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Fort Indiantown Gap, Pennsylvania, Sol III
0523, 5. August 2007
»Mann!«, sagte Stewart, als er das Kompaniehauptquartier betrat. »Ist ja gigantisch!« Hinter ihm fing der Himmel an sich aufzuhellen, aber man hatte immer noch Mühe, die Hand vor den Augen zu sehen. ›Bei Sonnenaufgang‹ zu sagen war daher eher eine Formalität.
Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn erstarren.
Der Raum war nicht sonderlich groß, in einem Trailer von normaler Breite wäre er wohl das Wohnzimmer gewesen. Der Boden war mit billigem Linoleum ausgelegt, die Glühbirnen an der Decke verbargen sich hinter einfachen Plastikverschalungen. An der der Tür gegenübergelegenen Wand stand ein Schreibtisch aus unbearbeitetem Sperrholz, auf dem ein Telefon stand. Über dem Schreibtisch hing eine Tafel, die jeden Ankömmling bei der Bravo-Kompanie First Bataillon 555th In-fantry, ›The Real Black Panthers‹, begrüßte. An der rechten Seite führte eine Tür in einen Aufenthaltsraum, links davon zweigte ein Gang ab.
Hinter dem Schreibtisch saß ein dicklicher Sergeant, den Stewart nicht kannte und der mit unzähligen Lagen von Isolierband an einen Klappstuhl gefesselt war; die Augen quollen dem Mann über einem Knebel, der ihm im Mund steckte, fast aus dem Kopf.
Hinter dem Schreibtisch hatte Drill Corporal Adams seinen Hintern auf einen Drehstuhl gepflanzt und saß, mit hoch gelegten Füßen und geschlossenen Augen da, als wäre er eingeschlafen. Eine klobige, graue Maschinenpistole unbekannten Typs lag auf dem Schreibtisch, ihr überdimensionierter Lauf wies auf die Tür. Seine Hand ruhte locker auf dem Pistolengriff. An der Tür zum Aufenthaltsraum standen drei Mitglieder seiner Truppe, die ähnlich bewaffnet waren und ihre Maschinenpistolen an Schulterriemen trugen. Alle drei grinsten Unheil verheißend.
»Was ist denn hier los?«, fragte Stewart und trat einen Schritt vor, damit seine Truppe hinter ihm eintreten konnte. Als die Männer das Bild sahen, das sich ihnen in dem Büro bot, schwärmten sie sofort aus, und ein paar von ihnen postierten sich an den Fenstern. Wilson vollführte eine halbe Drehung, um Stewarts Rücken zu decken.
Adams hob bedächtig den Kopf und öffnete ein Auge einen Spalt.
»Top will dich in seinem Büro sprechen«, schnarrte er. »Jetzt.« Er deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf den Korridor und schloss die Augen wieder.
Stewart blickte noch einmal in die Runde und ging dann in die Richtung, die der Sergeant ihm gewiesen hatte. Der Korridor verlief an der Wand der Baracke entlang und führte in einen weiteren nicht unterteilten größeren Raum. In dem Raum stand ebenfalls ein Schreibtisch, über dem Ampele zusammengesunken war und mit offenem Mund schnarchte. Ein Private von der MP saß auf dem dazugehörigen Sessel und reinigte auf der breiten Brust des Schlafenden eine 9-mm.
In der Wand links von dem Korridor waren drei Türöffnungen. Über der ersten hing eine handgeschnitzte Tafel mit der Aufschrift ›The Swamp‹, die zweite war nur mit einem Stück Pappe gekennzeichnet, auf das jemand mit schwarzem Filzstift ›Latrine‹ geschrieben hatte. Die letzte Tür stand offen.
Auf der Tür gab es eine Bronzetafel, in die ›First Sergeant Morales‹ eingraviert war. Das Bronzeschild war in einen teuren Mahagonirahmen gefasst. Dicht neben der Türangel konnte man einen großen Stiefelabdruck erkennen. Stewart musterte ihn einen Augenblick lang im Licht, das von beiden Seiten in den Korridor fiel, dann hob er den Fuß und verglich das Profilmuster neben der Türangel mit dem seinen. Anschließend hielt er seinen Stiefel neben die Trittspur. Ampeles Stiefel waren ebenfalls sichtbar. Er sah sie an, blickte wieder zur Tür, dann noch einmal zu Ampele und erneut zur Tür. Wieder schüttelte er den Kopf und klopfte vorsichtig an den halb zerfetzten Türstock. Das Geräusch entlockte Ampele ein lautes Schnauben, gleich darauf fing er wieder zu schnarchen an.
