15

In Notsituationen kannten Perry Makepiece’ Bergkameraden ihn als klarsichtigen Denker und zupackenden Mann der Tat, und es machte ihn stolz, dass für ihn beides so nahe beisammenlag. Er sorgte sich um Gail, er wusste um die Tücken der Operation, er war bestürzt über Nataschas Schwangerschaft und erst recht über die Tatsache, dass Gail es für nötig gehalten hatte, sie vor ihm zu verheimlichen. Gleichzeitig respektierte er ihre Gründe und gab die Schuld daran sich selbst. Dazu noch Tamara, zerfressen von Eifersucht auf Natascha wie eine böse alte Vettel aus einem Dickens-Roman … der Gedanke ekelte ihn und stimmte ihn noch einmal weicher gegenüber Dima. Ihr Abschied in dem Massageraum hatte ihn auf eine Weise berührt, die er selbst nicht ganz begreifen konnte – ein ungeläuterter lebenslanger Verbrecher, bekennender Mörder und Nummer-Eins-Geldwäscher der ganzen Welt als mein Schutzbefohlener und Freund? Und so sehr er Luke respektierte, wünschte er doch, Hector hätte das Feld nicht just am Vorabend der Schlacht für seinen stellvertretenden Kommandeur räumen müssen.

Aber inmitten dieses Ungewitters handelte er doch nach exakt denselben Maximen, wie wenn er in der Wand hing und das Seil riss: Ruhe bewahren, Risiken abwägen, sich der Schwächsten im Trupp annehmen, nach vorn blicken. Und so kauerte er zusammen mit Dimas leiblichen und adoptierten Kindern im Pferdetransporter, wo durch die Latten der Trennwand der unbeugsame Schatten Tamaras zu ahnen war, und blickte nach vorn, so gut es eben ging. Du hast zwei kleine russische Mädchen, zwei halbwüchsige russische Knaben und eine labile russische Frau an der Backe und sollst sie den Berg hinaufschaffen, ohne dass jemand euch sieht. Was machst du? Antwort: Du gehst es an.

Viktor hatte in einem Rausch der Ritterlichkeit verlangt, Gail begleiten zu dürfen; wohin sie auch ging, er würde mitkommen. Er wolle sich doch bloß vor ihr wichtigmachen, hatte Alexej gestichelt, genauso wie Natascha vor ihrem Vater. Die kleinen Mädchen wollten ohne Gail überhaupt nirgends hin. Sie würden daheimbleiben und das Haus bewachen, bis Gail mit Natascha zurückkam. Bis dahin konnte doch Igor sich um sie kümmern! All diesen Sonderwünschen hatte Perry, der geborene Anführer, geduldig, aber nachdrücklich entgegengehalten:

»Dima möchte, dass ihr jetzt gleich mitkommt. Nein, es wird eine Überraschung. Das hat er euch doch gesagt. Wo wir hinfahren, das erfahrt ihr, wenn wir ankommen, aber es ist sehr schön dort, und ihr wart noch nie da. Ja, er kommt heute Abend nach. Viktor, du nimmst die beiden Koffer hier, Alexej diese zwei. Nein, abschließen müssen wir nicht, lass nur, Katja. Igor muss jeden Augenblick zurück sein. Und die Katze bleibt hier. Katzen hängen mehr an Häusern als an Menschen. Viktor, wo sind die Ikonen von deiner Mutter? Im Koffer. Gut. Wem gehört dieser Teddy? Na, dann kommt er doch besser mit, oder? Igor braucht keinen Teddy und ihr schon. So, und jetzt wird noch mal aufs Klo gegangen, egal, ob ihr müsst oder nicht.«

Nach dem Einsteigen waren die Mädchen erst stumm und dann schlagartig laut und aufgekratzt, hauptsächlich wegen Ollie und seinem großen schwarzen Schlapphut, den er feierlich vor ihnen gezogen hatte, als er sie in seine Staatskarosse klettern ließ. Alle mussten schreien, um sich durch den Lärm verständlich zu machen. Klapperige Pferdetransporter sind nicht schalldicht.

»Wo fahren wir hin?«, schrien die Mädchen.

»Nach Eton, kotz-würg« – Victor.

»Geheimnis« – Perry.

»Wem sein Geheimnis?« – die Mädchen.

»Dimas, du Dämlack« – Viktor.

»Wie lang ist Gail weg?«

»Das weiß ich nicht. Das hängt von Natascha ab« – Perry.

»Sind sie vielleicht schon vor uns da?«

»Eher nicht« – Perry.

»Warum können wir nicht hinten rausschauen?«

»Weil es gegen die Schweizer Gesetze verstößt!«, rief Perry, aber die Mädchen mussten sich dennoch vorbeugen, um ihn zu verstehen. »Die Schweizer haben Gesetze für alles! Zur Hecktür eines fahrenden Pferdeanhängers herauszuschauen ist ein besonders schweres Vergehen. Darauf steht viele Jahre Gefängnis. Gucken wir lieber nach, was Gail in eure Rucksäcke gepackt hat!«

Die Jungen waren nicht ganz so handsam:

»Sollen wir mit so ’nem Babykram spielen?«, plärrte Viktor ungläubig durch das Windgebraus und zeigte auf eine Frisbeescheibe, die aus einem Matchbeutel hervorlugte.

»So war’s gedacht.«

»Ich denke, wir spielen Kricket« – wieder Viktor.

»Damit wir nach Eton können« – Alexej.

»Wir versuchen’s auf alle Fälle« – Perry.

»Dann fahren wir nicht in die Berge!«

»Wieso nicht?«

»Weil man in den verkackten Bergen kein Kricket spielen kann! Weil’s da nirgends flach ist. Und die Bauern immer gleich angepisst sind. Also fahren wir irgendwo Flaches hin, stimmt’s?«

»Hat Dima euch gesagt, dass ihr wo Flaches hinfahrt?«

»Dima ist genau wie du! Tut immer so geheim! Vielleicht steckt er voll in der Scheiße! Vielleicht sind die Bullen hinter ihm her!«, trompetete Viktor, offenbar sehr angetan von der Vorstellung.

