Luke hört. Aus einer halben Stunde werden vierzig Minuten. Elendige Scheißgeschichte ist noch untertrieben.
Und weil zur Eile kein Grund besteht, hört er sie sich danach gleich noch mal von vorne an, vierzig Minuten, auf dem Bett liegend. Es ist eine kurze Geschichte. Es ist ein Drama erster Güte, ob Komödie oder Tragödie, muss sich noch zeigen. Heute Morgen um acht wurden Hector Meredith und Billy Matlock vor ein kleines Tribunal in die Suite des Vize im vierten Stock bestellt. Dort wurde die Anklage gegen sie verlesen. Hector liefert die Kurzfassung, gewürzt mit seinen eigenen Kraftausdrücken.
»Angeblich hat der Kabinettssekretär den Vize zu sich zitiert, um ihm Folgendes zu unterbreiten: dass nämlich ein gewisser Billy Matlock und ein gewisser Hector Meredith ein Komplott schmieden, um den guten Ruf eines gewissen Aubrey Longrigg zu besudeln, Parlamentsmitglied, Finanzmogul und Schranze der Surreyer Bonzenclique, als Rache für das Unrecht, das die Beklagten von besagtem Longrigg erlitten haben – also Billy für all das, was er während ihrer Duelle im vierten Stock von ihm einstecken musste, und ich dafür, dass der Wichser versucht hat, unsere Firma in den Bankrott zu treiben und sie danach für einen trockenen Furz aufzukaufen. Der Kabinettssekretär würde es als erwiesen ansehen, dass unsere persönliche Verwicklung in die Sache unser Urteilsvermögen trübt. Hören Sie noch zu?«
Luke hört zu. Und um noch besser hören zu können, setzt er sich auf die Bettkante, den Kopf in die Hände gestützt, den Recorder neben sich auf der Daunendecke.
»Als Nächstes werde ich, als der Hauptverschwörer in diesem Komplott gegen Aubrey, aufgefordert, meine Position darzulegen.«
»Tom?«
»Dick?«
»Was zum Teufel hat ein Komplott gegen Aubrey – selbst wenn Sie beide wirklich darauf aus wären, ihn abzusägen – damit zu tun, dass unser Mann und seine Familie nach London kommen?«
»Gute Frage. Ich werde sie Ihnen im selben Geist beantworten.«
So viel Wut hat Luke noch nie aus Hectors Stimme gehört.
»Angeblich will der Geheimdienst einen Kronzeugen lancieren, dessen Aussage die Gründung einer Arena-Bank vereiteln soll. Muss ich groß eingehen auf das, was der Vize so schön als das Brisante daran bezeichnet hat? Eine russische Bank in schimmernder Rüstung. Milliarden von Dollar gleich auf den Tisch und noch viele mehr in der Hinterhand. Die nicht nur in den klammen Geldmarkt gepumpt, sondern auch in einige der großen Dinosaurier der britischen Industrie investiert werden sollen. Und just in dem Augenblick, wo die Bemühungen unserer edlen Retter Früchte zu tragen beginnen, kommen wir Wichser vom Geheimdienst daher und versauen alles, indem wir irgendwelche moralinsaure Kacke über unlautere Erträgnisse von uns geben.«
»Sie wurden aufgefordert, Ihre Position darzulegen, sagten Sie?«, hört Luke sich nachhaken.
»Hab ich dann auch. Mit Schmackes, wenn ich das so sagen darf. Hab ihm volle Pulle Bescheid gestoßen. Und wenn nicht ich, dann Billy. Und nach und nach – man glaubt es kaum – stellte der Vize die Lauscher auf. Keine leichte Rolle, die er da spielen musste, während sein Boss den Kopf in den Sand steckt, aber letzten Endes hat er sich wacker geschlagen. Hat alle rausgeschickt außer uns beiden und uns noch mal von vorn angehört.«
»Sie und Billy?«
»Der jetzt ganz entschieden mit im Zelt war und rausgepisst hat, dass es platschte. Vom Saulus zum Paulus, besser spät als nie.«
Da hat Luke seine Zweifel, behält sie aber edelmütig für sich.
»Wo stehen wir damit also?«, fragt er.
»Wieder am Ausgangspunkt. Offiziell-inoffiziell, Billy mit an Bord, und für das Charterflugzeug stehe ich grade. Haben Sie einen Stift parat?«
»Nein, ich …«
»Dann passen Sie gut auf. Das ist die Route ab jetzt, Rückzug gibt’s keinen.«
* * *
Er passt einmal auf, zweimal. Macht sich dann klar, dass er nur auf den Mut wartet, Eloise anzurufen, also ruft er an. Sieht aus, als könnte ich ziemlich bald wieder daheim sein, vielleicht sogar schon morgen am späten Abend, sagt er. Eloise sagt, Luke muss tun, was er für richtig hält. Luke fragt nach Ben. Eloise sagt, Ben geht’s gut, danke. Luke merkt, dass er Nasenbluten hat, und legt sich aufs Bett, bis es Zeit fürs Abendessen und für einen kleinen Plausch mit Perry ist, der im Wintergarten mit Alexej und Viktor Bergsteigerknoten übt.
