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Gail hatte sich auf alle möglichen Empfindungen eingestellt, als sie an einem wolkigen Junisamstag in St. Pancras den 12:39-Eurostar nach Paris bestiegen, aber Erleichterung war so ungefähr der letzte Posten auf ihrer Liste gewesen. Und doch war es Erleichterung, wenn auch eine mit Vorbehalten und Einschränkungen aller Art versetzte, die sie empfand, und wenn Perrys Miene irgendwelche Rückschlüsse zuließ, dann ging es ihm ebenso. Endlich herrschte Klarheit, die Trennlinie zwischen ihnen war weg, sie würde Natascha und die Mädchen wiedersehen und durfte Perry bei seiner Land-und-Freiheit-Nummer den Schweiß von der Stirn wischen – doch, ja, Gail war erleichtert, was jedoch weder hieß, dass sie ihren kritischen Verstand über Bord geworfen hatte, noch, dass sie Perrys Rolle als Topspion auch nur halb so viel abgewinnen konnte wie er.

Seine Bekehrung hatte sie nicht sonderlich überrascht, auch wenn man ein Perry-Kenner sein musste, um das Ausmaß seiner Wandlung zu begreifen: von hochfliegender Verweigerung zu restloser Hingabe an das, was Hector »unsere Sache« nannte. Zugegeben, vereinzelt flackerten in Perry letzte ethische oder moralische Bedenken auf, sogar Zweifel – ist dies wirklich die einzig mögliche Herangehensweise? Führt nicht auch ein einfacherer Weg zum Ziel? –, aber er war imstande und legte sich eine solche Frage mitten in der Wand vor, wenn unter ihm längst der Abgrund gähnte.

Den Keim zu seiner Bekehrung, das sah sie jetzt deutlich, hatte nicht erst Hector gelegt, sondern bereits Dima, der seit Antigua in Perrys Begriffsschatz zum Edlen Wilden erster Güte aufgerückt war:

»Überleg doch, Gail, wenn wir in sein Leben hineingeboren wären! Nein, von ihm ausgewählt zu sein ist eine Ehre, da kannst du sagen, was du willst. Und ich meine, denk an die Kinder!«

Als könnte sie die Kinder eine Sekunde vergessen! Sie dachte Tag und Nacht an sie, gerade an Natascha – auch deshalb hütete sie sich einzuwenden, dass der angstschlotternde Dima draußen auf seiner Landzunge in Antigua vielleicht nicht völlig frei gewesen war in der Wahl seines Boten oder Beichtvaters oder Gefangenenfürsorgers, oder wozu immer Perry von ihm ernannt worden war oder sich selbst ernannt hatte. Sie hatte immer gewusst, dass der schlummernde Romantiker in ihm nur darauf wartete, sich selbstlos in den Kampf stürzen zu dürfen, und wenn dazu eine Prise Gefahr winkte, umso besser!

Nur ein Gleichgesinnter hatte gefehlt, der zum Gefecht blies: Auftritt Hector, charmant, witzig, täuschend entspannt. Der ewige Streiter, so sah ihn Gail, der Prototyp des gerechtigkeitsbesessenen Mandanten, der mit allen Mitteln beweisen will, dass das Land, auf dem die Westminster Abbey erbaut ist, ihm gehört. Und wenn sich ihre Kanzlei hundert Jahre mit dem Fall herumschlug, würde der Beweis wahrscheinlich erbracht und er würde vor Gericht Recht erhalten. Aber die Abtei würde nach wie vor stehen, wo sie war, und das Leben würde weitergehen wie gehabt.

Und Luke? Nun, soweit es Perry betraf, war Luke einfach Luke, ein tüchtiger Helfer, keine Frage, umsichtig, erfahren, professionell. Dennoch hatte es Perry zugegebenermaßen beruhigt zu wissen, dass Luke nicht der Teamleiter war, wie sie zunächst gedacht hatten, sondern Hectors Adlatus. Und da Hector in Perrys Augen nicht irren konnte, war dies unzweifelhaft der rechte Platz für Luke.

Gail war sich da nicht so sicher. Je näher sie Luke in diesen zwei Einarbeitungswochen kennengelernt hatte, desto mehr erschien er ihr – trotz seines Augenzuckens und seiner überfeinen Manieren, trotz der Sorgenknitter, die über sein Gesicht huschten, wenn er dachte, dass niemand es sah – als der Verlässlichere der beiden, und Hector mit seinen kühnen Zusicherungen, seiner Lästerzunge, seiner überwältigenden Überredungsgabe als der unsichere Kandidat.

Dass Luke außerdem verliebt in sie war, überraschte sie weder, noch irritierte es sie. Die Männer verliebten sich ständig in sie. Es hatte etwas Beruhigendes, zu wissen, wie ihre Gefühle gelagert waren. Dass Perry davon nichts merkte, überraschte sie ebenso wenig. Auch seine Dickfelligkeit hatte etwas Beruhigendes.

Nein, was ihr unheimlich war, das war die Passion, mit der Hector zu Werke ging, dieses Missionarische an ihm – eben das, was Perry so faszinierte.

»Ich muss ja erst noch zeigen, was in mir steckt«, hatte Perry gesagt, in dem beiläufig-selbstbezichtigenden Ton, den er gern einmal anstimmte. »Hector ist vom Leben geformt« – diese Auszeichnung, um die ihm selbst so zu tun war und die er nur so zögernd verlieh.

Hector als die vollendete, geformte Version von Perry? Hector, der Macher, der in die Tat umsetzte, wovon Perry immer nur sprach? Nun, wer kämpfte denn jetzt an vorderster Front? Perry. Und wer besorgte das Reden? Hector.