Aber Alexej brauste auf:

»So was sagt man nicht! Das ist voll uncool. Das ist scheißmies von dir, wenn du so was über Papa sagst, du Arsch! In Eton bringen sie dich um für so was!«

Viktor rupfte die Frisbeescheibe heraus, die er anscheinend nicht mehr ganz so rigoros ablehnte, und tat so, als wolle er sie auf dem Luftstrom segeln lassen.

»Okay, dann lass ich’s eben!«, schrie er. »Ich ziehe die Behauptung zurück. Papa steckt nicht in der Scheiße, und die Bullen lieben ihn! Die Behauptung ist hiermit zurückgenommen, okay? Die Behauptung ist nie aufgestellt worden. Es ist eine Ex-Behauptung!« – ein Schlagabtausch, der in Perry den Verdacht aufkeimen ließ, die Jungen könnten früher schon einmal geschmuggelt worden sein: in den wilden Zeiten in Perm vielleicht, bevor Dima sich nach oben gekämpft hatte.

»Kann ich euch zwei um was bitten?«, sagte er und winkte sie heran, bis sie beide neben ihm kauerten. »Wir werden ja jetzt einige Zeit miteinander verbringen, richtig?«

»Okay?«

»Könntet ihr euch dann vielleicht euer Scheiße und verkackt vor eurer Mutter und den Mädchen verkneifen? Und vor Gail?«

Sie tauschten einen Blick, zuckten die Achseln. Na gut. Wenn’s sein muss. Uns doch wurscht. Aber Viktor ließ sich dadurch nicht beirren. Er wölbte die Hände zu einem Trichter und schrie Perry flüsternd ins Ohr, so dass es die Mädchen nicht hörten:

»Das Riesenbegräbnis, okay? Zu dem wir grade in Moskau waren? Die Tragödie? Mit den Tausenden Trauernden, okay?«

»Was ist damit?«

»Erst sollte es ein Autounfall sein, okay? Mischa und Olga sind bei einem Autounfall gestorben. Kompletter Schwachsinn. Es war gar nie ein Autounfall. Sie sind abgeknallt worden. Und von wem? Irgendwelchen Tschetschenen-Spinnern, die nicht mal was gestohlen haben und ein Vermögen für Kalaschnikow-Kugeln hinblättern mussten? Warum? Weil sie die Russen hassen? Schwachsinn. Nie im Leben waren das die verfickten Tschetschenen!«

Alexej trommelte mit den Fäusten auf ihn ein, versuchte ihm den Mund zuzuhalten, aber Viktor schlug seine Hand weg.

»Frag jeden in Moskau, der irgendeine Ahnung hat. Frag meinen Freund Pjotr. Mischa ist umgenietet worden. Er hat sich mit der Mafia angelegt. Deshalb haben sie ihn erledigt. Und Olga auch. Und jetzt wollen sie Papa erledigen, bevor die Bullen ihn schnappen. Stimmt’s, Mama?«, schrie er durch die Ritzen zu Tamara hinüber. »Als kleine Warnung, damit alle wissen, wer der Boss ist! Mama kennt sich aus. Sie weiß alles. Sie war zwei Jahre im Polizeigefängnis in Perm, wegen Wucher und Erpressung. Die haben sie zweiundsiebzig Stunden ohne Unterbrechung verhört, fünfmal. Sie halb totgeprügelt. Pjotr hat die Akte gesehen. Es kamen verschärfte Methoden zur Anwendung. Stimmt’s, Mama? Deshalb redet sie mit keinem mehr außer Gott. Die haben’s aus ihr herausgeprügelt. He, Mama! Du bist die Beste!«

Tamara zieht sich tiefer in den Schatten zurück. Perrys Handy klingelt. Luke, energisch und extrem auf der Hut.

»Alles in Ordnung?«, fragt Luke.

»Bis jetzt, ja. Wie geht’s unserem Freund?«, fragt Perry.

»Gut. Er sitzt gleich hier neben mir im Auto. Lässt alle schön grüßen.«

»Ebenfalls«, erwidert Perry vorsichtig.

»Ab jetzt sollten wir kleinere Gruppen bilden, wenn’s geht. Die sind leichter zu überblicken und schwerer auszumachen. Können Sie die Jungs noch ein bisschen verkleiden?«

»Wie verkleiden?«

»Einfach nur, dass sie ein bisschen verschiedener aussehen. Nicht ganz so eineiig.«

»Sicher.«

»Und schauen Sie, dass Ihr Zug nicht zu leer ist. Verteilen Sie sich möglichst etwas. Nur ein Junge pro Abteil, Sie und die Mädchen in einem anderen. Lassen Sie sich Ihre Zugkarten in Interlaken von Harry kaufen, dann müssen Sie nicht alle am selben Schalter anstehen. Verstanden?«

»Verstanden.«

»Schon was von Doolittle gehört?«

»Noch zu früh. Sie ist gerade erst los.«

Es war das erste Mal, dass sie direkt auf Gails Alleingang Bezug nahmen.

»Sie handelt goldrichtig. Und sie soll bloß nichts anderes denken. Sagen Sie ihr das.«

»Mach ich.«

»Sie ist ein Glücksfall für uns, und wir können nur hoffen, dass sie genauso viel Glück hat.« Luke spricht in Rätseln. Er hat keine andere Wahl. Dima sitzt gleich hier neben ihm im Auto.

Perry klettert über die Mädchen hinweg, tippt Ollie auf die Schulter und schreit ihm Lukes Anweisungen ins Ohr.