»Hätten Sie kurz Zeit?«
Luke führt Perry in die Küche, wo Ollie mit einer störrischen Fritteuse kämpft, die sich weigert, die gewünschte Temperatur für die Pommes zu erreichen.
»Dürften wir ein paar Minuten allein sein, Harry?«
»Kein Thema, Dick.«
»Endlich gute Nachrichten, Gott sei Dank«, begann Luke, als Ollie abgezogen war. »Morgen Abend ab dreiundzwanzig Uhr Greenwich-Zeit steht in Belp ein kleines Flugzeug bereit, Belp nach Northolt, freigegeben für Start und Landung, freier Zu- und Abgang hier wie dort. Gott allein weiß, wie Hector das bewerkstelligt hat, aber er hat. Wenn es dunkel wird, fahren wir Dima mit dem Jeep rüber nach Grund und von da direkt weiter nach Belp. Sobald er in Northolt landet, wird er in ein sicheres Haus gebracht, und wenn er liefert wie versprochen, lassen sie ihn offiziell einreisen, und der Rest der Familie kann nachkommen.«
»Wenn er liefert?«, wiederholte Perry und legte skeptisch den Kopf schief, auf eine Weise, die Luke enorm gegen den Strich ging.
»Na, liefern wird er ja, oder? Davon gehen wir aus. Ein anderer Deal steht nicht zur Debatte«, fuhr Luke fort, als Perry nichts weiter sagte. »Unsere Oberen in Whitehall binden sich nicht die ganze Sippschaft ans Bein, ehe sie nicht wissen, dass Dima den Aufwand wert ist.« Und als Perry immer noch nichts erwiderte: »Zu mehr kriegt Hector sie nicht ohne ordentliches Verfahren, tut mir leid.«
»Ordentliches Verfahren?«, sagte Perry nach längerem Schweigen.
»Da kommen wir leider nicht drum rum.«
»Ich dachte, es geht um die Menschen.«
»Tut es ja auch.« In Luke schoss der Zorn hoch. »Genau deshalb will Hector, dass Sie es Dima sagen. Er meint, er soll es lieber von Ihnen erfahren als von mir. Der Meinung bin ich auch. Ich würde vorschlagen, Sie warten damit noch. Morgen am frühen Abend ist völlig ausreichend. Dann brütet er nicht die ganze Nacht darüber. Gegen sechs, würde ich sagen, damit ihm genug Zeit für seine Vorbereitungen bleibt.« Kann der Mann es denn nie gut sein lassen?, fragte er sich im Stillen. Wie lange soll ich mir dieses schiefe Pferdegesicht noch anschauen?
»Und wenn er nicht liefert?«, insistierte Perry.
»So weit denkt hier niemand. Immer schön ein Schritt nach dem anderen. So läuft das nun mal. Diese Sachen lassen sich nicht einfach durchplanen.« Und indem er sich eine Spitze gönnte, die er sofort bedauerte: »Wir sind hier nicht an der Uni. Das ist das richtige Leben.«
»Ich muss Hector sprechen.«
»Er hat gleich gesagt, dass Sie das sagen würden. Er wartet schon auf Ihren Anruf.«
* * *
Als er allein war, schlug Perry den Weg hinauf zum Waldrand ein, den er sonst immer mit Dima ging. Mit der flachen Hand wischte er den Abendtau von einer Bank, setzte sich hin und wartete, dass seine Gedanken zur Ruhe kamen. Unter sich in dem erleuchteten Haus konnte er Gail, die vier Kinder und Natascha sehen, die auf dem Boden des Wintergartens im Kreis um das Monopolybrett saßen. Ein empörter Aufschrei von Katja drang zu ihm hoch, gefolgt von Alexejs lautem Protest. Er zog sein Handy heraus und starrte es in dem Dämmer an, bevor er die Taste für Hector drückte, der sofort abhob.
»Wollen Sie die aufgehübschte Version oder die nackte Wahrheit?«
Da sprach der alte Hector, der Hector, bei dem Perry das Herz aufging, der Einpeitscher aus dem sicheren Haus in Bloomsbury.
»Die Wahrheit reicht völlig aus.«
»Also gut. Wenn wir unseren Mann rüberfliegen, werden sie ihn anhören und sich ein Urteil bilden. Das ist das Äußerste, was ich ihnen abringen konnte. Bis gestern waren sie nicht mal dazu bereit.«
»Die Obrigkeiten. Die eben. Wer zum Teufel glauben Sie denn? Wenn er’s nicht bringt, werfen sie ihn zurück ins Wasser.«
»In welches?«
»Das russische im Zweifel. Wen interessiert das? Tatsache ist doch, er wird’s bringen, das wissen Sie so gut wie ich. Und wenn sie sich erst entschlossen haben, ihn zu behalten, was einen Tag oder höchstens zwei dauern kann, dann darf auch der Rest der Bescherung mit, Frau, Kinder, Pflegekinder, sein Hund, wenn er einen hat …«
»Hat er nicht.«
»Jedenfalls haben sie im Prinzip den ganzen Deal akzeptiert.«
»Was heißt, im Prinzip?«
»Hören Sie, ich hab mir schon den ganzen Tag die Haarspaltereien von irgendwelchen superklugen Whitehall-Arschlöchern anhören dürfen, ich brauch nicht noch mehr von dem Scheiß. Wir haben ein Abkommen. Solange unser Mann die Ware liefert, wird der Rest mit der gebotenen Schnelligkeit nachgeholt. Das haben sie versprochen, und ich muss es ihnen glauben.«
Perry schloss die Augen und sog die Bergluft tief ein.