* * *

Aber Perry stand ja nicht nur im Banne Hectors, er stand auch in Ollies Bann. Perry, der so stolz auf seinen untrüglichen Blick dafür war, wer am Seil etwas taugte und wer nicht, war wie Gail aus allen Wolken gefallen, dass der ungeschlachte, unsportliche Ollie mit seiner tuntenhaften Art und seiner Abgehobenheit und seinem Ohrring und dem verschütteten fremdländischen Akzent, den Gail nicht zuordnen konnte und den zu hinterfragen sie zu wohlerzogen war, sich als begnadeter Pädagoge entpuppte, als ein akribischer, eloquenter Lehrmeister, bei dem jede Lektion Spaß machte und jede Lektion saß.

Dass darüber ihre kostbaren Wochenenden draufgingen, dass es nicht selten spätabends nach einem harten Tag in der Kanzlei oder bei Gericht war, dass Perry in Oxford ätzenden Zeugnisverleihungszeremonien beiwohnen, sich von seinen Studenten verabschieden, seine Wohnung ausräumen musste – egal. Ollie verzauberte sie binnen Sekunden, ob sie in ihrem Kellerloch schwitzten oder in einem belebten Café in der Tottenham Court Road saßen, mit Luke draußen auf dem Gehsteig und dem baskenbemützten Ollie in seinem Taxi, um die Spielsachen aus Ollies schwarzem Museum durchzuprobieren, all die Füller, Blazerknöpfe und Krawattennadeln, die lauschten, übermittelten, aufnahmen oder alles drei. Für die Dame bot sich Modeschmuck an.

»Na, was davon lacht uns am meisten an, Gail?«, hatte Ollie gefragt, als sie ausstaffiert werden sollte. Und als sie sagte: »Wenn Sie’s genau wissen wollen, Ollie, ich finde sie alle zum Fürchten«, waren sie postwendend zu Liberty’s marschiert, um etwas auszusuchen, das sie eher anlachte.

Dabei ging die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemals von Ollies Schätzen Gebrauch machen mussten, gegen null, wie er geflissentlich betonte:

»Es fiele Hector ja nicht im Traum ein, Sie auch nur in die Nähe zu lassen, wenn’s ernst wird, Schätzchen. Es ist rein für den Fall der Fälle. Nur falls Sie urplötzlich etwas Weltbewegendes mitbekämen, mit dem keiner von uns gerechnet hat, und für Sie keinerlei Gefahr für Leib, Leben et cetera besteht. Dann sollen Sie das nötige Knowhow haben, das ist alles.«

Im Rückblick bezweifelte Gail das. Ihr Verdacht war, dass Ollies Spielzeug in Wahrheit einzig dem Zweck diente, die Leute, die damit umzugehen lernten, psychologisch abhängig zu machen.

»Ihre Einweisung wird auf Ihre Bedürfnisse abgestimmt sein, nicht auf unsere«, hatte Hector ihnen bei seiner kleinen Truppenansprache am ersten Abend mitgeteilt, mit einem Pathos in der Stimme, wie es Gail seitdem nie mehr bei ihm gehört hatte – vielleicht war ja auch er nervös. »Perry, wenn Ihnen in Oxford eine außerplanmäßige Sitzung in die Quere kommt oder was weiß ich, bleiben Sie dort und rufen Sie uns an. Gail, was immer Sie in Ihrer Kanzlei zu tun haben, gehen Sie kein Risiko ein. Sich natürlich geben und geschäftig sein, das ist die Parole. Jede Veränderung im Lebensstil von Ihnen beiden könnte auffallen und ist insofern kontraproduktiv. Alles klar soweit?«

Als Nächstes wiederholte er für Gail noch einmal das Versprechen, das er bereits Perry gegeben hatte:

»Wir werden Ihnen so wenig sagen, wie wir können, aber alles, was wir Ihnen sagen, wird die Wahrheit sein. Sie treten diese Reise als zwei reine Toren an. So will Dima es, und so will ich es, und Luke und Ollie genauso. Was Sie nicht wissen, können Sie auch nicht verbocken. Jedes neue Gesicht muss für Sie wirklich ein neues Gesicht sein. Jedes erste Mal tatsächlich das erste Mal. Dima will Sie auf dieselbe Art waschen wie sein Geld. Sie in sein soziales Gefüge eingliedern, aus Ihnen eine anständige Währung machen. Er wird an jedem Ort, an dem er sich aufhält, praktisch unter Hausarrest stehen, und das im Zweifel schon seit Moskau. Das ist sein Problem, und er wird lange und intensiv darüber nachgedacht haben, wie er es lösen kann. Er ist der Gearschte bei diesem Spiel, und der Gearschte hat immer den Schwarzen Peter. Also muss er uns zeigen, wie er ihn wieder losbekommt.« Und als ein Hector-typisches Nachschiebsel: »Immer diese Fäkalsprache. Entspannt mich irgendwie. Erdet mich. Luke und Ollie sind umso prüder, da gleicht sich das aus.«

Es folgt der Predigtteil:

»Das hier ist keine – ich wiederhole, keine – Schulung. Wir haben nicht mehrere Jahre Zeit, nur ein paar Stunden über ein paar Wochen hinweg. Nein, hier geht’s um ein Hereinschnuppern, es geht um Vertrauensaufbau, es geht darum, sich aufeinander verlassen zu lernen. Und zwar bei jedem Wetter. Sie sich auf uns, wir uns auf Sie. Aber Sie sind keine Spione. Also versuchen Sie um Gottes willen auch keine zu sein. Denken Sie keine Sekunde an Überwachung. Von Überwachung haben Sie noch nie was gehört. Sie sind ein junges Pärchen, das sich ein paar Tage in Paris gönnt. Das heißt, fangen Sie bloß nicht an, sich vor Schaufenstern rumzudrücken oder verstohlen über die Schulter zu spähen oder in Nebensträßchen zu verschwinden. Bei Handys ist der Fall ein bisschen anders gelagert«, fuhr er, ohne abzusetzen, fort. »Hat einer von Ihnen sein Handy vor Dima oder seiner Horde benutzt?«

Sie hatten ihre Handys auf dem Balkon ihres Häuschens benutzt, Gail für ein Telefonat mit der Kanzlei, natürlich wegen Samson gegen Samson, Perry, um seine Vermieterin in Oxford anzurufen.