* * *

Katja und Irina futtern ihre Käsebrötchen und Chips und lehnen die Köpfe aneinander, kauend und vor sich hin summend. Ab und zu linsen sie über die Schulter zu Ollies Hut hin und brechen in Gekicher aus. Einmal streckt Katja ganz vorwitzig die Hand danach aus, bekommt dann aber Angst vor der eigenen Courage. Die Jungen spielen Steckschach und mampfen Bananen dazu.

»Nächster Halt Interlaken, Jungs und Mädels!«, ruft Ollie nach hinten. »Ich parke am Bahnhof und setze mich mit Madame und dem Gepäck in den nächsten Zug. Ihr Hübschen bummelt ein bisschen herum, esst eine Wurst und kommt uns dann in aller Ruhe nach. Sind damit alle zufrieden, Professor?«

»Vollauf zufrieden«, bestätigt Perry nach einem Blick auf die Mädchen.

»Überhaupt nicht!«, jault Alexej empört auf und schmeißt sich rückwärts in die Kissen. »Wir sind schiet-unzufrieden!«

»Aus irgendeinem bestimmten Grund?«, erkundigt sich Perry.

»Tausend! Wir fahren nach Kandersteg, ich weiß es doch! Ich geh nicht nach Kandersteg, nie wieder! Ich mag nicht klettern, ich hab keine Saugnäpfe an den Füßen, mir wird schwindlig, und dieser Max kotzt mich eh an!«

»Kalt«, sagt Perry, »eiskalt.«

»Heißt das, wir fahren nicht nach Kandersteg?«

»Heißt es.«

Aber Gail fährt, denkt er mit einem Blick auf die Uhr.

* * *

Um drei hatte Gail, dem flotten Anschlusszug in Spiez sei Dank, das Haus gefunden. Schwer war es nicht gewesen. Sie hatte im Postamt gefragt. Kennt jemand hier einen Skilehrer, der Max heißt, nicht von der offiziellen Schweizer Skischule, sondern privat, Eltern leiten ein Hotel? Die dicke Frau am guichet war sich nicht sicher, deshalb besprach sie sich mit dem dünnen Mann am Sortiertisch, der Bescheid zu wissen meinte, aber sicherheitshalber noch den Jungen fragte, der Pakete in die große gelbe Wanne lud, und die Antwort erfolgte um drei Ecken: Das Hotel Rössli rechts an der Hauptstraße, da arbeitet seine Schwester.

Die Hauptstraße flirrte im verfrühten Sommersonnenschein, während die Berge zu beiden Seiten dunstverhangen waren. Eine Familie honiggelber Hunde lag teils hingegossen auf dem heißen Asphalt, teils im Schatten der Ladenmarkisen. Urlauber mit Wanderstöcken und Sonnenhüten studierten die Auslagen der Souvenirläden, und über die Terrasse des Hotels Rössli verstreut saßen Nachmittagsgäste bei Kuchen mit Schlagsahne und hohen, strohhalmgespickten Gläsern voll Eiskaffee.

Eine überarbeitete Rothaarige in Schweizer Tracht war die einzige Bedienung. Als Gail sie ansprach, befahl sie ihr, sich hinzusetzen und zu warten, und statt kurzerhand hinauszurauschen, wie es ihre normale Reaktion gewesen wäre, setzte Gail sich gehorsam an einen Tisch, und als das Mädchen kam, bestellte sie erst einen Kaffee, den sie nicht wollte, und erkundigte sich dann, ob sie zufällig die Schwester von Max, dem berühmten Bergführer, sei, worauf das Mädchen übers ganze Gesicht strahlte und plötzlich alle Zeit der Welt hatte.

»Na, Bergführer ja noch nicht richtig, nicht offiziell, und berühmt, ich weiß nicht! Erst muss er die Prüfung machen, die ziemlich schwer ist«, sagte sie, stolz auf ihr Englisch und erfreut über die Gelegenheit zum Üben. »Leider hat Max etwas spät angefangen. Vorher wollte er Architekt werden, aber er mochte das Tal nicht verlassen. Er ist ein bisschen ein Traumtänzer, ehrlich gesagt, aber toi, toi, toi, jetzt ist er endlich vernünftig geworden, und nächstes Jahr macht er seinen Abschluss. Hoffen wir. Vielleicht führt er heute gerade eine Tour. Soll ich Barbara anrufen?«

»Barbara?«

»Sie ist wirklich sehr nett. Sie hat ihn völlig umgekrempelt, sagen wir immer. Es war aber auch höchste Zeit!«

Blüemli. Max’ Schwester schrieb es Gail auf eine Doppelseite aus ihrem Block auf.

»Im Prinzip bedeutet das kleine Blume, aber es kann auch große Blume bedeuten, weil die Schweizer alles verkleinern, was sie gern mögen. Es ist das letzte neue Chalet auf der linken Seite, wenn Sie an der Schule vorbei sind. Barbaras Vater hat es für sie gebaut. Nein, Max hat es wirklich sehr gut getroffen.«

Das Blüemli war das perfekte Heim für ein junges Glück: frisches Kiefernholz, rote Geranien an den Fenstern, rote Baumwollvorhänge, dazu passend eine rote Kaminkappe und unterm Dachfirst eine handgeschnitzte Inschrift in Fraktur, die Gott für seine Segnungen dankte. Auf dem makellos gemähten Rasenviereck vor dem Haus standen eine neue Schaukel, ein brandneues Plantschbecken und ein neuer Grill, und neben der Tür, die zu einem Zwergenhäuschen hätte gehören können, waren Scheite zu einem blitzsauberen Holzstoß gestapelt.

