
»Weiter. Red nur weiter.«
Das Messer rutschte noch ein Stückchen tiefer.
»Sie haben recht, ich habe versucht, die Verkaufsverhandlungen in Sachen Landesarchiv, nun, ich meine, in eine Richtung zu lenken, die unseren Interessen entgegenkommt. Wir haben auch entsprechende Maßnahmen ergriffen, auch das ist korrekt.« Carina Bauer wurde so förmlich wie bei einer Einlassung vor Gericht, das war ihre einzige Chance, diese Situation durchzustehen und aus ihrer Angst nicht auch noch Wahnsinn werden zu lassen. Hoffentlich wusste er nicht auch noch von den übrigen Geschäften.
»Unser Zielobjekt hat zwar den enormen Druck verspürt, den wir durch unsere Maßnahmen –«
Er unterbrach sie. »Red nicht so geschwollen. Ich weiß ohnehin alles.«
»– durch unsere Maßnahmen wie abgehörte Telefongespräche, Fotodokumente ausüben konnten. Wir warten aber noch auf seine Entscheidung.«
»Das interessiert mich nicht. Ich will sofort Ergebnisse.«
»Hören Sie, lassen Sie mich gehen. Ich – bitte! Sie tun mir weh.« Sie presste jetzt ihre Handtasche an ihre Brust, als könnte das dünne Leder sie schützen.
»Du bleibst schön hier, mein Püppchen. Wir sind noch nicht fertig.«
»Dann nehmen Sie bitte das Messer weg.«
»Das macht dir wohl Angst, was? Ja, das ist schon was ganz anderes, ein kleiner Schnitt hier und ein kleiner Schnitt da, und du vergisst mich nicht. Oder der rote Saft läuft gleich ganz aus dir raus. Mein Messer ist mein fast bester Freund. Einen Stich ins Herz kannst du nicht mit deinen albernen Erpressungen vergleichen. Deine Kunden zahlen, haben ein bisschen Angst vielleicht. Was ist das schon? Du weißt gar nicht, was richtige Gewalt ist. Aber ich verspreche dir, du wirst sie kennenlernen. Ein kleiner Schritt neben dem Weg, den du ab jetzt für mich gehst, und du bist tot.«
Das Einzige, was Carina Bauer wirklich wahrnahm, war der Gestank von Bongarts’ ungewaschenem Körper.
»Ich werde tun, was Sie von mir verlangen, aber lassen Sie mich jetzt gehen. Bitte.«
Heinz Bongarts nahm das Messer von ihrem Hals und ließ es blitzschnell verschwinden.
»Du entkommst mir nicht. Egal, was du tust. Vergiss das nicht. Sonst bist du tot. Dann nützen dir dein kleiner Arsch und deine Titten auch nichts mehr.« Bongarts trat einen Schritt zurück. »Obwohl, ich könnte sie dir einzeln abschneiden. Ganz langsam. Das würde mir gefallen.«
Er trat wieder auf sie zu. Carina Bauer zuckte zusammen. Er kam ihrem Gesicht mit seinem ganz nahe.
»Versuch keine krummen Touren. Und lass Leuchtenberg aus dem Spiel. Der Trottel wird langsam senil. Außerdem würde er dir sowieso nicht helfen. Und natürlich keine Bullen.« Er lachte und schlug sich mit der flachen Hand gegen auf die Stirn, so als habe er etwas Wichtiges vergessen. »Quatsch, das wirst du sowieso nicht tun. Denn dann gehen alle Unterlagen an die Bullen. Und dann bist du dran. Sie werden dich am Arsch packen, und du wirst im Knast verschimmeln. Sie würden dich für den Tod von Büschgens drankriegen und für den Tod der beiden kleinen Nutten. Und ich wette, sie werden auch eine passende Anklage für den Mord an Wackerzapp zusammenbasteln. Ich würde ihnen gerne dabei helfen. Anonym natürlich, aber umso überzeugender.«
Der Typ bluffte doch nur, fuhr es der Anwältin durch den Kopf. Bongarts konnte unmöglich so viele Beweise gegen sie haben. Zumal für Dinge, die sie gar nicht getan hatte.