»Herein!«, dröhnte Pappas' Stimme aus dem Raum.
Stewart trat aus spartanischer Schmucklosigkeit in eine Oase der Opulenz. Der Raum war sehr klein, wurde aber von wertvollen Gegenständen geradezu erdrückt. Der Schreibtisch war Mahagoni, vermutlich massiv, handgearbeitet und erst kürzlich auf Hochglanz poliert. Ein 22-Zoll-Flachbild-Monitor eines Premium-Herstellers stand darauf. Den Boden bedeckten dicke Orientteppiche, an den Wänden hingen Drucke unterschiedlicher Qualität, und umgearbeitete Öllampen aus dem neunzehnten Jahrhundert tauchten den Raum in ein angenehm gelbliches Licht, das einen ansprechenden Kontrast zu dem dunkelroten Holz bildete.
Der First Sergeant stand nach vorne gebeugt vor einem großen antiken Safe und drehte an dessen Knopf. Er sah sich über die Schulter um und richtete sich dann auf. Aus seinen Augen leuchtete die blanke Wut.
»Stewart!«, knurrte Pappas. »Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt?«
Stewart verkniff sich die schnoddrige Antwort, die er sich auf dem Weg vom Exerzierplatz zu den Baracken ausgedacht hatte. Allein schon der Fußabdruck draußen an der Tür machte ihn vorsichtig.
Er nahm Rührt-Euch-Stellung ein. »Tut mir Leid, First Sergeant. Wenn wir damit gerechnet hätten, dass Sie Probleme haben, hätten wir uns mehr beeilt. Ich gebe ja zu, dass ich das, was Sie da von wegen ›bei Sonnenaufgang‹ gesagt haben, ein wenig großzügig ausgelegt habe. Dafür habe ich keine Entschuldigung.«
Pappas schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie's. Ich habe gewusst, dass Sie überziehen würden, aber ich dachte, es wäre wahrscheinlich keine besonders gute Idee, dort draußen jemanden nach Ihnen zu schicken«, räumte er ein und deutete mit einer Kinnbewegung auf den Exerzierplatz. »Wir haben hier tatsächlich Probleme. Dieser Safe hier muss geöffnet werden«, fuhr er fort, »und dieser Computer geknackt.« Dabei wies er auf die Station auf dem Schreibtisch.
Stewart zuckte mit keiner Wimper. »Wilson«, sagte er mit etwas lauterer Stimme, »hol mal Minnet.« Er ging zu dem Safe hinüber, zog ein kleines schwarzes Gerät mit einem LED-Display aus einer Tasche seiner Uniformbluse und drückte es gegen die Vorderseite des Safes. Pappas warf einen Blick darauf, schüttelte den Kopf und trat ein paar Schritte zurück.
»Yeah, Boss?«, fragte Minnet und schob sich zur Tür herein. Der elfenhafte Private war noch ein Stück kleiner als Stewart und bewegte sich blitzschnell wie ein Florett. Er blieb stehen und sah sich um. »Jesus im Himmel!« Er griff nach einer kleinen Porzellanfigur, einer Ballerina, und warf einen Blick auf die Unterseite. »Verdamm mich, echt Meißen! Das Ding ist ein Vermögen wert!«
»Stellen Sie's wieder hin«, polterte Pappas ohne aufzublicken, ob die Figur etwa verschwand. »Das ist Beweismaterial.«
Stewart nickte, und die Figur wanderte wieder auf das Regal zurück.
»Und das Feuerzeug auch«, sagte Pappas, ohne von den Akten aufzublicken, die er in einem unverschlossenen Aktenschrank gefunden hatte.
Minnet riss überrascht die Augen auf, holte aber das massiv goldene Feuerzeug aus seinem Ärmel und stellte es wieder auf den Schreibtisch.