Wenn es ein gemaltes Haus gewesen wäre statt eines echten, hätte es Gail auch nicht verwundert, aber sie wunderte sich ohnehin über nichts. Es war nichts Unerwartetes eingetreten, sondern einfach nur der Worst Case, der jedoch auch nicht schlimmer war als all die anderen Möglichkeiten, die sie sich im Zug ausgemalt hatte und immer noch ausmalte, als sie nun den Klingelknopf drückte und eine vergnügte Frauenstimme rufen hörte: »En Momänt bitte, d’Barbara chunt grad!« – woraus sie, auch ohne Deutsch oder Schwyzerdütsch zu können, schloss, dass Barbara gleich kommen würde. Und da kam sie auch schon: groß, gepflegt, sportlich-attraktiv, eine durch und durch angenehme Erscheinung und kaum älter als Gail.

»Grüessech«, sagte sie und wechselte, als sie Gails entschuldigendes Lächeln sah, etwas atemlos ins Englische: »Hello! Can I help you?«

Durch die offene Tür hörte Gail vorwurfsvolles Babygegreine. Sie holte tief Luft und lächelte.

»Hoffentlich. Ich heiße Gail. Sind Sie Barbara?«

»Ja. Ja, natürlich.«

»Ich suche nach einem Mädchen, das Natascha heißt. Groß, schwarze Haare, Russin.«

»Ach, Russin ist sie? Das wusste ich nicht. Das erklärt es vielleicht. Sind Sie etwa Ärztin?«

»Leider nicht. Wieso?«

»Doch, ja, sie ist hier. Ich weiß nicht, warum. Könnten Sie bitte hereinkommen? Ich muss zurück zu Anni. Sie zahnt.«

Gail folgte ihr ins Haus, das süß und sauber nach gut gepudertem Baby roch. Eine Batterie Filzpantoffeln mit Hasenohren, die schön aufgereiht an Messinghaken hingen, legten ihr nahe, doch bitte die staubigen Straßenschuhe auszuziehen. Barbara wartete, während sie in ein Paar hineinschlüpfte.

»Wie lange ist sie schon da?«, fragte Gail.

»Bestimmt eine Stunde. Vielleicht mehr.«

Gail trat hinter ihr in ein luftiges Wohnzimmer mit einem netten kleinen Garten davor. In der Zimmermitte stand ein Laufstall, und im Laufstall saß ein winziges kleines Mädchen mit goldenen Ringellöckchen und Schnuller im Mund, umgeben von einem Aufmarsch nagelneuer Spielsachen. Und an der Wand saß auf einem Schemel Natascha, mit gesenktem Kopf, das Gesicht von den Haaren verborgen, den Oberkörper über die gefalteten Hände gebeugt.

»Natascha?«

Gail kniete sich neben sie und wölbte eine Hand um ihren Hinterkopf. Natascha zuckte, aber sie schüttelte die Hand nicht ab. Gail sagte noch einmal ihren Namen. Keine Reaktion.

»Das ist wirklich gut, dass Sie hier sind«, schwatzte Barbara in ihrem Schweizer Singsang, während sie Anni hochhob und an ihre Schulter legte, um sie Bäuerchen machen zu lassen. »Ich wollte schon Dr. Stettler anrufen. Oder die Polizei, ich wusste es nicht. Es war ein Problem. Wirklich.«

Gail streichelte Nataschas Haar.

»Sie klingelt an der Tür, ich füttere gerade Anni, nicht mit der Flasche, sondern auf die beste Art. Wir haben jetzt einen Spion in der Tür, heutzutage weiß man ja nie. Ich habe hindurchgeschaut, ich hatte Anni an der Brust, ich habe gedacht, gut, das ist ein normales Mädchen da vor meiner Türe, ziemlich hübsch, das muss ich sagen, sie möchte hereinkommen, ich weiß nicht, warum, vielleicht will sie einen Termin mit Max ausmachen, er hat viele Kunden, vor allem junge natürlich, so ein interessanter Mann, wie er ist. Also kommt sie herein, sie schaut, sie sieht Anni, sie fragt mich auf Englisch – ich wusste ja nicht, dass sie Russin ist, an so was denkt man ja nicht, obwohl man es heute wahrscheinlich sollte, ich habe gedacht, sie ist eine Jüdin oder eine Italienerin –, ob ich die Schwester von Max bin. Und ich sage, nein, ich bin nicht seine Schwester, ich bin seine Frau Barbara, wer sind Sie bitte, was kann ich für Sie tun? Ich bin eine Mutter, ich bin sehr beschäftigt, das sehen Sie ja. Kommen Sie wegen einem Termin bei Max, klettern Sie? Wie ist Ihr Name? Und sie sagt, sie heißt Natascha, aber ich habe mich da natürlich schon langsam gefragt.«

»Was haben Sie sich gefragt?«

Gail rückte einen zweiten Schemel heran und setzte sich neben Natascha. Sie legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie sacht zu sich her, bis ihre Schläfen aneinanderlagen.

»Ja, wegen Drogen. Die Jugend von heute, ich meine, man kann gar nicht vorsichtig genug sein«, sagte Barbara mit einer Entrüstung in der Stimme, die besser zu jemand doppelt so Altem gepasst hätte. »Und offen gestanden, die Ausländer, gerade die Engländer, die nehmen ja nur Drogen, fragen Sie Dr. Stettler.« Das Baby quietschte, und sie beruhigte es. »Max sagt es auch, seine jungen Leute, mein Gott, sogar auf der Alm nehmen sie Drogen! Ich meine, Alkohol, das verstehe ich ja noch. Zigaretten natürlich nicht. Ich habe ihr Kaffee angeboten, Tee, Mineralwasser. Vielleicht hat sie mich nicht gehört, ich weiß nicht. Vielleicht war sie auf einem Trip, wie die Hippies sagen. Mit einem Baby mag man so was ja nicht zugeben, aber ich hatte offen gestanden sogar ein bisschen Angst.«

»Aber Max wollten Sie nicht anrufen?«

»In den Bergen? Wenn er Gäste hat? Das wäre eine Katastrophe für ihn. Er würde denken, es ist etwas mit ihr, er würde sofort herkommen.«

»Er würde denken, es ist was mit Anni?«

»Ja, natürlich!« Sie hielt inne und überdachte die Frage nochmals – eher eine Seltenheit bei ihr, so Gails Verdacht. »Sie meinen, Max könnte wegen Natascha kommen? Das ist ja absurd!«

Gail nahm Natascha beim Arm, zog sie behutsam in die Höhe, und als sie aufrecht stand, umarmte sie sie und zog sie mit sich bis zur Haustür, wo sie ihr wieder in ihre Straßenschuhe half, dann in ihre eigenen stieg und Natascha über den Bilderbuchrasen davonführte. Sobald sie zum Gartentor hinaus waren, rief sie Perry an.