»Was verlangen Sie also von mir?«
»Nur das, was Sie schon die ganze Zeit tun. Opfern Sie Ihre hehren Prinzipien für das größere Ganze. Wickeln Sie ihn ein bisschen ein. Wenn Sie ihm sagen, dass es noch schiefgehen kann, kommt er nicht. Wenn Sie sagen, alle seine Forderungen sind akzeptiert, nur dauert es noch ein klein wenig, bevor er mit seinen Lieben wiedervereint wird, dann kommt er. Sind Sie noch dran?«
»Schon.«
»Sie erzählen ihm die Wahrheit, aber Sie erzählen sie selektiv. Wenn er nur den Hauch einer Chance wittert, sich von uns ausgetrickst zu fühlen, ergreift er sie. Wir sind zwar englische Gentlemen, die für Fairplay stehen, aber wir sind auch die Hundesöhne des perfiden Albion. Haben Sie das gehört, oder rede ich hier gegen die Wand?«
»Ich hab’s gehört.«
»Dann sagen Sie mir, dass ich unrecht habe. Sagen Sie mir, dass ich ihn falsch einschätze. Sagen Sie mir, dass Sie einen besseren Plan haben. Entweder Sie oder keiner, Perry. Das ist Ihre ganz große Stunde. Wenn er Ihnen nicht glaubt, glaubt er keinem.«
* * *
Sie lagen im Bett. Es war Mitternacht vorbei. Gail, halb im Schlaf schon, hatte kaum ein Wort gesprochen.
»Irgendwie ist ihm das Ruder aus der Hand genommen worden«, sagte Perry.
»Hector?«
»So kommt es mir jedenfalls vor.«
»Vielleicht hatte er es gar nie in der Hand«, meinte Gail. Und nach einer Pause: »Hast du dich inzwischen entschieden?«
»Nein.«
»Dann glaube ich, du hast dich entschieden. Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung. Ich glaube, du hast dich entschieden, und deshalb kannst du nicht einschlafen.«
* * *
Es war am nächsten Abend um Viertel vor sechs. Ollies Käsefondue war vertilgt und der Tisch abgeräumt worden. Dima und Perry standen sich unter einem farbig eloxierten Metallkronleuchter gegenüber. Sie waren allein im Esszimmer. Luke unternahm einen taktvollen Bummel durchs Dorf. Die Mädchen saßen mit Gail vor dem DVD-Player und sahen noch einmal Mary Poppins. Tamara hatte sich ins Wohnzimmer zurückgezogen.
»Mehr können die Apparatschiks vorerst nicht anbieten«, sagte Perry. »Sie fliegen heute Abend nach London voraus, Ihre Familie folgt Ihnen in ein paar Tagen. Darauf bestehen die Apparatschiks. Sie müssen sich an ihre Vorschriften halten. Vorschriften für alles. Sogar dafür.«
Er machte kurze Sätze und versuchte dabei, Dimas Gesicht irgendeine Reaktion zu entnehmen, ein Nachlassen der Anspannung, ein Aufdämmern des Begreifens, selbst der Gegenwehr, aber aus den Zügen vor ihm ließ sich nichts ablesen.
»Ich soll allein gehen, ja?«
»Nicht allein. Dick fliegt mit Ihnen nach London. Sobald dort die Formalitäten erledigt sind und die Apparatschiks ihre Vorschriften erfüllt haben, kommen wir alle nach England nach. Und Gail kümmert sich um Natascha«, fügte er hinzu, um möglichst gleich die Sorge zu beschwichtigen, die Dima vermutlich am meisten auf der Seele brannte.
»Ist sie krank, meine Natascha?«
»So ein Unsinn. Warum denn krank? Sie ist jung. Sie ist schön. Temperamentvoll. Rein. Sie braucht in einem fremden Land jemanden, der sich gut um sie kümmert, das ist alles.«
»Ja.« Dima nickte zustimmend mit dem kahlen Schädel. »Ja, schön wie ihre Mutter, das ist sie.«
Worauf er den Kopf mit einem Ruck wegdrehte, seitwärts und dann nach unten, als starrte er in einen Abgrund von Ängsten oder Erinnerungen, an denen Perry nicht teilhaben durfte. Wusste er es am Ende? Hatte es ihm Tamara, ob aus Gehässigkeit, Loyalität oder Unbedachtheit, gesagt? Und schloss Dima entgegen sämtlichen Erwartungen Nataschas ihr Geheimnis und ihren Kummer in sich ein, statt zur Treibjagd auf Max zu blasen? Fest stand jedenfalls, dass die Wut und die Auflehnung, die Perry befürchtet hatte, ausblieben, verdrängt wurden von der Kapitulation des Häftlings vor der Allmacht der Bürokratie, und diese Erkenntnis beunruhigte ihn nachhaltiger, als jeder noch so wilde Ausbruch es vermocht hätte.