»Hat irgendeiner aus Dimas Haufen Ihre Handys klingeln hören?«

Nein. Mit Nachdruck.

»Kennen Dima oder Tamara die Handynummer von einem von Ihnen oder von Ihnen beiden?«

»Nein«, sagte Perry.

»Nein«, sagte auch Gail, wenngleich eine Spur weniger entschieden.

Natascha hatte Gails Nummer, und Gail hatte die von Natascha. Aber so, wie die Frage gestellt war, entsprach ihre Antwort der Wahrheit.

»Dann passt das ja mit unseren verschlüsselten Geräten, Ollie«, sagte Hector. »Blau für Gail, Silber für ihn. Und Sie beide, geben Sie Ihre Sim-Karten bitte Ollie, und er kümmert sich um den Rest. Bei Ihren neuen Telefonen werden nur die Gespräche zwischen uns fünf verschlüsselt sein. Sie finden uns drei gespeichert unter Tom, Dick und Harry. Tom bin ich, Luke ist Dick, Ollie Harry. Perry, Sie heißen Milton, wie der Dichter. Gail ist Doolittle, nach Eliza. Jeweils vorgespeichert. Alles Übrige an den Telefonen funktioniert wie gewohnt. Ja, Gail?«

Gail die Anwältin:

»Heißt das, Sie hören ab jetzt bei unseren Gesprächen mit, wenn Sie es nicht schon längst tun?«

Gelächter.

»Wir hören nur die Gespräche über die verschlüsselte Leitung.«

»Keine anderen? Ganz sicher?«

»Keine anderen. Versprochen.«

»Nicht mal, wenn ich mit meinen fünf heimlichen Liebhabern flirte?«

»Nicht mal dann, leider Gottes.«

»Was ist mit unseren privaten SMS

»Um Himmels willen. Das bringt nichts und nervt nur.«

»Aber wenn unsere gespeicherten Verbindungen untereinander sowieso verschlüsselt sind, wozu brauchen wir dann diese komischen Namen?«

»Weil die Leute im Bus auch Ohren haben. Noch irgendwelche weiteren Fragen der Anklage? Ollie, wo bleibt der verdammte Malt?«

»Kommt sofort, Skipper. Ich hab uns sogar schon die nächste Flasche besorgt« – immer mit dieser aufreizend ortlosen Stimme.

* * *

»Und Ihre Familie, Luke?«, hatte Gail ihn eines Abends vor dem Heimgehen bei Suppe und einer Flasche Rotwein in der Küche gefragt.

Es verblüffte sie, dass sie die Frage nicht längst einmal gestellt hatte. Vielleicht – unschöner Gedanke – hatte sie keine Lust dazu gehabt, es vorgezogen, ihn zappeln zu sehen. Es verblüffte offenbar auch Luke, denn seine Hand schnellte hoch zu seiner Stirn, um eine kleine, blasse Narbe zu begütigen, die aus eigenem Antrieb zu kommen und wieder zu verschwinden schien. Die Pistolenmündung eines Spionskollegen? Oder die Bratpfanne einer wütenden Ehefrau?

»Nur ein Kind, fürchte ich, Gail«, sagte er, als müsste er sich dafür entschuldigen, dass es nicht mehr waren. »Ein Junge. Phantastischer kleiner Bursche. Ben, so heißt er. Hat mir alles beigebracht, was ich vom Leben weiß. Und im Schach schlägt er mich auch, der Racker. Ja.« Ein Zucken des ungebärdigen Augenlids. »Das Problem ist nur, wir kriegen unsere Partien nie fertig. Zu viel hiervon.«

Hiervon? Meinte er den Alkohol? Das Spionieren? Oder die Liebe?

Sie hatte ihn kurz verdächtigt, etwas mit Yvonne zu haben, hauptsächlich wegen Yvonnes diskret bemutternder Art gegen ihn. Dann entschied sie, dass die beiden einfach nur ein Mann und eine Frau waren, die eng zusammenarbeiteten, bis sie ihn eines Abends dabei ertappte, wie er bald sie, bald Yvonne anstarrte, als wären sie zwei höhere Wesen, und sie dachte, dass sie in ihrem ganzen Leben kein so trauriges Gesicht gesehen hatte.

* * *

Es ist der letzte Abend. Ende des Schuljahrs. Ende der Schulzeit überhaupt. Nie wieder wird es zwei solche Wochen geben. In der Küche bereiten Yvonne und Ollie einen Wolfsbarsch in Salzkruste zu. Ollie singt La Traviata, gar nicht so schlecht, und Luke übt sich in Wertschätzung – strahlt alle an und schüttelt übertrieben bewundernd den Kopf. Hector hat eine Magnumflasche Meursault spendiert; zwei, um genau zu sein. Aber erst einmal bittet er Perry und Gail zu sich in den chintzbezogenen Salon des Schuldirektors. Setzen wir uns, oder stehen wir? Hector bleibt stehen, also bleibt Perry, unverbesserlicher Formalist, der er ist, ebenfalls stehen. Gail wählt einen Stuhl unter einer Roberts-Lithographie von Damaskus.

