29
Andata Provinz, Diess IV
0019 GMT, 19. Mai 2007
Eine Reise von hundert Metern fängt mit einem einzigen Stoß an, dachte O'Neal. Die Anzugbeleuchtung hatte die Dunkelheit verdrängt, die ihn einhüllte, aber die verschlungenen Massen von Piasbeton und Gebäudeschutt, die man dahinter erkennen konnte, waren mindestens ebenso deprimierend.
»Okay, ist dir inzwischen eine Idee gekommen?«, fragte er sein AID.
»Nur eine. Auf hundertdreiundzwanzig Grad gibt es in drei Komma fünf Meter Entfernung eine kleine, freie Stelle. Wenn Sie es schaffen, sich dorthin durchzuzwängen, können Sie sich zum nächsten Ausgang durcharbeiten, wenn Sie mit den Aktivatorladungen Ihrer Gravmunition kleine Öffnungen frei sprengen.«
»Was, du meinst, ich soll sie als Sprengstoff einsetzen? Wie denn?«
»Wenn Sie eine der Patronen fest verkeilen und dann mit Ihrer Gravpistole darauf schießen, dann zerreißt das die Antimaterieladung und gibt die gebundene Energie als Explosion frei.«
»Das klingt … seltsam, aber möglich. Okay, ich brauche ja nur drei Meter nach rechts zu schaffen. Wie drehe ich mich denn um? Schon gut … ich habe eine Idee.« Seine rechte Hand befand sich glücklicherweise ganz in der Nähe seiner Gravpistole. Die biomechanische Muskulatur seines Anzugs hatte mit dem Bauschutt wenig Mühe, und er seufzte, als sein Handschuh den vertrauten Kolben der Waffe ertastete. Er zog sie heraus und legte den Lauf über seinen Bauch-Kürass, dem Punkt, der ihm am meisten eingeengt vorkam. Dann flüsterte er ein kurzes Stoßgebet zu den Göttern, die vielleicht über diesen stauberfüllten Planeten wachten, und gab dann einen Einzelschuss in die Piasbetonmasse ab.
Die Explosion hallte unerwartet laut durch seinen Panzer, durch Kontakt übermittelter Lärm, der bislang angenehm gedämpft gewesen war. Trotz der dämpfenden Unterschicht hallte es in seinen Ohren, als ob ihm jemand einen Blechkübel über den Kopf gestülpt und kräftig mit einem Stock dagegen geschlagen hätte. Einen Augenblick lang verspürte er eine gewisse Lockerung, als er sich schnell nach links rollte, dann verklemmte sich seine rechte Schulter wieder. Wenn er nicht in dem Anzug gesteckt hätte, hätte er die Schultern nach innen drücken und sich umdrehen können. Andererseits – ohne Anzug wäre er jetzt tot. Die externen Monitore zeigten ein sehr niedriges Sauerstoffniveau und Aerosoltoxine an, vermutlich eine Folge von all dem verbrannten Fischöl und den sonstigen Bränden.
Er drückte den Lauf der Waffe nach oben und drehte den Kopf vorsichtig zur Seite. Wenn der Schuss den Helm oder einen Teil seiner Panzerung traf, würde er ebenso wirksam püriert werden wie der arme McPherson beim ersten Kontakt mit dem Feind. Deshalb drückte er den Lauf so weit wie möglich in die Spalte und gab einen weiteren Schuss ab. Diesmal schlitterte er wirkungslos über den Piasbeton und prallte von seinem Kürass ab. Der relativistische Tropfen hinterließ eine tiefe, glühende Furche in dem Panzer, der in dem vorangegangenen Gefecht Tausenden von langsameren Nadeln Widerstand geleistet hatte, und die Hitze verteilte sich durch die Unterschicht.
Verstört versuchte er es noch einmal und schaffte es beim zweiten Versuch, den Piasbeton zu sprengen. Er krümmte sich wie eine Katze und lag plötzlich auf dem Bauch, mit dem Gesicht nach unten. Obwohl er an mehreren Stellen Druck verspürte, konnte er die Trümmerteile doch ein wenig verschieben, was er der titanischen Kraft zu verdanken hatte, die sein Kampfpanzer ihm verlieh. Nachdem er sich eine Weile hin und her gewunden hatte, glitt die Platte, die er links von seiner Schulter gesprengt hatte und die jetzt auf seiner rechten Schulter lag, mit einem laut hallenden Krachen unter ihn, und rechts oben von ihm tat sich eine kleine Öffnung auf. Er steckte die Pistole in das Holster zurück, und seine rechte Hand tastete nach einem geeigneten Vorsprung im Gestein, den ihm seine Anzugbeleuchtung zeigte. Als er jetzt ein Stück des Ceramet-Gerüsts hatte, an dem er sich festhalten konnte, zerrte er sich daran nach oben. Da dies die Richtung war, in die er sich bewegen wollte, stemmte er die Füße gegen den Bauschutt, von dem er sich befreit hatte, und stieß nach oben. Er wurde dafür belohnt, indem er abrupt nach rückwärts glitt.