»Paar Tage, ja?« So wie Dima es sagte, klang es wie ein Todesurteil.
»Das haben sie gesagt.«
»Sagt Tom, ja? Paar Tage?«
»So ist es.«
»Ist guter Mensch – Tom. Ja?«
»Unbedingt.«
»Dick auch. Hat den Scheißkerl fast abgemurkst.«
Diesem Gedanken hingen sie eine Weile vereint nach.
»Gail, sie hat Auge auf mein Tamara?«
»Gail wird ein sehr gutes Auge auf Ihre Tamara haben. Und die Jungs helfen ihr dabei. Und ich bin ja auch noch da. Wir passen auf die ganze Familie auf, bis sie nach England nachkommen können. Und dort passen wir dann auf euch alle zusammen auf.«
Dima ließ sich das durch den Kopf gehen, und die Vorstellung gefiel ihm ganz offensichtlich.
»Und mein Natascha darf auf Roedean-Schule?«
»Vielleicht nicht Roedean. Das können sie nicht versprechen. Vielleicht gibt es eine noch bessere Schule. Wir finden gute Schulen für alle. Keine Sorge.«
Es waren goldene Farben, in denen sie da zusammen malten. Perry wusste es, und Dima schien es auch zu wissen und gutzuheißen, denn sein Rücken wirkte deutlich gerader als zuvor, der Brustkorb praller, und auf seinem Gesicht lag wieder das Delphinlächeln, so wie an jenem ersten Abend auf dem Tennisplatz in Antigua.
»Machst du schnell Hochzeit mit diese Frau, hörst du, Professor?«
»Wir schicken Ihnen eine Einladung.«
»Musst du viel Kamele geben«, murmelte er mit einem kleinen Lächeln über seinen eigenen Scherz: keinem Verliererlächeln, empfand Perry, eher einem leicht nostalgischen, so als blickten sie auf ein gemeinsames Leben zurück – und ein wenig kam es Perry inzwischen tatsächlich so vor.
»Und dann, wir spielen Wimbledon, ja?«
»Auf jeden Fall. Oder sonst in Queen’s. Da bin ich immer noch Mitglied.«
»Kein Schwuchteltennis, hörst du?«
»Kein Schwuchteltennis.«
»Mit Wetten, okay? Bisschen Zug reinbringen?«
»Kann ich mir nicht leisten. Auf einmal verlier ich.«
»Bist du Schisser, hm?«
»Ich fürchte, ja.«
Und dann die gefürchtete Umarmung, das nicht enden wollende Eingezwängtsein an dem mächtigen, feuchten, bebenden Torso, das sich zog und zog. Aber als sie sich voneinander lösten, war Dimas Gesicht stumpf, die braunen Augen wie erloschen. Im nächsten Moment machte er wie auf ein Kommando hin kehrt und ging hinüber ins Wohnzimmer, wo Tamara wartete.
* * *
Es war nie eine Option gewesen, dass Perry mit Dima nach England fliegen könnte, weder an diesem Abend noch irgendwann später. Das hatte Luke von Anfang an gewusst, und er brauchte die Frage gar nicht ganz auszusprechen, bevor schon Hectors lapidares Nein kam. Hätte er plötzlich ja gesagt, dann hätte Luke Einspruch erhoben: Ungeschulte, enthusiastische Amateure als Begleitschutz für hochgehandelte Verräter, das lief allen seinen professionellen Grundsätzen zuwider.
Und so war es nicht Rücksicht auf Perrys Gefühle, sondern reine operative Vernunft, die Luke bewog, ihn bis Bern-Belp mitkommen zu lassen: Wenn man einen wichtigen Gewährsmann schon brutal von seiner Familie losriss, um ihn ohne echte Garantien an das Hauptquartier auszuliefern, so sagte er sich seufzend, dann war es wohl klug, ihm nicht auch noch den Trost seines erwählten Beschützers zu nehmen.
Doch die herzzerreißenden Abschiedsszenen, auf die Luke sich eingestellt hatte, blieben ihm erspart. Es wurde dunkel. Stille herrschte im Haus. Dima beorderte Natascha und seine beiden Söhne zu sich in den Wintergarten, um dort mit ihnen zu sprechen. Perry und Luke warteten derweil außer Hörweite in der Diele, Gail hielt die Mädchen bei Mary Poppins fest. Für seinen Antrittsbesuch bei den Gentlemen des Secret Service trug Dima den blauen Nadelstreifenanzug. Natascha hatte ihm sein bestes Hemd gebügelt, Viktor hatte die italienischen Schuhe gewienert, und Dima sorgte sich nun, dass sie ihm schmutzig werden könnten auf dem Weg hinunter zum Jeep. Aber da kannte er Ollie schlecht, denn Ollie hatte in der Diele nicht nur Decken, Handschuhe und dicke Wollmützen für die Fahrt über den Berg bereitgelegt, sondern auch ein Paar Gummigaloschen für Dima. Und Dima musste seiner Familie verboten haben, ihm zu folgen, denn er kam allein heraus, so forsch und unbußfertig aussehend wie in der Hotelhalle des Bellevue Palace, als er zeitgleich mit Aubrey Longrigg durch die Schwingtür getreten war.