»So«, sagt Hector.

So, stimmen sie zu.

»Letzte Worte also. Ohne Zeugen. Unser Job ist gefährlich. Das hab ich Ihnen schon gesagt, aber ich sag’s Ihnen noch mal. Er ist sogar scheißgefährlich. Sie können immer noch abspringen, und keiner verübelt es Ihnen. Wenn Sie an Bord bleiben, päppeln wir Sie nach Kräften, aber wir haben keinen Fatz an brauchbarer logistischer Unterstützung für Sie. Wir sind barfuß unterwegs, wie wir das nennen. Sie brauchen sich nicht groß zu verabschieden. Lassen Sie Ollies Fisch Fisch sein, holen Sie Ihre Jacken aus der Garderobe, gehen Sie zur Haustür hinaus, und das alles ist nie passiert. Letzter Aufruf.«

Er ahnt nicht, der letzte von wie vielen. Perry und Gail haben die Frage in jeder einzelnen der vergangenen vierzehn Nächte durchdiskutiert. Es war Perry ein Anliegen, dass Gail für sie beide antwortet, also sagt sie nun:

»Von uns aus geht das klar. Unser Entschluss steht. Wir machen es.« Es klingt heldischer als beabsichtigt, und Perry nickt langsam und gewichtig und sagt: »Hundertpro«, was genauso wenig nach ihm klingt – wie ihm selbst bewusst zu sein scheint, denn er gibt Hectors Frage prompt an ihn zurück:

»Was ist denn mit euereins?«, will er wissen. »Packen euch zwischendurch nicht auch Zweifel?«

»Ach, wir sind eh am Arsch«, erwidert Hector leichthin. »Aber genau darum geht’s doch, oder? Wenn schon am Arsch, dann im Dienst einer guten Sache.«

Was für Perrys Puritanerseele natürlich Balsam ist.

* * *

Und so wie Perry dreinschaute, als sie in die Gare du Nord einfuhren, wirkte dieser selbe Balsam noch in ihm nach, denn er trug einen unterdrückten Ich-bin-England-Blick im Gesicht, der Gail völlig neu an ihm war. Erst als sie im Hôtel des Quinze Anges ankamen – ein Quartier, wie nur Perry es auswählen konnte: schäbig, eng, fünf baufällige Stiegen hoch, winzige Zimmer, Einzelbetten so schmal wie ein Bügelbrett, und die rue du Bac nur einen Steinwurf entfernt –, begann ihnen die ganze Tragweite dessen aufzugehen, worauf sie sich hier eingelassen hatten. Es war, als hätte die Zeit in Bloomsbury, quasi mit Familienanschluss – ein gemütliches Stündchen mit ihrem Kumpel Ollie, noch eines mit ihrem Kumpel Luke, Yvonne sagt hallo, Hector wird kurz auf einen Schlummertrunk vorbeischauen –, ihnen ein Gefühl der Unverwundbarkeit verliehen, das nun, da sie allein waren, rapide verflog.

Sie konnten sich außerdem nicht mehr normal unterhalten, stellten sie fest. Sie redeten miteinander wie ein Musterpärchen aus der Werbung:

»Ich freue mich schon riesig auf morgen, du auch?«, sagt Doolittle zu Milton. »Ich habe Federer noch nie in natura gesehen. Ich bin total gespannt.«

»Ich hoffe ja nur, das Wetter spielt mit«, antwortet Milton Doolittle mit einem besorgten Blick aus dem Fenster.

»Ich auch«, pflichtet ihm Doolittle ernsthaft bei.

»Wie wär’s, wenn wir unseren Kram auspacken und einen Happen essen gehen?«, schlägt Milton vor.

»Gute Idee«, sagt Doolittle.

Aber in Wahrheit denken sie: Wenn das Match ins Wasser fällt, was um Himmels willen macht Dima dann?

Perrys Handy klingelt. Hector.

»Hallo, Tom«, sagt Perry wie ein Idiot.

»Gut angekommen, Milton?«

»Alles bestens. Reibungslose Fahrt. Hat alles wie am Schnürchen geklappt«, sagt Perry mit genügend Begeisterung für sie beide.

»Und heute Abend sind Sie dann auf sich gestellt.«

»Wie besprochen.«

»Doolittle gesund und munter?«

»Wie ein Fisch im Wasser.«

»Rufen Sie an, wenn Sie irgendwas brauchen. Wir sind rund um die Uhr für Sie da.«

* * *

Auf ihrem Weg durch die winzig kleine Hotelhalle bespricht Perry seine wettertechnischen Befürchtungen in aller Ausführlichkeit mit einer furchteinflößenden Dame, die Madame Mère genannt wird, wie die Mutter Napoleons. Er kennt sie seit seinen Studententagen, und Madame Mère, wenn man ihr denn glauben darf, liebt Perry wie einen Sohn. Sie misst knappe eins fünfzig in ihren Pantoffeln, und niemand, so Perry, hat sie je ohne das Tuch um ihre Lockenwickler zu Gesicht bekommen. Gail hört es gern, wenn Perry drauflosparliert, aber dass er gar so fließend spricht, verstimmt sie immer ein bisschen, vielleicht auch, weil er sich so bedeckt darüber hält, von wem er sein Französisch gelernt hat.