Nach erheblichen weiteren Anstrengungen und nachdem er noch zweimal gezwungen war, seine Pistole einzusetzen, da sich jeweils nach heftigem Rütteln Plasbetonplatten in seinem Anzug verkeilt hatten, erreichte er schließlich die freie Stelle, die sein AID ihm versprochen hatte. Über seinem Kopf war irgendein undefinierbarer Mechanismus. Dieses große Ding, irgendein rätselhaftes Stück galaktischer Maschinerie, hatte die Öffnung geschaffen. Er trank einen Schluck Wasser, setzte sich hin und überlegte einen Augenblick, versuchte sich über seine Situation klar zu werden. Kein Karabiner, den hatte er irgendwann bei der Explosion verloren. Schultergranatwerfer abgesäbelt. Dies zu reparieren war eine Kleinigkeit, vorausgesetzt, er verfügte über die nötigen Ersatzteile, die er aber nicht hatte. 128 000 Schuss abgereichertes Uran verblieben, 3-mm-Projektile mit Antimaterieladung, die ohne Karabiner ziemlich nutzlos waren. Gravpistole und 4500 Schuss. 283 Granaten, im Werfer einsetzbar oder als Handgranaten. 1000 Meter für 10.000 Kilo Zugkraft getestete Mikroleine, Universalklammer und Winsch. C-9, vier Kilogramm. Sprengkapseln. Diverses pyrotechnisches und sonstiges Sprengmaterial. Personenschutzkraftfeld, nutzlos gegen kinetische Waffen, wie er allen erklärt hatte, aber sonst durchaus zu gebrauchen. Sein Anzug verfügte über Luft, Nahrung und Wasser für mindestens einen Monat.
Unglücklicherweise würde er bei seinem augenblicklichen Energieverbrauch in zwölf Stunden keinen Saft mehr haben; die kinetischen Dämpfersysteme hatten Überstunden einlegen und nicht nur die Auswirkungen der Ölexplosionen, sondern auch den Regen von Bauschutt abschirmen müssen. Wenn man dazu noch die unerwartete und noch nie da gewesene Belastung zählte, die seine letzte Kletterpartie dargestellt hatte, war das ein Rezept für eine Katastrophe.
Mike nahm einen Bissen von seiner Anzugverpflegung. Ah, ein Brei aus Schweinefleisch und gebratenem Reis. Die semibiotische Innenauskleidung des Anzugs absorbierte sämtliche Abfallstoffe des Körpers, Sauerstoff und Stickstoff aus der Haut, tote Hautzellen, Schweiß, Urin und, nun ja, eben alles, und konvertierte diese Stoffe wieder in atembare Luft, trinkbares Wasser und erstaunlich essbare Lebensmittel. Tatsächlich war das Essen recht schmackhaft und wechselte ständig; im Augenblick war gerade Brokkoli an der Reihe. Die Struktur war immer noch breiig, aber das System verbrauchte wenig Energie. Und Energie war das Einzige, was ihm Sorge bereitete, solange er nicht näher darüber nachdachte, wo sein Essen herkam.
Nun, wenn er zwölf Stunden dafür brauchte, sich durch den Bauschutt zu arbeiten, könnte er ebenso gut tot sein; bis dahin wäre er weit hinter den Linien. Wenn er allein war, würde er tot sein. Andererseits …
»Michelle, wie viele weitere Mitglieder des Bataillons sind hier unten und einsatzfähig?« Das GalTech-Kommunikationsnetz konnte mühelos Schutt und Ruinen durchdringen und präzise Positionen einer jeden Einheit feststellen.
»Achtundfünfzig. Der Ranghöchste ist Captain Wright von der Alpha-Kompanie. Captain Vero ist ebenfalls eingeschlossen, unter Qualtrev, aber er ist schwer verletzt, und sein AID hat Hiberzine eingesetzt. Zweiunddreißig Personen werden überleben, wenn sie innerhalb von einhundertachtzig Tagen in eine medizinische Versorgungseinheit der Klasse I gebracht werden. Alle befinden sich augenblicklich in Hibernation.«
Mike wippte in seiner Panzerung auf dem Haufen Piasbeton vor und zurück, um den Boden unter seinen Füßen zu stabilisieren. »Okay, zeige mir eine 3D-Karte mit Standorten und mit nach Rang gestuften Helligkeitswerten. Nicht Einsatzfähige in Gelb, Einsatzfähige in Grün.«
Noch während er das sagte, baute sich die Karte vor seinen Augen auf. Die meisten Schwerverletzten befanden sich in der Umgebung der Ölexplosion oder der Jericho-Ladungen.
»Sind von den anderen auch welche dabei, sich auszubuddeln?«
»Ein paar. Die AIDs tauschen sich über die Methode aus. Am Anfang war es schwierig, ohne eine Pistole anzufangen, aber Sergeant Duncan von der Bravo-Kompanie hat vorgeschlagen, Granaten einzusetzen. Bis jetzt funktioniert das.«
»Verbindung mit Captain Wright«, sagte Mike, erfreut jemanden zu haben, der an der Lösung mitarbeitete.
»Yes, Sir.« Ein Zirpen, dann halblautes Fluchen.
»Ah, Sir?«
»Ja! Wer ist das?« Captain Harold Wright blickte auf sein Head-Up-Display. »O O'Neal. Ihre grandiose Idee hat prima funktioniert. Gratuliere.«
»Das hätte geklappt, wenn die Brennstoffexplosion nicht gewesen wäre«, meinte Mike ein wenig verärgert. Von der Decke des Hohlraums rieselte Staub.
»Dazu gibt es Alternativpläne, Lieutenant. So wie die Dinge jetzt stehen, ist das Bataillon kampfunfähig, ganz zu schweigen davon, dass wir in diesem verdammten Bauschutt feststecken! Noch irgendwelche grandiosen Ideen?«
»Wir arbeiten uns zur Peripherie vor, sammeln die Überlebenden ein und dringen zur eigenen Front vor?«, fragte Mike eher rhetorisch.
»Und wie stellen wir das an?«, erkundigte sich der Captain.