Sie hatte ihn einmal aus dem Zug angerufen und noch einmal, nachdem sie das Dorf erreicht hatte. Sie hatte versprochen, ihn praktisch minütlich anzurufen, denn Luke konnte nicht selbst mit ihr reden, ihm saß Dima auf dem Schoß, daher der Umweg über Perry. Und sie wusste, dass die Lage angespannt war, sie hörte es an seiner Stimme. Je ruhiger er klang, desto größer die Spannung, und sie vermutete, dass etwas vorgefallen war. Also sprach sie ihrerseits extrem ruhig, was ihm im Zweifel genau das Gleiche signalisierte:

»Es geht ihr gut. Alles in Ordnung. Sie ist hier bei mir, ihr fehlt nichts, wir sind auf dem Weg. Wir gehen gerade zum Bahnhof. Wir brauchen als Einziges noch ein bisschen Zeit.«

»Wie viel?«

Jetzt war es Gail, die ihre Worte mit Bedacht wählen musste, weil an ihrem Arm Natascha hing.

»Genug, um unsere Seelen zu klempnern und unsere Nasen zu pudern. Und eins noch.«

»Ja?«

»Niemand muss sich fragen lassen, wo er gesteckt hat, in Ordnung? Wir hatten eine kleine Krise, jetzt ist sie vorbei. Das Leben geht weiter. Ich meine nicht nur, wenn wir ankommen. Auch hinterher: keine Fragen an die betroffene Partei. Mit den Mädchen wird das klargehen. Bei den Jungen bin ich mir nicht so sicher.«

»Mit denen geht das auch klar. Dafür sorge ich schon. Dick wird sich totfreuen. Ich sag ihm gleich Bescheid. Und macht schnell, ja?«

»Wir tun, was wir können.«

* * *

In dem vollbesetzten Zug hinunter nach Spiez hatte es keine Gelegenheit zum Sprechen gegeben, was nicht weiter störte, weil Natascha ohnehin keinen Ton sagte; sie war im Schock und schien zeitweise zu vergessen, dass Gail überhaupt da war. Aber im Zug nach Interlaken begann sie unter Gails sanftem Zureden langsam aus ihrer Starre zu erwachen. Sie saßen nebeneinander in einem Erste-Klasse-Abteil, den Blick geradeaus gerichtet wie damals in dem Zelt in Three Chimneys. Es wurde schon Abend, und sie waren die einzigen Fahrgäste.

»Ich bin so …«, brach es aus Natascha heraus, und sie griff nach Gails Hand, aber dann brachte sie den Satz nicht zu Ende.

»Wir warten erst mal«, sagte Gail mit fester Stimme zu Nataschas gesenktem Kopf. »Wir haben Zeit. Wir legen unsere Gefühle auf Eis, wir lassen es uns gutgehen, und wir warten. Mehr müssen wir vorerst nicht machen, weder du noch ich. Hörst du?«

Nicken.

»Dann setz dich gerade hin. Lass deine Hand ruhig hier. Hör einfach zu. Noch ein paar Tage, dann seid ihr in England. Ich weiß nicht, ob deine Brüder das wissen, aber sie wissen, dass es ein Überraschungsurlaub wird und dass es jeden Tag losgehen kann. Davor macht ihr noch kurz in Wengen Station. Und in England suchen wir dir eine richtig gute Frauenärztin – meine –, und dann schauen wir, wie du dich fühlst, und dann entscheidest du. In Ordnung?«

Nicken.

»Und bis dahin verschwenden wir keinen Gedanken an die Sache. Wir löschen sie einfach aus unserem Bewusstsein. Du läufst nicht mehr in diesem albernen Schlabberzeug rum« – sie zupfte sie liebevoll am Ärmel –, »du zeigst wieder ein bisschen was von deiner tollen Figur. Man sieht nichts, garantiert. Versprichst du mir das?«

Ja.

»Alle Entscheidungen können warten bis England. Es sind keine schlimmen Entscheidungen, sondern einfach vernünftige. Und du triffst sie in aller Ruhe. Wenn du in England bist, nicht vorher. Deinem Vater zuliebe, und dir selbst zuliebe auch. Ja?«

»Ja.«

»Noch mal.«

»Ja.«

Hätte Gail genauso geredet, wenn Perry ihr nicht zu verstehen gegeben hätte, dass Luke es so wollte – dass dies der denkbar schlechteste Zeitpunkt sei, um Dima mit einer niederschmetternden Nachricht zu kommen?

Glücklicherweise ja. Sie hätte dasselbe gesagt, Wort für Wort, in voller Aufrichtigkeit. Schließlich sprach sie aus Erfahrung. Sie kannte das Gefühl. Und all das betete sie sich gerade erneut vor, als sie in Interlaken Ost nach Lauterbrunnen und Wengen umstiegen und sie plötzlich merkte, dass ein Schweizer Polizist in fescher Sommeruniform den leeren Bahnsteig entlang auf sie zukam, an seiner Seite ein farblos aussehender Mann in grauem Anzug und gewichsten braunen Schuhen, und dass der Polizist die Art von bedauerndem Lächeln im Gesicht trug, die einem in zivilisierten Ländern ankündigt, dass man bald nichts mehr zu lachen haben wird.