In einem tabac in der rue de l’Université essen Milton und Doolittle ein fades Steak-frites mit suppigem Salat dazu und sind sich einig, dass es das beste der Welt ist. Ihren Liter roten Hauswein schaffen sie nicht ganz und nehmen den Rest mit ins Hotel.

»Machen Sie alles so, wie Sie es sonst auch täten«, hat Hector sie sorglos angewiesen. »Wenn Sie Pariser Freunde haben und sich mit ihnen einen netten Abend machen wollen, warum nicht?«

Weil wir nicht das tun würden, was wir sonst auch täten, ganz einfach. Weil wir keine Lust hätten, mit unseren Pariser Freunden in einem Café in St. Germain zu sitzen, wenn uns ein Elefant namens Dima durch den Kopf trampelt. Und weil wir niemandem Lügenmärchen darüber erzählen wollen, wo wir unsere Karten für das Finale morgen herhaben.

* * *

Wieder im Zimmer, trinken sie ihren restlichen Rotwein aus Zahnputzbechern und lieben sich dann andächtig und wortlos, die beste Art. Am nächsten Morgen verschläft Gail vor lauter Nervosität, und als sie aufwacht, starrt Perry auf die Regentropfen, die das verdreckte Fenster sprenkeln, und quält sich neuerlich mit der Frage, was Dima wohl macht, wenn das Spiel abgesagt wird. Und falls es auf Montag verschoben wird – Gails Überlegung –, muss sie dann in der Kanzlei anrufen und eine Sommergrippe vorschützen, was ohnehin als Menstruationsbeschwerden verstanden wird?

Sie lassen es langsam angehen. Nach Kaffee und Croissants, die ihnen Madame Mère ans Bett bringt (wobei sie Gail beifällig »Quel titan alors« zuraunt), und einem überflüssigen Anruf von Luke, der nur fragen will, ob sie gut geschlafen haben und sich fit fürs Tennis fühlen, liegen sie im Bett und besprechen, was sie mit ihrem Tag anfangen sollen, bis um drei Uhr das Spiel beginnt, so dass sie mit genügend Vorlauf zum Stadion kommen und in Ruhe ihre Plätze suchen können.

Sie lösen es so, dass sie sich an dem winzigen Waschbecken abwechseln und dann, als sie angezogen sind, in Perrys Tempo zum Musée Rodin marschieren, sich da einem Pulk von Schulkindern anschließen, es genau rechtzeitig in den Museumsgarten schaffen, um draußen nassgeregnet zu werden, unter den Bäumen vor dem Regen Schutz suchen, dann doch ins Museumscafé flüchten und von dort durch die Tür ins Freie spähen, um festzustellen, in welche Richtung die Wolken ziehen.

Nachdem sie ihren Kaffee stehenlassen haben (einvernehmlich, aber ohne zu wissen, warum), beschließen sie einen Abstecher in die Jardins des Champs-Élysées, doch die sind aus Sicherheitsgründen geschlossen. Michelle Obama und ihre Kinder sind in der Stadt, hat Madame Mère ihnen erzählt, aber das ist ein Staatsgeheimnis, darum wissen es nur Madame Mère und das ganze restliche Paris.

Dafür erweist sich der Garten des Marigny-Theaters als geöffnet, leer bis auf zwei ältliche Araber in schwarzen Anzügen und weißen Schuhen. Doolittle sucht eine Bank aus, Milton heißt ihre Wahl gut. Doolittle starrt in die Kastanien, Milton in seinen Stadtplan.

Perry kennt sein Paris und hat selbstredend genauestens ausgetüftelt, wie sie zum Roland-Garros-Stadion gelangen – Metro bis da und da, Bus bis dort und dort, mit einem dicken Zeitpolster, damit sie auch ja pünktlich sind.

Dennoch tut er natürlich recht daran, seine Nase in einen Stadtplan zu stecken, denn was soll man sonst tun, wenn man ein Liebespaar auf Paris-Urlaub ist und sich wie zwei Idioten auf einer Parkbank nassregnen lässt?

»Alles im grünen Bereich, Doolittle? Keine kleinen Probleme, die wir für Sie lösen können?« Luke, diesmal direkt an Gail, und sie muss an den Onkel Doktor aus ihrer Mädchenzeit denken, den Hausarzt der Familie Perkins: Halskratzen, Gail? Dann machen wir uns doch mal frei und gucken nach.

»Keine Probleme, nichts, was Sie für uns tun könnten, danke sehr«, erwidert sie knapp. »In einer halben Stunde geht’s los, sagt Milton.« Und meinem Hals fehlt auch nichts, tut mir leid.

Perry faltet seinen Stadtplan zusammen. Lukes Anruf ärgert Gail, sie fühlt sich entblößt. Ihr Mund ist ganz trocken, sie saugt die Lippen an, befeuchtet sie von innen. Wie schwachsinnig soll das hier noch werden? Sie treten wieder hinaus auf das leere Trottoir und gehen hinauf in Richtung Arc de Triomphe, Perry mit langen Schritten vorneweg, wie es seine Art ist, wenn er allein sein möchte, es aber nicht darf.

»Hast du sie noch alle?«, zischt sie ihm ins Ohr.

Er hat sich in eine muffige Einkaufspassage verdrückt, aus der plärrende Rockmusik schallt. Er starrt in ein abgedunkeltes Schaufenster, als offenbarte sich ihm dort seine gesamte Zukunft. Spielt er Spion? – und verstößt dabei ganz nebenbei gegen Hectors Gebot, ja nicht nach eingebildeten Verfolgern Ausschau zu halten.