Bei dem Anblick packte Luke ein Gefühl, wie er es seit Bogotá nicht mehr gekannt hatte. Hier kommt er, unser Kronzeuge – und auch Luke wird ja aussagen! Wenn nicht als Zeuge A hinter der Trennscheibe, dann als der schlichte Luke Weaver davor. Er wird ein Aussätziger sein, wie Hector. Und er wird mithelfen, Aubrey Longrigg und seine fröhliche Crew am Mast festzunageln, zum Teufel mit dem Fünf-Jahres-Vertrag als Ausbilder und einem schicken Häuschen ganz nahebei, zum Teufel mit guter Seeluft, guten Schulen für Ben und der Aussicht auf eine höhere Rente, während das Haus in London erst mal vermietet wird, nicht verkauft. Er wird damit aufhören, Promiskuität mit Freiheit zu verwechseln. Er wird um Eloise kämpfen und immer weiter kämpfen, bis sie wieder an ihn glaubt. Er wird sämtliche Schachpartien mit Ben zu Ende spielen und sich einen Job suchen, bei dem er zu einer vernünftigen Zeit nach Hause kommt und die Wochenenden freihat für ein echtes Familienleben, und verflixt, er ist erst dreiundvierzig und Eloise noch nicht mal vierzig.
Und so schien es Luke Schlusspunkt und Neubeginn in einem, als er nun neben Dima trat und sie alle drei Ollie hinunter zu dem Schuppen folgten, wo der Jeep geparkt stand.
* * *
Allzu viel nahm Perry bei aller Bergleidenschaft anfangs nicht wahr. Nur der Mond leuchtete durch die Bäume, als sie hinauf zur Kleinen Scheidegg fuhren, mit Ollie am Steuer und Luke neben ihm auf dem Beifahrersitz, und bei jeder der scharfen Kehren, die Ollie mit Standlicht nahm, sackte Dimas massiger Leib schwer gegen Perrys Schulter, denn Dima stützte sich nur im Notfall ab und ließ sich ansonsten hin und her werfen. Dennoch stockte Perry der Atem, als der geisterhafte schwarze Schatten der Eigernordwand immer näher rückte, und als sie an dem kleinen Bergbahnhof Alpiglen vorbeiruckelten, starrte er andächtig zur Weißen Spinne empor, nahm mit den Augen Maß an ihr und schwor sich, quasi als letzten Alleingang vor der Hochzeit, den Aufstieg zu versuchen.
Kurz vor der Passhöhe schaltete Ollie auch das Standlicht aus, und wie Diebe stahlen sie sich an dem wuchtigen Doppelumriss des großen Hotels vorbei. Unter ihnen kam als blasser Schimmer Grindelwald in Sicht. Der Weg führte nun bergab, tauchte in den Wald ein, und durch die Bäume blinkten die Lichter von Brandegg.
»Ab hier ist die Fahrbahn geteert«, rief Luke über die Schulter, für den Fall, dass die holperige Fahrt Dima nicht bekommen war.
Aber Dima hörte ihn entweder nicht, oder er scherte sich nicht um ihn. Den Kopf in den Nacken geworfen, saß er da, eine Hand an die Brust gedrückt, während der andere Arm auf der Lehne hinter Perrys Schultern ruhte.
Zwei Männer versperren die Straße vor ihnen und schwenken eine Taschenlampe.
* * *
Der ohne die Taschenlampe reckt gebieterisch die behandschuhte Hand hoch. Er ist für die Großstadt gekleidet – langer Mantel und Schal – und trotz seiner Halbglatze hutlos. Der Mann mit der Lampe trägt Polizeiuniform und eine Pelerine. Ollie ruft fröhlich zu ihnen hinaus, bevor er überhaupt zum Stehen gekommen ist.
»Na, was gibt’s?«, erkundigt er sich in einem französisch-schweizerischen Singsang, den Perry aus seinem Mund noch nie gehört hat. »Hat’s einen vom Eiger runtergehauen? Wir haben nicht einmal ein Karnickel gesehen.«
Dima ist ein reicher Türke, hat Luke sie instruiert. Er ist im Parkhotel abgestiegen, und seine Frau in Istanbul ist schwer erkrankt. Er hat sein Auto in Grindelwald stehen, und wir, seine englischen Mitgäste, spielen die guten Samariter. Einer Überprüfung wird es nicht standhalten, aber einmal kommen wir damit vielleicht durch.
»Warum nimmt der reiche Türke nicht die Zahnradbahn bis Lauterbrunnen und dann ein Taxi nach Grindelwald?«, hat Perry wissen wollen.