»Ihre AIDs haben die Pläne dafür, Sir. Ich bin zu einem Hohlraum vorgedrungen und will mich jetzt zur Peripherie durcharbeiten. Im Grunde genommen sprengen wir uns den Weg frei.«
Hai Wright nahm sich einen Augenblick Zeit, den Plan zu betrachten, den das AID ihm zeigte. »Okay, das könnte einigermaßen klappen. Ich muss zusehen, dass ich die anderen Unteroffiziersdienstgrade zusammen bekomme …«
»Sir, die AIDs können ein Organigramm skizzieren, das darauf basiert, wer uns zur Verfügung steht und es nach draußen schafft. Mein AID ist wesentlich erfahrener als das Ihre. Wenn Sie wollen, kann es eine Konferenzschaltung mit dem Ihren aufbauen und ihm behilflich sein …«
»So wie ein gewisser hilfsbereiter Lieutenant?«
»So hatte ich es mir eigentlich nicht gedacht.«
»Nun, was auch immer Sie sich gedacht hatten, nach dieser Darstellung, die Ihr hilfreiches AID mir gerade geliefert hat, sind Sie der einzige überlebende Lieutenant hier unten. Gratuliere, XO«, schloss er mit der Andeutung eines Lächelns.
»Ich stehe außerhalb der Kommandokette, Sir.«
»Jetzt nicht mehr. Außerdem kann man aus dieser Darstellung erkennen, dass wir ziemlich weit voneinander getrennt herauskommen werden. In Ihrem Bereich sind etwa fünfunddreißig Soldaten. Sobald Sie sich konzentriert haben, können wir versuchen, durch diese Versorgungstunnels zusammenzukommen. Aber zuerst müssen wir zusehen, dass wir uns selbst freibuddeln. Kontaktieren Sie Ihre Leute, das schließt Sergeant First Class Green ein, den Platoon Sergeant meines zweiten Platoons. Sehen Sie zu, dass Sie sie auseinander sortieren und in Marsch setzen und melden Sie sich dann wieder bei mir.«
»Achten Sie auf Ihren Energiestand, Sir«, warnte Mike nach einem Blick auf sein eigenes Display, auf dem seine schwindenden Energiereserven abzulesen waren. »Meiner ist schon ganz unten. Wir können Energie abzapfen, wenn wir welche finden, aber bis dahin …«
»Richtig. Machen Sie das den Leuten klar. Und jetzt los, XO.«
»Airborne, Sir.«
In den nächsten zwei Stunden nahm er Kontakt mit Soldaten und Unteroffiziersdienstgraden auf und stellte Einheiten zusammen. Diejenigen von ihnen, die bewegungsfähig waren, wurden beauftragt, in den Trümmern verkeilte Kameraden zu befreien. Die Idee, Handgranaten einzusetzen, erwies sich als brauchbar, mit Ausnahme eines Unglücksraben von Private, der, nachdem er die Handgranate gezündet hatte, feststellte, dass er den Arm nicht zurückziehen konnte. Glücklicherweise war die GalTech-Medizintechnik imstande, die abgerissene Hand zu regenerieren – vorausgesetzt natürlich, dass sie es bis zu den eigenen Linien schafften. Da der Schmerz nur von ganz kurzer Dauer war – der Anzug dichtete die Bruchstelle ebenso blitzschnell ab wie er Schmerzstiller injizierte, löste der Vorfall eine ganze Anzahl makabrer Witze auf seine Kosten aus. Als der Mann dann noch erwähnte, dass er unmittelbar vor der Explosion gesagt hatte, »Das wird jetzt gleich weeeeeh tun«, wurde es noch schlimmer.
Sieben Stunden nach der Detonation hatten alle bergungsfähigen Soldaten trotz gelegentlicher Rückschläge die Versorgungstunnels erreicht. Captain Wright und drei weitere Angehörige der Alpha-Kompanie gehörten bedauerlicherweise allerdings nicht mit dazu. Sie steckten in einem riesigen Haufen schwerer Maschinenteile fest. Trotz wiederholter Versuche, an den Captain heranzukommen, war es niemandem gelungen, durch das Gewirr von Wrackteilen durchzudringen. Nachdem alle anderen Soldaten sich aus dem Gebäudeschutt befreit hatten, wies Captain Wright die zurückgebliebenen nicht bergungsfähigen Soldaten an, ihre Hibernationssysteme zu aktivieren, übergab dann die Kommandogewalt an Lieutenant O'Neal und aktivierte sein eigenes System.
O'Neal musterte die Gruppe niedergeschlagener Soldaten, die sich in einem Abwasserschacht versammelt hatten. Das Ende des zwei Meter hohen, abgeflachten Rohrs war zerfetzt und hing über einer von Menschenhand geschaffenen Höhle, die die Soldaten im Laufe der letzten paar Stunden ausgeschaufelt hatten. Einer der Gruppenführer hatte sich bis ans Ende der Röhre vorgearbeitet und gemeldet, dass sie dort verstopft war. Aber damit konnten sie sich auseinander setzen, sobald sie so weit waren.
»Sergeant Green?«
»Ja, Sir?«
»Sagen Sie den Männern, dass sie etwas essen sollen und anschließend einen Waffen- und Systemcheck durchführen. Munition in Bereitschaft. All die üblichen Maßnahmen nach einem Gefecht. Bis das erledigt ist, sollte ich mir Klarheit über unsere Umgebung verschafft haben und werde dann weitere Befehle erteilen.«
»Yes, Sir.«
Okay, ein Problem abgehakt. Wenn er sie sich der Reihe nach vornahm, würde schon alles klappen. »Michelle, wer ist in der Befehlsstruktur noch übrig?« Mike tippte die konfigurierbaren Steuertasten an seinem linken Unterarm und rief eine farbenfrohe Darstellung der Energieniveaus seiner Truppe auf. Ein einziger Blick reichte aus, ihn zusammenzucken zu lassen. Laden oder sterben, dachte er voll Galgenhumor. Wir sind nicht gerade das Energizer-Häschen.