Nein. Er lacht. Und gleich darauf lacht Gail auch, Gott sei Dank; eng umschlungen stehen sie da und blicken ungläubig auf ein wahrhaftes Arsenal an Spionage-Spielzeug: Markenarmbanduhren mit integriertem Photoapparat zum Spottpreis von zehntausend Euro, Mikrophonsets für die Aktentasche, Scrambler, Nachtsichtgeräte, Elektroschocker in ihrer ganzen glorreichen Vielfalt, Pistolenhalfter mit rutschsicherem Schenkelriemen als optionales Extra und Kugeln aus Pfeffer, Farbe oder Gummi als Mix zum Selber-Zusammenstellen: willkommen in Ollies schwarzem Museum für den paranoiden Manager, der sich erst eindecken muss.

* * *

Kein Bus hatte sie hierhergebracht.

Keine Fahrt mit der Metro lag hinter ihnen.

Kein Mitfahrgast, der alt genug war, um Gails Großvater zu sein, hatte sie beim Aussteigen in den Hintern gezwickt.

Nein, Flügel hatten sie hergetragen, und so kam es, dass sie nun exakt zwölf Minuten vor der von Tamara anberaumten Zeit in einer Schlange gesitteter französischer Bürger links vom Westeingang des Roland-Garros-Stadions anstanden.

Und so kam es auch, dass Gail sich schwerelos an gütigen uniformierten Türstehern vorbeilächelte, die freudig zurücklächelten, und sich dann mit all den anderen zum Humpa-humpa einer unsichtbaren Blaskapelle, dem Muhen von Alphörnern und den unverständlichen Anweisungen männlicher Lautsprecherstimmen eine Straße von Zeltständen entlangtreiben ließ.

Aber es war die klardenkende Anwältin Gail Perkins, die die Sponsorennamen an den Ständen abzählte: Lacoste, Slazenger, Nike, Head, Reebok … von welchem war bei Tamara noch mal die Rede? … nun tu nicht so, als wüsstest du das nicht.

»Perry« – sie zieht ihn heftig am Arm –, »du hast mir hoch und heilig versprochen, dass du mir endlich mal anständige Tennisschuhe schenkst. Schau

»Hab ich das? Stimmt, du hast recht«, gibt Perry alias Milton zu, während über seinem Kopf eine Blase erscheint: ERINNERT SICH!

Und mit größerem Elan, als sie ihm zugetraut hätte, reckt er den Hals in Richtung der neuesten Modelle von – Adidas.

»Und es wird höchste Zeit, dass du dir auch neue kaufst und endlich diese angeschimmelten alten Stinkedinger von dir wegwirfst«, belehrt Doolittle Perry.

»Professor! Jesusmaria! Mein Freund! Weißt du nicht mehr?«

Ohne Vorwarnung bricht die Stimme über sie herein: die körperlose Stimme Antiguas, laut gellend über den drei Winden.

Und ob ich weiß, aber ich bin nicht der Professor.

Perry ist der Professor.

Also begutachte ich weiter die neuesten Adidas-Schuhe und lasse Perry den Anfang machen, bevor ich in gebührend entzückter und bass erstaunter Manier, Zitat Ollie, den Kopf wende.

Perry macht den Anfang. Sie spürt ihn einen Schritt von ihr wegtreten und sich umdrehen. Sie zählt die Sekunden mit, die es dauert, bis er glaubt, was seine Augen da sehen.

»Mein Gott, Dima! Dima aus Antigua! – ich fass es nicht!«

Nicht gar zu dick auftragen, Perry, schalt einen Gang runter …

»Was um Himmels willen machen Sie denn hier? Gail, schau doch!«

Aber ich schaue nicht. Nicht sofort. Ich gucke Schuhe, schon vergessen? Und beim Schuhegucken kriege ich sonst nichts mit, ich bin in einer völlig anderen Welt, selbst wenn es nur Tennisschuhe sind. So absurd es ihnen seinerzeit vorkam, sie haben diesen Augenblick eingeübt, vor einem Sportartikelgeschäft in Camden Town, das auf Turnschuhe spezialisiert ist, und später noch einmal in Golders Green, erst mit Ollie in der schwer überspielten Rolle des schulterklopfenden Dima und Luke als dem ahnungslosen Zuschauer, dann in umgekehrter Besetzung. Aber jetzt ist sie froh darüber; sie kennt ihren Text.

Also abwarten, ihn hören, aufwachen, den Kopf wenden. Und dann erst die entzückte, bass erstaunte Manier.

»Dima! O mein Gott. Sie sind’s wirklich! Ich werd verrückt! Das ist echt – das ist absolut unglaublich!« – und sie lässt ihren ekstatischen Mäusequietscher folgen, der sonst nur beim Auspacken von Weihnachtsgeschenken zum Einsatz kommt, während Perry schon an den massigen Torso eines Dima gepresst wird, dessen Entzücken und Erstaunen mindestens genauso spontan ist wie das von Gail:

»Der Professor, hier! Gottverdammtester Tennisstümper, der rumläuft!«

»Aber Dima, dass Sie hier sind!« Perry und Gail wie aus einem Mund jetzt, ein Chor der Verblüffung in verschiedenen Tonhöhen, während Dima weiterdröhnt.

Hat er sich verändert? Er ist bleicher als damals. Die Karibiksonne ist verblasst. Gelbe Halbmonde unter den braunen Schlafzimmeraugen. Schärfere Abwärtsfurchen um die Mundwinkel. Aber dieselbe Körperhaltung, hintübergelehnt, als wollte er sagen: »Komm her, wenn du dich traust.« Die kleinen Füße in den Boden gerammt, breitbeinig wie Heinrich der Achte.