»Was geht dir durch den Kopf, meine Süße?« Heinz Bongarts glitt mit einem Fingernagel leicht über ihre Wange. »Du meinst, du kommst aus der Nummer heil raus? Wenn du dich da mal nicht täuschst. Weißt du, der liebe Rainer hat vor seinem bedauerlichen Ableben ein paar Schriftstücke unterschrieben, freiwillig natürlich, wie du dir denken kannst, darin steht eindeutig, wer für den ganzen Schlamassel verantwortlich ist und dass er erpresst wurde. Du kannst dir sicher denken, welche Adresse er für die Bullen hinterlassen hat, nicht wahr? Es ist alles schön verwahrt. Ich bin sein ganz besonderer Nachlassverwalter, Püppi. Du siehst also, Onkel Heinz hat an alles gedacht. Komm also bloß nicht auf die Idee, mich reinlegen zu wollen. Wir werden bis an dein Ende untrennbar miteinander verbunden sein. Ich liebe diese Partnerschaft schon jetzt. Und du wirst dich auch noch daran gewöhnen. Wenn nicht, werden wir das trainieren. Ist das klar?«
Carina Bauer sah Bongarts stumm an.
»Ist das klar?«
Sie nickte.
»Ich habe dich nicht verstanden.« Bongarts legte eine Hand an sein Ohr.
Die Anwältin nickte erneut.
»Ich verstehe kein Wort. Also?«
Ihr Ja war leise, aber gefasst.
»Na also, geht doch.«
Heinz Bongarts sah sich nach allen Seiten um. Offenbar kam es auch ihm merkwürdig vor, dass ihnen nicht längst jemand begegnet war.
»So, meine kleine Vorstellung ist fast beendet. Hat sie dir Spaß gemacht?«
In ihren Augen lag ein Flehen, endlich mit der Tortur aufzuhören.
»Offenbar. Das ist schön.« Er lachte meckernd. »Nur noch eine Kleinigkeit, Schätzchen. Wo und wann wird die Kohle übergeben?«
Carina Bauer räusperte sich. Endlich Fakten. Fakten hatten ihr in ihrem Leben bisher immer Halt gegeben. »Es fließt vorerst kein Geld. In diesem Fall geht es, wie gesagt, erst darum, dass wir eine bestimmte Information bekommen über ein bestimmtes Bauvorhaben auf einem bestimmten Areal. Und zwar so bekommen, dass nur wir sie bekommen. Und dann beginnt erst die eigentliche Arbeit. Das besagte Grundstück kaufen, lange bevor die Absicht des Investors bekannt wird und dieser selbst an den Verkäufer herantritt. Dann die Abwicklung der Kaufverträge. Das ist kompliziert und kann noch Wochen, wenn nicht Monate dauern.«
»Messer?«
Sie schüttelte entsetzt den Kopf.
»Keine Zicken. Weiter.«
»Die Sache läuft so: Wir kaufen das besagte Grundstück zum Preis X. Dann gehen wir damit selbst zum Investor, dem wir zuvorgekommen sind, und verkaufen ihm das Gelände dann zu unserem Preis. Wenn alles glattgeht, werden aus unserem Einsatz von, sagen wir, drei Millionen Euro sicher mehr als 30 Millionen.«
Heinz Bongarts sagte nichts. Er schien beeindruckt. Carina Bauer ärgerte sich, dass sie so konkret geworden war. Offenbar wusste Bongarts doch nicht alles. Aber nun war es zu spät. Sie konnte nichts mehr zurücknehmen.
»Sie werden also warten müssen. Wohl oder übel.« Carina Bauer brachte tatsächlich ein Lächeln zustande, obwohl Bongarts immer noch dicht vor ihr stand und der Gestank von ranzigem Fett ihr in die Nase stach.
Die Anwältin sah, wie es in Bongarts’ Kopf arbeitete. Gut so, dachte sie. Wenn er beschäftigt war, hatte sie eine winzige Chance.
»Lassen Sie uns in Kontakt bleiben. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nicht übers Ohr haue, wirklich nicht. Sie können sich auf mich verlassen.« Ihr Lächeln wurde selbstbewusster und erstarb sofort wieder. Bongarts schien eine Entscheidung getroffen zu haben.
Er legte ihr seine schweißige Hand auf den Mund. »Hör auf, mich zuzulabern, du kleine Rechtsverdreherschlampe. Ich will sofort Kohle sehen. Über den anderen Deal reden wir noch.«
Carina Bauer unterdrückte nur mühsam ein Würgen. »Das wird nicht so einfach gehen. Dazu muss ich erst einige Dinge regeln.«
»Dann tu das, Schätzchen.« Er machte keine Anstalten, seine Hand von ihrem Mund zu nehmen. »Pass auf, ich gebe dir zwei Tage Zeit. Dann liegen 200 000 Mücken vor mir. Ist das klar?« Er nahm seine Hand weg.