»Im Augenblick führt Major Pauley das Kommando über den Rest des Bataillons.«
»Okay, Verbindung aufbauen. Wo sind sie?«
»Die Einheit hat sich ungefähr sechs Kilometer weit in Richtung auf die Kampfzone zurückgezogen.«
»Was? Wo ist die Cavalry?«
»Die amerikanischen Cavalry-Einheiten befinden sich in Rückzug zur Kampfzone. Sie verfügen nur noch über weniger als dreißig Prozent ihrer Nominalstärke. Unter anderen Umständen würden sie als gefechtsunfähig gelten.«
»Zeigen.« Die Darstellung der Energiereserven wich einer anderen, die eine einzige rote, nur unmittelbar über ihnen durchbrochene Masse zeigte, sonst aber fast das ganze Bildfeld einnahm und an eine dünne, grüne Linie grenzte. Entlang der grünen Linie gab es ein paar Durchbrüche, aber landeinwärts war die ganze Front offen, mit einer großen Lücke im hinteren Bereich und einem weiteren grünen Stück weit entfernt vom Rest. Die Lücke öffnete sich immer weiter, und man konnte deutlich erkennen, dass das Rot der Posleen binnen kurzer Zeit die bedrängten grünen GKA-Einheiten von der Flanke aus angreifen oder gar einkesseln würde.
»Er ist immer noch auf dem Rückzug«, sagte Mike und sah zu, wie die GKA-Einheit einen weiteren Sprung in Richtung auf die zweifelhafte Sicherheit der Kampfzone machte.
»Ja.«
»Steht er mit höheren Stellen in Verbindung?«, fragte sich der Lieutenant laut.
»Ich bin nicht befugt, Kommunikationen auf höherer Ebene zu diskutieren«, erklärte das AID affektiert.
»Na großartig. Verbinde mich.«
»Er ist gerade besetzt. Ich stelle die Verbindung her, sobald er frei ist.«
»Okay.« Mike wandte seine Aufmerksamkeit wieder der holografischen Darstellung zu und öffnete und schloss dabei reflexartig seine Hand. Das AID regulierte automatisch den Widerstand des Handschuhs auf die Stärke des Torsionstrainers, den er gewöhnlich benutzte. »Ist diese geschlossene rote Masse genau oder gibt es freie Stellen?«
»Die Information basiert auf den Daten visueller und auditorischer Sensoren im betroffenen Bereich. Sie ist ziemlich genau. Ich würde vorschlagen, dass Sie sich ein Stück weiter vom Rand der Gefechtszone zurückziehen, ehe Sie an die Oberfläche gehen.« Das AID markierte mutmaßliche Positionen mit geringer Posleen-Dichte.
»Gut. Wo ist der nächste Kanalisationsschacht?«, erkundigte sich Mike. »Wir müssen hier raus.« Er hielt kurz inne, bis er das Gehörte ganz verarbeitet hatte. »Hey«, brauste er dann auf, »wie, zum Teufel, hast du das jetzt herausgefunden? Vor dem Angriff hast du es nicht gewusst!«
»Was meinen Sie?«, fragte das AID.
»Als wir auf den Angriff der Posleen gewartet haben, konnten wir nur bruchstückhafte Informationen von den Indowy und den Himmit bekommen.«
»Sie meinen die Lagebesprechung des Bataillons«, sagte das AID.
»Ja«, erwiderte Mike immer noch verstimmt.
»Sie haben mich ja nicht gefragt«, beklagte sich das AID. Mike bildete sich ein, ein halb unterdrücktes Schniefen zu hören.
Mike dachte über die Aussage des AID nach und hätte plötzlich am liebsten alles hingeworfen. In Augenblicken wie diesen hasste er die Anzüge. Wenn er jetzt nicht in einer halben Tonne Ceramet und Piastahl mit einem acht Zentimeter dicken Helm gesteckt hätte, hätte er sich mit der Hand gegen die Stirn schlagen, mit dem Kopf gegen die Wand rennen oder wenigstens den Kopf schütteln können. So musste er starr wie eine Statue dastehen, als ihn der Adrenalinschock durchpulste, den die Erkenntnis ausgelöst hatte, was für ein grenzenloser Idiot er doch gewesen war. Er atmete tief durch, und als er dann die Luft wieder von sich blies, erzeugte das in seiner Mundhöhle einen leichten Gegendruck. Das war das Höchstmaß an körperlicher Reaktion, zu der er im Augenblick fähig war.
»Michelle, lieferst du ständig Berichte?«, fragte er müde.
»Nein, die Einheit befindet sich unter Emissionskontrolle, ich sende nur lokal.« Das lokale Sendesystem des Anzugs benutzte gerichtete Pulse monoperiodischer Subraumsendungen. Die Sendungen wurden in einem verteilten Netz durch die ganze Gruppe weitergeleitet, ähnlich wie Datenpakete im Internet. Da die Sendung einfach von einem Anzug zum nächsten sprang, war die Energie äußerst gering, und die Wahrscheinlichkeit, angepeilt oder abgehört zu werden, betrug praktisch Null. Wenn ein Posleen die Sendung abfangen konnte, bedeutete das, dass sie sich bereits in fast unmittelbarem Kontakt befanden.
»Okay.« Manchmal benutzten die Posleen anscheinend Peilverfahren, die Vorgehensweise war daher vernünftig. »Gut, wenn wir das nächste Mal mit weiter oben in Kontakt sind, und das wird bald sein, gibst du einen ausführlichen Bericht durch. Und diese Kleinigkeit erwähnst du auf jeden Fall. Also, was ist jetzt mit den Abwasserschächten?«
»Es gibt keine größeren Abwasserschächte, Sir. Es gibt Schächte für toxische Chemikalien, aber ich rate davon ab, sie zu benutzen; sie könnten im Laufe der Zeit Ihre Panzerung beschädigen.«
»Schön, und wie stellen wir es dann an, hier rauszukommen?«, fragte O'Neal verblüfft. Michelle hatte deutlich erkennen lassen, dass sie einen Plan hatte.