»Weil er Argumenten unzugänglich ist«, so Lukes Antwort. »Indem er mit dem Jeep querfeldein fährt, hofft er sich eine Stunde zu sparen. Um Mitternacht geht ein Flieger von Kloten nach Ankara.«
»Wirklich?«
Der Polizist richtet seine Taschenlampe auf ein lilafarbenes Dreieck an der Windschutzscheibe des Jeeps. Darauf steht ein großes G. Der Mann in den Stadtkleidern drückt sich hinter ihm herum, in der Schwärze hinter dem grellen Lichtkegel. Aber Perry hat das deutliche Gefühl, dass er den naseweisen Fahrer und seine drei Mitfahrer unter die Lupe nimmt.
»Wem gehört der Wagen?«, fragt der Polizist, ohne seine Musterung des lila Dreiecks zu unterbrechen.
»Arni Steuri. Klempner. Freund von mir. Sagen Sie bloß, Sie kennen Arni Steuri aus Grindelwald nicht? Gleich an der Hauptstraße, neben dem Elektrogeschäft.«
»Kommen Sie jetzt von Scheidegg herunter?«, bohrt der Polizist nach.
»Nein, Wengen.«
»Sie sind von Wengen nach Scheidegg hinaufgefahren?«
»Was dachten Sie denn? Geflogen?«
»Wenn Sie von Wengen nach Scheidegg hinauffahren, brauchen Sie noch eine Vignette, eine aus Lauterbrunnen. Die, die Sie da haben, gilt ausschließlich für die Strecke Scheidegg-Grindelwald.«
»Und auf wessen Seite sind Sie?«, sagt Ollie, der sich die Leutseligkeit nicht so schnell austreiben lässt.
»Offen gestanden bin ich aus Mürren«, erwidert der Polizist stoisch.
* * *
Ein Schweigen tritt ein. Ollie beginnt eine Melodie zu summen, auch das etwas, was Perry bei ihm noch nie erlebt hat. Er summt, und dabei kramt er, während der Polizist ihm mit seiner Taschenlampe leuchtet, in dem Wust von Papieren in der Fahrertür herum. Schweiß strömt Perry den Rücken hinab, obwohl er regungslos neben Dima sitzt. Kein schwieriger Gipfel, kein Überhang hat ihn je ins Schwitzen gebracht, ohne dass er sich bewegt. Ollie sucht weiter, immer noch summend, aber es klingt nicht mehr so frech wie zuvor. Ich bin Gast im Parkhotel, sagt Perry sich vor. Luke und ich, wir beide. Wir spielen guter Samariter für einen verstörten Türken, der keine Fremdsprache spricht und dessen Frau im Sterben liegt. Das eine Mal kommen wir damit vielleicht durch.
Der Mann in Zivil ist näher getreten und stützt sich am Jeep ab. Ollies Summen verliert immer mehr an Überzeugungskraft. Schließlich lehnt er sich mit kapitulierender Geste zurück, ein eselsohriges Dreieck in der Hand.
»Vielleicht tut die’s ja?«, sagt er und streckt dem Polizisten eine zweite Vignette hin, nicht lilafarben diesmal, sondern gelb, und ohne das aufgedruckte G.
»Nächstes Mal sorgen Sie bitte dafür, dass beide Vignetten gut sichtbar an der Windschutzscheibe angebracht sind«, sagt der Polizist.
Die Taschenlampe erlischt. Sie fahren wieder.
* * *
Für Perrys ungeübtes Auge schien der BMW friedlich da zu stehen, wo Luke ihn abgestellt hatte – keine Parkkrallen, keine unter die Scheibenwischer geklemmten Schmähschriften, einfach nur eine geparkte Limousine –, und was immer Luke suchte, als er und Ollie den Wagen vorsichtig umrundeten und Perry und Dima wie befohlen auf dem Rücksitz des Jeeps warteten, sie fanden es offenbar nicht, denn nun öffnete Ollie schon die Fahrertür, und Luke winkte sie eilig herüber, und im BMW saßen sie wieder in der gleichen Formation: Ollie am Steuer, Luke auf dem Beifahrersitz, Perry und Dima hinten. Von Dima war während des Halts und der Kontrolle kein Laut gekommen, keine Regung. Er hat in seinen Häftlingsmodus geschaltet, dachte Perry. Wir schaffen ihn von einem Gefängnis ins nächste, und die Einzelheiten sind nicht seine Sache.
Er linste in die Seitenspiegel, ob verdächtige Lichter ihnen folgten, sah aber nichts. Vereinzelt schien ein Auto ihnen nachzufahren, doch sobald Ollie vom Gas ging, überholte es. Er warf einen Blick zu Dima hinüber. Der döste. Sein kahler Schädel war noch immer unter der schwarzen Wollmütze versteckt. Darauf hatte Luke bestanden, Nadelstreifenanzug hin oder her. Ab und zu kippte Dimas Kopf leicht zu Perry herüber, dann kitzelte die ölige Wolle ihn an der Nase.