»Sie sprechen Englisch?«

»Woran sehen Sie das?« Sie erwiderte sein Lächeln.

»Vielleicht an Ihrem Teint?«, gab er zurück, was ihr ziemlich gewagt für einen braven Schweizer Gendarmen schien. »Aber die junge Dame ist nicht englisch« – dies mit einem raschen Blick auf Nataschas schwarzes Haar und leicht asiatische Züge.

»Könnte sie aber ohne weiteres sein. Wir kommen doch heutzutage alle aus dem Schmelztiegel«, entgegnete Gail in dem gleichen flotten Ton.

»Haben Sie britische Pässe?«

»Ich ja.«

Der farblose Mann lächelte ebenfalls, stellte sie beklommen fest. Und auch sein Englisch war ein bisschen zu gut.

»Bundesamt für Migration«, verkündete er. »Wir führen Stichproben nach dem Zufallsprinzip durch. Mit den offenen Grenzen, die wir heute haben, stoßen wir leider immer wieder auf gewisse Personen, die Aufenthaltsgenehmigungen bräuchten, aber keine besitzen. Nicht viele, aber einige.«

Jetzt wieder der Uniformierte:

»Ihre Fahrkarten und Pässe, wenn ich bitten darf. Sie haben doch nichts dagegen? Wenn ja, dann würden wir Sie auf die Polizeiwache bitten und die Kontrollen dort vornehmen.«

»Was sollten wir denn dagegen haben, oder, Natascha? Wir wünschten nur, alle Polizisten wären so höflich wie Sie«, sagte Gail munter.

Und sie kramte ihren Pass und die Fahrkarten aus ihrer Handtasche hervor und reichte sie dem Uniformierten, der sie mit jener übertriebenen Gründlichkeit studierte, die man Polizisten in aller Welt antrainiert, um unbescholtene Bürger ins Schwitzen zu bringen. Der graue Anzug sah über die Uniformschulter, nahm dann den Ausweis an sich und exerzierte das Ganze noch einmal von vorn durch, bevor er ihn Gail wieder aushändigte und sein Lächeln auf Natascha richtete, die ihren Pass schon gezückt hatte.

Und was der graue Anzug nun machte, war laut Gails späterem Bericht an Ollie, Perry und Luke entweder ein Zeichen von Inkompetenz oder sehr schlau: Er verhielt sich, als wäre der Pass einer russischen Minderjährigen für ihn von geringerem Interesse als der einer britischen Erwachsenen. Er schlug die Seite mit den Einreisevisa auf, blätterte zu ihrem Photo, verglich es mit ihrem Gesicht, lächelte sichtlich bewundernd, verweilte einen Moment bei ihrem Namen in lateinischer und kyrillischer Schreibweise und streckte ihr den Ausweis mit einem unbeschwerten »Hier, bitte schön« wieder hin.

»Bleiben Sie länger in Wengen?«, erkundigte sich der uniformierte Polizist, als er Gail die Fahrkarten zurückgab.

»Nur eine Woche wahrscheinlich.«

»Je nach Wetter, nehme ich an?«

»Ach, wir Engländer sind so an Regen gewöhnt, dass wir ihn überhaupt nicht bemerken!«

Und ihr Anschlusszug stehe auf Gleis 2 bereit, Abfahrt in drei Minuten, die letzte Verbindung nach Wengen für heute, also verpassen Sie ihn besser nicht, sonst sitzen Sie in Lauterbrunnen fest, sagte der höfliche Polizist.

Erst als sie schon mit dem letzten Zug den Berg hinaufzuckelten, öffnete Natascha wieder den Mund. Bis dahin hatte sie vor sich hin gebrütet, wütend, so wie es schien; hatte in die schwarze Fensterscheibe gestarrt, sie mit ihrem Atem vollgedampft wie ein Kind und zornig wieder freigewischt. Ob sie allerdings wütend auf Max war, auf den Polizisten und seinen Freund in Grau oder sich selbst, blieb dahingestellt. Aber plötzlich hob sie den Kopf und sah Gail mitten ins Gesicht.

»Ist Dima kriminell?«

»Er ist doch ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, oder nicht«, fragte Gail glattzüngig zurück.

»Müssen wir deshalb nach England? Geht es darum bei dieser Überraschung? Ständig erzählt er uns plötzlich von diesen tollen englischen Schulen, auf die wir sollen.« Und als keine Antwort kam: »Seit Moskau ist unsere ganze Familie total … total kriminell. Frag meine Brüder. Sie sind ganz besessen davon. Sie reden nur noch von Kriminellen. Frag ihren tollen Freund Pjotr, der angeblich für den KGB arbeitet. Den gibt es doch gar nicht mehr. Oder?«

»Ich weiß es nicht.«

»Es heißt jetzt FSB. Aber Pjotr sagt immer noch KGB. Vielleicht lügt er also. Pjotr weiß alles über uns. Er hat unsere sämtlichen Akten gesehen. Meine Mutter war kriminell, ihr Mann war kriminell, Tamara war kriminell, ihr Vater ist erschossen worden. Für meine Brüder ist jeder, der aus Perm kommt, ein Krimineller und sonst gar nichts. Vielleicht wollte die Polizei deshalb meinen Pass sehen. ›Bist du aus Perm, bitte schön, Natascha?‹ – ›Ja, Herr Polizist, ich bin aus Perm, ich bin außerdem schwanger.‹ – ›Dann bist du sehr kriminell. Du kannst in kein englisches Internat, du musst sofort mit ins Gefängnis!‹«

Ihr Kopf lag mittlerweile an Gails Schulter, und der Rest ihres Redeschwalls war auf Russisch.