»Durch die Wasserleitungen«, erklärte das AID.
»Das System ist dicht. Wenn wir den Pfropfen aufbrechen, spritzen wir wie Kirschkerne nach draußen und schaffen es nicht wieder reinzukommen. Können wir das Wasser abstellen?«, fragte er. Er studierte die Anordnung der Wasserleitungen. Das Wasser floss vom Meer durch am Ufer verteilte Aufbereitungsanlagen herein. In diesen Aufbereitungsanlagen wurden Plankton und Mineralstoffe aus dem Wasser herausgefiltert und für späteren Gebrauch gelagert, während das gereinigte Wasser in die Megalopole gepumpt wurde. Obwohl der Großteil der lebensnotwendigen Produkte innerhalb der Megalopole recycelt wurde, ging doch eine nennenswerte Wassermenge durch direkte Verdunstung verloren, sodass ein riesiges Versorgungssystem gebraucht wurde. Die Tunnels durchzogen den gesamten Stadtkomplex und bildeten ein kompliziertes Netzwerk.
»Wir können den Wasserfluss nicht absperren«, antwortete das AID und arbeitete die Fragen in umgekehrter Reihenfolge ab. »Die Posleen haben den größten Teil der Pumpsysteme zwischen hier und dem Meer unter ihre Kontrolle gebracht und bereits damit begonnen, ihre eigenen Hardware- und Softwaresteuerungen zu installieren. Außerdem bekämen wir es, selbst wenn wir die Pumpstationen abschalten würden, mit den Rückflüssen aus den verschiedenen Megascrapern zu tun.«
»Und wie kommen wir dann durch?«
»Ich habe dafür im Augenblick keinen Plan«, gab das AID zu und schaffte es, dabei niedergeschlagen zu klingen.
»Na schön, ich auch nicht. Dann befassen wir uns eben mit dem Problem, wenn es unmittelbar ansteht.«
Duncan rieb die Außenseite seines Helms. Die externe Sauerstoffanzeige ließ erkennen, dass in dem Tunnel gerade genug O2 für Menschen vorhanden war, aber dass ein Platoon Soldaten den Sauerstoff schnell verbrauchen würde, wenn die Soldaten ihre Helme abnahmen. Und das war ziemlich beschissen, weil er sich wirklich nach einer Marlboro sehnte.
»Gib mir Sergeant Green«, wies er sein AID an und musterte den neuen Lieutenant. O'Neal sah aus wie ein Spasti, wie er so mit den Fingern vor der Brustpartie seines Anzugs schnippte. Das war der Typ von der Division; er war im letzten Monat im Bataillon aufgetaucht, als sie plötzlich wie die Irren zu trainieren angefangen hatten. Es war alles dermaßen dämlich. Das Bataillon hatte nicht die leiseste Chance, in nicht einmal zwei Monaten auf volle Einsatzbereitschaft zu kommen, nachdem sie die restliche Zeit im Schiff vertrödelt hatten. Das war doch alles bloß Schönfärberei. Andererseits hatte die Ausbildung, die Wiznowski ihnen hintenrum verschafft hatte, wirklich genützt. Er wünschte, jemand hätte den Colonel dazu gezwungen, auf ihn zu hören; Wiz verstand sich wirklich auf seinen Kram.
»Was sieht sich O'Neal denn an?«, fragte er. Er hatte herausgefunden, dass sämtliche AlDs miteinander verbunden waren, und manchmal konnte er einen verstohlenen Blick auf das erhaschen, was ein anderer mit seinem System machte.
»Ich habe keinen Zugang zu seinem System«, antwortete das AID.
»Und was ist mit Sergeant Green?«, fragte Duncan und trat nach ein paar Plastahlstücken am Boden, die davonhüpften und vom ausgezackten Ende des Tunnels abprallten.
»Er spricht gerade mit Sergeant Wiznowski.«
»Versuche dich einzuschalten.« Er hoffte, dass sie ihn hineinlassen würden. Während ihrer Reise durch den Weltraum war seine Gruppe eine der Ersten gewesen, die an Wiznowskis geheimen Ausbildungssitzungen teilgenommen hatte, und in der Zeit hatten er und der Sergeant sich recht gut verstanden.
»Ja, Duncan?«, fragte Green müde. Der Sergeant war etwas umgänglicher geworden, aber gelegentlich konnte er einen noch ganz schön nerven.
»Gibt's Neues?«, fragte er. Er konnte die beiden Sergeants am anderen Ende des Tunnels sehen. Sie waren damit beschäftigt, den Pfropfen dort zu studieren. Im Licht ihrer Anzugscheinwerfer konnte man sehen, dass sie in einer kleinen silbern schimmernden Pfütze standen.
»Ein wenig. Ich habe gerade darüber mit Wiznowski gesprochen. Der Lieutenant sagt, wir müssen hier durch die Wasserleitung raus. Wir müssen die Leute in Gruppen aufteilen. Ich möchte, dass Sie sieben Mann übernehmen, Bittan und Sanborn aus Ihrer Gruppe und einen Pionier. Brecker wird auch eine Gruppe übernehmen.«
Die Namen der Soldaten blitzten auf, und die Anzüge der im Tunnel verteilten Männer wurden markiert. Duncan tippte einen der Namen an, worauf Daten vor seinen Augen vorbeiströmten.
»Okay, es geht. Eine Frage: Hat der Wichser«, er deutete mit einem Laserzeiger auf den Lieutenant, »die leiseste Ahnung, was hier zu tun ist, oder müssen wir ihm den Arsch aufreißen?« Das war witzig gemeint, was aber seinem Tonfall nicht anzumerken war, als ihnen der ganze Ernst der Lage erneut klar wurde. Sie steckten unter mehr als hundert Meter Gebäudetrümmern und Schutt fest, und über ihnen wimmelte es von Posleen. Im Grunde genommen waren sie erledigt. Und der Offizier, der sie führte, war jemand, den keiner im ganzen Bataillon kannte.