»200 000? Das ist zu viel. Ich meine, das geht nicht in zwei Tagen.«
»Hör auf mit dem Scheiß. Du hast es gehört: zwei Tage. Und keine Sperenzchen. Sonst kommt der Onkel mit dem Messer. Ich werde jeden deiner Schritte beobachten. Du bist niemals allein. Denk daran. Ich bin sogar in deinem Schlafzimmer.«
Seine Augen wurden dunkel. Oder bildete sie sich das nur ein?
Bongarts grinste. »So, und nun gehst du hübsch langsam zu deinem Auto zurück. Auf der Fahrt kannst du ja schon mal überlegen, wie du es anstellst. Ich brauch die Scheinchen übrigens nicht in einem Koffer. Eine Aldi-Tüte tut’s auch.«
Er trat einen Schritt zurück und deutete eine galante Handbewegung an. »Nach Ihnen, schöne Frau.«
Als Carina Bauer sich umdrehte, um den Weg zurückzugehen, den sie gekommen war, holte Heinz Bongarts mit beiden Armen weit aus und stieß Carina Bauer in den De-Witt-See, der an dieser Stelle nicht mehr als einen Meter tief war.
Die Anwältin schrie laut auf, als sie das Gleichgewicht verlor und, mit den Armen rudernd, vergeblich nach einem Halt suchte. Sie stürzte rücklings mit einem lauten Klatschen in das aufspritzende Wasser.
»Wasch dich mal, Kleine, ich ertrag dein Parfüm nicht länger. Diesen Nuttendiesel. Du widerst mich an, du Juristenschlampe.« Mit einer verächtlichen Handbewegung entfernte sich Bongarts. Nach wenigen Metern verschwand er im Schilf.
Carina Bauer wühlte sich aus dem Uferschlick zurück an Land. Sie schnappte nach Luft. Der Seegrund war tiefgründig und trügerisch. Und der Schlick stank nach Moder und Verwesung.
Die Anwältin kroch auf den Weg zurück und blieb erschöpft sitzen. Sie zitterte. Und das lag nicht am Wasser, das wieder spiegelglatt im Sonnenlicht schimmerte. Nein, Bongarts hatte sie ins Mark getroffen. Ihr Stolz, ihre Unnahbarkeit, ihr unverbindliches Lächeln, ihre demonstrative Selbstsicherheit waren nichts mehr wert. Als hätte das Wasser all das abgewaschen.
Was sie noch viel mehr als das unfreiwillige Bad quälte, war ihre eigene Dummheit. Wie hatte sie Bongarts nur all die Einzelheiten ihrer Geschäfte verraten können? Sie spürte, dass sie langsam die Kontrolle verlor.
Sie ließ ihren Blick über den See schweifen. Kein Windhauch zog durch das Schilf, und auch der Uferwald stand völlig reglos. Angesichts der sicher schon wieder herrschenden dreißig Grad wirkte das Wasser sogar verlockend. Aber Carina Bauer hatte Wichtigeres zu erledigen als ein erfrischendes Bad, und so wrang sie nur ihre Haare aus, schlüpfte aus den ruinierten Schuhen und machte sich barfuß auf den Weg zurück zu ihrem Auto. Jetzt hoffte sie inständig, keinem Spaziergänger zu begegnen.
»Ecki? Guck mal da drüber.«
Ecki zog die Augenbrauen hoch und seufzte. Er hatte schlecht geschlafen. »Kannst du nicht wie jeder andere normale Mensch erst mal ›Guten Morgen‹ sagen? Muss ja nicht gleich fröhlich klingen. Aber ein bisschen AufmerksaMKeit wäre nett.« Ecki setzte sich und schaltete seinen PC ein. »Was gibt’s denn überhaupt so Dringendes?«
Frank schob ihm über seinen Schreibtisch hinweg ein DIN-A4-Blatt zu. »Nun lies schon.«
WIE GUT, DASS ES DICH GIBT (Am)
An meiner Seele kleben aufgesprühte Sprüche.
Geb den Nächten einen Namen, aber fall nur in den Dreck.
Schreib dir 1000 Zettel mit der Nachricht.
Komm her in meine Arme, aber ich bin niemals da.
Ich bin gern in deiner Nähe, wenn du schon weg bist.
Steh am Fenster ohne Namen, mir ist kalt, so wie ich bin.
Fass in deine dunklen Haare, liebe lieber nur auf Sicht.
Schließe meine Türe, aber gehe niemals fort.
Du hast geschafft, dass ich mich schuldig fühle, und du hast recht.
Du hast geschafft, dass ich in meinem Leben wühle, und du hast recht.
Du hast geschafft, dass ich deine Liebe wieder fühle, und du hast recht.