* * *

Dämmerung senkte sich über die Kornfelder, und auch in dem gemieteten BMW wurde es dämmrig, denn in schweigendem Einvernehmen verzichteten sie auf Beleuchtung, innen wie außen. Luke hatte als Proviant eine Flasche Wodka besorgt, und Dima hatte sie halb leer getrunken, aber Luke gestattete sich nicht einmal, daran zu riechen. Er hatte Dima einen Taschenrecorder angeboten, um damit seine Erinnerungen an Bern aufzuzeichnen, solange sie noch frisch waren, aber Dima hatte nur geschnaubt.

»Ich weiß alles. Kein Problem. Hab Kopien. Hab mein Gedächtnis. In London, ich erinnere mich an alles. Sagen Sie das Tom!«

Den ganzen Weg von Bern her hatte Luke nur Nebenstraßen benutzt – war ein Stück gefahren, hatte sich dann eine Stelle gesucht, wo sie warten konnten, während die Verfolger, so sie denn existierten, an ihnen vorbeizogen. Mit seiner rechten Hand stimmte ganz entschieden etwas nicht, er hatte immer noch kein Gefühl darin, aber solange er die Kraft in seinem Arm einsetzte und nicht an die Hand dachte, ging es mit dem Fahren ganz gut. Er musste sie irgendwie verletzt haben, als er dem Philosophenschädel eins übergebraten hatte.

Sie redeten russisch miteinander, raunend wie zwei Flüchtlinge. Warum flüstern wir?, fragte Luke sich. Aber so war es. Am Rand eines Nadelwaldes hielt Luke erneut an, diesmal, um Dima einen blauen Overall und eine dicke schwarze Skimütze in die Hand zu drücken, unter der er seine Glatze verstecken konnte. Für sich selbst hatte er Jeans, einen Anorak und eine Pudelmütze gekauft. Er legte Dimas Anzug zusammen und verwahrte ihn in einer Reisetasche im Kofferraum des BMW. Es war jetzt acht Uhr abends, und es kühlte empfindlich ab. Kurz vor Wilderswil am Eingang des Lauterbrunnentals hielt er nochmals an, schaltete die Schweizer Nachrichten ein und versuchte dabei im Halbdunkel in Dimas Gesicht zu lesen, da er selbst ungünstigerweise kein Deutsch verstand.

»Sie haben die Drecksäcke gefunden«, raunzte Dima halblaut auf Russisch. »Zwei besoffene Russenärsche sind im Bellevue Palace aufeinander losgegangen. Keiner weiß, warum. Sind die Treppe runtergefallen und haben sich verletzt. Der eine ist im Krankenhaus, der andere ist soweit okay. Dem im Krankenhaus geht’s ziemlich dreckig. Das ist Niki. Vielleicht erstickt er, der Wichser. Haben ein paar blödsinnige Lügen erzählt, die die Schweizer Polizei ihnen nicht abnimmt. Lügen, die sich nicht decken. Die russische Botschaft will sie ausfliegen. Die Schweizer Polizei sagt: ›Nicht so eilig, erst wollen wir noch ein bisschen was über diese Arschlöcher rausfinden.‹ Der russische Botschafter ist stinksauer.«

»Auf die beiden?«

»Auf die Schweizer.« Er grinste, nahm wieder einen Schluck aus der Wodkaflasche und hielt sie Luke hin, der den Kopf schüttelte. »Soll ich Ihnen sagen, wie das funktioniert? Der russische Botschafter ruft den Kreml an: ›Was sind das für Schwachsinnswichser?‹ Kreml ruft Prinz an: ›Was zum Henker fällt diesen beiden Oberärschen von dir ein, sich in einem Nobelhotel in Bern die Köpfe einzuhauen?‹«

»Und der Prinz sagt?«, fragte Luke, ohne auf Dimas saloppen Ton einzuschwenken.

»Der Prinz, dieses Dreckschwein, ruft Emilio an. ›Emilio. Mein Freund. Mein weiser Ratgeber. Was zum Henker fällt meinen beiden Goldjungs ein, sich in einem Berner Nobelhotel die Köpfe einzuhauen?‹«

»Und Emilio sagt?«, insistierte Luke.

Dimas Ausdruck verfinsterte sich. »Emilio sagt: ›Dieser Wichskerl Dima, Nummer-Eins-Geldwäscher der ganzen Welt, ist vom gottverdammten Erdboden verschwunden.‹«

Luke, nicht eben der geborene Ränkeschmied, jonglierte mit ein paar unbekannten Größen. Erst die beiden sogenannten arabischen Gendarmen in Paris. Wer hatte sie geschickt? Warum? Dann die beiden Leibwächter im Bellevue Palace. Warum waren sie nach der Überschreibung mit ins Hotel gekommen? In wessen Auftrag? Wozu? Wer hatte wann wie viel gewusst?

Er rief Ollie an.

»Alles im Lot, Harry?« Sprich: Wer ist in dem sicheren Haus angekommen und wer nicht? Sprich: Muss ich mich auch noch mit einer abgängigen Natascha herumschlagen?

»Unsere beiden Nachzügler sind gerade eingetrudelt, Dick, alles in Butter«, sagte Ollie beruhigend. »Haben ohne größere Schwierigkeiten hier raufgefunden, das heißt, es ist alles bestens. Gegen zehn überm Berg drüben, passt euch das? Bis dahin ist es dann auch schön dunkel.«

»Zehn Uhr passt wunderbar.«

»Grindelwald-Grund, Bahnhofsparkplatz. Ein hübscher kleiner roter Suzuki. Ich steh gleich links, wenn Sie reinkommen, und so weit entfernt von den Zügen, wie’s geht.«

»In Ordnung.« Und als Ollie noch nicht auflegte: »Wo brennt’s, Harry?«

»Na ja, in Interlaken Ost war offenbar ziemliche Polizeipräsenz, nach dem, was ich höre.«

»Schießen Sie los.«

Luke lauschte, sagte nichts, steckte das Handy zurück in die Tasche.