Stewart schüttelte den Kopf. »Minnet, nimm dieses Ding hier auseinander«, sagte er und deutete dabei auf den Computer.
Der Private nickte und machte sich ans Werk.
Stewart drehte das Einstellrad des Safes ein paarmal vorwärts und dann zurück. Nach ein paar Augenblicken nickte er und fing an, den Einstellknopf vor und zurück zu drehen; gleich darauf war der Safe aufgesperrt.
»Nicht öffnen«, herrschte Pappas ihn an. »Wir brauchen den Alten.« Er ging zur Tür, blieb dann aber noch einmal stehen. »Und dass mir keiner …«
»Tun wir nicht«, sagte Stewart.
»Okay«, nickte Pappas und ging hinaus.
»Dass mir keiner was?«, fragte Minnet und studierte das Display des kleinen schwarzen Geräts, das er aus seiner Brusttasche geholt hatte. Er runzelte die Stirn und tippte an einen Schalter. Dann lächelte er zufrieden.
»Dass mir keiner etwas nimmt«, sagte Stewart, »oder etwas bewegt oder etwas berührt, was nicht notwendig ist.«
»Oh.« Der Private drückte einen Knopf und schüttelte den Kopf. »Die Leute halten sich für so schlau«, murmelte er. Er schob eine Diskette in den Computer und fuhr ihn hoch. Als auf dem Bildschirm ein Passwort verlangt wurde, drückte er den Knopf an seinem schwarzen Kästchen. Der Computer prüfte den Eintrag, entschied, dass er ihm gefiel, und ließ ihn ein. »Das passiert, wenn man das Passwort für das CMOS ändert. Was suchen wir eigentlich?«, fragte er gleich darauf.
»Sehen Sie sich um«, sagte Pappas, der, gefolgt von Lieutenant Arnold und dem MP-Mann, der seine Waffe ins Holster zurückschob, zur Tür hereinkam. »Glauben Sie mir, normalerweise hat ein First Sergeant kein so nobles Büro.«
Stewart, den jetzt die Neugierde gepackt hatte, zog die Safetür auf und stieß einen lang gezogenen Pfiff aus. »Mann!«, rief er aus. »Seh sich das einer an. Dicke Stapel Geldscheine, eine Schachtel mit Fläschchen, in denen etwas ist, das sich Tolemiratin nennt, und ein paar grüne Kristalle.« Er nahm einen davon und musterte ihn scharf. »Das sind keine Smaragde«, fuhr er dann fachmännisch fort. »Was sind das für Dinger?«
»Also, ich habe hier eine Datei, die sich ›Kompanieausgaben‹ nennt«, sagte Minnet, um auch seinen Beitrag zu leisten. »Und sie ist verschlüsselt.«
»Dann entschlüsseln Sie sie«, wies Lieutenant Arnold ihn kühl an.
Der Private bemerkte den Blick des Dienst tuenden Kompaniechefs und begann hektisch die Tasten zu malträtieren.
»Sergeant First Class Thomas Morales?«, sagte der MP Lieutenant. Er rümpfte die Nase wegen des Geruchs von Alkohol und Pheromonen, der ihm aus dem Apartment in Annville entgegenschlug. Der halb bekleidete Mann um die dreißig stellte die Versuche ein, sein Uniformhemd überzustreifen. Hinter ihm konnte der Lieutenant eine weibliche Gestalt erkennen, und wenn er sich nicht sehr täuschte, war die Wasserstoffblondine auf dem Bett noch minderjährig. Der GKA-Sergeant trug eine Brille mit Gläsern wie Coca-Cola-Flaschenböden und hielt den Kopf ständig leicht zur Seite geneigt. Sein vorstehender Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er zustimmend nickte.
»Sie sind verhaftet«, sagte der Lieutenant, als der Unteroffiziersdienstgrad in seiner Begleitung vortrat und dem ehemaligen Dienst tuenden First Sergeant Handschellen anlegte. »Sie werden beschuldigt, geheime galaktische Technologien unterschlagen und auf den Schwarzen Markt gebracht zu haben. Sie haben das Recht zu schweigen …«