Und an dem Mann ist ein Schauspieler verloren gegangen, man höre sich das nur an:

»Meinst du, Federer macht Schwuchteltennis mit diesem Söderling-Typ? – meinst du, er gibt gottverdammtes Match dran, aus Liebe für Fairplay? Gail, schwör ich zu Gott, komm her, Mädchen! – muss ich umarmen, Professor! Habt ihr schon Hochzeit gemacht? Gottverdammter Idiot!« – und er zieht sie an seine breite Brust, drückt seinen ganzen Körper an ihren, erst die feuchte, tränenkalte Backe, dann den Brustkorb, dann die Wölbung der Lendenpartie, bis sogar seine Knie ihre berühren, worauf er sie ein Stück von sich schiebt, um die obligatorische Dreifaltigkeit seiner Wangenküsse zu applizieren, links, rechts, wieder links, so dass ihr Perrys »Also, ich muss schon sagen, was für ein unglaublicher, ganz und gar verrückter Zufall« ein bisschen arg akademisch-unbeteiligt daherkommt: Ein Tick zu unspontan, findet sie, und sie kompensiert mit einer jubelnden Lawine von viel zu vielen Fragen auf einmal:

»Dima, Sie Schlingel, sagen Sie doch, wie geht’s Katja und Irina? Ich muss immerfort an die zwei denken!« – stimmt – »Spielen die Zwillinge fleißig Kricket? Was macht Natascha? Wo haben Sie alle gesteckt? Ambrose meinte, Sie wären alle zusammen nach Moskau gefahren? Stimmt das, waren Sie dort? Für die Beerdigung? Sie sehen so wohl aus. Wie geht’s Tamara? Wie geht’s diesen ganzen sonderbaren, reizenden Freunden und Verwandten, die Sie zu Besuch hatten?«

Hat sie dies Letzte wirklich gesagt? Sie hat. Und während sie es alles sagt und dazwischen bruchstückhaft Antwort erhält, nimmt sie, weichgezeichnet am Bildrand, flott angezogene Männer und Frauen wahr, die stehen geblieben sind, um dem Spektakel beizuwohnen: offenbar ein neuer Dima-Fanclub, aber eine jüngere, smartere Generation, Welten entfernt von dem bemoosten Haufen, der in Antigua versammelt war. Ist das dort Milchgesicht Niki, der sich zwischen ihnen herumdrückt? Wenn, dann hat er sich bei Armani neu eingekleidet, in einem beigefarbenen Sommeranzug mit Ärmelaufschlägen. Sind darunter das Kettenarmband und die Tiefseetaucheruhr verborgen?

Dima redet weiter, und sie erfährt, was sie lieber nicht erführe: Tamara und die Kinder sind von Moskau direkt nach Zürich geflogen – ja, Natascha auch, sie mag nicht gottverdammtes Tennis – will heim nach Bern, will lesen, reiten. Will ausspannen. Klang auch durch, dass Natascha letztens nicht ganz auf dem Posten war, oder bildet sich Gail das nur ein? Alle führen sie drei Gespräche gleichzeitig:

»Bist du nicht mehr Professor für gottverdammte Kids, ja?« – gespielte Entrüstung – »Lernst du französische Kids, wie sie werden englischer Gentleman? Hör zu, wo sitzt ihr? In so ein Drecks-Vogelkäfig ganz oben, ja?«

Darauf eine über die Schulter geworfene Bemerkung auf Russisch, vermutlich derselbe kleine Witz in Übersetzung. Dem scheint das jedoch nicht gutzutun, denn kaum einer der gestylten Zuschauer lächelt, bis auf eine adrette kleine Tänzergestalt ganz in der Mitte. Im ersten Moment wirkt der Mann auf Gail wie eine Art Reiseleiter, denn er trägt eine sehr auffallende cremefarbene Seemannsjacke mit gesticktem goldenem Anker auf der Tasche, und in der Hand einen leuchtend roten Schirm, der ihn, gepaart mit der zurückgeworfenen Silbermähne, für jedes verlorene Schaf leicht zu finden macht. Sie fängt sein Lächeln auf, dann seinen Blick. Und als sie wieder zu Dima zurückschaut, weiß sie, dass sein Blick immer noch auf ihr ruht.

Dima verlangt jetzt ihre Eintrittskarten zu sehen. Perry ist ein notorischer Kartenverlierer, deshalb hat Gail sie einstecken. Sie weiß die Platznummern auswendig, Perry ebenso. Aber das heißt nicht, dass sie sie nun parat hätte oder dass sie nicht holdselig-vage dreinschauen kann, als sie die Karten Dima hinstreckt, der ein Hohnschnauben ausstößt:

»Ihr habt Fernglas, ja, Professor? So scheißhoch oben ist das, braucht ihr Sauerstoff!«

Auch diesmal wiederholt er seinen Witz auf Russisch, und auch diesmal scheint die Gruppe der hinter ihm Stehenden eher zu warten, als zuzuhören. Ist diese Kurzatmigkeit neu seit Antigua? Oder neu seit heute? Kommt sie vom Herzen? Oder vom Wodka?

»Wir haben gottverdammtes VIP-Lounge, okay? Firma-VIP. Für Besuch aus Moskau, Firma-Besuch. Armani-Gang, so sag ich von ihnen. Aber mit hübsche Mädels dabei! Schaut sie an!«

Zwei davon sind Gail schon aufgefallen. Lederjacken, Bleistiftröcke und Stiefeletten. Hübsche Ehefrauen? Oder hübsche Nutten? Wenn Letzteres, dann die Nobelausführung. Und die Armani-Gang eine verschwommene Front blauschwarzer Anzüge und dumpfer Blicke.