O'Neal hatte aufgehört mit den Fingern zu schnippen und stand jetzt wie eine wuchtige graue Statue da. Das Tarnmuster seines Anzugs schien alles Licht zu verschlucken, und plötzlich nahm er schemenhafte Züge an, verschwand und wurde dann wieder sichtbar. Allem Anschein nach nahm sein Anzug gerade irgendeine Diagnoseprozedur vor. Green drehte sich zu Wiznowski herum und wechselte, wie es schien, ein paar Worte mit ihm. Gleich darauf hob der Wizard beide Hände, als würde er resignieren.
»Duncan«, sagte Wiznowski mit ungewöhnlich eisiger Stimme, »wenn du diesem Mistkerl von Zwerg auch nur den geringsten Ärger machst, wird er dir den Arsch aufreißen, und zwar so schnell, dass du es gar nicht mitbekommst. Ganz kurz. Wo, zum Teufel, glaubt ihr eigentlich, habe ich so erstaunlich viel über diese Anzüge gelernt?« Er schnaubte so laut, dass alle es in ihren Anzügen hören konnten.
»Oh«, sagte Duncan. Der verblüffende Kenntnisstand Wiznowskis hatte alle rätseln lassen. Man nahm allgemein an, dass er einfach besser mit seinem AID klarkam. Jedes Mal, wenn während der Ausbildung irgendeine Frage aufgekommen war, hatte sein AID die Antwort darauf liefern können. Am Ende hatten sie aufgehört, sich darüber zu wundern. »Wie, zum Teufel, hat …?« Er redete nicht weiter.
»Jedes Mal, wenn wir trainiert haben, saß O'Neal in seiner Kabine und hat das Ganze wie ein Puppenspieler gesteuert. Verdammt, jede zweite Antwort, die ›Wiznowski‹ gegeben hat, kam in Wirklichkeit von O'Neal oder seinem AID.« Obwohl sie Wiznowskis Gesicht nicht sehen konnten, war klar, dass er grinste. »Er war sogar meistens persönlich anwesend, denn er brauchte bloß euren AIDs zu sagen, dass sie ihn nicht ›sehen‹ sollten.«
»Verdammt.«
»Also«, fuhr Sergeant Green fort, »ihr könnt euch drauf verlassen, dass der Lieutenant weiß, wo es langgeht. Und jetzt würde ich vorschlagen, Gruppenführer, dass Sie sich um Ihren eigenen Scheiß kümmern und nicht um den seinen, klar?« Wenn Wiz einen fertig machen wollte, konnte er das auch.
»Okay, aber eines noch.«
»Was?«, fragte Sergeant Green.
»Ich wüsste, wie man hier rauskommt, falls der Lieutenant es hören will.«
»Okay. Ich werde das weitergeben. Aus reiner Neugierde, wie denn?«
»Nun, wir könnten unsere persönlichen Schutzfelder hinter uns aufbauen und den Pfropfen knallen lassen«, sagte er und deutete auf den Haufen Bauschutt, der das Rohr versperrte. »Dann würde dieser Bereich hier überflutet werden, wie eine Luftschleuse.«
»Okay«, sagte Sergeant Green und musterte den Schutthaufen abschätzend. »Ich werde es weitergeben. Und jetzt stellen Sie Ihre Gruppe zusammen.«
»Roger«, sagte Duncan und stieß sich von der Wand ab. »Ich kann nur hoffen, dass der Lieutenant weiß, was nachher zu tun ist«, schloss er.
Sergeant Green ging auf die Stelle zu, wo Lieutenant O'Neal stand. Der äußerlich durch nichts von den anderen Anzügen zu unterscheidende Kommandoanzug bewegte sich ein wenig und ließ damit erkennen, dass der Lieutenant ihn zur Kenntnis genommen hatte.
»Sir«, sagte er auf einem sicheren Kanal, »können wir reden?«
»Aber ja doch, Sergeant. Wahrscheinlich sollte ich Sie Top nennen, aber irgendwie komme ich mir nicht wie Ihr Chef vor.« Er hatte eine präzise klingende Stimme mit erzwungenem Humor, im Hintergrund konnte man allerdings auch die Müdigkeit wahrnehmen.
»Ich denke, wir sind beide etwas überfordert, Lieutenant«, meinte Sergeant Green.
»Yeah, aber das dürfen wir uns nicht anmerken lassen, Sergeant. Dafür bekommen wir schließlich das große Geld«, sagte der Offizier aufmunternd. Green war O'Neal ein Rätsel. Er war nicht an Wiznowskis Ausbildungsprogramm beteiligt gewesen, und Mike hatte deshalb seine Methoden nicht studieren können. Aber er wirkte auf ihn fähig und robust Und das sollte er in dieser Situation wohl auch sein.
»Bestätigt, Sir. Okay, genau das ist das Problem. Die Männer wissen, dass wir ganz schön in der Scheiße stecken, und ich weiß da nicht raus. Einer meiner Leute hat mir einen Vorschlag gemacht, aber ich glaube, der ist ziemlich albern.« Green schilderte ihm Duncans Empfehlung.