An meiner Seele kleben aufgesprühte Sprüche.
Geb den Nächten einen Namen, aber ich fall hin.
Schreib dir 1000 Zettel mit der Nachricht.
Komm her in meine Arme, aber ich bin niemals da.
Du hast geschafft, dass ich mich schuldig fühle, und du hast recht.
Du hast geschafft, dass ich in meinem Leben wühle, und du hast recht.
Du hast geschafft, dass ich deine Liebe wieder fühle, und du hast recht.
Bleibt nur noch Zeit für einen Kaffee.
Seh mich nahe bei dir liegen, blaue Flecken auf den Knien.
Seh die Zettel auf dem Boden, komme nicht mehr zu dir hin.
Seh hinein in meine Seele, schick meine Liebe hinterher.
Du hast geschafft, dass ich mich schuldig fühle, und du hast recht.
Du hast geschafft, dass ich in meinem Leben wühle, und du hast recht.
Du hast geschafft, dass ich deine Liebe wieder fühle, und du hast recht.
Du hast geschafft, dass ich mich schuldig fühle, und du hast recht.
Du hast geschafft, dass ich in meinem Leben wühle, und du hast recht.
Du hast geschafft, dass ich deine Liebe wieder fühle, und du hast recht.
»Ja, und?« Ecki schüttelte den Kopf. »Was soll das jetzt?«
Frank reagierte unwirsch. »Die ersten Zeilen hab ich dir doch schon gezeigt. Äh, das ist mein erster Songtext für die Band.«
»Jaa, schön so weit.« Eckis Lächeln stand auf der Kippe zur Scheinheiligkeit.
»Jaa, schön so weit? Nur ›schön so weit‹? Mensch, in den Zeilen steckt mein Leben.«
Oh, Gott, was sage ich ihm bloß? Wenn er ehrlich antwortete, wäre es mit ihrer Freundschaft vorbei. Der Text hatte so gar nichts, was ihn ansprach. »Auf jeden Fall klingt es interessant. Ich mein, da steckt eine Menge Blues drin. Auf jeden Fall.«
»Verarsch mich nicht. Gib her, du hast ja keine Ahnung. In dem Text steckt jedenfalls mehr drin als in deinem Schlagerquark. Echt. Wenn ich das Gesülze höre, das du dir Tag für Tag reintust.«
Gesülze. Das war genau das Wort, das er für Franks Text gesucht hatte. Aber er hütete sich, weiter auf das Elaborat seines Freundes einzugehen.
Knurrig zog Frank den Text wieder zu sich. »Ich habe die halbe Nacht über mein Leben nachgedacht, und sozusagen als Fazit ist mir das hier eingefallen.«
»Als Fazit?«
»Blödmann.«
»Und was sagt die Band dazu?«
»Die kennt den Song noch nicht.« Frank ließ das Papier in einer Schreibtischschublade verschwinden. »Ich wollte erst deine Meinung hören.«
Das wiederum versöhnte Ecki. »Oh, nett von dir. Wo du doch an meinem Bluesverstand zweifelst.« Er ahnte, warum Frank ihm den Liedtext gezeigt hatte.
»Ich kann mir eine gefühlvolle Ballade vorstellen, mit einem krachenden Refrain. Ein bisschen Pianogeklimper im Hintergrund, ein satter Bass, ein punktgenaues Schlagzeug, Gitarrenlicks, die dir die Tränen in die Augen treiben, und zu allem ein wenig Bluesharp.«
»Klingt wie ein gutes Rezept.« Und würde auch zu WDR 4 passen, dachte er den Satz weiter.
»Hm.«
»Lisa wird sich jedenfalls freuen.«
Frank sah Ecki misstrauisch an. »Worüber?«
»Dass du diesen Song über sie geschrieben hast. Du meinst damit doch Lisa, oder?« Nun hatte er sich doch ein Stück aus dem Fenster gelehnt. »Ist er etwa nicht für sie? Hast du beim Schreiben nicht an sie gedacht?«
Frank fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ach, vergiss den Text einfach. Das ist ein Bluessong, mehr nicht.«
Davon war Ecki überhaupt nicht überzeugt. Aber das wollte er für den Augenblick lieber für sich behalten. Er konnte Frank gut verstehen. Auch er hatte im Augenblick eine schwere Phase mit Marion durchzustehen. Sie hatte ihre eigenen Ansichten, was die Erziehung der Kinder anging, pochte, wie er meinte, starrköpfig auf die unbedingte Einhaltung von Prinzipien. Er hingegen konnte den Drang der Kleinen nach ein bisschen Freiheit und Unabhängigkeit sehr wohl verstehen, schließlich kamen sie mit jedem Tag dem »schwierigen Alter« ein Stück näher. Aber statt sich mit dem eigentlichen Problem auseinanderzusetzen, warf Marion ihm vor, immer öfter immer später vom Dienst nach Hause zu kommen, und wertete das als Desinteresse an der Familie.