»Dreißig Nummer-Eins-Plätze, Top-Super-Essen«, ruft Dima. »Wollen Sie kommen, Gail? Mit in VIP-Lounge sitzen? Match anschauen wie feine Dame? Mit Champagner? Haben wir Massen. Also, Professor? Warum nicht, Teufel, Mann?«

Weil Hector ihm eingeschärft hat, dass er es dir schwermachen soll, Teufel, Mann! Denn je schwerer er es dir macht, desto mehr musst du dich ins Zeug legen, um ihn und mich rumzukriegen, und desto mehr Glaubwürdigkeit besitzen wir für deine Gäste aus Moskau. Perry, in die Enge getrieben, brilliert als er selbst: stirnrunzelnd, reserviert, linkisch. Für einen blutigen Anfänger in der Kunst der Verstellung schlägt er sich sehr wacker. Trotzdem kommt sie ihm lieber zu Hilfe:

»Die Karten waren ein Geschenk, verstehen Sie, Dima«, vertraut sie ihm liebreizend an und berührt seinen Arm. »Ein guter Freund hat sie uns gegeben, ein ganz lieber alter Herr. Einfach aus Nettigkeit. Es wäre ihm sicher nicht recht, wenn unsere Plätze leer bleiben, meinen Sie nicht? Es würde ihm das Herz brechen, wenn er es erfahren würde« – die Ausrede, die sie beim Mitternachts-Malt mit Luke und Ollie ausgeheckt haben.

Dima starrt enttäuscht von einem zum anderen, während er seine Gedanken in eine neue Ordnung bringt.

Unruhe in den Reihen hinter ihm: Können wir irgendwann weitergehen?

Der Gearschte hat immer den Schwarzen Peter …

Lösung!

»Dann hörst du, Professor, okay? Hörst du« – sein Finger bohrt sich in Perrys Brust –, »okay?«, wiederholt er mit bedrohlichem Nicken. »Nach dem Spiel. Hörst du? Gleich wenn gottverdammtes Spiel aus ist, ihr kommt zu uns zu VIP.« Mit Schwung dreht er sich zu Gail um: Wehe, sie torpediert seinen großartigen Plan. »Okay, Gail? Sie bringen diesen Professor zu VIP. Und trinken Champagner mit uns. Ist noch nicht zu Ende hier, wenn das Match aus ist. Kommen noch Reden, Präsentationen, lauter Scheißkram. Federer gewinnt, oder? Sollen wir wetten, fünftausend Dollar, okay? Drei zu eins, er gewinnt. Vier zu eins.«

Perry lacht. Wenn er einen Gott hätte, dann wäre dieser Gott Federer. Vergessen Sie’s, Dima, sagt er. Nicht mal bei hundert zu eins. Aber so leicht kommt er nicht davon.

»Und wir machen morgen Revanche, Professor, hörst du?« – der Finger pickt immer noch auf Perrys Brust ein – »Schick ich wen nach dem Match, dass er geht und euch holt, kommt ihr zu uns in VIP und wir machen Revanche aus, kein Schwuchteltennis, okay? Und ich mach dich platt, kriegst Massage nachher. Wirst du brauchen, Massage. Okay?«

Perry bleibt keine Zeit für weitere Einwände. Aus dem Augenwinkel sieht Gail, wie sich der Reiseleiter mit dem silbrigen Haar und dem roten Regenschirm aus der Gruppe löst und sich Dimas ungeschütztem Rücken nähert.

»Wollen Sie uns nicht mit Ihren Freunden bekanntmachen, Dima? Sie können doch eine so schöne Dame nicht einfach für sich behalten«, sagt eine samtweiche, vorwurfsvolle Stimme in lupenreinem Englisch mit schwachem italienischem Beiklang. »Dell’Oro«, stellt er sich vor. »Emilio Dell’Oro. Ein alter Bekannter von Dima, noch aus grauer, grauer Vorzeit. Sehr erfreut.« Und er schüttelt ihnen beiden die Hand, erst die von Gail, mit einem galanten Neigen des Kopfes, dann die von Perry, ohne Kopfneigen, was ihr einen Tanzstunden-Casanova namens Percy ins Gedächtnis ruft, der sie als Siebzehnjährige ihrem besten Freund ausspannen wollte, um sie dann fast auf der Tanzfläche zu vergewaltigen.

»Und ich bin Perry Makepiece, und das ist Gail Perkins«, sagt Perry. Und in einem saloppen Nachsatz, der Gail schwer beeindruckt: »Keine Angst, ich bin eigentlich gar kein Professor. Das sagt Dima nur, um mir mein Tennis zu verleiden.«

»Dann willkommen im Stade Roland Garros, Gail Perkins und Perry Makepiece«, erwidert Dell’Oro mit einem Strahlen, das, so Gails Verdacht, niemals aus seinem Gesicht weicht. »Welche Freude, dass wir das Vergnügen haben werden, Sie nach dem historischen Match noch bei uns zu begrüßen. Wenn es zum Match kommt«, fügt er mit theatralisch emporgereckten Händen und einem anklagenden Blick in den grauen Himmel hinzu.

Aber das letzte Wort behält Dima.

»Ich schick wen, dass er euch holt, okay, Professor? Nicht mir abhauen! Und morgen ich mach dich platt. Ich lieb diesen Burschen, hört ihr?«, ruft er der blasierten Armani-Gang zu, die mit verwässertem Lächeln hinter ihm versammelt steht, und nachdem er Perry ein letztes Mal trotzig an seine Brust gezogen hat, kehrt er zu ihnen zurück, und die Gruppe schlendert weiter.