Mike nickte und besprach sich kurz mit seinem AID. »Yeah«, meinte er dann, »ich denke, das sollte funktionieren. Sagen Sie Duncan ein Dankeschön von mir, jetzt hat er schon zwei Punkte bei mir gut. Sagen Sie, er soll das ausprobieren. Wir müssen uns unserer Sache sicher sein, ehe wir alles auf diese Idee setzen. Wenn es klappt, dann verschwinden wir hier, sobald ich mit weiter oben Verbindung habe.«
»Können Sie das durch all die Gesteinsmassen, Lieutenant?« Green war froh, den Lieutenant zu haben. Er verstand offenbar nicht nur sein Handwerk, sondern war auch bereit, gute Vorschläge anzunehmen. Zuerst hatte er mit Wiznowski gesprochen, weil der der offizielle Fachmann vom Bataillon war. Als Wiz ihm gesagt hatte, wo seine Kenntnisse herstammten, war der Lieutenant in Greens Augen ein paar Stufen höher gerückt. Er fragte sich, wie viele von den Kompaniechefs an dem Täuschungsmanöver beteiligt gewesen waren.
»Aber sicher«, meinte Mike locker, »diese Geräte brauchen keine Sichtverbindung. Die fahren bloß die Frequenz hoch.«
»Ja, Sir.« Dass der Offizier wie aus der Pistole geschossen geantwortet hatte, deutete wiederum auf seine große Erfahrung. »Okay, und wie bald packen wir es, Sir?«
»Bald. Glauben Sie, dass es besser wäre, wenn wir gleich losziehen, oder sollten wir die Männer noch ein wenig ausruhen lassen?« Mike projizierte die empfohlene Route, sodass sie beide sie sehen konnten.
»Gibt es da irgendwo unterwegs eine Stelle, wo wir eine Pause einlegen können, Sir?«, fragte der Platoon Sergeant und versuchte die dreidimensionale Darstellung zu enträtseln. Eigentlich hätte er mit der ganzen Technik wesentlich besser vertraut sein müssen, aber da kam halt wieder einmal ihre mangelhafte Ausbildung ins Spiel.
»Ja, wahrscheinlich schon.« Mike ließ ein paar mögliche Stationen aufblitzen.
»Dann würde ich vorschlagen, dass wir hier so bald wie möglich abhauen. Die Männer sind ziemlich fertig; wenn wir sie nicht bald in etwas offeneres Gelände bringen, könnte es sein, dass sie durchdrehen. Und dann ist da ja auch noch das andere Problem.«
»Genau, Sar'nt, Waffen und Energie.« Dreihundert Meilen, ha! Zweiundsiebzig Stunden, ha! Ich hab denen gesagt, dass sie Antimaterie einsetzen sollen!
»Ja, Sir, besser gesagt, die Waffen, die wir nicht haben. Die meisten von uns sind nicht einmal im Besitz einer Pistole.«
»Na ja, im Augenblick brauchen wir ja keine, und später finden wir bestimmt welche, keine Sorge. Wie steht's mit der anderen Gruppe? Wo sind die?«
»Sergeant Brecker hat achtzehn Mann bei sich, Sir, darunter zwei Pioniere. Sie waren etwa zweihundert Meter entfernt, in einem anderen Tunnel. Im Augenblick sprengen sie sich ihren Weg hierher frei.«
»Wenn sie hier ankommen, machen wir uns an die nächste Phase. Ich brauche diese Pioniere, aber alle werden mithelfen.«
»Lieutenant O'Neal?«, unterbrach ihn sein AID.
»Ja?«
»Major Pauley ist jetzt gleich frei.«
»Gut, verbinde mich mit ihm. Sergeant, die Männer, die nicht damit beschäftigt sind, uns hier rauszubuddeln, sollen sich mit Sprengungen in Richtung auf Sergeant Brecker und seine Männer vorarbeiten. Ich muss mit dem Bataillon sprechen.«
»Ja, Sir.« Die Erleichterung im Tonfall des Sergeant war nicht zu überhören. Er machte sich daran, sich mit Sprengungen zu der anderen Gruppe vorzuarbeiten und fühlte sich jetzt deutlich wohler, da er klare Anweisungen hatte.
Ein Zirpen zeigte ihm an, dass die Verbindung jetzt hergestellt war. »Major Pauley, hier Lieutenant O'Neal.«
»O'Neal? Was wollen Sie denn?«
»Sir, ich habe augenblicklich das Kommando der unter Qualtren versammelten Überlebenden. Ich wollte mir Anweisungen holen, Sir.«
Mike sah zu, wie der Sergeant eine Gruppe über das Trümmerfeld führte. Der erste Anzug, der auf der anderen Seite angelangt war, packte einen Brocken Bauschutt und zog ihn heraus. Prompt rutschte anderer Schutt nach, und ein Stück aus der Decke fiel herunter und zwängte kurzzeitig einen der Männer ein. Mit ein paar Handbewegungen und einigen Verwünschungen auf einem Nebenkanal brachte Green die Gruppe dazu, etwas vorsichtiger vorzugehen.
»Wer, zum Teufel, hat Ihnen das Kommando übergeben?«, wollte der Offizier reichliche hundert Meter über ihm wissen.
»Captain Wright, Sir«, antwortete O'Neal. Er hatte mit etwas Widerstand gerechnet, aber Pauleys schroffer Ton mahnte ihn jetzt zu besonderer Vorsicht.
»Und wo, zum Teufel, steckt Wright?«
»Darf ich jetzt meinen Bericht machen, Sir?«
»Nein, verdammt, ich will Ihren verdammten Bericht nicht. Ich habe Sie gefragt, wo Captain Wright ist.« Das Keuchen des Offiziers klang unheimlich, wie ein obszöner Telefonanruf.