Sie hatten die Autobahn erreicht. Im Schein der Natriumdampflampen wurde Dimas Gesicht zur flackernden Totenmaske. Perry sah auf die Uhr, weniger um die exakte Zeit zu ermitteln als aus einem Bedürfnis nach Struktur, Orientierung. Ein blaues Schild kündigte den Belper Flughafen an. Drei Streifen – zwei noch – und hier war die Ausfahrt.
* * *
Der Flughafen war dunkler, als irgendein Flugplatz von Rechts wegen sein durfte. Das war das Erste, was Perry an ihm verwunderte. Gut, es war schon nach Mitternacht, aber man hätte deutlich mehr Lichter erwartet, selbst bei einer so kleinen Klitsche wie Belp, die die internationalen Weihen nicht so recht erlangen wollte.
Und es gab keine Formalitäten, wenn man nicht gerade den vertraulichen Wortwechsel mitrechnete, den Luke mit einem müden, graugesichtigen Mann im blauen Overall führte, der die einzige offizielle Präsenz weit und breit zu sein schien. Jetzt hielt Luke dem Mann irgendein Dokument hin – entschieden zu klein für einen Pass, also musste es eine Karte sein, ein Führerschein, vielleicht auch ein kleiner, gutgefüllter Umschlag?
Was immer es war, der Graugesichtige im blauen Overall musste es in besserem Licht studieren, denn er wandte sich ab und beugte sich im Strahl des Deckenlämpchens darüber, und als er sich Luke wieder zudrehte, war das Ding nicht mehr in seiner Hand, also hatte er es entweder behalten, oder er hatte es Luke wieder zugesteckt, ohne dass Perry es sehen konnte.
Und nach dem Graugesichtigen – der ohne ein Wort in irgendeiner Sprache verschwunden war – kamen ein paar gegeneinander verschobene graue Sichtschirme, aber niemand, der ihnen zusah, wie sie dazwischen hindurchgingen. Und nach den Sichtschirmen ein stehendes Gepäckkarussell und eine schwere Automatiktür, die aufglitt, ehe sie sie noch erreicht hatten – sind wir schon durch? unmöglich! –, dann eine leere Abflughalle, von der vier Glastüren direkt aufs Rollfeld hinausführten, und nach wie vor keine Menschenseele, die ihr Gepäck oder sie selbst filzte, sie Schuhe und Jacketts ausziehen hieß, sie finster durch Panzerglasscheiben fixierte, fingerschnippend nach ihren Pässen verlangte oder sie mit gezielt entnervenden Fragen über Dauer und Grund ihres Aufenthaltes löcherte.
Und wenn so viel privilegierte Nichtbeachtung, wie sie ihnen hier zuteil wurde, tatsächlich das Ergebnis von Hectors Privatinitiative war – wie Luke Perry ja angedeutet und Hector selbst praktisch bestätigt hatte –, dann konnte Perry nur sagen: Hut ab!
Die vier Glastüren zum Rollfeld hinaus wirkten auf Perry alle gleichermaßen verschlossen, aber Luke, der verlässliche Partner am Seil, wusste es besser. Er marschierte geradewegs zu der Tür ganz rechts, stupste leicht dagegen, und siehe da, sie glitt gehorsam zur Seite, so dass ein frischer Luftzug durch die Halle geweht kam und Perry übers Gesicht strich, wofür er rechtschaffen dankbar war, denn er fühlte sich unerklärlich feucht und verschwitzt.
Und an dieser offenen Tür, hinter der die Nacht wartete, legte Luke Dima die Hand auf den Arm, sanft, nicht besitzergreifend, und Dima ließ sich von ihm widerstandslos fort von Perrys Seite und aufs Rollfeld hinausführen, wo Luke wie auf einen Warnruf hin scharf nach links wegbog und Dima mit sich zog, so dass Perry hinter ihnen verunsichert stockte und nicht wusste, ob er weiter mitdurfte oder nicht. Irgendetwas war anders an Dima. Perry begriff erst verzögert, was es war: Im Hinausgehen hatte sich Dima die Wollmütze vom Kopf gezogen und sie in einem paratstehenden Mülleimer entsorgt.
Und als auch Perry sich nach links drehte, sah er, was Luke und Dima schon vor ihm gesehen haben mussten: ein zweimotoriges Flugzeug mit ausgeschalteten Lichtern und sanft rotierenden Propellern in etwa fünfzig Metern Entfernung, in dessen Spitze zwei geisterhafte Piloten zu ahnen waren.
Der Abschied fiel aus.
Ob das traurig war oder gut, hätte Perry nicht sagen können, auch im Nachhinein nicht. Es hatte so viele Umarmungen gegeben, so viele Begrüßungsszenen, echte und gestellte, es hatte Willkomm und Abschied und Liebesbeteuerungen in solcher Fülle gegeben, dass ihr Maß an Begegnungen und Trennungen vielleicht einfach voll war, das Kontingent ausgeschöpft.