* * *

Mit überm Berg drüben meinte Ollie das Dorf Grindelwald, das auf der anderen Seite des Eigermassivs lag. Von der Lauterbrunner Seite kam man eigentlich nur per Zahnradbahn nach Wengen, hatte Ollies Recherche ergeben; der Waldweg mochte für Gemsen und den einen oder anderen lebensmüden Motorradfahrer taugen, aber nicht für ein vierrädriges Gefährt mit drei Männern darin.

Aber Luke, ebenso wie Ollie, wollte es um keinen Preis zulassen, dass Dima in gleich welcher Verkleidung auf dieser seiner Reise von Bahnangestellten, Zugschaffnern und Mitpassagieren gesehen würde, schon gar nicht so spät am Abend, wenn die Fahrgäste gezählt waren und mehr auffielen.

In Zweilütschinen folgte Luke deshalb der linken Abzweigung, die über ein sich windendes Sträßchen am Fluss entlang bis hinein nach Grindelwald führte. Der Bahnhofsparkplatz in Grund stand voll mit den abgestellten Autos deutscher Touristen. Zu seiner Erleichterung erspähte Luke gleich beim Einbiegen die Silhouette von Ollie in Steppanorak und einer Schirmmütze mit Ohrenklappen in einem roten Suzuki-Jeep, der mit eingeschaltetem Standlicht wartete.

»Und hier, zum Einmummeln, wenn’s zu sehr pfeift«, verkündete Ollie auf Russisch, während er Dima auf den Sitz neben sich packte; Luke, der Ollie erst noch das Gepäck gereicht und den BMW dann unter einer Buche geparkt hatte, setzte sich nach hinten. »Die Forststraße ist verboten, aber nicht für Leute von hier, die da oben zu tun haben, Installateure, Bahnarbeiter et cetera. Wenn’s recht ist, besorge also ich das Reden, falls wir kontrolliert werden. Nicht dass ich von hier wäre, aber der Jeep ist es, und sein Besitzer hat mich instruiert.«

Welcher Besitzer und was für Instruktionen wusste nur Ollie allein. Ein Künstler der Hintertür hält sich bedeckt, was seine Quellen angeht.

* * *

Eine schmale Teerstraße führte hinauf in die Schwärze des Bergmassivs. Ein Scheinwerferpaar kam ihnen von oben entgegen, stoppte, zog sich in die Bäume zurück: ein Baufahrzeug, unbeladen.

»Bergauf hat Vorfahrt«, murmelte Ollie beifällig. »Das ist Vorschrift hier.«

Ein einzelner Polizeibeamter versperrte ihnen den Weg. Ollie bremste, damit er die dreieckige gelbe Vignette an der Windschutzscheibe des Suzuki lesen konnte. Der Polizist trat zur Seite. Ollie dankte mit lässigem Heben der Hand. Sie fuhren an einem Grüppchen niedriger, hell erleuchteter Chalets vorbei. Holzrauch mischte sich mit Tannenduft. Auf einem Schild stand BRANDEGG. Die Straße ging in einen unbefestigten Waldweg über. Wasserbäche strömten ihnen entgegen. Ollie stellte die Scheinwerfer an und schaltete. Das Dröhnen des Motors wurde höher, jammeriger. Die Fahrspur war von schweren Reifen zerfurcht, und der Suzuki war schlecht gefedert. Luke auf seiner Rückbank zwischen den Taschen musste sich links und rechts abstemmen, während der Wagen ruckte und sprang. Vor ihm ragte die vermummte Gestalt Dimas mit der Wollmütze auf; die Decke um seine Schultern flog im Fahrtwind wie ein Kutschermantel. Ollie neben ihm, kaum kleiner als er, beugte sich angespannt vor, während er den Suzuki quer über eine Wiese jagte, dass zwei Gemsen davonsetzten in den Schutz der Bäume.

Die Luft wurde dünner und kälter. Lukes Atem flog. Tau perlte ihm eisig über Wangen und Stirn. Seine Augen tränten; Tannenduft und der Kitzel des Anstiegs ließen sein Herz schneller klopfen. Der Wald schloss sich wieder um sie. Aus dem Unterholz blitzten rot die Augen von Tieren, ob groß oder klein, konnte Luke so rasch nicht erkennen.

Und dann lag die Baumgrenze hinter ihnen, und der Blick war wieder frei. Leichtes Gewölk schleierte vor einem sternenübersäten Himmel, in dessen Mitte sich eine schwarze, sternlose Leere auftat, eine turmhohe Leere, die sie hinab in den Berghang drückte, sie hinausquetschte über den Rand der Welt. Sie fuhren unter dem Überhang der Eigernordwand entlang.

»Sie kennen Ural-Berge, Dick?«, schrie Dima auf Englisch zu Luke hinter und drehte sich halb zu ihm um.

Luke nickte heftig und lächelte.

»Wie Perm! In Perm wir haben Berge wie hier! Sie kennen Kaukasus?«

»Nur den georgischen Teil!«, schrie Luke zurück.

»Ist genial hier, hören Sie, Dick? Genial! Für Sie auch, ja?«

Und einen Moment lang – obwohl dieser Polizist ihm immer noch Sorgen machte – fand auch Luke es genial, und das Gefühl hielt an, als sie zur Passhöhe der Kleinen Scheidegg hinaufruckelten und durch den orangeroten Lichterbogen rollten, den das große Hotel dort warf.

Dann ging es bergab. Zu ihrer Linken, mondlichtüberströmt, reckte sich sehniger, blauschwarzer Gletscherschatten. Von der anderen Talseite blinkten die Lichter von Mürren herüber, und durch das Baumdickicht, in das sie nun wieder eintauchten, zwinkerten schon die schwachen Lichtpünktchen von Wengen.