Er hatte Marion versprochen, dass nach der Aufklärung der Mordserie alles anders würde. Aber sie hatte diese Zusage nur mit einem Schulterzucken quittiert. Das hatte wehgetan, aber er hatte es hingenommen. Ihm hatte einfach die Kraft für noch eine Auseinandersetzung gefehlt.
Frank hatte Eckis Schweigsamkeit als Zustimmung gedeutet. »Siehst du, so einfach ist das. Ich habe die Nacht mit ein paar Bier am PC verbracht, und fertig ist die Laube.«
»Hast du einen Plan für heute?« Ecki verscheuchte die Gedanken an seinen eigenen Blues mit Marion.
»Wenn du dich erinnerst, wir haben gleich eine Besprechung mit unserer Staatsanwältin.«
Stimmt, die hatte Ecki völlig vergessen!
»Wir müssen sie davon überzeugen, dass sie ihren Kollegen in Kempten um Amtshilfe bitte. Ich will in dieser Wohnung in Rottach nach Spuren suchen lassen. Wenn wir dort Fasern finden würden, die mit unseren übereinstimmen, wären wir ein Stück weiter.«
Robert Mayr sah zum Rottachberg hinauf und dann hinüber zum Falkenstein. Auf der alten Salzstraße wäre jetzt sicher mehr Schatten. Dann schaute er auf seine Uhr. Er langweilte sich. Die Kollegen von der Spurensicherung ließen sich wieder einmal alle Zeit der Welt. Seit drei Stunden schon puderten und wedelten sie in der Wohnung an Türen, Fenstern, Schränken, Tischen und Kloschüsseln herum.
Das Wetter war dazu gemacht, in den See zu springen und sich abzukühlen. Stattdessen stand er vor dem Haus in der Sonne. Nach Abschluss der Aktion würde er sich mit einer deftigen Brotzeit beim Martin belohnen. Das schwor er sich nun bereits zum fünften Mal. So viel Zeit würde er sich nehmen, bevor er zurück ins Präsidium fuhr. Na ja, vielleicht würde er als Erstes auf eine schnelle Milch bei der alten Bäuerin vorbeischauen. Vielleicht hatte sie ja noch ein paar Erinnerungen für den »Herrn Kommissar« parat. Er zückte sein Portemonnaie. Das Kleingeld würde für ein Glas Milch reichen.
Zum wiederholten Mal wedelte Mayr einige lästige Fliegen weg, die ihn penetrant anflogen. Zu warm, zu viele Fliegen.
»Wir haben’s so weit.«
Robert Mayr schaffte es, nicht vor Schreck herumzufahren. Er steckte die Geldbörse wieder ein.
»Und? Habt’s ihr was gefunden?«
Mayr klemmte die Daumen hinter die Hosenträger. Er trug neuerdings eine Lederhose. Er fand, sie entsprach genau seinem neuen Lebensgefühl. Erst die Ermittlungen in Sulzberg und Umgebung hatten ihm die Allgäuer Lebensart wieder nahegebracht, die er viele Jahre lang nicht vermisst hatte. Vielleicht war es aber auch die Hochzeitsplanung mit Martina gewesen.
»Das Übliche halt: Fasern, Fingerabdrücke, Staub. Interessant finde ich besonders die Reste unter dem Rand der Toilettenspülung. Die wird ja von den meisten vergessen beim Reinigen.« Der Kriminaltechniker mit dem Gesichtsausdruck eines chronisch Magenkranken zog die enge Kapuze seines weißen Einmaloveralls vom Kopf und kratzte sich ausgiebig. Er sah ein bisschen so aus, als wäre er soeben einer Sojuskapsel entstiegen oder hätte wenigstens die Schaltzentrale eines hypermodernen Allgäuer Melkstandes für eine Zigarettenlänge verlassen.
»Krätze?« Mayr ließ seinen Blick starr auf den Bergrücken ruhen. Der Typ hatte anscheinend keine Manieren.
»Nee, keine Anzeichen. Auch kein Sperma. Nix dergleichen haben wir gefunden.«
Der Kollege klang ernsthaft bedauernd. Die Fliegen hielten sich mittlerweile an ihn.