Oder vielleicht – wieder nur vielleicht – war Dima zu aufgewühlt, um zu sprechen oder zurückzuschauen oder Perry auch nur anzusehen. Vielleicht strömten ihm die Tränen übers Gesicht, während er auf das kleine Flugzeug zuhielt, einen verblüffend zarten Fuß so säuberlich vor den anderen gesetzt, als ginge er über die Planke.
Und auch Luke, der nun ein, zwei Schritte hinter Dima zurückfiel, wie um ihm nicht die Schau zu stehlen, würdigte Perry nicht eines Worts. Es war der vom Leben geformte Mann vor ihm, auf den Luke blickte, nicht Perry, der allein in seinem Rücken stand. Es war Dima, hoheitlich wie nur je: barhäuptig, leicht hintübergelehnt, mit seinem verhaltenen, würdevollen Humpeln.
Wobei Lukes Zurückfallen natürlich auch taktische Gründe hatte. Luke wäre nicht Luke gewesen, wenn nicht Taktik mit hineingespielt hätte. Er war der umsichtige, flinke Schafhirt aus den kumbrischen Bergen, wo Perry als Junger einmal gewandert war, der seinen Prachtwidder mit einem Höchstmaß an geistiger und körperlicher Konzentration die Stufen hinauf in das schwarze Loch der Kabine trieb, jeden Moment darauf gefasst, dass er scheute oder ausbrach oder schlicht stocksteif stehen blieb.
Aber Dima scheute nicht, brach nicht aus, blieb nicht stehen. Zügig stieg er das Treppchen hinauf und in die Schwärze, und kaum hatte die Schwärze ihn verschluckt, da sprang der kleine Luke auch schon hinter ihm her. Und entweder schloss einer dort oben die Tür hinter ihnen, oder Luke schloss sie selbst: Scharniere seufzten, mit einem metallischen Doppelklacken wurde die Tür von innen verriegelt, und das schwarze Loch im Flugzeugrumpf verschwand.
Auch an den Start erinnerte sich Perry nur unscharf. Ich sollte Gail anrufen, schoss es ihm durch den Kopf, ihr sagen, dass der Adler seinen Flug begonnen hat, irgendetwas in dem Stil. Und mir dann einen Bus suchen, oder ein Taxi. Oder gleich zu Fuß in die Stadt? Er war sich unsicher, in welche Richtung Belp lag, wenn es überhaupt ein Belp gab. Aber Ollie stand ja neben ihm, begriff er dann – die Rückkehr zu Gail und der vaterlosen Familie in Wengen war nicht das Problem.
Das Flugzeug hob ab, Perry winkte nicht. Er sah zu, wie es stieg und sich scharf in die Kurve legte, denn der Flughafen Belp liegt zwischen Hügeln und kleinen Bergen, und die Piloten müssen auf Zack sein. Diese Piloten waren es offensichtlich. Eine ganz normale Chartermaschine, so wie es aussah.
Und es war keine Explosion zu hören. Jedenfalls hörte Perry keine. Später wünschte er fast, er hätte es. Nur ein dumpfer Schlag, als prallte ein Boxhandschuh gegen einen Sandsack, ein langer weißer Blitz, der die schwarzen Berge auf ihn einstürzen ließ, und dann nichts mehr, absolut gar nichts, bis die Streifenwagen und Krankenwagen und Feuerwehrautos angeheult kamen und das eine Licht, das erloschen war, überspült wurde von einer Flut von Blaulicht.
* * *
Instrumentenausfall, so lautet momentan das halboffizielle Urteil. Motorenversagen gilt ebenfalls als möglich. Eine weitere Variante ist Laxheit seitens namenloser Wartungsmechaniker. Der arme kleine Belper Flughafen steht schon lange unter Beschuss durch die Experten, und seine Gegner trumpfen nun mächtig auf. Auch die Bodenkontrolle könnte schuld sein. Zwei Sachverständigengremien sind sich über die Ursache uneins. Die Versicherungen werden vermutlich nicht zahlen, ehe der Hergang nicht geklärt ist. Die verkohlten Leichname geben weiterhin Rätsel auf. Nicht die beiden Piloten selbstredend: Charterpiloten zwar, aber beide mit langjähriger Flugerfahrung, beide durch und durch seriös, verheiratet, keinerlei Hinweis auf Alkohol oder illegale Substanzen, nichts Abträgliches irgendwo in ihren Akten, und die Ehefrauen daheim in Harrow, wo ihre Familien sitzen, verkehren auf freundschaftlichem Fuß. Zwei Tragödien also, aber den Medien nur einen Tag der Erwähnung wert. Doch wie um alles in der Welt kommt ein ehemaliger Angehöriger der Britischen Botschaft in Bogotá in das Flugzeug eines »dubiosen russischen Minigarchen« mit Wohnsitz in der Schweiz? Sogar die Boulevardpresse ist um Gründe verlegen. Kann es Sex gewesen sein? Drogen? Waffenschmuggel? Aus Mangel an Beweisen war es keines der drei. Auch der Terror, diese Wunderwaffe unserer Tage, wurde ins Spiel gebracht, aber sehr schnell wieder fallenlassen.
Niemand hat die Verantwortung übernommen.