»Captain Wright kann mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln nicht geborgen werden, Major. Er hat mir das Kommando über die bewegungsfähigen Überlebenden übertragen und ist selbst in Hibernation gegangen.«
»Also, der Teufel soll mich holen, wenn ein aufgemotzter Sergeant meine Soldaten führt«, sagte der Major, und seine Stimme überschlug sich dabei. »Wo, zum Teufel, sind die übrigen Offiziere?«
»Ich bin der einzige übrig gebliebene Offizier, Major«, sagte O'Neal ruhig. »Wir haben hier einen Sergeant First Class, drei Staff Sergeants und fünf Sergeants, Sir. Ich bin der einzige Offizier am Platz.«
»Ich habe für das keine Zeit«, brauste der Major auf, »stellen Sie mich zu einem anderen Offizier durch.«
»Sir, ich habe Ihnen gerade gesagt, dass es keine anderen Offiziere gibt.«
»Verdammt noch mal, Lieutenant, verbinden Sie mich mit Captain Wright, und zwar ein bisschen fix, oder ich stelle Sie vor ein Kriegsgericht!«
»Sir«, stieß Mike halb erstickt vor. Allmählich wurde ihm klar, dass Major Pauley sich nicht mehr richtig in der Gewalt hatte. Die Situation, in der sich das auf dem Rückzug befindliche GKA-Bataillon befand, hätte ihn irgendwie auf so etwas vorbereiten sollen, aber das war vielleicht zu viel verlangt. »Sir …«, setzte er erneut an.
»Verdammt noch mal, Lieutenant, schaffen Sie diese Leute jetzt hierher, und zwar fix! Ich brauche jeden Mann, den ich bekommen kann! Ich hab jetzt nicht die Zeit für solchen Blödsinn. Und stellen Sie mich zu Captain Wright durch!«
»Ja, Sir.« Mike wusste nicht, was er tun sollte, aber wahrscheinlich fing er am besten damit an, einfach dieses Gespräch zu beenden. »Ich bringe die Leute so schnell es geht zu Ihnen und sorge dafür, dass Captain Wright so bald wie möglich mit Ihnen Kontakt aufnimmt.«
»Schon besser. Und übergeben Sie ihm das Kommando wieder, verdammt. Wie können Sie es wagen, das Kommando einfach an sich zu reißen, Sie junger Schnösel! Ich lasse Sie dafür vor das Kriegsgericht stellen! Sie melden sich!«
»Ja, Sir, selbstverständlich, sofort, Sir. Roger and out. Michelle, Verbindung beenden.« Er überlegte kurz. »Michelle, wer ist in dieser bescheuerten Befehlskette der Nächste?«
»Brigadier General Marlatt ist vermisst. Dann wäre das General Houseman.«
»Okay, und wer im Bataillon?«
»Major Norton und Captain Brandon sind noch im Einsatz und dem Bataillon beigeordnet.«
»Stelle mich zu Captain Brandon durch.«
»Links, links! Bravo-Team, zurück!« Captain Brandon war damit beschäftigt, über einen offenen Kanal, wie er gewöhnlich für Manöver benutzt wurde, die übrig gebliebenen Soldaten neu aufzustellen. Da Mike aus der Karte, die er vor sich projiziert hatte, erkennen konnte, dass Brandon im Augenblick weniger als vierzig Leute befehligte, war das der Lage durchaus angemessen.
»Captain Brandon.«
»AID, persönliche Leitung«, sagte der Captain schnell. »O'Neal? Sind das Sie? Ich dachte, Sie wären tot und unter dieser Pyramide begraben.« Kurze Pause. »Danke, dass Sie uns den Rückzug gedeckt haben«, fuhr er dann sarkastisch fort, »nur dass bedauerlicherweise der größte Teil meiner Kompanie es nicht mehr ins Freie geschafft hat!«
»Diese Explosion ist nicht auf unsere Ladungen zurückzuführen, obwohl sie gleichzeitig hochgegangen sind«, fing Mike etwas lahm an.
»Na prima, dann lassen Sie sich jetzt ein Wunder einfallen, um uns aus diesem Albtraum rauszuholen! Oder geben Sie mir meine verdammte Kompanie zurück!«, schloss der Captain, immer noch verärgert.
»Ich habe ein paar von Ihren Leuten hier unten, Sir. Wir werden zusehen, dass wir hier rauskommen, sobald der Rest zu uns nachgestoßen ist. Aber ich habe versucht, Major Pauley Meldung zu machen und er hat, nun ja, er …«
»Verzapft Blödsinn«, erklärte Brandon lakonisch.
»Ja, Sir.«
»Das wissen wir, danke. Sonst noch was?«
»Nun …«, los doch, dachte er, sprich es aus. »Was, zum Teufel, soll ich tun, Sir? Ich … ich bin mir nur …« Er biss sich auf die Zunge, schluckte hinunter, was er beinahe gesagt hätte, »… bin mir nicht sicher, wie ich weiter vorgehen soll, Sir.«
»Ich habe jetzt keine Zeit, mit Ihnen Händchen zu halten, O'Neal. Tun Sie, was Ihrer Meinung nach dem Feind den größten Schaden zufügt, bis Sie wieder mit uns Kontakt haben. Das können Sie als Befehl auffassen, wenn Ihnen das weiterhilft.«
»Ja, Sir.« Ein tiefer Atemzug. »Airborne, Sir.«
»O'Neal.«
»Sir?«
Eine kurze Pause. »Scheiß drauf, dass Sie bloß ein hochgekommener Unteroffiziersdienstgrad sind, Sie haben uns alle den Hals gerettet, indem Sie diese Gebäude in die Luft gejagt haben. Tut mir Leid, dass ich Sie so angefahren habe, das war nicht richtig. Also, Waidmannsheil, machen Sie sie fertig, Lieutenant. Machen Sie sie fertig und stapeln Sie sie auf wie Brennholz. Das ist ein Befehl.« Die Stimme des Offiziers klang sicher und fest.
»Yes, Sir«, sagte Mike ohne eine Spur von Überzeugung. »Airborne.« Vaya con dios, Captain.
»Und jetzt machen Sie meine verdammte Frequenz frei; ich habe hier Krieg zu führen. Alpha-Team! Position fünf! Los geht's!«